Das Grab auf Norderney - Christian Hardinghaus - E-Book

Das Grab auf Norderney E-Book

Christian Hardinghaus

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Beschreibung

Der Tod einer Schülerin stellt die Polizei vor ein Rätsel – war sie das Opfer eines grausamen Serienmörders?
Ein spannender Nordseekrimi mit unerwarteten Wendungen

Die Leiche der seit zwei Tagen vermissten Merle Onken wird im Wattenmeer gefunden und für die Polizei in Norderney steht fest, dass es sich um einen tragischen Selbstmord handeln muss. Denn Merle wurde kurz vor ihrem Tod von ihren Mitschülern gemobbt und in einen verlassenen Bunker eingesperrt, um sie wegen ihrer roten Haare bei einem bizarren Ritual auf eine Hexenprobe zu stellen. Doch Merles Mutter Gesa ist überzeugt, dass ihr Kind ermordet wurde. Niemals hätte sie sich das Leben genommen. In ihrer Verzweiflung bittet sie den Bremer Kripo-Kommissar Carsten Kummer um Hilfe, der sich bald in die örtlichen Ermittlungen einmischt. Als zwei weitere Jugendliche brutal sterben, wird klar: Ein Serienmörder ist am Werk und alle Spuren führen zurück in die mystische Vergangenheit der Insel. Kann Kummer die Geheimnisse der Insel aufdecken und so noch mehr Jugendliche vor einem schrecklichen Tod bewahren?

Erste Leser:innenstimmen
„Ich konnte den neuen Krimi von Christian Hardinghaus nicht mehr aus der Hand legen.“
„Was ist wirklich mit Merle Onken passiert? Ein packender Ermittlerkrimi von der ersten bis zur letzten Sekunde.“
„Ein düsteres Setting auf Norderney, ein nicht aufzuhaltender Serienmörder und ein dunkles Geheimnis aus der Vergangenheit: Diese Geschichte hat alles, was einen guten Thriller ausmacht!"

„Unvorhersehbar und süchtig-machend. Ich kann es kaum erwarten bis Band zwei erscheint!“

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Seitenzahl: 343

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Über dieses E-Book

Die Leiche der seit zwei Tagen vermissten Merle Onken wird im Wattenmeer gefunden und für die Polizei in Norderney steht fest, dass es sich um einen tragischen Selbstmord handeln muss. Denn Merle wurde kurz vor ihrem Tod von ihren Mitschülern gemobbt und in einen verlassenen Bunker eingesperrt, um sie wegen ihrer roten Haare bei einem bizarren Ritual auf eine Hexenprobe zu stellen. Doch Merles Mutter Gesa ist überzeugt, dass ihr Kind ermordet wurde. Niemals hätte sie sich das Leben genommen. In ihrer Verzweiflung bittet sie den Bremer Kripo-Kommissar Carsten Kummer um Hilfe, der sich bald in die örtlichen Ermittlungen einmischt. Als zwei weitere Jugendliche brutal sterben, wird klar: Ein Serienmörder ist am Werk und alle Spuren führen zurück in die mystische Vergangenheit der Insel. Kann Kummer die Geheimnisse der Insel aufdecken und so noch mehr Jugendliche vor einem schrecklichen Tod bewahren?

Impressum

Überarbeitete Neuausgabe August 2024

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98998-279-6 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98998-329-8

Copyright © 2018, KBV Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2018 bei KBV erschienenen Titels Die Hexe von Norderney (ISBN: 978-3-95441-408-6).

Covergestaltung: Anne Gebhardt unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Resul Muslu, © brickrena stock.adobe.com: © JOE LORENZ DESIGN , © Karen, © Olaf Schlenger, © makasana photo elements.envato.com: © ghostlypixels

E-Book-Version 09.10.2024, 11:21:20.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Das Grab auf Norderney

Prolog

Norder neye Oog, im April 1544.

Hannes zitterte vor Kälte und, wenn er ehrlich war, noch mehr vor Angst. Doch das verriet er den Landsknechten Hilbert und Rutger, mit denen er durch die bis eben sternenklare Nacht über die Nordsee schipperte, besser nicht. Er konnte kaum noch die Hand vor Augen sehen, so dicht zogen die Nebelschwaden um die fast reglosen dreieckigen Tuchsegel. See und Wind lagen so still, dass die Soldaten mit dem zweimastigen Frachtboot noch nicht einmal ein Viertel der Strecke bis zum Festland zurückgelegt hatten. Dabei waren sie bereits vor einer Stunde von der Insel Norder neye Oog aufgebrochen. Die abrupt eingetretene Stille war es, die Hannes so in Panik versetzte. Hatten die beiden Frauen, die sie eingesperrt in einen Käfig an Bord transportierten, vorhin noch geschrien und getobt, so gaben sie, seit das Boot in die Nebelwand geraten war, keinen Laut mehr von sich. Das machte ihm Angst. Mit der rechten Hand griff Hannes nach dem Langschwert, das er an der Koppel des roten Waffenrockes trug. Mit der Linken tastete er an seinem Hals nach dem silbernen Amulett mit dem eingravierten Taufzeichen, das ihm seine Mutter geschenkt hatte, damit es Geister und Werwölfe von ihm fernhielte. Ob es ihn auch vor den beiden Hexen schützen würde? Hannes verfluchte sich in diesem Augenblick dafür, den Auftrag der Gräfin von Ostfriesland angenommen zu haben. Was nutzte ihm der großzügige Extrasold, wenn er nicht mehr lebte? Aber acht Gulden, fast tausend Pfennige, hatten ihn gierig werden lassen. So viel verdiente er sonst in einem vollen Frühjahr nicht. Und ein Söldner musste nehmen, was er kriegen konnte.

