Das Grab in den Schären - Viveca Sten - E-Book + Hörbuch

Das Grab in den Schären Hörbuch

Viveca Sten

4,0

Beschreibung

Ein neuer Roman der »Königin des schwedischen Krimis« Auf einer Insel im schwedischen Schärengarten werden auf einer Baustelle menschliche Knochen gefunden. Thomas Andreasson und sein Kollege Aram ermitteln, sie überprüfen zunächst die Vermisstenakten, und tatsächlich gelten zwei Frauen seit Jahren als vermisst: die 17-jährige Astrid und die 35-jährige Siri. Ist tatsächlich eine der Frauen einem Verbrechen zum Opfer gefallen und liegt auf der Insel begraben? Eine akribische Ermittlung beginnt… Auf Telegrafholmen, der Schäreninsel gegenüber von Sandhamn, werden bei Bauarbeiten Teile eines menschlichen Skeletts gefunden. Es ist ein ungewöhnlich heißer Spätsommer, und Thomas Andreasson wird mit den Ermittlungen betraut. Die Hinweise deuten auf zwei Frauen hin, die zehn Jahre zuvor als vermisst gemeldet wurden. Aber ist es wirklich eine der beiden Frauen, oder wer wurde tatsächlich auf der Insel begraben? Nora Linde ist nach einem tragischen Strafverfahren krankgeschrieben. Von Albträumen geplagt, kann sie nicht aufhören, über ihr Versagen nachzudenken. Als sie von den Ermittlungen auf Telegrafholmen erfährt, stürzt sie sich in die Arbeit und ermittelt auf eigene Faust, was ihre Freundschaft zu Thomas auf eine harte Probe stellt. Irgendjemand auf der Insel kennt die Wahrheit. Doch müssen noch mehr Menschen sterben, bevor sie ans Licht kommt?

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:5 Std. 27 min

Sprecher:Katja Danowski
Bewertungen
4,0 (1 Bewertung)
0
1
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Viveca Sten

Das Grab in den Schären

Ein neuer Fall für Thomas Andreasson

Roman

Aus dem Schwedischen von Dagmar Lendt

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Viveca Sten

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2 

Kapitel 3 

Kapitel 4 

Kapitel 5 

Kapitel 6 

Kapitel 7 

Kapitel 8 

Kapitel 9 

Kapitel 10 

Siri

Kapitel 11 

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15 

Astrid

Kapitel 16 

Kapitel 17 

Kapitel 18 

Siri

Kapitel 19

Astrid

Kapitel 20 

Kapitel 21 

Siri

Kapitel 22 

Kapitel 23 

Kapitel 24 

Astrid

Kapitel 25 

Kapitel 26 

Kapitel 27 

Siri

Kapitel 28 

Kapitel 29 

Kapitel 30 

Kapitel 31 

Astrid

Kapitel 32 

Kapitel 33 

Kapitel 34 

Siri

Kapitel 35 

Kapitel 36 

Kapitel 37 

Kapitel 38 

Astrid

Kapitel 39 

Kapitel 40 

Kapitel 41 

Kapitel 42 

Kapitel 43 

Siri

Kapitel 44 

Kapitel 45 

Astrid

Kapitel 46 

Kapitel 47 

Kapitel 48 

Kapitel 49 

Siri

Kapitel 50 

Kapitel 51 

Kapitel 52 

Kapitel 53 

Kapitel 54 

Astrid

Kapitel 55 

Kapitel 56 

Kapitel 57 

Kapitel 58 

Siri

Kapitel 59 

Kapitel 60 

Kapitel 61 

Kapitel 62 

Astrid

Kapitel 63 

Kapitel 64 

Kapitel 65 

Kapitel 66 

Kapitel 67 

Siri

Kapitel 68 

Kapitel 69 

Kapitel 70 

Kapitel 71 

Kapitel 72 

Astrid

Kapitel 73 

Kapitel 74 

Kapitel 75 

Kapitel 76 

Siri

Kapitel 77 

Kapitel 78 

Kapitel 79 

Kapitel 80 

Kapitel 81 

Astrid

Kapitel 82 

Kapitel 83 

Kapitel 84 

Siri

Kapitel 85 

Kapitel 86 

Kapitel 87 

Kapitel 88 

Kapitel 89 

Astrid

Kapitel 90 

Kapitel 91 

Kapitel 92 

Kapitel 93 

Siri

Kapitel 94 

Kapitel 95 

Kapitel 96 

Astrid

Kapitel 97 

Kapitel 98 

Kapitel 99 

Kapitel 100 

Siri

Kapitel 101 

Astrid

Kapitel 102 

Kapitel 103

Kapitel 104 

Dank der Autorin

Karten

Inhaltsverzeichnis

Für meine Mutter

Lisbeth Bergstedt

(1935–2019)

Inhaltsverzeichnis

Prolog

»Schuss kommt!«

Der Ruf des Vorarbeiters schallte über Telegrafholmen, und die Männer der Baukolonne suchten eilig Schutz hinter ein paar Bäumen.

Ein paar Schritte weiter stand schon der gelbe Schaufelbagger bereit. Wenn das Dynamit seine Arbeit getan hatte, mussten die Gesteinsbrocken ausgegraben und weggeschafft werden. Bald würden vierzig elegante Schärenhäuser auf der kleinen Insel gegenüber von Sandhamn entstehen. Aber noch war es nichts als ein Bauplatz voller Maschinen, Baumaterial und Bretter.

Die Sprengladung detonierte mit einer Wucht, dass der Boden unter den Füßen der Arbeiter zitterte. Der ohrenbetäubende Donner schlug ihnen gegen die Trommelfelle, bevor er auf die glitzernde Ostsee hinausrollte und verschwand.

Eine große Staubwolke verdunkelte die Sonne, der Vorarbeiter hustete, als ihm der Staub in die Nase drang. Er wartete einige Minuten, dann stand er auf. Sie lagen bereits hinter dem Zeitplan. Es war noch viel zu tun, bevor sie die Fundamente gießen und Wände und Dächer hochziehen konnten.

Stille breitete sich aus. Micke, einer der Männer, die sich gerade noch unter ihren Sicherheitshelmen geduckt hatten, starrte auf etwas Grauweißes zwischen Sand und Geröll.

»Chef?«, rief er und zeigte auf die Stelle.

Der Vorarbeiter folgte seinem Blick, ohne recht zu verstehen. Dann löste sich seine Starre.

»Was zum …?«

Er trat ein paar Schritte näher. Die Skelettstücke auf der Erde leuchteten ihm entgegen. Etwas, das an Überreste eines Brustkorbs erinnerte, von dem sich einzelne Rippen gelöst hatten. Ein Stück weiter lag eine klauenartige Hand, an der zwei Finger fehlten. Er schluckte mühsam, um die aufsteigende Übelkeit zurückzudrängen.

»Ach du Scheiße!«, rief jemand hinter ihm. »Hier muss ein Grab gewesen sein.«

Inhaltsverzeichnis

Montag, 8. August 2016

Kapitel 1

Das Geräusch von leisen Schuhsohlen vor dem Schlafzimmer weckte Nora Linde auf. Ihre Hand tastete nach Jonas, aber seine Bettseite war leer.

Da fiel ihr wieder ein, dass er arbeitete und Julia bei der Oma war. An diesem Wochenende war sie allein auf Sandhamn.

Sofort war die Angst da. Er hatte sie gefunden.

Sie wusste seit Monaten, dass er sie aufspüren würde. Dass sie ihm nicht entkommen konnte.

In ihren Albträumen hatte sie Emir Kovac, dem Bruder von Andreis Kovac, Auge in Auge gegenübergestanden. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er sich rächte.

Nora zwang sich, die Augen zu öffnen und in die Dunkelheit zu spähen.

Die Schlafzimmertür öffnete sich einige Zentimeter. Im Türspalt tauchte ein schwarzer Schatten auf.

Alle Sinne drängten sie zur Flucht, aber ihre Muskeln verweigerten den Gehorsam, obwohl sie wusste, dass sie sterben würde, wenn sie nicht zusah, dass sie wegkam.

Sie lag wie gelähmt da, unfähig, sich zu rühren oder zu verstecken. Sie konnte nicht einmal schreien.

Stattdessen starrte sie wie hypnotisiert zur Tür. Die glitt langsam auf, und Emir Kovacs eiskalter Blick traf sie bis ins Mark. Der Hass, den der muskulöse Mann ausstrahlte, schnürte ihr die Kehle zu.

Sie hatte diese Begegnung so oft gefürchtet, mit jeder Faser ihres Körpers.

Kovacs trug schwarze Lederhandschuhe. In einer Hand hielt er einen metallisch glänzenden Gegenstand. Jetzt stand er nur wenige Meter von ihrem Bett entfernt, aber Nora war immer noch unfähig zu fliehen.

Als er das blitzende Messer gegen sie erhob, fiel die Lähmung von ihr ab.

Nora hörte sich in Todesangst schreien.

»Wach auf!«

Jemand rüttelte sie an der Schulter.

»Wach auf, Liebes.«

Nora schlug die Augen auf und blickte in Jonas’ besorgtes Gesicht.

»Du hast wieder geträumt«, sagte er und zog sie an sich.

»Ich dachte, er wäre hier«, murmelte sie an seiner Schulter. »Es war so real.«

Jonas strich ihr sanft übers Haar, bis sie aufhörte zu zittern. Ihre Wangen waren nass von Tränen.

»Alles gut, Liebling. Es war ein schlimmer Albtraum, sonst nichts. Niemand will dir etwas tun. Du brauchst keine Angst zu haben, dir passiert nichts.«

Nora schüttelte den Kopf an Jonas’ Brust.

Sie wusste, dass er sich irrte.

