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In 'Das graue Haus' von Else Ury dreht sich alles um die spannende Geschichte einer Gruppe von Jugendlichen, die in einem verlassenen Haus mit einer mysteriösen Vergangenheit leben. Ury präsentiert diese Geschichte in einem einfühlsamen und emotionalen Stil, der es dem Leser ermöglicht, tief in die Welt der Protagonisten einzutauchen. Mit ihrem klaren Schreibstil und der Fähigkeit, komplexe Beziehungen darzustellen, zeigt Ury ihr Talent als erfahrene Schriftstellerin der Jugendbuchliteratur. Else Ury, eine angesehene deutsche Schriftstellerin des 20. Jahrhunderts, wurde vor allem durch ihre erfolgreiche Buchreihe 'Nesthäkchen' bekannt. Ihr Engagement für die Bildung und moralische Entwicklung junger Leser spiegelt sich auch in 'Das graue Haus' wider, das nicht nur unterhält, sondern auch wichtige Werte vermittelt. Urys Hintergrund als Pädagogin gibt ihrer Arbeit Authentizität und Tiefe, die sich positiv auf ihre Erzählungen auswirkt. 'Das graue Haus' ist ein fesselnder Roman, der Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen anspricht. Mit einer gut durchdachten Handlung und vielschichtigen Charakteren bietet das Buch einen Einblick in die Welt der Jugendlichen und regt zugleich zum Nachdenken über Freundschaft, Vertrauen und die Bewältigung von Herausforderungen an. Eine klare Empfehlung für Leser, die eine mitreißende Geschichte mit einer tiefgründigen Botschaft suchen.
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Seitenzahl: 387
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Lang, lang ist's her!«
Heute sind sie glückliche Frauen und zärtliche Mütter, die ihre Kinder mit all der Liebe umgeben, die sie selbst in ihren Mädchenjahren entbehren mußten. Das Leben hat uns auseinander geführt, die wir einst gar treulich zusammengehalten. Aber wenn ich auf meiner alljährlichen Bergfahrt in jene bierfröhliche Stadt Süddeutschlands einkehre, in welche ein freundliches Geschick die drei Schwestern verschlagen hat, dann gibt das ein Freuen und Fragen ohne Ende. Dann kommt Frau Marlene mit ihrer schlanken Dirn, die gerade so schüchtern und träumerisch aus den Blauguckerln schaut, wie es einst ihr Mütterlein getan. Dann reiten Frau Lottes Prachtbuben hü und hott auf meinem Knie, und Frau Hannis Nestküken hängt dem »Tanteli« schmeichelnd am Halse.
»Und weißt du wohl noch?« so tönt's – »denkst du wohl noch daran? Unsere lustige Schulzeit damals – ach, und das Kränzchen – und dies und jenes – ja, weißt du's wohl noch?«
Freilich weiß ich es noch, alles, auch das Geringste, das Heitere wie das Ernste – alles wird wieder in mir lebendig. Die Jahre versinken, und wir sind wieder die lebenslustigen Backfischlein, die in treuer Freundschaft Frohes und Trübes miteinander teilten.
Und wenn mich das rasselnde Dampfroß längst schon den drei Genossinnen meiner Jugendzeit entführt hat, umflattern sie mich immer noch, die heraufbeschworenen Schatten der Vergangenheit. Dann stütze ich gedankenvoll das Haupt in die Hand und sinne, wie wunderbar sich das Schicksal der drei Schwestern gewendet hat. Lang, lang ist's her!
An einem stürmischen Novemberabend war es.
Der Wind peitschte den naßkalten Regen durch die Straßen der Großstadt. Wie ausgestorben lag der sonst sehr belebte, Platz da. Wer heute seine gemütlichen vier Pfähle verlassen mußte, der hastete, möglichst bald aus dem schaurigen Wetter wieder heimzukommen.