Obwohl er von Hunderten von Hexenverbrennungen im ganzen Land gehört hatte, war ihm doch bis heute nie selbst eine Hexe begegnet, und er hatte geglaubt, in seinem Ostfriesland hätten sie sich nicht niedergelassen. Aber der Dorfvorsteher Wego Alrik hatte ihn am Morgen auf Norder neye Oog eines Besseren belehrt. Fast vier Wochen lang hatte er Dortje Freding und ihre Tochter Leefke in einem Holzverschlag hinter seinem Haus gefangen gehalten. Völlig entkräftet, weinend und schreiend hatten sie Hannes und seine Begleiter angefleht, sie zu verschonen. Für einen kurzen Moment war er von Mitleid berührt gewesen, als ihn das fünfzehnjährige Mädchen mit den traurigen grünen Augen angeschaut hatte. Beide, Mutter und Tochter, hatten rostrote Haare und zahlreiche Sommersprossen. Die musste der Teufel persönlich in ihre Haut eingebrannt haben. All das Bitten und Betteln hatte ihnen nicht geholfen. Zu schwer lasteten die Beweise, die Alrik vorgetragen hatte, auf den Frauen. Den Seefisch, nach dessen Verzehr Dortjes Mann Tjard unter höllischen Qualen gestorben war, hatte nachweislich sie zubereitet und wie auch Leefke selbst davon gegessen. Bei beiden ohne Anzeichen einer Fischvergiftung. Sie hatten mysteriöse Kräuter in ihrem Garten angebaut und regelmäßig mit schwarzen Katzen und Raben, die auf ihrem Grundstück wilderten, kommuniziert. Dass der Fischfang sich in seiner Ergiebigkeit halbiert hatte, war ohne Zweifel ihrem Schadenszauber geschuldet, den sie über die Insel gelegt hatten. Richter Asse Hering würde sicherlich feststellen, ob dies alles den Tatsachen entsprach, schließlich galt er als einer der energischsten Hexenjäger Norddeutschlands und hatte schon mehrere Städte von Hexenplagen befreit. Zu ihm würden sie ihre Gefangenen bringen, und dann würde Hannes zurück nach Oldenburg fahren und seiner Frau und den Kindern von dem versprochenen Sold eine fette Milchkuh kaufen. Die werden Augen machen, dachte Hannes, und er wusste, nur noch ein paar Kilometer und die Gefahr, die von den Hexen ausging, wäre gebannt.

Der Schrei schallte so betäubend laut, dass Hannes Schwertgriff und Amulett loslassen musste, um sich die Ohren zuzuhalten. Über eine Minute dauerte er an und klang so, als würde eine der Frauen lebendig im Käfig gegrillt.

»He da, Weib«, rief Hilbert. »Was ist in euch gefahren?« Im nächsten Augenblick wurde es abermals totenstill. Kurz lichtete sich der Nebel, und Hannes konnte deutlich zwei leuchtende, grüne Augenpaare zwischen den Gitterstäben erkennen.

»Geh nachsehen, Rutger!«

Hannes war heilfroh, dass der Hauptmann nicht ihn befehligt hatte, nach den Hexen zu schauen. Er stand zwar näher am Käfig, aber Rutger musste als Feldscher bei Krankheiten und Verletzungen Dienst tun. Aber konnten Hexen denn krank werden? Und warum war die, die so geschrien hatte, dann urplötzlich wieder still?

Glotzten sie ihn an? Blitzartig, aber zu spät wurde Hannes alles klar: Die Teufelsweiber planten einen Hinterhalt. Gerade wollte er losrufen, da hörte er bereits, wie Rutger aufschrie und der Schlüssel im Schloss des Zwingers klackte. Die Hexen hatten seinen Begleiter überwältigt. Hannes blieb keine Zeit mehr, sein Schwert aus der Scheide zu ziehen, denn schon sah er Dortje direkt vor sich, nahm den filzigen Geruch ihrer Haare wahr. Ihre Tochter Leefke hielt sie fest umklammert.

Ich bin erledigt, schoss es Hannes durch den Kopf, und als er gerade damit rechnete, gebissen zu werden, stürzte die Hexe an ihm vorbei. Sekunden später hörte er ein Platschen, dann wieder Stille. Sie waren von Bord gesprungen. Hilbert wies den Kapitän des Bootes an, das Wasser abzusuchen. Sie suchten eine volle Stunde lang. Die Nebel hatten sich verzogen, und der Vollmond erhellte das ruhige Meer. Sie entzündeten Fackeln, doch fanden sie ihre Gefangenen weder tot noch lebendig.

Acht Tage später überbrachte ein ausgesandter Bote der Gräfin Anna von Oldenburg eine Nachricht des Auricher Richters Asse Hering. Dieser hatte die Überfahrt ihrer Soldaten organisiert, damit sie die Hexen von Norder neye Oog in seinen Hexenturm überstellen konnten. Der Hexenjäger versicherte der Gräfin, die ihn um Rat gefragt hatte, dass sie ihren Soldaten Glauben schenken könne. Deren Aussage, dass Dortje und Leefke die Gitterstäbe des an Bord befindlichen Zwingers zum Schmelzen gebracht hatten und dann fliegend über das Meer entkommen waren, stimme mit Angaben von Insulanern überein. Einige Fischer hatten in jener Nacht den Himmel beobachtet und bezeugten das Hexenspiel. Asse Hering empfahl der Gräfin, ihren tapferen Untergebenen den vollen Extrasold auszuzahlen. Sie seien machtlos gewesen. Zwar hätten Küstenfischer einige Tage später das Mädchen tot am Strand gefunden, doch die Mutter sei verschwunden geblieben. Ein letzter Beweis für den Richter, dass Dortje die Hexe von Norder neye Oog war.

Lachende Möwen

Norderney, im April 2017.

»Larus ridibundus.« Merle entspannte ihre Bauchmuskeln und ließ den Rauch aus ihren Lungen langsam durch Mund und Nase in das dichte Baumdach der Kiefer ziehen, unter der sie auf einer Parkbank saß. Den Kopf nach hinten gebeugt, beobachtete sie zwei Möwen, die es sich über ihr auf einem Ast gemütlich gemacht hatten. Sie spürte ihr Herz schneller schlagen und freute sich über den angenehmen Schwindel in ihrem Kopf. Sie kam sich vor, als würde sie zu den Vögeln hinaufschweben. Als der Qualm des Joints, den sie sich vor ein paar Minuten gedreht hatte, an den Schnäbeln der Möwen vorbeizog, fingen die Tiere an zu krähen und ließen sich wie Turmspringer vom Ast fallen. Dann schlugen sie energisch mit den grauen Flügeln und flatterten hinauf in die dichten Wolken, die sich über den Skatepark gelegt hatten. Bekommt ihnen nicht, das gute Zeug, dachte Merle und grinste.

»Was?«, fragte Stella, die neben ihr auf der Bank saß und seit Minuten mit dem Messenger-Programm ihres Handys beschäftigt war.