Die Worte, die Emir Kovacs ihr bei ihrem letzten Zusammentreffen zugeflüstert hatte, echoten immer noch in ihr. Sie ließen sich nicht auslöschen, sosehr sie es auch versuchte.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 2 

Polizeikommissar Thomas Andreasson starrte auf den Bildschirm vor sich auf dem Schreibtisch. Der Posteingang war voller Mails. Es war der erste Tag nach seinem Urlaub, und er hätte ausgeruht und voller Energie sein müssen, bereit, sich wieder in die Arbeit zu stürzen. Stattdessen fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren.

Sein Blick fiel auf das Foto von Elin neben dem Computer. Es war auf dem Bootssteg auf Harö gemacht worden, unterhalb des Sommerhauses. Seine achtjährige Tochter lachte in die Kamera, und ihr blondes Haar wehte im Wind.

Früher hatte er auch ein Foto von Pernilla auf dem Schreibtisch gehabt, aber das lag jetzt mit zerbrochener Glasscheibe in der untersten Schublade. Das Ergebnis eines Wutanfalls, als es ihm besonders dreckig gegangen war, direkt nach der Trennung letztes Jahr.

Aber inzwischen ging es ihm besser. Die Paartherapie, zu der Nora ihn überredet hatte, zeigte Wirkung. Inzwischen konnten Pernilla und er wenigstens wieder miteinander reden.

Es klopfte, und er blickte auf.

»Willkommen zurück.«

Margit Grankvist stand in der Tür. Thomas’ Chefin hatte nur ein paar Tage Urlaub im Juli gehabt, war aber trotzdem kräftig braun gebrannt, wodurch die vielen Fältchen in dem mageren Gesicht noch deutlicher hervortraten.

»Ich hoffe, du hast dich gut erholt«, sagte sie. »Es geht wieder los.«

Thomas drehte den Stuhl herum, sodass er Margit frontal ansehen konnte.

»Was ist passiert?«

»Wie es aussieht, wurden auf Telegrafholmen die Reste eines menschlichen Skeletts gefunden. Ist das nicht bei dir in der Gegend?«

Thomas nickte langsam. Da er ein Sommerhaus auf Harö hatte, wusste er genau, wo Telegrafholmen lag. Das war die lang gestreckte Insel gegenüber von Sandhamn, die das Fahrwasser und den Hafen vor dem Nordwind schützte.

Eine unbewohnte Insel.

»Ein menschliches Skelett?«, wiederholte er langsam.

»Vermutlich. Die Spurensicherung ist schon unterwegs. Der KSSS baut da draußen neue Ferienhäuser, und im Moment werden dort Sprengarbeiten durchgeführt. Als der Staub sich gelegt hatte, lagen Knochenreste auf dem Boden.«

»Wie alt?«, fragte Thomas.

»Keine Ahnung.« Margit öffnete die Arme. »Schnapp dir Aram, ihr müsst raus und euch die Sache ansehen. Ich habe mit der Wasserschutzpolizei gesprochen, sie holen euch in einer Stunde in Stavsnäs ab.«

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 3 

Nora lehnte sich gegen das Waschbecken. Ihr Bild im Badezimmerspiegel trug nicht dazu bei, dass sie sich besser fühlte. Sie sah müde und erschöpft aus, trotz eines ganzen Sommers auf Sandhamn, und ihre Wangen waren eingefallen. Ihr fünfzigster Geburtstag war nur wenige Jahre entfernt, und das sah man deutlich.

Nach dem schlimmen Albtraum von Emir Kovac hatte sie lange nicht einschlafen können, und den Rest der Nacht war sie immer wieder hochgeschreckt. So ging es schon den ganzen Sommer. Nur mithilfe von Tabletten gelang es ihr, mal eine Nacht durchzuschlafen.

Die Vögel zwitscherten vor dem Fenster, die Sonne schien, aber ihr Körper war steif und müde. Am liebsten hätte sie sich wieder hingelegt, eine Schlaftablette genommen und sich die Decke über den Kopf gezogen.

Aber dann würde Jonas sich nur noch mehr Sorgen machen. Sie ertrug seine Blicke und seine ständige Fürsorge im Moment nicht. Sie ertrug sich nicht einmal selbst.

Er war schon in der Küche und plauderte mit Julia. Sie hörte Geschirr klappern und roch den Duft von frisch gebrühtem Kaffee.

Seufzend zog sie Shorts und einen Pullover an. Sie konnte genauso gut den Tag beginnen. Davon, dass sie im Badezimmer stand und sich selbst leidtat, wurde ja nichts besser.

Jonas und Julia saßen am Küchentisch und frühstückten, als Nora die Treppe herunterkam. Julia beachtete sie kaum und mümmelte weiter an ihrem Käsebrötchen, aber Jonas warf ihr einen forschenden Blick zu.

»Wie fühlst du dich?«, fragte er. »Konntest du noch ein bisschen schlafen?«

Nora verkniff sich eine knurrige Antwort. Sie wollte nicht jammern, Jonas meinte es ja nur gut. Sie durfte ihren Frust nicht an ihm auslassen, aber es war schwer, die Fassade zu wahren. Bald musste sie wieder ins Büro, die Krankschreibung lief Ende August aus.

Sie mochte gar nicht daran denken, wie sie die Arbeit schaffen sollte, falls sie dann immer noch so neben der Spur war.

»Ist lange her, dass dich ein Albtraum so erschüttert hat«, fuhr Jonas fort.

»Nicht jetzt«, erwiderte sie leise mit einem Seitenblick zu Julia. Sie wollte nicht vor der Kleinen darüber sprechen.

Bei Tageslicht wirkte alles ganz normal. Trotzdem wachte sie immer wieder mitten in der Nacht auf, nass geschwitzt und verzweifelt, schon den ganzen Sommer lang.

Ständig mit Emir Kovacs hasserfülltem Gesicht vor Augen.

Sie traute sich kaum noch, ins Bett zu gehen. Die Angst vor noch mehr Albträumen hielt sie wach.

Warum sollte Kovac das Risiko eingehen?, fragte sie sich zum hundertsten Mal. Es würde nichts besser werden, wenn er ihr etwas antat. Wer eine Staatsanwältin bedrohte, brachte die gesamte Justiz gegen sich auf.

Dennoch konnte sie die Angst vor seiner Rache nicht beiseiteschieben.

Der unversöhnliche Blick, mit dem Emir Kovac sie angestarrt hatte, als sie ihn zum letzten Mal vernahm, hatte alles gesagt. Der Hass hatte sie ebenso hart getroffen, als hätte er sie geschlagen. Er machte sie für das Schicksal seines Bruders verantwortlich, daran bestand kein Zweifel.

Trotzdem konnte sie nichts tun.

Das feindselige Flüstern, das sie zu Tode geängstigt hatte, kam erst, als die Vernehmung bereits beendet war. Es fand sich nicht auf der Tonaufnahme.

Sie war so schockiert gewesen, dass sie kein Wort herausgebracht hatte. Sie hatte es hinterher auch niemandem erzählt. Es gab keine konkreten Beweise, ihr Wort stand gegen seins.

Außerdem scheute sie sich, ihrem Chef Jonathan Sandelin davon zu berichten. Schlimm genug, dass sie krankgeschrieben war, sie wollte nicht auch noch als Opfer dastehen. Das hätte ihrer ohnehin schwer angeschlagenen Berufsehre den Rest gegeben.

Sie hatte es nicht einmal über sich gebracht, mit Thomas darüber zu reden, obwohl sich der Moment in ihr festgebrannt hatte.

»Solltest du nicht lieber wieder zu diesem Psychologen gehen?«, fragte Jonas. »Es ist nicht besser geworden, obwohl schon mehrere Monate vergangen sind.«

Ihr Chef hatte ihr geraten, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Nora war zwei Mal hingegangen und hatte danach immer neue Ausreden gefunden, um sich zu drücken. Alles in ihr wehrte sich dagegen, über das zu sprechen, was vorgefallen war. Dann hätte sie ihr Versagen eingestehen müssen, dass sie es nicht geschafft hatte, Mina zu schützen. Dass einzig und allein sie die Schuld für das trug, was passiert war.

Sie brachte es nicht fertig, den schlimmsten Misserfolg ihrer Karriere vor einem völlig fremden Menschen auszubreiten. Ihr Innerstes nach außen zu kehren konnte ja doch nichts mehr ändern. Sie würde sich nur noch schlechter fühlen.

Nora nahm eine Tasse aus dem Schrank.

Wann würde sie wieder wie früher sein? Ob es jemals aufhören würde?

Den jetzigen Zustand ertrug sie nicht mehr.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 4 

Das Polizeiboot legte mit dem Bug voraus am Betonkai von Telegrafholmen an, und Thomas Andreasson und Aram Gorgis stiegen an Land.

Thomas war seit Jahren nicht mehr hier gewesen. Die Insel trug ihren Namen nach dem optischen Telegrafen, der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hier aufgestellt worden war. Die Bewohner von Sandhamn hatten jahrelang ihr Vieh hier weiden lassen.

Sie folgten dem schmalen Waldweg, der am Klärwerk aus grauem Beton vorbeiführte. Ein schwacher Geruch nach Abwasser hing in der Luft. Als sie fast den Gipfel der hügeligen Insel erreicht hatten, waren Stimmen zu hören. Einen Moment später erblickten sie ein baumloses Plateau mit Baggern und Baumaterial.

Ein Gelände von etwa vierzig mal vierzig Metern war mit blau-weißem Polizeiband abgesperrt. Die Kriminaltechniker waren bereits vor Ort.

Außerhalb der Absperrung saßen einige Bauarbeiter in einer Ecke und rauchten. Ein Mann in den Fünfzigern mit grauem Kurzhaarschnitt sprach laut in sein Handy.

»Thomas!«

Staffan Nilsson, der Kriminaltechniker, mit dem Thomas schon zusammengearbeitet hatte, bevor das Polizeirevier Nacka im Polizeibezirk Stockholm-Süd aufgegangen war, kniete ein Stück entfernt auf der Erde. Sein weißer Schutzanzug war grau von Steinstaub. Um ihn herum lagen Gesteinsbrocken und Erdklumpen.

Nilsson stand auf und wischte sich die behandschuhten Hände an den Knien ab.