Doch sonderbar! Die drei schwarzgekleideten Mädchen dort drüben schienen es nicht so eilig zu haben. Immer wieder gingen sie das Endchen von der Straßenecke zu dem großen, grauen Hause hin und her, achtlos, daß der Sturm ihre dicken Flechten zauste, und der Regen ihnen in die jungen Gesichter schlug.
»Komm, Marlene, wir müssen hinauf,« sagte plötzlich entschlossen Lotte, die mittlere der Schwestern, ein bildschönes, kräftiges Mädel von vierzehn Jahren.
»Ach Lotte, nein – einen Augenblick – nur noch eine Minute!« Die blonde Marlene hielt die um ein Jahr jüngere Schwester angstvoll zurück.
»Wir wollen doch gehen,« bettelte Hanni, die kleinste, weinerlich. »Mir ist so kalt, so schudderig –«
»Kommt!« Energisch faßte Lotte die Hand der Schwestern. »Er wird uns ja nicht gleich aufessen!«
»Lotte, ums Himmels willen, sei nur nicht vorlaut – sei bloß nicht naseweis! Versprich mir, daß du höflich und bescheiden sein wirst, ja, Lotte?« Marlene streichelte erregt Lottes nasses Gesicht.
»Mädel, was für eine Bangbüchs bist du! Wir sind doch unser drei. Sehr freundlich war des Großonkels Aufforderung, zu ihm zu kommen, ja nicht, und daß er nicht mal zu Papas Beerdigung gewesen ist – – –« Lotte brach jäh ab.
»Er ist doch aber unser Großonkel,« warf Marlene mahnend ein.
»Ich will ihn sehr lieb haben!« Klein Hanni schmiegte sich an die großen Schwestern.
Die sahen einander betroffen an.
Konnte man denn den rauhen, wortkargen Großonkel, den sie in ihrer Kinderzeit mehr gefürchtet hatten als den »schwarzen Mann«, auch liebhaben?
»Alle Kinder lieben ihre Verwandten.« Marlenes Lippen zuckten. »Denke nur, was für gute Onkel Ilse hat! – Lotte, wir wollen doch versuchen, Großonkel Heinrich mit Liebe und Ehrerbietung entgegenzukommen, ja? Vielleicht gewinnt er uns dann auch ein bißchen lieb.«
»Das glaube ich nicht,« antwortete die unverbesserliche Lotte ziemlich gleichmütig. »Hat er uns denn bisher etwas anderes als Strenge und Härte gezeigt? Nein, nein, da ist Hopfen und Malz verloren. Mir soll es wohl recht sein, wenn er den Anfang machen will mit dem Liebhaben – ich habe aber wenig Hoffnung, Kinder.«
Lotte zog ihr junges Gesicht in so sorgenvolle Falten, daß Marlene unwillkürlich lächeln mußte. Gleich darauf aber wurde sie wieder ernst, und ihr Herz begann zu schlagen, als ob es ihr die Brust sprengen wollte. Sie waren inzwischen langsam und schwerfällig die kalten Marmortreppen des grauen Hauses emporgestiegen und standen jetzt vor dem großen eichenen Portal, das ein Schild mit dem Namen »Heinrich Grimm« trug. Stumm starrten sie auf die schwarzen Buchstaben. So streng, so grimmig sahen die aus, ganz wie der Großonkel.
»Geh du zuerst, Lotte, ja – ach, bitte!« Die große Marlene schob die jüngere Schwester vor und deutete nach dem Klingelgriff.
»Hannemann, geh du voran,« scherzte Lotte etwas gezwungen, denn auch sie fühlte ihren frischen Mut jetzt sinken. Mit eidechsenhafter Bewegung verschanzte sie sich wieder hinter dem Rücken der Großen und schickte die kleinste nach vorn.
»Hanni – ja, Hanni!«
»Nein – nein!« Der neunjährigen Hanni kam die Sache auch nicht recht geheuer vor; sie machte Miene, wieder die Treppe hinunterzulaufen.
Lotte begann sich ihrer Feigheit zu schämen.