Merle hustete, holte tief Luft und strich sich mit beiden Händen durch die rostig roten Haare. »Wie, was?«

»Du hast gerade irgendwas Komisches gesagt. Lirum Larum. Ein Zauberspruch oder ne Hexenformel?«

»Quatsch.« Merle lachte und nahm erneut mehrere hektische Züge von ihrer Cannabis-Zigarette. »Larus ridibundus. So heißen die Lachmöwen, die da gerade weggeflogen sind, auf Latein. Rä-grä-grä-krää – die lachen eben immer.«

»Ach, du bist ja wieder total dicht«, sagte Stella, ließ das Handy in ihrer rosa Handtasche verschwinden und schaute ihre Freundin ernst an. »Sag mal, was soll das mit dem vielen Kiffen? Wir sind bald fünfzehn. Das ist nicht cool.«

»Doch, ist es«, antwortete Merle, während sie sich mit Daumen und Zeigefinger einen Tabakfaden aus dem Mund friemelte. »Ich mache das, damit ich wenigstens ein paarmal in der Woche auch lachen kann wie die Möwen.« Sie reichte Stella den Joint rüber, doch diese stieß die Hand weg. »Nein danke. Wie immer, wenn du fragst: Ich mache das nicht.«

»Okay.«

»Verkaufen dir Metin und Orhan das noch am Busbahnhof?«

»Pfff«, zischte Merle. »Die miese Qualität? Kaufe ich nicht. Ich baue schon lange selbst an.«

»Du machst was?« Stella zog die Augenbrauen hoch. »Im Ernst: Das geht? Einfach so?«

»Natürlich nicht legal! Ich nutze den Garten von meiner Mutter, die hat da die besten Voraussetzungen. Ich habe mir ein Miniatur-Gewächshaus hinter dem Komposthaufen angelegt.«

»Gewächshaus.« Stella lachte. »Pass auf, dass sie das nicht finden. Wie ich deine Mom kenne, gibt das richtig Stress.«

»Keine Sorge. Findet niemand, zu gut versteckt.« Merle kratzte sich am Oberarm, und für einen Moment konnte ihre Klassenkameradin die feinen Schnitte sehen, die ihr in den vergangenen Wochen häufiger aufgefallen waren. »Du weißt ja, dass mein Papa Psychologe ist«, sagte Stella ruhig.

»Oh, nee, ey.« Merle zog schnell ihren Ärmel zurück über die verwundeten Stellen. »Wie oft denn noch? Ich verletze mich nicht absichtlich. Das kommt alles von den Gartenarbeiten. Ich helfe Mama. Ob du’s glaubst oder nicht.«

Stella schüttelte den Kopf und überlegte. »Also versteht ihr euch wieder?«

»Nein, wir streiten ständig. Trotzdem mache ich das, sonst kriege ich kein Taschengeld. Nächstes Jahr soll ich im Laden bedienen.«

»Oh je, du Arme.«

»Na ja, du hast gut reden, du musst dir ja um Geld kaum Sorgen machen bei dem Verdienst deines Vaters.« Merle zog noch einmal am Joint und runzelte die Stirn, als sie ausatmete. »Wer weiß schon, was meiner macht. Eines Tages suche ich den überall und finde das raus. Vielleicht ist er Millionär oder so was. Dann geht’s runter von dieser verkackten Schule, weg von Mama und von dem großen Misthaufen von Insel hier.«

»Ich mag es hier«, murmelte Stella und pustete eine ihrer langen, dunklen Locken aus dem Gesicht. Sie wusste, dass ihre Freundin fürchterlich darunter litt, dass sie ohne Vater aufgewachsen war und auch, dass sie sich mit ihrer Mutter nicht gut verstand. Das fand sie komisch, sie selbst kam mit ihren Eltern super zurecht. Ihre Mama tat alles für sie. Sie stammte aus dem Iran, deshalb war Stella Halbperserin, hatte aber nie etwas mit dem Land zu tun gehabt. Sie beherrschte die Sprache nicht, war in Deutschland geboren, lebte aber erst seit zwei Jahren auf Norderney. Ans Inselleben hatte sie sich schnell gewöhnt. Mit ihrer gebräunten Haut, den glänzenden schwarzen Haaren und den dunklen Augen war Stella optisch das genaue Gegenteil ihrer Freundin. Sie kam bei den Jungs schon gut an, doch fand sie trotzdem Merle viel schöner als sich selbst. Sie liebte ihre einzigartigen, roten und weichen Haare, die ihr fast bis zur Hüfte reichten. Die niedlichen Sommersprossen und leuchtend grünen Augen fand sie total sexy. Allerdings könnte Merle durchaus mehr aus sich machen, fand Stella, denn sie schminkte sich nicht und legte auch keinen Wert auf schicke Klamotten, trug beinahe ausschließlich dunkle Hoodies. Dadurch wirkte sie immer etwas blass und unscheinbar, und auch ihre weiblichen Formen kamen so nicht zur Geltung. Aber gut, Interesse an Jungen zeigte Merle sowieso nicht, und somit schienen ihr Brüste wohl egal. Außer Stella hatte Merle keine andere Freundin, verschlossen und irgendwie melancholisch wie sie war. Hin und wieder fragte sich Stella selbst, warum sie überhaupt mit ihr befreundet war. Mitleid konnte es jedenfalls nicht sein, denn Stella bewunderte Merle sogar, weil sie so hübsch war und so viel wusste; sie hatte bestimmt zweihundert Bücher oder mehr gelesen. Weil sie so viel nachdachte über das Leben und den Sinn hinter allem. Weil sie sogar Gedichte schrieb und toll zeichnen konnte. Stella hoffte einfach, dass Merle irgendwann auftauen würde und sie mit ihr auf Partys gehen könnte.

»Oh, Mist.« Merles Aufschrei riss Stella aus ihren Gedanken. »Was ist?« Sie schaute ihre Freundin fragend an und hörte dann im gleichen Moment das Dröhnen und Klackern von Rollen auf dem Asphalt hinter sich.

»Der Bulle kommt, lass uns abhauen«, sagte Merle und wollte schon aufspringen, als Stella sie am Arm festhielt. »Moment noch.« Sie drehte sich um und erkannte die Zwillinge Enno und Erik Visser in ihren engen Jeans, die Regenjacken so gebunden, dass die verknoteten Ärmel eine Diagonale zwischen Schulter und Hüfte bildeten. Ihr Herz begann zu rasen, als die beiden auf ihren Inlinern Pirouetten drehten, an der gegenüberliegenden Bank hochsprangen und dann an der Kante entlangrutschten.

Mit »Bulle« hatte Merle Hauke Ahlers gemeint. Ein widerlicher Typ, das fanden alle Mädchen aus der Schule. Fast siebzehn war er, viel zu groß und zu fett. Außerdem der größte Mobber überhaupt. Hauke war im letzten Jahr sitzen geblieben und in ihre Klasse gekommen, seitdem tyrannisierte er alle, die schwächer waren als er. Zum Beispiel die beiden Mädchen aus Vietnam, Ahn und Bich, die er Anus und Bitch nannte und als Reisfresser und Schlitzaugen verspottete. Auch Laas, der Stotterer, hatte es schwer mit ihm, ständig wurde er nachgeäfft und verhaspelte sich dadurch immer mehr; bald würde er wahrscheinlich gar nicht mehr sprechen. In letzter Zeit hatte es häufig auch Merle getroffen. Dass er sie als Pumuckl oder Pippi Langstrumpf verhöhnte, war zu verschmerzen, aber seit sie vor ein paar Wochen das Thema Hexenverfolgung in der Frühen Neuzeit im Geschichtsunterricht durchgenommen hatten, hatten seine Hänseleien ein unerträgliches Ausmaß angenommen.