»Tag«, sagte er. »Kommt ihr auch schon?«

Aram grinste schief und zog seinen Notizblock hervor.

»Du bist doch sowieso immer der Erste vor Ort«, konterte Thomas. »Wie sieht’s aus?«

Nilsson schnitt eine Grimasse, die zu verstehen gab, dass er unter einem guten Arbeitstag etwas anderes verstand, als mit einer Pinzette in Knochenresten zu stochern.

»Ich habe versucht, alles zusammenzutragen, was man mit bloßem Auge erkennen kann«, sagte er. »Die Skelettstücke stammen zweifellos von einem Menschen.«

Er zeigte auf etwas, das wie ein Haufen sorgfältig versiegelter Plastikbeutel aussah. Die meisten waren klein, was darauf schließen ließ, dass die gefundenen Knochenreste nicht besonders groß waren.

»Wir haben angefangen, alles aufzusammeln, was wir sehen, aber das Gebiet ist ziemlich groß. Das war eine gewaltige Detonation. Wenn die Sprengladung nahe der Stelle hochgegangen ist, wo das Skelett begraben war, wurden die Teile, die nicht sofort zerstört worden sind, vermutlich in alle Himmelsrichtungen geschleudert. Wird nicht leicht sein, sie in diesem Gelände zu finden.«

Er machte eine ausladende Armbewegung. Die Grasfläche, auf der sie standen, war bedeckt mit hohen Gräsern, blühendem Wiesenklee und gelben Wicken. Weiter hinten ging das Gras in Moos und Granit über.

»Ich habe einen Spürhund angefordert«, fuhr Nilsson fort und sah auf die Uhr. »Der müsste unterwegs sein.«

Sie befanden sich fast auf dem höchsten Punkt der Insel. Auf der anderen Seite des Wassers lag das Sommerparadies Sandhamn, aber die Bäume verbargen den belebten Hafen.

Thomas betrachtete die Plastikbeutel zu Nilssons Füßen. Etwas, das wie eine menschliche Hand aussah, zeichnete sich unter dem Plastik ab. Sie wirkte klein, aber das musste nicht bedeuten, dass sie einem Kind oder einer Frau gehörte. Thomas wusste aus Erfahrung, dass sich die Größe schwer einschätzen ließ, wenn Fleisch und Haut verschwunden waren.

»Ich vermute, das Geschlecht ist nicht bestimmbar?«, fragte Thomas.

Nilsson antwortete mit einem ironischen Lachen.

»Was glaubst du?«, erwiderte er. »An den Rippen lässt es sich kaum ablesen, sofern du es nicht mit Adam und Eva aus der Bibel zu tun hast.«

Aram seufzte.

»Lässt sich etwas zur Todesursache sagen?«, fragte er. »Natürlich oder unnatürlich? Liegt ein Verbrechen vor? Reden wir von Mord?«

Der Blick, den Nilsson ihm zuwarf, war Antwort genug.

»Kannst du etwas zum Alter der Person sagen?«, fuhr Aram fort. »Oder wie lange die Knochen in der Erde gelegen haben?«

Es konnte sich genauso gut um einen vorzeitlichen Knochenfund handeln. Aber soweit Thomas wusste, war Telegrafholmen immer unbesiedelt gewesen.

Nilsson schüttelte den Kopf.

»Ist noch zu früh«, brummte er.

Thomas blickte sich um.

»Weißt du, wer hier der Verantwortliche auf der Baustelle ist?«, fragte er.

Der Kriminaltechniker zeigte auf den grauhaarigen Mann, der vorhin telefoniert hatte.

»Da drüben ist der Vorarbeiter, geht mal zu dem.«

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 5 

»Wir würden gern mit Ihnen reden«, sagte Thomas zu dem Vorarbeiter, der sich als Percy Norräng vorgestellt hatte. »Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«

Norräng nickte und brachte sie zu einer hellgrauen Baubaracke am Fuß eines Abhangs.

»Möchten Sie Kaffee?«, fragte er und zeigte auf eine Kaffeemaschine, die auf der verschrammten Arbeitsplatte stand.

Ohne eine Antwort abzuwarten, goss er drei Becher ein. Nach dem Geruch zu urteilen, stand die Brühe schon eine ganze Weile auf der Warmhalteplatte, aber das spielte offenbar keine Rolle. Norräng nahm einen großen Schluck und ließ sich an einem viereckigen Tisch nieder, um den ein paar Holzstühle gruppiert waren.

Äußerlich wirkte er unbeeindruckt, aber Thomas bemerkte, dass seine Hand leicht zitterte, als er den Becher auf dem Tisch abstellte.

»Was für ein beschissener Start in den Arbeitstag«, sagte Norräng. »Das kommt uns so unwirklich vor, mir und den Jungs. Diese Skeletthand, die da einfach so lag …«

Er kratzte sich im Nacken, ohne die beiden Polizisten anzusehen.

»Für Sie ist das sicher Routine, oder?«, fügte er hinzu, den Blick immer noch abgewandt.

»Jeder ist in so einer Situation schockiert«, sagte Thomas. »Das ist ganz normal.«

»Erzählen Sie uns bitte, was genau heute Morgen passiert ist«, sagte Aram.

Norräng blinzelte.

»Wir sind dabei, den Untergrund für die ersten Häuser freizusprengen, die bis nächsten Sommer fertig sein sollen«, sagte er. »Wir arbeiten schon eine ganze Weile hier oben und wollten uns beeilen, weil wir hinter dem Zeitplan liegen.«

»Waren Sie den ganzen Sommer über hier?«, fragte Thomas.

»Die Jungs hatten nach Mittsommer ein paar Wochen frei, ansonsten haben wir im Großen und Ganzen durchgearbeitet.«

»Aber es gab einen Zeitraum, in dem niemand auf der Baustelle war?«

Man konnte beinahe sehen, wie Norräng aufging, worauf Thomas hinauswollte.

»Sie meinen, dass jemand in diesem Sommer die … Leiche hier vergraben hat?«

»Wir wollen nur den Sachverhalt feststellen«, sagte Thomas. »Uns ein Bild von der Situation machen.«

Norräng hob den Blick zur Decke. Sie war weiß, aber irgendwas hatte gespritzt und braune Flecken genau über dem Esstisch hinterlassen.

»Wie sah es hier aus, bevor Sie mit den Sprengungen angefangen haben?«, fragte Aram.

Norräng zuckte die Schultern.

»So, wie es aussieht, wenn man ein Baugrundstück vorbereitet. Die Bäume waren alle gefällt, aber der Boden war uneben und musste planiert werden. Es war eine Mischung aus Erde und Gestein.«

Thomas versuchte, es sich vorzustellen. Es musste genug Erde vorhanden gewesen sein, um einen ganzen Menschenkörper zu begraben. Es sei denn, dass sich Teile der Leiche noch woanders fanden. Falls es sich um Mord handelte, konnte der Körper zerstückelt und an verschiedenen Stellen vergraben worden sein.

Sie durften sich nicht zu früh festlegen, in diesem Stadium war alles denkbar.

»Haben Sie ein Foto, wie es hier vor den Sprengarbeiten aussah?«, fragte er.

Norräng griff zu seinem Handy.

»Ich hab neulich ein Foto gemacht, als wir die Stärke der Sprengladung berechnet haben.«

Er tippte mit seinen schwieligen Fingern den PIN-Code ein und scrollte durch seine Fotosammlung.

»Hier«, sagte er und hielt ihm das Handy hin.

Thomas betrachtete das Foto.

Es war, wie er vermutet hatte; das Gelände war weitläufig und uneben. Teils lag der Granitfelsen frei, teils verschwand er unter einer Grasdecke. An manchen Stellen schien die Erdschicht dicker zu sein, da die Vegetation dort grüner und üppiger war. Am hinteren Ende ging das Gelände in einen sanft gerundeten Felshang über, in dessen Spalten Gräser und gelbes Moos wuchsen.

Thomas zeigte auf den Felsen.

»War das der, den Sie heute wegsprengen wollten?«

»Genau. Da sollen zwei Häuser hin.«

Thomas studierte das Foto. Das Grab musste ziemlich nah gelegen haben, da das Skelett von der Wucht des Dynamits getroffen worden war. Aber gleichzeitig war die Erdschicht dick genug gewesen, dass die Leiche nicht von wilden Tieren gefunden werden konnte.

Der Boden vor dem Felsen sah unberührt aus, nicht so, als wäre er kürzlich von Menschenhand aufgegraben oder geglättet worden. Andererseits brauchte die Natur nicht lange, um sich Gebiete zurückzuholen, in denen der Mensch gewütet hatte.

Die bisher gefundenen Skelettteile waren frei von Textilfetzen oder Haut- und Fleischresten. Das deutete darauf hin, dass die Leiche wesentlich länger als ein paar Wochen in der Erde gelegen hatte.

»Sonst ist Ihnen nichts aufgefallen, bevor Sie mit dem Sprengen begonnen haben?«, fragte Aram.

»Was meinen Sie?«, erwiderte Norräng.

»Etwas, das den Ort als Grabstätte markiert? Aufgehäufte Steine oder Spuren, dass dort jemand gegraben hat? Es muss nicht unbedingt ein Kreuz gewesen sein.«

»Das sah da aus wie überall auf der Insel«, antwortete Norräng mit einem Unterton von Abwehr. »Uns ist nichts Besonderes aufgefallen.«

Er trank den letzten Schluck aus der Tasse und stand auf, um sich nachzuschenken.

»Übrigens, wie lange bleibt der Platz abgesperrt?«, fragte er über die Schulter.

»Das lässt sich auf Anhieb schwer sagen«, erwiderte Aram. »So lange, wie nötig ist, um den Fundort zu sichern.«

Norrangs Stirn legte sich in bekümmerte Falten.

»Können wir währenddessen weiterarbeiten?«

»Das glaube ich kaum«, sagte Thomas.