»Kinder, was für Hasenfüße sind wir! Also ›rein in die Höhle des Löwen‹, sprach die Maus und wurde mit Haut und Haaren verschluckt.« Breitspurig stellte sie sich an die Tür und zog mit möglichst unternehmender Miene die Klingel.
O je, gab die einen durchdringenden Ton von sich! Er fand in den drei bangen Mädchenherzen einen schrillen Widerhall.
»Wollen wir nicht lieber fortlaufen?« schlug Hanni scheu vor, als sich schlurfende Schritte der Tür näherten.
»Wenn nur wenigstens Frau Tann gut zu uns wäre,« flüsterte Marlene.
Da wurde auch schon die Tür geöffnet. Frau Tann, des Großonkels Hausdame, stand vor den drei sich angstvoll wie die Küchlein zusammenscharenden Mädchen.
»Da seid ihr ja,« sagte sie nicht unfreundlich. »Willkommen in eurer neuen Heimat! Ich habe schon nach meinen jungen Pflegebefohlenen ausgeschaut. Na, aber der Onkel, der ist nicht besonders erfreut darüber, daß ihr so spät kommt.«
»Das fehlt uns noch,« murmelte die widerspenstige Lotte.
»Legt nur eure Sachen erst hier draußen ab, daß ihr mir meine Zimmer nicht naß macht,« gebot Frau Tann.
Schweigend folgten die Schwestern ihrer Aufforderung. Ach, am liebsten hätten sie auch noch Stiefel und Strümpfe ausgezogen, nur um den Augenblick der Begegnung mit dem Großonkel möglichst hinauszuschieben.
Aber die Zeit rollte unbarmherzig weiter. Der gefürchtete Augenblick kam heran.
Bums, da war die Lotte in ihrer Aufregung über die Türschwelle gestolpert! Der Länge nach purzelte sie in Onkels Zimmer hinein.
»Au –« sie rieb sich stöhnend ihr schmerzendes Knie, »au –«
Halb ängstlich, halb belustigt schielte sie zum Großonkel hin. Hanni aber, die Kleine, lachte laut über die merkwürdige Einführung.
Seltsam klang das Kinderlachen in dem stillen Raum. Erschreckt legte Marlene dem plötzlich so dreisten Schwesterchen die Hand auf den Mund. Dann schritt sie, allen Mut zusammenraffend, auf den stirnrunzelnden alten Herrn zu.
»Guten Abend, lieber Onkel!« Sie griff nach seiner herabhängenden Rechten und führte sie schüchtern an die Lippen. »Wir danken dir sehr, daß wir bei dir bleiben dürfen, und wir wollen auch gewiß –«
Sie verstummte jäh. Der Großonkel hatte abgewinkt; seine buschigen Augenbrauen zogen sich wenig verheißungsvoll zusammen. »Wie ein kleiner grauer Wald sehen sie aus,« dachte Lotte, trotzdem auch sie die Schwüle, die plötzlich im Zimmer herrschte, beklemmend fühlte.
»Hm, ja – hm, schon gut, schon gut – wollen sehen, ob es sich machen wird. Aber Lärm und Juchhei dulde ich nicht in meiner Häuslichkeit; das sage ich euch gleich.« Einer von Großonkels blitzenden Blicken streifte die langsam näher kommende Lotte. Der stieg das Blut zu Kopf. Sie achtete nicht darauf, daß Schwester Marlene ihr warnend auf den Fuß trat; das lose Mündchen lief mit ihr davon.
»Uns ist recht wenig nach Juchhei zumute, Onkel Heinrich; wir sind in Trauer,« stieß sie hervor. Mit keinem Wort hatte der Onkel bisher des großen Schmerzes gedacht, der die jungen Seelen noch durchzitterte! Das Backfischchen bekam selbst einen Schreck über seine Kühnheit; aber nun war es heraus.
Der Großonkel musterte das kecke junge Ding von oben bis unten.