Enno und Erik sprangen auf die metallene Rollfläche der zwei Meter hohen Mini Ramp – die kleine Variante der Halfpipe –, jagten einander hinterher und versuchten, sich mit ihren Sprüngen und Tricks an der Rampenkante gegenseitig zu überbieten. Wahnsinn, dachte Stella, die haben es echt drauf. Und toll sehen die aus, zum Verlieben! Obwohl, das war sie schon. Auch wenn sie noch nicht so genau wusste, in wen von den beiden …

Als Hauke die Mädchen auf der Bank entdeckte, rollte er dreckig grinsend auf sie zu. Wirklich elegant sah das im Vergleich zu den Zwillingen allerdings nicht aus. Merle warf den Joint auf den Boden und stellte ihren braunen Sneaker darauf. Ohne etwas zu sagen, wirbelte der Bulle um die Bank und zog dabei immer engere Kreise. Dann ging es los. »Hex, hex«, rief er und zupfte Merle an den Haaren, wenn er hinter ihrem Rücken vorbeiraste.

»Lass das bitte«, bat sie leise und versuchte, mit den Händen ihren Kopf zu schützen.

»Warum, du bist doch eine Hexe, oder?« Der Bulle lachte laut. »Wenn nicht, dann hatte dein Vater wohl Rost im Lauf, als er dich gezeugt hat.« Er bog sich vor Lachen, sodass er fast das Gleichgewicht verlor. Er ruderte mit den Armen in der Luft, und beide Mädchen wünschten sich, dass er hinfallen und sich so richtig wehtun würde. Zu ihrer Enttäuschung jedoch gewann er das Gleichgewicht wieder und wollte gerade zu neuen Sprüchen ansetzen, als Merle unvermittelt losschrie: »Lass meinen Vater da raus!«

Blitzschnell bremste der Fettwanst ab und baute sich vor Merle auf. Seine schwarzen Knieschoner drückte er mit voller Absicht gegen ihre Oberschenkel. Schmerzerfüllt stöhnte Merle auf.

»Selbst schuld«, brüllte Hauke, und Spucke spritzte ihm dabei aus dem Mund. »Was muckst du auch plötzlich auf?«

Stella konnte einen unangenehm strengen Schweißgeruch wahrnehmen, der von seinem Strickpullover auszugehen schien, und versuchte, nur durch den Mund zu atmen.

Dem Bullen fiel ein anderer Geruch auf. »Was ist das für ein süßlicher Gestank?«, fragte er und schnupperte an der Jacke seines Opfers. »Du riechst nach Kiffe. Hast du was geraucht? Traust du dich deswegen, deine Klappe so aufzureißen?«

»Nein, zieh einfach Leine!«, sagte Merle. Sie zitterte.

»Du weißt, dass mein Vater hier der Polizeichef ist«, sagte der Bulle. »Soll ich dem stecken, dass du Kräuterhexe auf seiner Insel Drogen nimmst?«

Jetzt reichte es Stella. »Hör auf! Lass Merle endlich in Ruhe. Sie hat dir nichts getan und auch nicht gekifft.« Sie zog ihre Freundin an sich heran und legte schützend einen Arm um ihre Schultern. »Weiß dein Vater denn auch, wer die Graffiti an der Hafenmauer sprüht? Soll ich dem das mal stecken?«

Der Bulle guckte Stella erschrocken an. »Tztztz«, machte er plötzlich leise. »Woher weißt du ... äh, wie kommst du auf die Scheiße?« Offenbar fühlte er sich ertappt, denn er stieß sich mit einem kräftigen Stoß vom Boden ab und rollte über den Platz zur Ramp. An der Seite zog er sich mit Mühe hoch und hockte sich auf die Plattform, auf der die Zwillinge saßen und Cola aus Dosen tranken.

»Danke«, sagte Merle. »Ich halt’s fast nicht mehr aus, hab kaum noch Bock, in die Schule zu gehen wegen dem.«

»Ich weiß. Wir müssen Frau Lammert darauf ansprechen.«

»Ach, die weiß das doch, die Olle«, sagte Merle über ihre Klassenlehrerin. »Ist der doch egal. Der kann doch fertigmachen, wen er will. Der glaubt, ihm kann nichts passieren, wegen seinem scheiß Bullen-Vater.«

»Ja, da hast du recht«, antwortete Stella. »Und der ist auch nicht ganz frisch in der Birne, meint Papa zumindest, und der muss es als Psychotherapeut ja wissen.« Ihr Blick fiel erneut auf die Zwillinge. Hauke zeigte ihnen gerade etwas, das er aus seinem Rucksack geholt hatte. Stella konnte nicht erkennen, was es war, sah nur etwas Metallisches aufblitzen.

»Dann doch lieber keinen Vater als so einen Arsch von Vater«, murmelte Merle.

»Ist der süß!«

»Hä? Du kennst den doch gar nicht.« Merle schaute auf. »Ach, die Zwillinge meinst du. Welchen denn?«

»Sorry. Ich war abgelenkt«, sagte Stella. »Weiß nicht welchen. Es ist wie verhext. Ich kann mich nicht entscheiden, wen ich süßer finde. Erik oder Enno oder doch Erik. Ich meine, ich kann sie ja kaum unterscheiden.«

»Wenn du mich fragst, sind beide scheiße. Erstens sind das kleine Milchbubis und keine Männer, und zweitens haben sie den größten Assi der Insel zum Freund, das sollte ja auf ihren Charakter schließen lassen. Außerdem erkenne ich optisch keinen Unterschied. Sehen gleich aus, verhalten sich gleich und machen alles zusammen.« Merle schaute zur Ramp. »Komm, lass uns abhauen!«

»Nach Hause? Es ist gerade mal sechs.«

»Nein, weg von denen. Lass uns noch zum Wasser gehen. Einen Kakao in der Milchbar trinken. Ich habe Bock auf Süßes. Ist so, wenn man was geraucht hat.«

»Okay, können wir machen. Ich kann mir noch einen Milchreis mit Zucker und Zimt leisten. Süß schmeckt auch, wenn man nüchtern ist.« Als Stella aufstand, merkte sie, wie ihr Handy in der Handtasche vibrierte. Sie zog es heraus und schaute aufs Display, im gleichen Moment leuchteten ihre Augen auf. »Warte, von Erik«, sagte sie aufgeregt, las und tippte dann wild selbst eine Nachricht ein.