»Das wird der Bauleitung nicht gefallen«, sagte Norräng. »Wo wir ohnehin schon hinterm Zeitplan sind.«

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 6 

Es ging schon auf fünf Uhr nachmittags zu, als Thomas zurück in die Polizeistation Flemingsberg kam. Margit hatte darum gebeten, gleich nach seiner Rückkehr auf den neuesten Stand gebracht zu werden. Sie saß an ihrem Schreibtisch, als Thomas den Kopf zur Tür hereinsteckte.

Aram war nach Hause gefahren, eine seiner Töchter war krank und seine Frau Sonja hatte Spätschicht im Krankenhaus.

»Wie ich hörte, hat Staffan Nilsson den Fall übernommen«, sagte Margit und legte eine Akte beiseite. »Immerhin etwas.«

Thomas nahm seiner Chefin gegenüber Platz. Sie arbeiteten seit über zehn Jahren zusammen und waren gemeinsam nach Flemingsberg gewechselt, als das Polizeirevier Nacka im Zuge der Umstrukturierung aufgelöst worden war. Margit hatte ihren neuen Posten immer noch »übergangsweise« inne, obwohl schon zwei Jahre vergangen waren.

Er wusste, dass es sie wurmte, nicht zuletzt, weil das Gerücht ging, man wolle den Chefsessel mit einem Externen besetzen.

»Wie sieht’s aus?«, fragte Margit. »Handelt es sich um die Skelettreste von einer Person oder von mehreren?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Thomas. »Die Leiche – oder die Leichen – scheinen jedenfalls nicht in einem gekennzeichneten Grab gelegen zu haben. Darüber sind sich alle Augenzeugen einig.«

»Liegt ein Verbrechen zugrunde?«, fragte Margit und stützte den Kopf mit der Hand auf.

Das war eine berechtigte Frage. Auf dem Rückweg hatten Aram und Thomas genau darüber diskutiert. Aber warum sollte sich jemand die Mühe machen, einen Toten auf einer unbewohnten Insel wie Telegrafholmen zu begraben, wenn er nichts zu verbergen hatte?

»Darauf wird es wohl hinauslaufen«, sagte er. »Es gibt ja einen Friedhof auf Sandhamn, bei Fläskberget.«

»Könnte es sich um einen Zerstückelungsmord handeln?«, fuhr Margit fort. »Mal rein spekulativ gefragt?«

»Das lässt sich unmöglich sagen. Sie haben ja noch nicht alles gefunden. Außerdem kann die Explosion eine Menge Schaden angerichtet haben. Teile des Skeletts könnten dadurch regelrecht pulverisiert worden sein.«

»Was glaubt Nilsson, wie lange die Knochen da gelegen haben?«, fragte Margit.

»Dazu konnte er nichts sagen.«

»Reden wir von Monaten oder Jahren?«

»Auch darauf wird er noch zurückkommen.«

Sie feuerte ihre Fragen ab, als hätte Thomas alle Antworten parat.

»Sie können also frisch oder aber uralt sein?«

Thomas nickte.

Sie wussten beide, dass Leichen zu verwesen begannen, sobald sie in der Erde lagen. Nach nur zwei bis drei Wochen, wenn die Körperflüssigkeiten versickert waren und Bakterien und Larven ihre Arbeit getan hatten, waren die meisten Organe verschwunden. Ein paar Monate später war in der Regel nur noch das Skelett übrig.

Die Knochen in Nilssons Plastikbeuteln waren zwar mit Erde behaftet gewesen, hatten aber keine sichtbaren Spuren von Körpergewebe oder Textilresten getragen.

»Wir reden also von den Knochen eines Menschen, der vielleicht erst in diesem Frühjahr gestorben ist«, sagte Margit, »vielleicht aber auch schon vor Jahrzehnten. Möglicherweise handelt es sich um mehr als einen Toten. Wir wissen außerdem nicht, ob es ein Mann oder eine Frau war.«

Sie trommelte mit den Fingern auf der überladenen Schreibtischplatte.

»Wie willst du weiter vorgehen?«, fragte sie.

Thomas hatte noch gar nicht angefangen, sich einen Plan zurechtzulegen. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und dachte nach. Margit sollte eigentlich wissen, dass sie in diesem Stadium noch keine fertigen Antworten erwarten konnte.

Vielleicht las sie ihm die Gedanken vom Gesicht ab.

»Ich habe unseren Frischling Ida Nylén beauftragt, sich die Liste der verschwundenen Personen genauer anzusehen«, sagte sie. »Damit werden wir anfangen.«

Margit wirkte unnötig gestresst von der Situation.

»Warum die Eile?«, fragte Thomas.

Falls sie einen Cold Case auf dem Tisch hatten, gab es kaum einen Grund dafür.

»Die Bauarbeiten dürfen nicht verzögert werden«, sagte Margit mit einem Anflug von Müdigkeit in den Augen. »Die Baufirma hat Anwälte eingeschaltet, die sich bereits gemeldet haben. In dieses Prestigeprojekt sind große Summen investiert worden. Das Geld geht den Bach runter, wenn wegen der Absperrungen nicht gearbeitet werden kann.«

Sie zog eine gestresste Grimasse. In der letzten Zeit hatte die Polizei viel Kritik einstecken müssen, ihr wurde mangelnde Effektivität vorgeworfen und dass die Ermittlungen zu lange dauerten. Der Polizeichef des Regierungsbezirks hatte öffentlich seinen Kopf hinhalten und Besserung geloben müssen.

Nur weil eine Beamtin ihren leitenden Posten übergangsweise innehatte, war der Druck von höherer Stelle nicht weniger stark.

»Außerdem macht sich die Baufirma Sorgen wegen der schlechten Publicity«, fuhr Margit fort. »Immerhin wollen sie die Hütten für über hunderttausend pro Quadratmeter an den Mann bringen, da darf nichts schiefgehen.«

Hunderttausend Kronen pro Quadratmeter für ein Sommerhaus. Was für ein irrsinniger Preis.

»Das ist ein Tatort«, sagte Thomas. »Sie werden sich genauso hinten anstellen müssen wie alle anderen.«

Es gefiel ihm nicht, dass man unter dieser Art von Druck einknickte. Aber er war nicht naiv. Einflussreiche Leute gab es überall in der Gesellschaft, genauso wie gut geschmierte Kanäle für Geschäfte, bei denen enorm hohe Summen auf dem Spiel standen. Es ging nicht direkt um Korruption, nur um gute Beziehungen, die genutzt wurden, um eine diskrete, aber deutliche Botschaft zu übermitteln.

»Du meinst, dass vor dem Gesetz alle gleich sind«, sagte Margit.

Sie rieb sich das Kinn.

»Du kannst davon ausgehen, dass diese Leute alle Hebel in Bewegung setzen werden, damit wir unsere Ermittlungen so schnell wie möglich abschließen. Wenn wir diesen Fall aufklären wollen, müssen wir uns beeilen.«

Inhaltsverzeichnis

Dienstag, 9. August

Kapitel 7 

Nora saß unten am Steg, es war erst halb acht. Sie hatte sich mit ihrem Kaffee nach draußen gesetzt, um eine Weile für sich zu sein, bevor die Familie wach wurde.

Es war ein schöner Morgen. Dünne Wolken streichelten den blauen Himmel, Sonnenglitzer tanzte auf dem Wasser. In der Ferne bei Eknö hielt ein Segelboot schnurgeraden Kurs auf Sandhamn.

Sie liebte es, früh auf den Beinen zu sein. Besonders im Sommer, wenn die morgenklare Luft einen neuen sonnigen Tag versprach. Aber sie spürte den fehlenden Schlaf im Körper, es war wieder eine anstrengende Nacht gewesen. Gestern Abend hatte sie mit einer Schachtel Schlaftabletten in der Hand im Bad gestanden und sich gezwungen, sie zurück in den Schrank zu legen. Sie musste lernen, ohne Hilfsmittel zu schlafen. Bald würde sie wieder anfangen zu arbeiten.

Zum Glück waren ihr die schlimmsten Albträume erspart geblieben, aber sie hatte lange gebraucht, um einzuschlafen, und war immer wieder aufgewacht, so, als könnte ihr Gehirn sich nicht entschließen, loszulassen. Die Angst lag die ganze Zeit in ihrem Hinterkopf auf der Lauer.

Nora trank einen Schluck Kaffee. Sie hatte Mina noch eine SMS geschickt, aber keine Antwort erhalten. Es war Monate her, seit sie etwas von ihr gehört hatte, und ihre Sorge wuchs, dass Mina und dem kleinen Lukas etwas Schreckliches zugestoßen war. Sonst hätte sie doch wohl auf Noras Textnachrichten geantwortet? Wenn alles in Ordnung wäre?

Vielleicht hatte Emir Kovac seine Schwägerin ausfindig gemacht und die Rachepläne seines Bruders in die Tat umgesetzt.

Und wenn, war dann Nora jetzt an der Reihe? Würde er sie jetzt ausfindig machen? Obwohl sie so oft versucht hatte, seine letzten Worte aus ihrem Gedächtnis zu löschen, kamen sie immer wieder zurück.

Nora fröstelte, obwohl die Sonne sich nicht hinter Wolken versteckte.

Sie hörte Schritte in ihrem Rücken und drehte sich um. Jonas kam mit einer Zeitung in der Hand auf sie zu. Der Kies knirschte unter seinen abgenutzten Segelschuhen. Wie immer trug er keine Socken.

»Guten Morgen«, sagte er. »Ich dachte mir schon, dass du hier bist.«

»Ich wollte dich nicht wecken«, murmelte Nora.

Wie üblich hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie allein sein wollte. Sie ertrug keine Gesellschaft. Nicht einmal die ihres Mannes und ihrer Tochter.

Jonas schlug die Zeitung auf und hielt sie ihr hin.

»Hast du das gelesen? Auf Telegrafholmen hat man eine Leiche gefunden.«

Nora richtete sich in ihrem Stuhl auf.