»Hm – ja – hm – ich wünsche von der Angelegenheit nichts zu hören. Ich habe euch in mein Haus genommen, damit endlich der Zusammenhang mit denen da« – er wies in die Richtung des Kachelofens – »für immer gelöst wird.«
Lotte richtete sich hoch auf, und Marlene begann beschwörend ihr mit den Augen zu winken. Jetzt kam es – jetzt ging es gegen des Vaters Verwandte los. Lotte zitterte vor Aufregung am ganzen Leibe.
Aber nein! Ob der Onkel den Sturm ahnte, den er in dem Mädchenherzen heraufbeschwor? Er sagte nichts weiter darüber.
»Frau Tann, führen Sie meine Nichten in ihr Zimmer, daß sie sich einrichten können; die Sachen sind ja wohl schon gekommen,« brummte er endlich ziemlich unverständlich.
Erlöst folgten Marlene und Lotte der Haushälterin. Der Hanni aber, einst des Vaters Herzblatt, war das liebebedürftige kleine Herz übervoll. In plötzlicher Aufwallung schlang sie beide Arme um den Hals des gestrengen Großonkels.
»Onkel Heinrich, ich will dich liebhaben,« flüsterte sie in zärtlichen Lauten, das Gesicht gegen des Onkels bärtige Wange pressend.
Der saß wie erstarrt. Dann schob er die Kleine ein Endchen von sich ab und betrachtete sie gleich einem Wundertier. Warm hatte es ihn an das verhärtete alte Herz gegriffen bei den schmeichelnden Kinderlauten. Aber die braunen Augen, die ihn da so zutraulich anblickten, das starke dunkle Haar, die schmale Nase und der weichgeschnittene Mund, das waren die Züge ihres Vaters, der ihn wissentlich getäuscht, der voll Leichtsinn sein Vermögen vertan hatte, und die Summe dazu, die der Onkel einst vertrauensvoll in seinem Geschäft anlegte!
»Laß den Firlefanz,« fuhr er die zusammenschreckende Kleine rauh an.
Mit tiefgesenktem Kopf schlich Hanni den großen Schwestern nach.
Das geräumige dreifensterige Hinterzimmer hatte der Großonkel für seine neuen Hausgenossinnen einrichten lassen.
»Wenigstens Luft und Licht,« raunte Lotte der stillen Marlene zu, »sonst sieht es hier ungefähr so aus wie im Gefängnis.« Sie blickte sich in dem kahlen, unwirtlichen Raum um.
Drei schmale Eisenbetten an der Längswand, wie Soldaten hintereinander aufmarschiert, ein etwas altersschwacher Waschtisch mit blauem Emaillegeschirr, ein Tisch, der die Eigenschaft hatte, mit der einen Seite in die Luft zu gehen, wenn man sich auf die andere aufstützte, und drei Holzstühle, das war die ganze Einrichtung.
»Kinder, sogar die Fenster sind vergittert, falls wir Lust hätten, auf diesem Wege auszukneifen!« Die unvorsichtige Lotte hatte es mit so kräftiger Stimme geflüstert, daß Frau Tann aufmerksam wurde.
»Na, Lotte, allzu dankbar scheinst du ja dem Onkel für seine liebevolle Aufnahme nicht zu sein!«
Das junge Mädchen verzog den hübschen Mund. Aber Marlene nahm rasch das Wort.
»Doch Frau Tann! Ach, wenn Sie wüßten, wie froh wir sind, daß wir wieder ein Heim gefunden haben! Und wenn Sie nur ein bißchen gut zu uns sein wollten! Wir sind doch jetzt Waisenkinder –« Ihre Angst und Aufregung löste sich plötzlich in krampfartiges Schluchzen.