Merles Blick wanderte zu den Jungen, die auf der Plattform saßen und kicherten. Idioten, dachte sie. Einer guckte auf sein Handy – Erik dann wohl. Sein Zwilling und Hauke grinsten zu ihnen herüber.

»Komm, wir gehen«, sagte Merle und zog an der Jacke ihrer Freundin.

»Warte, die wollen sich entschuldigen und uns was zeigen.«

»Quatsch. Die haben Scheiße vor, wie immer.«

»Bitte, Merle.« Stella guckte sie flehend mit ihren Rehaugen an. »Es ist auch besser, wenn du nicht abhaust. Du darfst dir nicht anmerken lassen, dass du Angst hast. Das ist eine wichtige psychologische Taktik.« Ihr Smartphone vibrierte erneut. Sie las die eingetrudelte Nachricht laut: »Können wir rüberkommen? Hauke will sich entschuldigen.« Sie blickte auf: »Hast du das gehört? Dein größter Feind will sich bei dir entschuldigen. Das ist doch voll krass.«

Merle schüttelte den Kopf. »Pfff. Da scheiße ich drauf.«

»Bitte bitte. Ich finde die zwei so süß.«

»Oh, Mann. Dann lass sie halt kurz vorsprechen. Wenn’s mir nicht passt, haue ich aber sofort ab.«

»Klar, und ich mit, versprochen«, sagte Stella, und obwohl sie auch einfach zu ihrem Chatpartner hätte herüberrufen rufen können, schrieb sie lieber eine WhatsApp. Nachdem Erik ihre Nachricht gelesen hatte, tuschelten die Jungen, sprangen dann von der Ramp und rollten zu ihnen rüber.

»Also, was ist?«, fragte Stella und lächelte dabei Erik an. Oder war es Enno, der ihr jetzt auf die absichtlich ausgestreckte kleine Brust schaute? Ach, egal!

»Ihr wisst doch, dass es hier auf der Insel zwei Albino-Hirsche gibt, oder?«, sagte einer der Zwillinge.

»Ja, und?«, fragte Merle gelangweilt.

»Hauke weiß, wo die gerade sind.«

»Echt?« Stella grinste. »Die sind immer so schnell weg, wenn ich die sehe. Mein Vater war aber schon nah dran und hat Fotos gemacht, habe ich auf dem Handy. Wollt ihr mal gucken?«

»Ha«, sagte Hauke. »Ich brauche mir bestimmt keine Bilder von den Viechern reinzuziehen. Von mir lassen die sich streicheln. Die sind ultrazahm. Aber nur abends, wenn sie kuscheln wollen.«

Was für ein Angeber, dachte Stella, aber da sie Tiere über alles liebte, wurde sie neugierig.

»Bei Sonnenuntergang ziehen die Hirsche sich in die Dünen zwischen Nordhelmsiedlung und Nordstrand zurück und grasen da und wollen gestreichelt werden«, fuhr Hauke fort. »Nur bei Dämmerung, deswegen heißt das Viehzeugs Damwild.«

Die Visser-Brüder lachten. »Na ja, nicht ganz. Die Wörter haben völlig unterschiedliche Bedeutungen und stehen nicht in Bezug zueinander«, sagte einer.

»Stehen nicht in Bezug zueinander.« Hauke äffte seinen Freund nach. »Blöder Streber. Einfach Schnauze halten, ist nämlich so. Und die Hirsche sind da.«

»Wow«, sagte Stella und drehte sich zu Merle um. »Das müssen wir sehen.«

Merle zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Nö. Hab keine Lust.«

»Komm schon. Das wird lustig«, sagte einer der Zwillinge und formte eine Art Geweih mit den Händen über seinen kurz rasierten blonden Haaren. Vermutlich sollte das witzig sein.

Merle überlegte. »Sag mal, Stella, hast du nicht was davon gesagt, dass sich jemand entschuldigen wollte?«

»Ach ja, klaro«. Sie musterte den Bullen mit ernstem Blick. »Das ist die Voraussetzung, ganz klar.«

»Ach«, brummte Hauke. »Wofür denn eigentlich?«

Stellas Stimme erhob sich. »Na, dass du meiner Freundin an den Haaren gezogen hast, vielleicht? Dass du sie ständig als Hexe beschimpfst? Gerade noch passiert, du erinnerst dich?«

»Aber sie ist doch eine Hexe.« Der Bulle prustete und klatschte mit dem Zwilling ab, der eben den Hirsch gespielt hatte.

»Das ist mir echt zu blöd«, sagte Merle und sprang auf. »Ich gehe nach Hause.« Sie drückte Stella ein Küsschen auf die Wange und lief ohne ein weiteres Wort zum Ausgang des Parks.

Die Zwillinge stießen ihren Kumpel von der Seite an.

»Ist ja gut«, zischte Hauke und fuhr dann hinter Merle her. Stella beobachtete, wie er ihr die Hand entgegenstreckte und sagte: »Das ist doch alles nur Spaß. Du bist keine Hexe. Okay?«

»Und wenn schon ...«, murmelte Merle. »Lass mich doch einfach in Ruhe.«

»Ich schwöre, ich tue dir nichts mehr, wenn du jetzt mitkommst«, sagte er und überkreuzte im selben Moment hinter seinem Rücken die Finger, um den Schwur zu brechen. Die Zwillinge kicherten.

»Lass uns zusammen die Hirsche suchen und uns vertragen«, sagte Hauke mit ungewohnt sanfter Stimme und einem fast nett wirkenden Lächeln auf den Lippen. »Müssen wir ja bald sowieso.« Er beugte sich zu Merle rüber und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie grinste, wenn auch verkrampft. Aber das ist ein gutes Zeichen, dachte Stella. Dann sah sie, wie Merle ihrem Peiniger die Hand reichte. Der reckte triumphierend die Faust gen Himmel: »Juhu, Hirschjagd mit Damen.«

Auf der Bank der gegenüberliegenden Seite setzten sich die feixenden Jungs hin, zogen sich die Skates aus und tauschten sie gegen die Sneakers, die sie in den großen olivgrünen Militär-Rucksäcken verstaut hatten.

Die Mädchen gingen langsam vor in Richtung Ausgang. »Danke, das vergesse ich dir nie, Merle.«

»Schon okay.«

»Was hat er dir zugeflüstert?«

Jetzt grinste Merle unverkrampfter.