»Was? Wann?«

»Offenbar gestern.«

Jonas setzte sich und breitete die Zeitung auf dem Tisch aus. Die fette Schlagzeile über die Skelettreste, die man bei Erdarbeiten entdeckt hatte, war nicht zu übersehen. Die Polizei hatte die Ermittlungen aufgenommen, aber noch war die Identität des oder der Toten unbekannt.

Noras Blick glitt hinüber nach Telegrafholmen, dessen westliche Landzunge schräg gegenüber der Brand’schen Villa lag.

Sie hatte die Insel ihr ganzes Leben lang vor Augen gehabt, war aber schon lange nicht mehr dort gewesen. Sie erinnerte sich vage an eine Schenkungsurkunde, in der bestimmt worden war, dass die Insel nicht bebaut werden durfte. Trotzdem war man jetzt dabei, eine stattliche Anzahl von Sommerhäusern dort zu errichten.

»Schrecklich«, sagte sie und fröstelte.

»Klingt wie ein schlechter Scherz«, sagte Jonas und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Ein Skelett, das auf einer unbewohnten Insel vergraben ist, wird von Bauarbeitern gefunden.«

Nora wollte nichts davon hören. Sie traute Emir Kovac zu, dass er genau so etwas mit Mina anstellte.

»Findest du das witzig?« Sie drehte den Kopf weg, um den Zeitungsartikel nicht sehen zu müssen. »Wir reden hier immerhin von einem Menschen. Von einem Vater oder einer Mutter. Oder vielleicht einem Kind.«

Jonas nahm ihre Hand und strich mit zwei Fingern darüber.

»Bist du beleidigt?«, fragte er. »Das wollte ich nicht.«

Nora versuchte zu lächeln. Sie musste sich zusammenreißen, durfte nicht ständig überreagieren.

»Schon gut«, murmelte sie.

Ein grünes Kajak mit einem Jungen in roter Schwimmweste glitt vor dem Steg vorbei. Er paddelte mit ruhigen, gleichmäßigen Schlägen, als sei das Paddel mit seinem Oberkörper verwachsen. Die Wasseroberfläche hinter dem Kajak schloss sich sofort wieder.

Die Unruhe kribbelte in Nora.

»Ich gehe zum Bäcker und hole Brötchen zum Frühstück«, murmelte sie und stand auf, bevor Jonas etwas sagen konnte.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 8 

Eigentlich sollten die Tage ohne Elin stressfrei beginnen, dachte Thomas, während er sich eilig einen Becher Tee schnappte und zur Morgenbesprechung hastete.

In den Wochen, in denen seine Tochter bei ihm wohnte, ging alle Zeit dafür drauf, sie anzuziehen, ihr Frühstück zu machen und sie zur Schule zu bringen, bevor er zum Dienst fuhr. Aber ohne Elin ging alles langsamer, so als ob ihm die Orientierung fehlte, und dann raste er oft auf die letzte Minute hinunter zur Polizeistation in Flemingsberg.

Aram saß schon im Besprechungsraum, ebenso wie Margit, Staffan Nilsson und mehrere andere.

Ida Nylén, die neue Kollegin, traf gleichzeitig mit Thomas ein. Als sie vor der Tür beinahe zusammenstießen, fiel ihm auf, wie sportlich sie war. Ida war nicht sehr groß, aber durchtrainiert.

»Entschuldigung«, murmelte sie und schlüpfte auf einen freien Platz.

Margit klopfte mit dem Stift auf die Tischplatte, um deutlich zu machen, dass die Sitzung eröffnet war.

Staffan Nilsson erhielt als Erster das Wort und gab eine kurze Zusammenfassung über den gestrigen Fund auf Telegrafholmen. Thomas kannte das meiste bereits.

»Wir werden den Fall als Tötungsdelikt behandeln, bis wir mehr wissen«, sagte Margit und räusperte sich. »Es besteht großes Interesse daran, dass sich die Sache nicht in die Länge zieht. Die Absperrungen sollen so schnell wie möglich entfernt werden, da jeder Tag, an dem die Bauarbeiten ruhen, enorme Kosten verursacht. Ich bin von höherer Stelle gebeten worden, die Angelegenheit zu beschleunigen.«

Margit versuchte nicht, ihren Ärger über den Druck zu verbergen, aber gleichzeitig schien sie bereit, sich zu fügen. Unter den Investoren des Bauprojekts auf Telegrafholmen musste ein hohes Tier sein, das gute Kontakte zur Polizeiführung hatte.

»Versuchen wir also, die Erwartungen von oben zu erfüllen«, fügte sie hinzu und wandte sich an Ida.

»Wie sieht’s bei dir aus?«

Ida strich sich ein paar Strähnen aus der Stirn. Die langen Haare waren in verschiedenen lila Farbtönen gefärbt und wurden von einem Haargummi zusammengehalten.

»Ich habe versucht, eine Liste über alle vermisst gemeldeten Personen zusammenzustellen, aber es sind ungeheuer viele«, sagte sie und zog die Ärmel ihrer Jeansjacke lang. »Allein im Großraum Stockholm rund viertausend Personen pro Jahr. Mehr als die Hälfte aller Meldungen führt zu einer regulären Vermisstenanzeige, das ist also eine ganz schöne Menge.«

Was Ida berichtete, war allen Anwesenden im Raum bereits bekannt.

»Siebenundneunzig Prozent davon klären sich auf, ohne dass ein Verbrechen zugrunde liegt«, sagte Aram.

Sein weicher Norrköpingdialekt milderte die Worte etwas, aber Ida wurde verlegen.

»Ach so«, sagte sie. »Ich wusste nicht, dass so viele gefunden werden …«

Sie unterbrach sich und senkte den Blick auf die Tischplatte, so offenkundig frisch von der Polizeischule, dass sie Thomas leidtat. Einst war er auch an diesem Punkt gewesen.

Er wollte lieber nicht nachrechnen, wie viele Jahre seitdem vergangen waren.

»Hast du dir das Vermisstenregister der Reichskripo angesehen?«, fragte er freundlich.

»Bin noch nicht dazu gekommen.«

Margit presste ihre Fingerspitzen an die Schläfen.

»Dann mach das, sobald wir hier fertig sind«, sagte sie. »Hol dir ein paar Leute aus dem Praktikantenpool dazu und lass dich nicht von der Personalabteilung abwimmeln. Bestell denen einen schönen Gruß von mir, falls nötig.«

Thomas bezweifelte, dass Ida das wagen würde. Er stellte den Teebecher ab.

»Fang mit einer Grobsortierung an«, sagte er zu ihr. »Sonst dauert das ewig. Als Ausgangspunkt nimmst du den Tatort und alle verschwundenen Personen, die in irgendeiner Verbindung zu Sandhamn und dem Schärengarten stehen, oder wenigstens zu Värmdö und Nacka.«

»Den alten Polizeibezirk Nacka?«, fragte Margit mit wehmütigem Unterton.

»So ungefähr«, erwiderte Thomas.

Margit war nicht die Einzige, die der früheren Struktur nachtrauerte. Nacka hatte eine der höchsten Aufklärungsquoten in ganz Schweden gehabt. Dennoch war der Bezirk bei der großen Umstrukturierung aufgelöst worden, die trotz aller Versprechungen und Hoffnungen dazu geführt hatte, dass die Stimmung innerhalb der Polizei schlechter denn je war.

Die Politiker konnten noch so schöne Sonntagsreden über Ressourcenverstärkung und Prioritätensetzung schwingen. Ohne eine effektive Organisation, anständige Gehälter und eine funktionierende Führung würde sich nichts bessern.

»Wir müssen entscheiden, wie weit wir zeitlich zurückgehen wollen«, sagte Aram und wandte sich an Staffan Nilsson. »Was ist deine Meinung dazu? Wie alt können die Knochenreste maximal sein? Zehn, zwanzig Jahre?«

»Kann ich nicht feststellen, das habe ich gestern schon gesagt.«

»Du hast gar keine Vermutung?«, versuchte es Aram weiter, aber Nilsson schüttelte nur den Kopf.

»Wie wär’s mit fünfundzwanzig Jahre?«, schlug Thomas vor. Das war die ehemalige Verjährungszeit für Mord. »Falls keiner einen besseren Vorschlag hat?«, fügte er hinzu.

»Irgendwo müssen wir ansetzen«, pflichtete Margit ihm bei.

Thomas nahm einen Filzstift und schrieb »25« ans Whiteboard.

»Also gut«, sagte er. »Wir suchen nach Personen mit einer Verbindung zum Schärengarten, die innerhalb der letzten fünfundzwanzig Jahre verschwunden sind.«

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 9 

Als Nora bei der Sandhamnsbäckerei ankam, wartete eine zehn Meter lange Schlange vor der offenen Tür. Die kleine Caféterrasse mit den weißen gusseisernen Stühlen war voll besetzt. Es duftete nach frisch gebrühtem Kaffee.

Eine bekannte Gestalt stand als Letzte in der Reihe. Eva Lenander, Noras beste Freundin auf der Insel, wartete auch auf Einlass. Sie war ganz in ihr Handy vertieft, blickte aber auf, als Nora sich näherte.

»Schlecht geschlafen?«, fragte sie nach einer kurzen Umarmung.

Konnte man das so deutlich sehen?

Nora verzog das Gesicht. Eva war eine der wenigen, die die Geschichte mit Mina kannte.

»Das wird wieder«, sagte Eva und legte ihr den Arm um die Schulter. »Es war nicht deine Schuld, dass es so ausgegangen ist.«

Das stimmte nicht. Wenn Nora ihren Job gemacht und das Gericht davon überzeugt hätte, Andreis Kovac bis zum Prozess in Untersuchungshaft zu behalten, wäre alles anders verlaufen.

Jedes Mal, wenn Nora daran dachte, hasste sie sich dafür.