Lotte und Hanni, die ihr blondes Marlenchen über alles liebten, eilten erschreckt auf die Weinende zu und trösteten sie mit Streicheln und Küssen. Aber als das alles nicht verfing, stimmte Hanni plötzlich in das Konzert mit ein, während Lotte mit der rechten Hand ihren linken Zeigefinger zerquetschte und heimlich die Staaten Südamerikas herzusagen begann. Geographie war für sie der Inbegriff aller Langweile und beruhigte auch die heftigste Gemütsbewegung. Frau Tann sollte sie nicht weinen sehen.
Die stand im Zwiespalt der Gefühle vor den drei Schwestern. Die armen Würmer taten ihr leid; aber was hatte Herr Grimm, vor dessen Launen auch sie zitterte, ihr noch vor kurzem anbefohlen?
»Seien Sie streng und energisch gegen die Mädchen! Erziehen Sie sie zu Ernst und Arbeit, zu Fleiß, Einfachheit und Sparsamkeit! Nur keine Gefühlsduselei! Sie sollen nicht weichherzig, eitel und vergnügungssüchtig werden, wie ihre Mutter war!«
Daran dachte Frau Tann, als sie jetzt den Zeigefinger hob und mit mahnender Stimme sagte: »Kinder, heulende Frauenspersonen sind dem Onkel ein Greuel. Wenn der eure verweinten Gesichter sieht, wird er übler Laune.«
»Das ist er doch schon sowieso!«
Es war schrecklich; die Lotte konnte nun mal keine Antwort hinunterschlucken, trotzdem sie doch ihrer Marlene versprochen hatte, nicht vorlaut zu sein.
Frau Tann musterte das naseweise Ding denn auch mit mißbilligenden Blicken. Lottes Gesicht drückte offenbare Abneigung aus.
Und im Geiste sahen sie beide alle die Kämpfe voraus, die sich im Laufe der Zeit zwischen ihnen abspielen würden.
»Auspacken könnt ihr nachher; jetzt ist es bald Abendbrotzeit. Onkel hat es gern, wenn ihr euch gleich nützlich macht.«
Onkel hat es gern – Onkel liebt das nicht – das war der Wahlspruch, der von nun an über jeder Handlung der Schwestern schweben sollte.
»Marlene, du kannst den Tisch decken; des Abends wird in Onkels Zimmer gegessen. Lotte, du sollst mir in der Küche helfen, und Hanni muß schnell noch einmal zum Bäcker hinüber; das Brot wird nicht reichen. Drei junge Menschen wie ihr, die brauchen schon was.« Frau Tann seufzte im Gedanken an das schmale Wirtschaftsgeld, das ihr der reiche Herr Grimm bewilligte.
Lotte fand es zwar nicht gerade taktvoll von Frau Tann, daß sie ihnen schon im voraus ihren jugendlichen Appetit vorwarf; aber sie war jetzt mit etwas anderem beschäftigt. Hanni, das kleine, zarte Ding, das der Vater wie seinen Augapfel behütet hatte, durfte bei dem abscheulichen Wetter und zu so später Stunde nicht auf die Straße geschickt werden. War denn Onkels Mädchen nicht da?
Aber sie unterdrückte eine diesbezügliche Frage und bat nur: »Bitte, Frau Tann, lassen Sie mich gehen! Hanni ist so ängstlich; sie findet den Bäcker nicht.«
Ohne Frau Tanns »Ih, so ungeschickt ist die Kleine?« zu beachten, schlüpfte sie schnell in den Mantel.
Bald darauf trat Marlene, mit einem großen Tablett bewaffnet, ängstlich in Onkel Heinrichs Stube. Daß auch sie gerade den Tisch decken mußte! Der dreisten Lotte wäre es lange nicht so unbehaglich unter des Großonkels Blicken gewesen.
Vorläufig nahm der freilich gar keine Notiz, von ihr. Er schien völlig in seine Zeitung vertieft. Marlene gab sich Mühe, durch das Zimmer zu schweben, sie wagte kaum, den Boden mit den Füßen zu berühren. Mißbilligend blickte sie auf den knarrenden Büfettkasten, daß er es wagte, in des Großonkels gefürchteter Nähe so aufdringlich zu quietschen.