»Sag schon.«

»Er hat gesagt, dass Erik und Enno was von dir wollen. Und da du meine Freundin bist, müsste Hauke, wenn einer von denen mit dir zusammen ist, in Zukunft auch mit mir auskommen.«

Stellas Wangen liefen rot an. »Was, das ist ja ...« Sie hielt sich den Mund mit beiden Händen zu und quietschte wie ein Entenbaby, um nicht vor Freude laut losschreien zu müssen.

»Sag mir dann einfach, für wen du dich entschieden hast, wenn du dir sicher bist, und lad mich zur Hochzeit ein.«

Zum ersten Mal seit Langem – oder überhaupt – hörte Stella ihre Freundin richtig laut lachen. Vielleicht würde das für alle ein toller Ausflug werden und sich die Situation in der Klasse entspannen. Sie hoffte insgeheim, dass der Bulle sich zusammenreißen und in den Dünen nicht wieder Ärger anfangen würde. Ganz wohl war ihr selbst nicht, aber sie musste die Chance nutzen, um an Erik oder Enno ranzukommen.

Der Bunker

Zwanzig Minuten schlurften die Jugendlichen durch die leeren Gassen der Nordhelmsiedlung. Die Norderneyer Geschäftsleute genossen bereits ihren Feierabend. Die Osterferien auf dem Festland hatten noch nicht begonnen, Ostern war dieses Jahr außergewöhnlich spät. So begegneten sie auf ihrem Weg zu dem eingezäunten Naturschutzgebiet keiner Menschenseele. Die Dutzend Hinweisschilder, die an und hinter den Stacheldrahtzäunen angebracht waren, ignorierten sie auf dem Weg zu einem kleinen Pfad, der in die Norddünen führte. Da durften nur die Touris nicht lang, Insulanern sollte das erlaubt sein, fanden sie. Die Jungen liefen schnellen Schrittes voran durch den weißen Sand, rutschten dabei immer wieder aus. Merle und Stella zerrten die Kapuzen über ihre Köpfe und knöpften ihre Windjacken bis zum Kinn zu.

Die Wolken hatten sich dicht zusammengezogen, und das Areal aus Sand, Gras und Gesteinsbrocken, das vor ihnen lag, wirkte ohne das Licht der Sonne wie aus einer Schwarz-Weiß-Doku. Außer dem heulenden Wind, der durch die Dünen fegte und die Sanddornbüsche und Heidesträucher gespenstisch rascheln ließ, war nichts zu hören. Abgerissene Distelzweige, die sich zu kleinen Kugeln geformt hatten, schienen einfach über den Sand zu rollen. Das sieht aus wie in einem Western, dachte Stella und flüsterte: »Ich habe ein bisschen Schiss.«

»War keine gute Idee«, antwortete Merle. »Wollen wir umkehren?«

»Ja, bitte.« Stella blieb stehen und legte ihre Hände so an den Mund, dass sie ein nach vorne hin offenes Oval bildeten. Gerade wollte sie ihren männlichen Begleitern zurufen, als sie auf dem Hügel, auf den die Jungen gestiegen waren, einen mächtigen Schatten bemerkte. Erst nachdem sie diesen ein paar Sekunden fixiert hatte, stellte sie fest, dass es sich um eine Art Höhle handeln musste. »Was ist das?«, fragte sie und deutete mit dem Zeigefinger auf die Anhöhe.

»Ein Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg«, antwortete Merle, als schon einer der Visser-Brüder von oben schrie: »Kommt hoch, seht euch das an!«

»So was gibt es hier auf der Insel?« Stella ging vorsichtig ein paar Schritte auf die Düne zu, den Kopf nach oben gerichtet. Merle folgte dicht hinter ihr. »Klar«, sagte sie. »Wissen aber nicht viele von, die nach Norderney kommen. Der ist weder vom Strand noch von der Stadt aus zu sehen. Weiß man nur, wenn man es eben weiß. Manche suchen, die wenigsten finden die Reste des Atlantikwalls, obwohl eine Menge Substanz da ist.«

»Atlantikwall?«

»So was wie eine Nazifestung.«

»Wow.«

»Dann doch nicht zurück, oder wie?«

Stella zuckte mit den Schultern. »Lass uns das kurz anschauen, oder?«

»Kenne schon das meiste, allerdings nur im Hellen. Aber wenn du den noch nicht gesehen hast ...«

»Okay, kurz, und dann hauen wir ab, bevor es dunkel wird?«

»Abgemacht.«

Mit Mühe erklommen die Mädchen den steilen Pfad, der zum Bunker hinaufführte. Davorstehend, bestaunte Stella die etwa fünfzehn Meter lange und drei Meter hohe mit Graffiti bemalte massive Steinwand, die aus dem Boden ragte und sicher mal viel größer gewesen war. Die Dünen verschluckten viel, gaben mit der Zeit aber einiges wieder frei.

»Kommt rein.« Stella hörte eine gedämpfte Stimme aus dem Inneren der Bunkeranlage. Vorsichtig und dabei immer den Boden fixierend, liefen die Freundinnen um den Bau herum, traten auf knirschende Glasscherben und spitze Steine, bis sie vor einem etwa zwei Meter großen Spalt stehen blieben. Der Zugang zum Bunker, von dem Teile gesprengt worden sein mussten, dachte Stella. Die Nazizeit war ja lange her. »Seid ihr da drin?«, rief sie in den Hohlraum und bemerkte gleich den leichten Widerhall ihrer Stimme.

»Ja«, hallte es mehrfach aus dem Loch. Vorsichtig zwängten sich Stella und Merle, die Köpfe gebückt, an einem Felsbrocken vorbei. In dem düsteren, schmalen Gang, der vor ihnen lag, zischte etwas, und kurze Lichtblitze zuckten auf. Ein paar Meter schlichen sie noch weiter, dann erkannten sie die Jungen, die auf ihren schweren Rucksäcken mitten in einer engen Höhle saßen. Vor ihnen hatte jemand einen Kreis aus Steinen gebaut. Mit Streichhölzern versuchten die Vissers, ein paar zerbrochene Äste, kleine Zweige und Papier anzuzünden. Das Brennmaterial war wohl vorhanden gewesen, und an der Asche auf dem Boden konnten die Freundinnen erkennen, dass hier schon öfters Feuer gemacht worden war.

»Setzt euch«, sagte Hauke gnädig und wies auf einen Rucksack, den sie frei gelassen hatten. Die Flamme, die sich durch Geäst und Papier gefressen hatte, entwickelte sich unter dem Pusten und Wedeln der Brüder zu einem echten Lagerfeuer. Der Rauch zog langsam nach oben und entwich durch eine schmale Schießscharte, die in einer Seitenwand angebracht war.