»Hast du das von Telegrafholmen gehört?«, fragte Eva mit leicht ängstlichem Blick. »Die Skelettteile, die sie gestern gefunden haben? Hast du die Polizeiboote gesehen, die hin und her gefahren sind?«

Nora hatte keine Lust, darüber zu reden, und richtete den Blick auf eine Mutter, die gerade mit einem kleinen Jungen an der Hand aus der Bäckerei kam. Die beiden trugen volle Brötchentüten, aus denen es nach Kardamom und Rosinen duftete, vermutlich lagen frisch gebackene Seglerbrötchen darin.

Nora beschloss, auch ein paar davon für ihre Familie zu kaufen. Vielleicht betäubte das ihr schlechtes Gewissen darüber, dass sie in Ruhe gelassen werden wollte?

»Vielleicht ist es ja das junge Mädchen, das vor zehn Jahren verschwunden ist«, fuhr Eva fort.

»Du meinst Astrid Forsell?«, fragte Nora. »Die hinter Mangelbacken gewohnt hat?«

Astrid war erst siebzehn gewesen, als sie von zu Hause weglief. Nora hatte sich so manches Mal gefragt, was wohl aus ihr geworden war. Jetzt sah sie Astrids hübsches Gesicht vor sich.

»Alle sagen, ihre Mutter war schuld, dass sie abgehauen ist«, sagte Eva. »Weil sie doch so gesoffen hat. Was, wenn Astrid stattdessen was passiert ist? Wenn sie ermordet wurde?«

Nora überlief ein Frösteln. Sie dachte voller Wehmut an den damaligen Vorfall. Sie hatte Astrid sehr gemocht, das Mädchen hatte manchmal auf Adam und Simon aufgepasst. Die Jungs waren erst zehn und sechs Jahre alt gewesen, als Astrid weglief. Das war in demselben Sommer gewesen, als Noras geliebte Nachbarin, Tante Signe, sich das Leben genommen hatte und Nora in einer sich zuspitzenden Ehekrise mit Henrik steckte. Sie war so verzweifelt gewesen, dass sie gar nicht richtig Anteil an Astrids Verschwinden hatte nehmen können.

Der Sommer damals war wirklich voller Tragik gewesen.

»Du wohnst schon so lange hier, du musst doch wissen, wer die Mutter ist?«, fuhr Eva fort und schob die Spange zurecht, die ihren blonden Pferdeschwanz hielt.

Nora nickte. Vor ihrem geistigen Auge tauchte das Bild einer schmalen, grauhaarigen Frau auf.

»Monica Forsell«, sagte sie. »Sie wohnt immer noch hinter Mangelbacken.«

Sie wusste genau, wo das weiße Haus der Forsells lag. Die Familie lebte schon lange auf Sandhamn, der Vater war Zollinspektor gewesen, wie es seit Generationen bei den Forsells Tradition war.

»Monica wurde nach dem Verschwinden der Tochter religiös«, sagte Eva. »Sie empfand es als Strafe Gottes. Astrid war ihr einziges Kind, aber das weißt du sicher.«

Nora murmelte eine Antwort, obwohl sie das Thema am liebsten gewechselt hätte. Sie überlegte, worüber sie sonst noch reden könnten, als Eva einen vielsagenden Seitenblick auf eine junge Frau warf, die gerade aus der Bäckerei kam.

»Wenn man vom Teufel spricht«, sagte sie leise, als die Blondine in kurzen Jeansshorts an ihnen vorüber war. »Weißt du, wer das ist?«

Nora kam die junge Frau bekannt vor, aber sie konnte sie nicht genau einordnen.

»Johanna Strand«, sagte Eva. »Die beste Freundin von Astrid, bevor sie verschwand. Die Polizei hat sie mehrere Male verhört.«

Eva war über den Dorfklatsch immer bestens informiert und wusste, was hinter verschlossenen Türen so vor sich ging. Sie folgte Johanna mit dem Blick, bis diese um die Ecke des Värdshuset verschwand.

»Sie sah ganz schön erschüttert aus, findest du nicht?«, sagte sie beinahe zufrieden, als hätte sie gerade den Beweis für ihre Theorie erhalten. »Ob die Polizei schon mit ihr geredet hat? Vielleicht war es ja tatsächlich Astrid, die in dem heimlichen Grab lag …«

»Sag bloß so was nicht.«

Nora bückte sich und tat so, als müsse sie die Schnürsenkel ihres Turnschuhs binden.

Die süße, liebenswerte Astrid hatte mit ihren Söhnen herumgetobt, bis sie vor Lachen quiekten. Sie hatte mit ihnen in dem kleinen aufblasbaren Planschbecken gespielt und war immer da gewesen, wenn Nora einen Babysitter brauchte.

Es durfte nicht sein, dass sie es war, die zehn lange Jahre auf Telegrafholmen begraben gewesen war.

Nora richtete sich auf.

»Ich habe mein Portemonnaie zu Hause vergessen«, murmelte sie.

Noch bevor Eva etwas sagen konnte, machte Nora sich eilig aus dem Staub.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 10 

Es ging auf vier Uhr nachmittags zu, als Ida Thomas und Aram in den Besprechungsraum bat.

Unmengen von ausgedruckten Listen lagen auf dem Tisch, in dessen Mitte ein Stapel Aktenordner aufgeschichtet war. Einige davon schienen aus dem Archiv zu stammen, sie waren immer noch staubig. Mit der Digitalisierung ging es offenbar nicht sehr zügig voran.

Ida hatte seit der Morgenbesprechung eine ganze Menge geschafft. Ihre Laune schien sich auch gebessert zu haben. Sie hatte die Ärmel ihrer rosa Bluse aufgekrempelt, und als sie auf die Stapel zeigte, kam am Handgelenk ein buntes Schmetterlingstattoo zum Vorschein.

»Wir haben alle ungeklärten Fälle von Personen herausgesucht, die in den letzten fünfundzwanzig Jahren vermisst gemeldet wurden und außerdem eine Verbindung zum Schärengarten hatten«, sagte sie. »Am Ende sind es ungefähr dreißig geworden.«

Ein Unterton von Stolz schwang in ihrer Stimme mit.

»Gute Arbeit«, sagte Aram. »Da bist du ja ganz schön weit gekommen.«

Seine schwarzen Bartstoppeln begannen sich abzuzeichnen. Aram führte seinen kräftigen Bartwuchs immer lachend auf seine assyrische Herkunft zurück.

»Ich wollte nicht noch mehr ausschließen, um nichts falsch zu machen«, sagte Ida. »Vielleicht ist es besser, wir sehen uns das Ergebnis zusammen an?«

Thomas betrachtete den nächstgelegenen Haufen. Dreißig Fälle, das war machbar. Damit ließ sich deutlich einfacher arbeiten als mit der anonymen Masse von Hunderten vermisster Personen im Register der Reichskripo. Aber sie würden noch genauer selektieren müssen, bevor sie loslegen konnten.

Aram hatte sich schon an der Längsseite des Konferenztisches niedergelassen.

»Jeder eine Hälfte?«, schlug er vor und zog eine Akte zu sich heran, ohne Thomas’ Antwort abzuwarten. »Schauen wir mal, was wir finden.«

 

Thomas drehte den Kopf von einer Seite zur anderen, dass es hörbar knackte. War das ein weiteres unwillkommenes Zeichen, dass er in ein paar Jahren fünfzig wurde?

Er war unangenehm steif im Rücken, aber dafür hatten sie es geschafft, in drei Stunden und mit literweise Kaffee alle Akten durchzugehen.

Jetzt lagen drei ungeklärte Fälle vor ihnen auf dem Tisch, die aus der Masse hervorgestochen waren.

Margit kam ins Zimmer. Sie kaute Kaugummi, aber ihre Kiefer waren trotzdem angespannt. Ihr kurz geschnittenes graues Haar trug nicht dazu bei, den Anblick zu mildern.

Aram stand auf und ging zum Whiteboard. Er griff nach einem blauen Filzstift und nahm die Kappe ab.

»Wollen wir anfangen?«, fragte er und schrieb in fein säuberlicher Handschrift drei Namen an die Tafel:

August Marklund

Siri Persson Grandin

Astrid Forsell

Thomas zog die nächstgelegene Aktenmappe zu sich heran, auf der »August Marklund« stand.

»Marklund wurde vor gut vierzehn Jahren vermisst gemeldet«, sagte er. »Also Anfang zweitausend. Er war damals dreiundsiebzig Jahre alt und wohnte in Gustavsberg. Er verschwand an einem ungewöhnlich kalten Tag im November und wurde trotz umfangreicher Suchmaßnahmen nie gefunden. Vermutlich hat er sich im Wald verirrt, in dem er für gewöhnlich spazieren ging, und ist erfroren.«

»Warum wollt ihr euch seinen Fall genauer ansehen?«, fragte Margit.

»Er war Segler, aktives Mitglied im KSSS und oft auf Sandhamn«, antwortete Aram. »Damit besteht eine Verbindung zu Telegrafholmen, auch wenn sie schwach ist, oder zumindest zur näheren Umgebung. Außerdem ist sein Portemonnaie verschwunden, und er hatte immer viel Bargeld bei sich. Das könnte auf einen Raubmord hindeuten.«

»Oder auf einen alten Mann, der aus Gewohnheit seine Geldbörse in der Hosentasche trug, als er sich im Wald verirrte«, murrte Margit.

Ihre Laune hatte sich seit dem Morgen offenbar nicht gebessert.

»Weiter«, sagte sie kurz.

Thomas schlug die zweite Akte auf. Sie enthielt Ausdrucke und Anmerkungen zu einer der vermissten Frauen.

»Siri Persson Grandin war fünfunddreißig, als sie vor rund zehn Jahren verschwand«, begann er. »Sie arbeitete als Politsekretärin beim Gemeinderat und wurde an ihrem Arbeitsplatz sehr geschätzt. Verheiratet war sie mit dem zehn Jahre älteren Petter Gradin, die beiden hatten keine Kinder. Siri und ihr Mann wohnten in einem Reihenhaus auf Djurö. Das ist eine halbe Bootsstunde von Telegrafholmen entfernt.«

»Wie ist sie verschwunden?«, fragte Margit.