Jetzt stand sie bereits fünf Minuten lang mit dem Tischtuch in der Hand unschlüssig an dem runden Tisch. Der Onkel hatte seine Zeitungen darauf ausgebreitet; die schüchterne Marlene wagte es nicht, ihn zu stören. Sie begann kaum hörbar zu seufzen, dann bescheiden zu husten; aber es nützte nichts. Vielleicht war es das beste, wenn sie das Tischtuch leise unter die Zeitung schob; der Großonkel schien ja ihre Gegenwart gar nicht zu bemerken.
Vorsichtig, ganz behutsam schob Marlene das Tischtuch unter des Großonkels Zeitung. Das Papier knisterte; Onkel Heinrich sah nicht auf. Brotkorb, Salzfaß und Butterglocke prangten bald auf dem Tisch. Nur den letzten Tischtuchzipfel mußte sie noch unter das Hauptblatt schieben.
O schrecklich! Sie hatte das Blatt zu nachdrücklich emporgeschleudert. Die Zeitung flog dem Großonkel gegen die Nase; seine Brille kam bedenklich ins Wanken.
Entsetzt bückte sich das junge Mädchen nach den davonfliegenden Blättern. Barmherziger, das Tischtuch mit allem, was darauf stand, sprang hinter ihr her – sie hatte es mit heruntergerissen!
Zwei niedliche kleine Berge Pfeffer und Salz erhoben sich auf dem Perserteppich, und die Butter breitete sich wie eine sonnenbeschienene Matte ihnen zu Füßen. Marlenchen aber hockte unter dem Tischtuch und wagte nicht, wieder zum Vorschein zu kommen.
Wenn doch der Erdboden sie verschluckt hätte! Aber dem fiel das gar nicht ein; der überließ das arme Backfischlein seinem Schicksal. Und das nahte. Als eine wie ferner Donner rollende Stimme klang es zu der entgeisterten Marlene: »Hm – gedenkst du etwa da unten zu übernachten?«
Sie steckte den heißen roten Kopf aus dem weißen Linnen ein klein wenig hervor. Aber schnell zog sie ihn wieder zurück, denn jetzt erst entlud sich des Großonkels eigentlicher Zorn: »Netter Anfang, das muß ich sagen! Das hat man von seiner Gutmütigkeit! Die eine kommt ins Zimmer hineingetolpatscht, und die andere macht nichts als Unfug, zerschlägt einem die Butterbüchse und die Nase!«
Marlene begann auf der Erde Ordnung zu schaffen, verursachte aber in ihrer Aufregung nur noch mehr Unordnung. Die Butter tat sie in den Brotkorb und das Salz in die Butterbüchse.
Onkel ließ inzwischen seinen Gefühlen freien Lauf.
»Verwahrlost – völlig verwahrlost – doch das war ja vorauszusehen bei der Erziehung – und ich muß die Suppe ausessen, die andere eingebrockt haben!« Das letzte ging in ein unverständliches Geknurr über.
Marlene preßte das Tischtuch gegen den Mund. Sie wollte ihren Vater nicht schmähen lassen, aber das Wort blieb ihr vor Angst in der Kehle stecken. Ja, wenn sie so mutig wie Lotte gewesen wäre!
Der Großonkel hatte sich schwerfällig erhoben. Es war ein schöner alter Herr. Die vornehme Gestalt, das kühn geschnittene Gesicht mit dem eisgrauen Schnurrbart und den blitzenden Augen erinnerte an Bismarck. Ohne der ganz in sich hineinkriechenden Marlene noch einen Blick zu schenken, verließ er das Zimmer.
Das war gut, denn das junge Mädchen sah jetzt erst, was es alles angestellt hatte. Zum Glück kam endlich die Lotte; die packte gleich anders zu. Marlene allein wäre niemals mit diesem Stilleben auf der Erde fertig geworden.