»Wir haben Feuer gemacht.« Die Zwillinge jubelten und klopften einander grinsend auf die Schultern, als hätte der eine einen Ball für den anderen vorgelegt, der dann nur noch ins Tor einzuschieben brauchte. Männer, dachte Stella, war aber froh über die Showeinlage, denn die nahm etwas Grusel aus der unheimlichen Umgebung.

»Was ist denn jetzt mit den Hirschen?«, fragte Merle, als sie sich neben Stella auf dem Rucksack niedergelassen hatte.

»Die kommen hier gleich hoch, wetten?«, antwortete Hauke und machte eine Bierdose auf. Das Knacken und Zischen durch das Öffnen des Verschlusses wirkte hier drinnen viel lauter. Auch der Rülpser, den der Bulle ausstieß, nachdem er einen kräftigen Schluck genommen hatte, kam Stella viel dröhnender vor als draußen.

»So ein Käse«, zischte Merle.

»Was?« Hauke wirkte wieder aggressiv.

»Na, dass die Hirsche hier auftauchen. Wozu sollten sie?«

»Sag mal, wie redest du denn mit mir? Ich habe dir doch in den letzten Wochen klargemacht, dass du ein Nichts bist?«

»Jetzt hör auf, Hauke«, sagte einer der Zwillinge. »Lass uns doch einfach auf die Tiere warten und so lange was zocken. Wer kennt ein Spiel?«

Der Bulle schaute sich in der Höhle um und deutete bald auf eine leere Sektflasche. »Wahrheit oder Pflicht«, sagte er. »Das ist doch spannend.«

»Au ja, cool.«

»Geil, das habe ich lange nicht mehr gespielt.«

»Ich weiß nicht ...«

»Bin raus«, sagte Merle. »Keine Lust. Ich weiß, was für dumme Fragen kommen.«

»Quatsch. Sei nicht so scheiß schüchtern, wir sitzen doch alle in einem Boot, äh, Bunker.« Hauke reichte ihr die Dose rüber, aber sie schüttelte den Kopf.

»Verstehe«, sagte er und nickte. »Du kannst dir gerne auch einen bauen, wenn du das lieber magst. Wir sind ja hier unter uns.«

Wollte er ihrer Freundin jetzt eine Falle stellen, fragte sich Stella, bemerkte dann aber voller Erstaunen, dass Merle seine Einladung locker anzunehmen wusste. Unter ihrer Jacke zog sie ein in den Flammen des Feuers funkelndes Zigarettenetui hervor. Daraus entnahm sie ein paar Blättchen, die sie an den Rändern anleckte und dann auf ihrem Schoß faltete. Mit Daumen und Zeigefinger zupfte sie das Gras aus der Blechschatulle, legte es auf das Papier, rollte es zusammen und zündete das breite Ende mit ihrem Sturmfeuerzeug an.

Den Joint leicht schräg haltend, zog sie am unteren Ende, paffte ein paarmal in die Luft und verschlang dann den Rauch in kurzen, hektischen Zügen. Den Raum erfüllte sofort ein scharfer, süßer Geruch. Ein paar Sekunden hielt sie den Atem an, entspannte dann ihre Bauchmuskeln und ließ den leicht grünlich schimmernden Dunst langsam aus ihren Lungenflügeln durch die aufgeblähten Nasenlöcher entweichen. Kurz schloss sie die Augenlider. Der angenehme Schwindel kam, der Puls raste. Wieder fühlte sie sich, als würde sie fliegen. Als sie die Augen öffnete, bemerkte sie im Schein des Feuers, dass die anderen sie neugierig anglotzten. Vor der Schule kiffte sie nie, aber mittlerweile jeden Abend und manchmal nachmittags. Es erstaunte sie, wie die Angst vor dem Bullen nachließ, wenn sie etwas geraucht hatte. Wie er da jetzt saß, an der Bierdose nuckelnd wie ein Baby an der Milchflasche und sich dabei noch vorkam wie ein Häuptling vor seiner Wigwam-Familie. Unwirklich komisch sah das aus. Merle wurde einmal mehr klar, was für einen Spinner der Typ abgab. Aber sie wusste auch, dass er verdammt gefährlich sein konnte. Was sie Stella gar nicht erzählt hatte, was keiner ahnte, war, dass Hauke sie bereits mehrfach geohrfeigt hatte. Nach der Schule, im Buswartehäuschen. Und immer diese Drohungen, dass, wenn sie jemandem etwas stecken würde, blablabla. Wem sollte sie was davon sagen? Ihrer ignoranten Mutter? Der überforderten Klassenlehrerin? Oder etwa Haukes Vater, dem echten Bullen? Stellas Papa, dem Psychoklempner? Nein, da ertrug sie Schmerz und Demütigung lieber und hoffte auf die Zeit, zu der sie ihm alles zurückzahlen konnte. Gnadenlos würde dann ihre Rache ausfallen. Sie spürte seit einiger Zeit, dass sie etwas Mächtiges in sich trug. Die Dinge, die sie über ihre Vorfahrin erfahren hatte, flößten ihr Mut ein. Winseln wird der fette Bulle, dachte Merle und musste unweigerlich grinsen bei dem Gedanken.

»He, Mann, so uncool bist du ja gar nicht«, sagte Hauke und bedeutete ihr, ihm den Joint rüberzureichen. »Voll profihaft sieht das aus. Bob Marley und so!« Zögerlich gab sie ihm das, was er forderte. Als er daran zog, musste er sofort husten. »Scheiße.« Er lachte. »Hartes Zeug. Bin eher der Biertrinker, wie ihr wisst.« Er ließ den Joint in seiner Hand in der Runde kreisen. Aber die Vissers wollten nicht, und Stella schüttelte angewidert den Kopf. So kam der Joint wieder bei Merle an.

Nach ein paar Augenblicken der Stille klatschte Hauke in die Hände und deutete auf die Flasche, die einige Meter von ihnen entfernt auf dem Boden lag. »Wer sie holt, fängt an. Erik?«

»Okay«. Erik sprang auf, lief zu der Flasche, griff danach und schüttelte noch ein paar Tropfen heraus, während sein Bruder frische Ästchen und Zweige nachlegte. Mit dem Fuß wischte er eilig Steine, Holz und Scherben vom Boden und legte die Flasche neben die Feuerstelle. »Dann fange ich an«, sagte er.