»Laut Ehemann, einem Autohändler, war sie nicht zu Hause, als er von einer Dienstreise zurückkehrte. Er gab an, sie seitdem nicht mehr gesehen zu haben.«

Margit beugte sich vor.

»Das klingt doch schon wesentlich interessanter als der verschwundene Opa«, sagte sie. »Zumindest legt die Statistik nahe, dass der Ehemann etwas damit zu tun hat.«

Die meisten Frauenmorde waren Beziehungstaten, das war kein Geheimnis.

»Er hatte für den Zeitpunkt ihres Verschwindens ein Alibi«, warf Ida zaghaft ein.

Margit schnaubte verächtlich.

»Natürlich hatte er das.«

Ida begann eilig, etwas zu notieren.

»Ich glaube sogar, ich erinnere mich an den Fall«, sagte Margit. »Damals wurde eine ziemlich groß angelegte Suchaktion durchgeführt, oder?«

»Es wurden eine Menge Ressourcen dafür aufgeboten«, bestätigte Thomas. »Das war vor Missing People, aber man hat die ganze Umgebung und die Orte abgesucht, an denen Siri Grandin sich für gewöhnlich aufhielt.«

Die Akte war verhältnismäßig dick, sie enthielt etliche Vernehmungen und Befragungen von Personen, die in irgendeiner Beziehung zu der verschwundenen Frau standen. Man hatte sogar Siris Computer untersucht und ihre Kreditkarte, die nach ihrem Verschwinden nicht mehr benutzt worden war, sowie ihre Netzkarte für den Verkehrsverbund überwacht.

»Man hat Kollegen und Nachbarn befragt«, sagte er, »und eine Reihe anderer Personen, die Kontakt zu ihr hatten. Aber ihre Handtasche und ihr Mobiltelefon waren verschwunden, deshalb war es nicht möglich, ihre SMS oder Ähnliches zu rekonstruieren. Es gab keinerlei Hinweise, dass sie umgebracht worden war.«

»Der Fall wurde also zu den Akten gelegt?«, fragte Margit.

»Ja. Man vermutete, dass sie aus freien Stücken untergetaucht war, um sich das Leben zu nehmen. Sie hatte sich außerdem am Tag zuvor krankgemeldet.«

»Gab es einen Abschiedsbrief?«

»Sie hat eine Ansichtskarte hinterlassen«, sagte Thomas.

Unter dem Beweismaterial befand sich das Foto einer Ansichtskarte, die Siris Ehemann im Briefkasten gefunden hatte. Auf der Rückseite stand in ungelenken Buchstaben »Verzeih mir«.

»Das scheint mir absolut etwas zu sein, was wir uns näher ansehen sollten«, sagte Margit.

Ihr Blick fiel auf die dritte Akte, die direkt vor ihr lag.

»Es gibt noch einen dritten Fall, sagt ihr? Wer ist das?«

»Ein junges Mädchen«, erwiderte Aram. »Astrid Forsell.«

»Sie ist auch vor rund zehn Jahren verschwunden«, sagte Thomas. »Astrid war erst siebzehn, als sie von ihrer Mutter, die das alleinige Sorgerecht hatte, vermisst gemeldet wurde. Die Eltern waren geschieden und Astrid lebte bei ihr.«

»Bestand Verdacht auf ein Verbrechen?«

»Nicht direkt. Da es keine Hinweise darauf gab, dass sie gegen ihren Willen entführt worden war, wurde der Sache nicht weiter nachgegangen. Es war allseits bekannt, dass sie ein schlechtes Verhältnis zu ihrer Mutter hatte, also ging man davon aus, dass sie von zu Hause weggelaufen war. Sie wäre ohnehin einen Monat später achtzehn und damit volljährig geworden.«

»Welche Verbindung gibt es zu Sandhamn?«, fragte Margit.

»Ihre Mutter hat dort ein Haus«, erwiderte Aram. »Sie wohnt bis heute auf der Insel. Sie kann Telegrafholmen sozusagen von ihrem Fenster aus sehen.«

»Ist das der Grund, warum ihr euch den Fall vornehmen wollt?«

Thomas nickte.

»Das und die Tatsache, dass sie sich nie wieder gemeldet hat. Zehn Jahre ohne jeglichen Kontakt zur Familie sind eine lange Zeit für jemanden, der als Teenager von zu Hause ausgerissen ist.«

Margit stützte den Kopf auf die Hand und überlegte einen Moment.

»Fangt erst mal mit den Frauen an«, sagte sie. »Wir warten mit August Marklund, bis wir wissen, ob wir einen Mann oder eine Frau suchen.«

Inhaltsverzeichnis

Siri

Endlich blühte die Hecke. Siri genoss den süßen Duft, während sie zur Bushaltestelle lief. Der Mai war der schönste Monat des Jahres. Sie liebte es, wenn alles grün wurde und die Bäume mit Blüten übersät waren.

Im Winterhalbjahr bereute sie manchmal, dass Petter und sie sich entschieden hatten, so weit außerhalb von Stockholm zu wohnen, aber um diese Jahreszeit war es herrlich.

Siri stieg in den Bus und fand einen freien Platz. Sie hatte an diesem Morgen eine wichtige Besprechung und holte ein paar Unterlagen heraus, um sie während der Fahrt zum Gemeindehaus zu lesen. Der Wahlkampf hatte gerade begonnen, die nächsten Monate würden spannend werden. Irgendwie war es schön, in der Arbeit aufzugehen, bei der Stimmung, die zu Hause herrschte.

Schräg gegenüber auf der anderen Seite des Mittelgangs saß ein junges Pärchen. Das Mädchen mit den langen, etwas zotteligen Haaren sah süß aus. Der Junge trug eine blaue Windjacke über seinem weißen T-Shirt.

Das Mädchen sagte etwas, das den Jungen zum Lachen brachte. Er beugte sich vor und drückte ihr einen Schmatz auf die Lippen. Das Küsschen ging in einen langen, leidenschaftlichen Kuss über. Als sie schließlich voneinander abließen, fing das Mädchen zufällig Siris Blick auf.

Die Kleine kicherte verlegen, murmelte »sorry« und konnte es doch nicht lassen, sich vorzubeugen und den Jungen erneut zu küssen, während sie ihre Finger mit seinen verschränkte.

Siri wandte das Gesicht ab. Niedlich, wie verliebt die beiden waren. Dennoch schnürte es ihr den Hals zu. Es war lange her, seit Petter und sie so vernarrt ineinander gewesen waren.

Der Bus schaukelte durch eine Kurve und Siri griff nach der Stange, um sich im Sitz zu halten.

Sie war jung gewesen, als sie geheiratet hatten, erst dreiundzwanzig. Petter war zehn Jahre älter, weltgewandt und erfahren. Er war ihr sicherer Hafen gewesen, ihr Fels in der Brandung, während sie zu Ende studierte und über ihre Zukunft nachdachte.

Als sie vor den Altar traten, war sie so von Liebe erfüllt gewesen, dass sie am ganzen Körper gezittert hatte. Noch heute konnte sie sich an jeden Moment ihrer Hochzeit erinnern, an diesen intensiven Glücksrausch, der sie durch den Tag getragen hatte.

Trotzdem konnte sie dieses Gefühl nicht mehr heraufbeschwören, sosehr sie es auch versuchte.

Das Mädchen streichelte die Hand des Jungen. Er hob den Arm und legte ihn um ihre Schultern, zog sie noch enger an sich.

Obwohl Siri sich eigentlich auf ihre Lektüre hätte konzentrieren müssen, stiegen ihr die Tränen in die Augen. Sie hätte gern ein ebensolches Verlangen nach Petter empfunden, aber sie wusste nicht, wie.

Wenn er sie berührte, reagierte sie steif und ablehnend. Begehren ließ sich nicht erzwingen. Am schlimmsten war es, wenn er versuchte, sie zu küssen. Seine Lippen erschienen ihr kalt und fremd, obwohl seine Küsse einst ein Feuer in ihr entfacht hatten.

Wann hatte sie angefangen, sich neben ihrem Mann einsam zu fühlen? Sie konnte sich nicht mehr erinnern.

Siri versuchte sich einzureden, dass es nur eine vorübergehende Phase war. Die letzten Jahre waren für sie als Paar schwer gewesen. Sie hatten lange mit Gegenwind zu kämpfen gehabt. Das hatte an ihnen gezehrt, sowohl emotional als auch finanziell.

Sie hatte mal gelesen, dass manche Ehen aus solch schweren Zeiten gestärkt hervorgingen, dass es die Ehepartner nur noch enger aneinanderschmiedete. Während andere daran zerbrachen.

Damals war sie überzeugt gewesen, dass sie und Petter zur ersten Kategorie gehörten. Jetzt war sie sich da nicht mehr so sicher.

Der Busfahrer kündigte die nächste Haltestelle an. Zeit zum Aussteigen.

Unwillkürlich warf sie einen letzten Blick auf das schwer verliebte Pärchen. Die beiden merkten nicht, dass sie ihre Tasche nahm und aufstand.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 11 

Die dunklen Wolken, die am Nachmittag aufgezogen waren, hatten die Sonne vertrieben, und das Meer war bleigrau. Die Fenster der Brand’schen Villa waren leicht beschlagen, als Nora sich im Esszimmer an den Tisch setzte.

Jonas hatte gebackenen Fisch mit Frühkartoffeln, Dill und zerlassener Butter gemacht. Julia hatte schöne Servietten gefaltet und auf die Teller gelegt. Kerzen brannten in den alten Silberleuchtern, die zum Inventar des Hauses gehörten, das sie von Tante Signe geerbt hatte.

Die Flammen flackerten im schwachen Luftzug, der von den Fenstern kam, aber sie konnten die Schatten nicht verjagen.

Nora lief ein Schauer über den Rücken. Es war schwül und feucht, wahrscheinlich lag ein Gewitter in der Luft.