Kurze Zeit darauf war nichts mehr von dem Wirrwarr zu sehen. Die Hängelampe beschien ein friedliches Familienbild. Aber so einträchtig, wie es auf der Oberfläche aussah, war das nicht. In der Tiefe, da brodelte und wallte es gehörig.
Des Onkels Stimmungswogen allerdings hatten sich ziemlich geglättet; das Beefsteak war vorzüglich und mußte auch den heftigsten Groll besänftigen.
Marlene aber saß blaß vor ihrem Teller. Sie litt immer noch unter des Onkels kränkenden Worten. »Zart und empfindlich wie eine Mimose«, so hatte ihr Väterchen einst von ihr gesagt und dann hinzugefügt: »Kind, die rauhe Welt verlangt eine härtere Schale; die Welt hat Kanten und Ecken. Gib acht, daß sie dir nicht dein weiches Herz wundstößt!«
Ging denn dem alten Mann die Seele nicht auf beim Anblick seiner drei blühenden Großnichten?
Nein, er saß stumm vor seinem Beefsteak und schnitt es bedächtig in schmale Streifen. Er war nicht gewöhnt, beim Essen zu reden, und hatte nicht die Absicht, in irgendeiner Weise von seinen Gewohnheiten abzuweichen.
Auch Frau Tann sprach nicht. Erstens tat sie das in Herrn Grimms Gegenwart überhaupt nur, wenn sie gefragt wurde, und zweitens ließ sie hinter der gefurchten Stirn Zahlen über Zahlen aufmarschieren. Es war unmöglich, mit dem festgesetzten Wirtschaftsgeld auszukommen; voll Schrecken sah sie, wie Brot und Butter an dem einen Abend bereits zusammenschrumpften.
Die jungen Mädchen wagten nicht, die lähmende Stille zu unterbrechen. Die unbefangene Lotte allerdings hatte zuerst von allem möglichen zu erzählen begonnen, von der Pension, von der Schule, von Freundin Ilse; aber der Großonkel hatte dem frischen Mädchengeplauder ein eisiges Schweigen entgegengesetzt. Frau Tann hatte sie verwundert betrachtet, und Marlene ihr heimlich Zeichen gemacht, den Onkel nicht zu stören. Da versiegte der muntere Quell allmählich. Man hörte nichts weiter als das Klappern der Messer und Gabeln und das gedämpfte Surren der Gasflamme.
Lotte begann ungeduldig ihre Serviette zu zerknüllen. Es kribbelte sie förmlich, diese unerträgliche Stille durch irgendeine rangenhafte Tat zu unterbrechen; unruhig ruckte sie auf ihrem Stuhl hin und her. Da schob der Großonkel zu ihrem Glück den Teller zur Seite; das Essen war beendigt.
»Du gleichst deiner Mutter, Marlene,« sagte er plötzlich, als ob er das, was vorhergegangen, ganz vergessen hätte. Sein scharfer Blick wurde milder; er dachte daran, wie teuer ihm jene holden Züge einst waren, aber sie – sie hatte seine Liebe mit Undank gelohnt.
Marlenes zartes Gesicht überzog sich mit tiefer Röte. Würde Onkel Heinrich endlich ein liebes Wort finden?
»Hoffentlich hast du nicht auch die leichtsinnige, verschwenderische Art meiner Nichte geerbt,« fügte er mit hochgezogenen Augenbrauen hinzu.
Marlenes Blut floß zurück; sie fror plötzlich in dem warmen Zimmer.
»Lotte ist ganz der Herr Großonkel.« Frau Tann hielt das Vorangegangene für eine Aufforderung, auch ihre Meinung abzugeben.