Stella wunderte sich, dass Merle nun doch mitmachen wollte beziehungsweise nicht protestierte. Die ist total drauf, und alles wird ihr egal sein, dachte Stella. So zumindest stellte sie sich die Wirkung von Drogen vor, probiert hatte sie es nämlich nie. Stella war aufgeregt. Vielleicht würde einer der Zwillinge gefragt werden, wie er Stella fand. Oder sie würde einen von ihnen küssen müssen. Natürlich müsste sie sich da vorher ordentlich zieren, schließlich wollte sie nicht als Schlampe gelten. Hauptsache, sie müsste dem fetten Bullen keinen Kuss geben, da würde sie abbrechen – oder brechen. Es knirschte und schepperte, als Erik die Flasche mit mächtig Schwung aus dem Handgelenk auf dem Boden rotieren ließ. Alle schauten gespannt, wie sie immer langsamer kreiselte und der Flaschenhals zum Schluss bei Enno zum Stehen kam.

»Wahrheit oder Pflicht«, rief sein Bruder.

»Wahrheit.«

»Was sonst?« Erik lachte und überlegte, schaute dann in die Runde. »Mmh, würdest du jemanden, der hier anwesend ist, gerne küssen oder vielleicht noch mehr?«

»Um Gottes willen«, schrie Enno. »Auf keinen Fall. Ich bin erstens ja nicht schwul, und zweitens sind die Mädels hier einfach nicht mein Typ. Auch wenn Stella ganz nett ist. Sorry.«

Stellas Herz stolperte. Ganz nett? Damit hatte sie nicht gerechnet. Die Vissers waren nicht schüchtern, und die Antwort hatte sich entschieden angehört. Hatte Merle sie vorhin etwa angelogen? Demonstrativ rutschte sie auf dem Rucksack von ihr weg. Was sie dabei nicht mitbekam, war, dass ihre Freundin Hauke einen bösen Blick zuwarf.

»Ich bin dran«, rief Enno und drehte schon die Flasche, die nach ein paar Sekunden beim Bullen stehen blieb. »Wahrheit oder Pflicht?«

»Wahrheit.«

»War klar.«

»Also. Sag ehrlich, hattest du schon echten Sex?«

»Meine Fresse«, sagte Hauke laut. »Das habe ich doch schon oft erzählt. Noch mal für alle: ja, hatte ich, sehr guten sogar. Mit vier Mädchen aus meiner alten Klasse, und alle sind gekommen. Vaginaler Orgasmus.«

Keiner wagte, etwas zu antworten oder gar nachzufragen, was ein vaginaler Orgasmus eigentlich war. Für Stella waren das bereits zu viele Informationen, und außerdem glaubte sie sowieso kein Wort davon.

»Und mit einer Touri-Braut im letzten Sommer«, fuhr Hauke mit der Angeberei fort. »Die war schon über dreißig, ne echte Milf.« Er schaute in die Runde, erwartete offenbar Applaus, der aber ausblieb. »Egal jetzt, ich bin an der Reihe.« Er drehte die Flasche mit so viel Schwung, dass es eine halbe Minute dauerte, bis sie mit der Spitze vor Merle zum Stehen kam. Sie zog noch mal kräftig an ihrem Joint. Keine Angst zeigen, hatte ihr Stella geraten, und die verspürte sie im Moment auch nicht. Was würde er sie schon fragen? Vermutlich, ob sie eine Hexe sei, der Idiot. Sie musste erneut lachen ob dieser Durchsichtigkeit und Naivität, die sie da gerade doof anglotzte.

»Ich schätze, du nimmst wie alle Wahrheit«, fragte Hauke. »Bist feige wie die anderen, oder?«

Für einen Moment überlegte Merle, ob sie alle überraschen und sich für Pflicht entscheiden sollte. Wenn Stella oder die Brüder dran gewesen wären, hätte sie sich das in ihrem Rauschzustand getraut, aber Pflicht bei Hauke zu wählen, das war dann doch eindeutig zu gefährlich. Highsein hin oder her. Also sagte sie: »Wahrheit. Nicht weil ich feige bin, sondern weil ich schlau bin.«

»Ob das schlau ist, wird sich zeigen«, spottete Hauke, schlürfte den Rest aus der Dose und pfefferte sie dann weit nach hinten in den Bunker. Nur kurz überlegte er: »Merle, verrat uns doch mal, ob du eine Hexe bist.«

Merle wunderte sich kein bisschen über die Frage. Wie gut sie die Menschen um sich herum doch analysieren konnte, vor allem die Dummen. Vielleicht sollte sie später Psychiater werden wie Stellas Vater. Obwohl, nein, sie hatte andere, viel größere Pläne.

Stella aber maulte: »Nicht schon wieder.« Sie war zwar immer noch sauer auf ihre Freundin und hatte daher wenig Lust, sie in Schutz zu nehmen, aber das nervte sie einfach. Sie würde Merle später ausfragen, was das mit den Zwillingen gesollt hatte, und wollte Hauke gerade bitten, sich eine neue Frage auszudenken, als ihre Freundin sie erneut überraschte.

»Ich denke, ja«, sagte Merle gleichmütig und schaute den Bullen ernst an.

»Du willst uns doch komplett verarschen«, schrie Hauke.

»Nö.«

»Das Spiel heißt: Wahrheit sagen. Was kannst du denn hexen? Verzauberst du mich jetzt in einen Frosch? Ich glaube, du hältst mich eher zum Affen.«

»Lass sie doch erzählen«, unterbrachen die Zwillinge die angespannte Situation.

»Wenn ihr wollt.« Merle strich sich die roten Haare nach vorne. »Erst mal, nein, ich halte dich nicht für einen Affen. Da gibt es dümmere Tiere.«

»Was?«

Merle ignorierte Hauke und begann ruhig zu erzählen. »Vor Kurzem erst habe ich herausgefunden, dass eine meiner frühesten Vorfahren eine Hexe mit dem schönen Namen Dortje war. Die hat im sechzehnten Jahrhundert auf Norderney gewohnt und wurde als Hexe verurteilt.«

»Spinnerei«, unterbrach der Bulle heiser.

»Psst«, zischten die Zwillinge, und Stella befürchtete, dass Merle sich gerade in große Gefahr begab. Sie bemerkte, wie Hauke nervös mit den Fußspitzen auf dem Boden tippelte. Der war richtig geladen.

»Meine Urahnin Dortje hat mit schwarzen Katzen gesprochen und Hexenkräuter angebaut«, sagte Merle, noch immer ohne jede Regung in der Stimme. »Man vermutet, sie hat damit ihren Mann Tjard vergiftet.«

»Nie gehört, eine Hexe auf Norderney«, sagte Erik.

»Das haben die wenigsten, aber ich habe meine Quellen. Glaubt mir. Dortje hatte eine Tochter, die Leefke hieß. Beide sahen aus wie ich. Rote Haare, rote Sommersprossen.«

Alle schwiegen und starrten Merle an.