Sie hatte überhaupt keinen Hunger, aber Jonas hatte sich solche Mühe gegeben. Also versuchte sie, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie keinen Appetit hatte, und schnitt die Bissen in kleine Stücke, die sie auf dem Teller herumschob. Zum Glück plapperte Julia in einer Tour, sonst wäre es am Tisch totenstill gewesen.

»Mama? Mama!«

Nora zuckte zusammen. Sie war in Gedanken versunken gewesen und hatte Julia nicht zugehört.

»Entschuldige, Liebes. Was hast du gesagt?«

Julia sah sie vorwurfsvoll an, und Nora legte ihr Besteck beiseite. Zwischen den Augenbrauen der Siebenjährigen stand eine ärgerliche Falte. Was hatte sie jetzt wieder verpasst?

Sie musste sich ständig konzentrieren, damit ihr nichts entging.

»Können wir morgen zum Baden nach Alskär fahren?«

Julia liebte Alskär, die kleine Insel mit den schönen flachen Stränden zehn Minuten östlich von Sandhamn. Nora war als Kind oft dort gewesen und als Erwachsene mit ihren eigenen Kindern unzählige Male hingefahren. Es war das perfekte Ziel für einen sommerlichen Ausflug.

»Wir können ein Picknick machen! Und Molly und ihre Mama und ihren Papa nehmen wir mit, ja?«

Jetzt lächelte Julia wieder. Ihre Lippen glänzten von der geschmolzenen Butter, mit der sie das Essen auf ihrem Teller beinahe ertränkt hatte.

»Wir waren schon so lange nicht mehr auf Alskär«, fuhr sie fort. »Bitte, Mama …«

Nora schloss die Augen. So viele Sachen mussten für einen Tag am Strand eingepackt werden. Badelaken, Strandspielzeug, Kleider zum Wechseln. Sie musste Kaffee kochen und Brötchen kaufen. Es gab so unheimlich viel zu bedenken.

»Mal sehen, Liebling.«

Julia ließ den Kopf hängen, sodass ihr die schulterlangen blonden Haare ins Gesicht fielen.

»Du willst überhaupt nie mehr was machen«, murmelte sie.

Das saß. War das der Eindruck, den ihre Tochter von ihr hatte?

»Aber Julia«, erwiderte Nora lahm und griff nach ihrem Weinglas. Es war leer, obwohl Jonas gerade erst nachgeschenkt hatte. Sie zog die Hand zurück.

»Wir warten mal ab, wie das Wetter morgen wird, Schnubbelchen«, kam er ihr zu Hilfe. »Wenn es regnet, wäre es keine so gute Idee, dort hinzufahren.«

Nora nahm die Weinflasche und goss sich ein neues Glas ein.

»Papa hat recht«, sagte sie. »Wir entscheiden das morgen.«

Sie schob sich ein Stück Fisch in den Mund und kaute lange, ohne etwas zu schmecken.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 12

Es war schon dunkel, als Thomas die Haustür aufschloss. Er hasste es, in die leere Wohnung an der Östgötagatan zurückzukommen. Es war besser, in Flemingsberg zu bleiben. Dort konnte er wenigstens so tun, als wartete zu Hause jemand auf ihn.

Er hängte die Jacke an die Garderobe und ging in Elins Zimmer. Sie war im März acht geworden, und der Raum war voller Puppen. Obwohl er versucht hatte, sie für Autos und Eisenbahnen zu begeistern, liebte sie alles, was rosa war. Auf jeden Fall würde er sie im Herbst zum Handball mitnehmen, dem Sport, den er jahrelang wettkampfmäßig betrieben hatte. Nächstes Jahr konnte sie dann anfangen zu spielen, wenn sie wollte.

Thomas setzte sich auf Elins Bett und nahm eins ihrer Kuscheltiere hoch, einen großen hellbraunen Teddy. Das weiße Kaninchen, ohne das sie nicht einschlafen konnte, hatte sie mit zu Pernilla genommen. Es wohnte nur alle zwei Wochen bei ihm, genau wie Elin.

Er ließ den Teddy los und legte sich hin, ohne Licht zu machen. Er würde sich nie daran gewöhnen, seine Tochter nur tageweise bei sich zu haben. An das Gefühl, ihre halbe Kindheit zu verpassen.

Und das nach all den Jahren, in denen sie erfolglos versucht hatten, ein Kind zu bekommen.

Die Erinnerung an Emily schlich sich heran, obwohl er versucht hatte, sie in einem verborgenen Winkel seines Herzens einzuschließen. Einem Ort, den er nur selten besuchte, weil es zu sehr wehtat.

Er war nie richtig darüber hinweggekommen, dass Emily mit nur drei Monaten gestorben war. Aber er hatte gelernt, mit ihrem Verlust zu leben. Vielleicht hatte diese Psychologin, die er anfangs gehasst hatte, doch recht gehabt.

Es war möglich gewesen, eine neue Art des Weiterlebens zu finden.

Elins Geburt hatte ihm das Leben zurückgegeben. Es war ein Wunder gewesen, dass Pernilla entgegen jeder Wahrscheinlichkeit noch einmal schwanger geworden war.

Trotzdem schafften sie es nicht, eine funktionierende Beziehung miteinander zu führen.

Es war der Misserfolg seines Lebens, dass ihre Ehe zerbrochen war. Dass sie einander das angetan hatten, trotz aller Versprechen, miteinander zu leben.

Thomas schlug mit der Faust auf die Matratze.

Ein Teil von ihm sehnte sich noch immer nach Pernilla. Er wusste nur nicht, wie er mit ihr zusammenleben sollte.

Inhaltsverzeichnis

Mittwoch, 10. August

Kapitel 13

Die Eingangstür von Petter Grandins Reihenhaus war in einem Schwarz gestrichen, das langsam zu verblassen begann. Er lebte immer noch in dem Haus, das er mit seiner verschwundenen Frau bewohnt hatte, was immer das bedeuten mochte.

Thomas hob die Hand und drückte auf die Klingel, während Aram auf dem Kiessteig wartete.

Die Tür ging auf und ein braun gebrannter Mann Anfang fünfzig erschien. Er trug einen rotbraunen Vollbart. Sein Haar hatte dieselbe Farbe, auch wenn sich hier und da leichtes Grau zeigte.

Thomas und Aram stellten sich vor und baten darum, eintreten zu dürfen.

Petter Grandin zögerte mit der Hand auf der Türklinke. Nach ein paar Sekunden bedeutete er ihnen mit einer Handbewegung, ihm in die Küche zu folgen.

»Wir hätten ein paar Fragen zu Ihrer verschwundenen Frau«, sagte Thomas.

Petter Grandin griff nach einer halb vollen Kaffeetasse, die auf der Spüle stand.

»Sie ist tot«, sagte er und setzte sich an den Küchentisch.

»Ihre Frau wird vermisst«, betonte Aram und nahm ihm gegenüber Platz.

»Sie wurde bereits vor Jahren für tot erklärt. Das sollten Sie doch wissen. Was bringt es, über die Sache zu reden?« Grandin seufzte.

»Können Sie uns erzählen, was damals passiert ist, als Ihre Frau verschwand?«, fragte Thomas.

»Wieso? Ihre Kollegen haben mich das schon hundert Mal gefragt.«

Grandin kniff die Lippen zusammen und starrte auf seine Kaffeetasse.

Thomas wechselte einen Blick mit Aram. Es wäre ihm lieber gewesen, dass Petter Grandin ihre Fragen beantwortete, bevor sie ihm von dem Fund auf Telegrafholmen berichteten.

»Wozu soll das gut sein, alles noch einmal aufzuwärmen?«, fügte Grandin hinzu.

»Wir möchten uns nur ein bisschen mit Ihnen unterhalten«, sagte Thomas.

Grandin blickte auf seine Armbahnduhr.

»Ich muss zur Arbeit.«

»Wir bleiben nicht lange«, versicherte Aram.

»Ich war damals für ein paar Tage geschäftlich verreist«, antwortete Grandin mit hörbarem Seufzer. »Als ich an jenem Mittwochabend zurückkam, war niemand zu Hause. Ich versuchte, Siri auf ihrem Handy zu erreichen, aber sie ging nicht ran, obwohl ich es mehrere Male probierte.«

»Fehlte etwas von ihren Sachen?«, fragte Aram. »Pass, Geld, ihre Lieblingskleider?«

»Nein. Ihr Pass lag in der Schublade, wo er immer lag, aber das habe ich erst später entdeckt. Allerdings war ihre Handtasche weg, und eine Jacke.«

»Waren Sie beunruhigt?«

»Nicht sofort. Ich nahm an, sie sei vielleicht mit einer Freundin unterwegs und würde schon irgendwann heimkommen. Ich war mir auch nicht sicher, ob ich ihr gesagt hatte, wann genau ich wieder zurück wäre.«

Ein Tropfen Kaffee hatte sich in Grandins Bart verfangen. Er wischte ihn mit dem Zeigefinger weg.

»Was haben Sie dann gemacht?«, fragte Aram.

»Ich bin schlafen gegangen. Als sie am nächsten Morgen immer noch nicht da war, habe ich ihre Schwester angerufen. Ich dachte, dass Siri vielleicht bei ihr übernachtet hat. Sie hatten ein sehr enges Verhältnis, und Suss wohnte näher zur Stadt, in Liljeholmen. Manchmal blieb Siri bei ihr, wenn sie nicht den ganzen Weg nach Djurö zurückfahren wollte.«

»Aber bei ihrer Schwester war sie nicht?«, fragte Thomas.

»Nein.«

»Wie ging es dann weiter?«, wollte Aram wissen.

»Ich habe noch eine Stunde oder so gewartet. Schließlich habe ich bei Siri im Büro angerufen, ob sie vielleicht dort ist, aber die Kollegen hatten auch nichts von ihr gehört. Wie sich herausstellte, war sie schon seit Tagen nicht mehr zur Arbeit gekommen.«

»Wann wurde Ihnen bewusst, dass Ihre Frau verschwunden war?«, fragte Thomas.

»Im Laufe des Vormittags fing ich an, mir ernsthaft Sorgen zu machen.«