Die durchdringenden blauen Augen des Onkels und die glänzenden seiner jungen Großnichte begegneten sich – eine Sekunde. Sie fühlten beide etwas Verwandtes in ihrem Blicke, und beide sträubten sie sich dagegen. Dem einsamen Mann war es unangenehm, ein Stück seines Ichs in einem anderen Menschen wiederzufinden, und Lotte dachte mit zusammengekniffenen Lippe»: »Lieder Himmel, wenn ich wirklich wie der Großonkel wäre, dann würde ich vor mir selber davonlaufen.«
Aber sie blieb nicht lange bei ihren stillen Gedanken.
»Und ich sehe wie mein Väterchen aus,« hatte soeben eine helle Kinderstimme laut und deutlich gesagt. Stolz und Liebe tönten aus den Worten der kleinen Hanni.
Die großen Schwestern sahen erschreckt zu ihr herüber und dann zum Onkel. Würde er sehr böse sein?
»Lassen Sie die Mädchen abdecken, Frau Tann,« sagte er, ohne von Hannis Worten Notiz zu nehmen. »Dann werde ich euch mitteilen, wie ich mir euren Aufenthalt bei mir denke.«
Die drei Schwestern gingen ab und zu.
»Achtung, Marlenchen, jetzt wird es schrecklich tagen!« Lotte gab der in sich gekehrten Marlene im Vorbeigehen einen freundschaftlichen Puff mit dem Ellbogen.
»Wo bloß das Dienstmädchen steckt?« brummelte sie aufs neue, als sie darauf eigenhändig das Geschirr reinigen mußte.
Sie sollte bald Aufklärung darüber erhalten.
»Ich habe das Mädchen entlassen,« begann der Großonkel seine Auseinandersetzung, »um die großen Kosten, die mir durch euch erwachsen, ein wenig einzubringen. Außerdem wünsche ich, daß ihr so einfach und arbeitsam erzogen werdet, wie es sich für arme Mädchen gehört.«
Lotte riß vor Erstaunen den Mund auf. Arm? Ja, aber der Großonkel, der ihre früh verwaiste Mutter als Kind ins Haus genommen und adoptiert hatte, war doch ein sehr reicher Mann?! Das hatte sie oft genug gehört!
»Eure – hm – Eltern haben mich durch Leichtsinn um einen Teil meines Vermögens gebracht; das wißt ihr.« Des Onkels Stimme klang hart. »Wenn ich euch trotzdem zu mir nahm, so geschah das, nicht weil ihr die Kinder meiner Nichte seid – dieses Band ist längst durchschnitten – sondern weil ihr nicht zu dem anderen gehen solltet, zu dem ehemaligen Kompagnon eures Vaters. Ein für allemal: merke ich je, daß ihr mit den väterlichen Verwandten noch irgendwelche Verbindung unterhaltet, so ziehe ich in derselben Stunde meine Hand von euch. Das laßt euch gesagt sein!«
»Onkel,« schrie Lotte gequält auf, und das Bild ihres lieben Onkels Theodor – ihres Vaters älteren Bruders – des feinfühlenden, vornehm denkenden Mannes, erstand vor ihrem Blick. In stummem Flehen hingen Marlenes Vergißmeinnichtaugen an dem Großonkel, und Hanni verzog weinerlich den Mund, trotzdem sie kaum die Hälfte von allem begriff.
»In welcher Klasse bist du, Marlene?« fuhr der Onkel in geschäftsmäßigem Tone fort, ohne die Gemütserschütterung der drei Kinder zu beachten.
»In der Selekta,« kam es leise von den Lippen des jungen Mädchens.
»Hm – unnütze Verschwendung, solche Mädchenköpfe mit Wissenschaft vollzupfropfen! Es gibt Wichtigeres zu lernen. Zu Weihnachten wirst du von der Schule abgehen; ich werde dich dann zu einer Schneiderin tun, damit du wenigstens die Sachen für dich und deine Schwestern bald selbst nähen kannst.«
Marlene starrte mit abwesendem Blick vor sich hin, als ob das eine ganz andere wäre, über deren Schicksal soeben entschieden wurde. Aber da der Großonkel nun eine Pause machte, ging es wie ein Ruck durch ihre langaufgeschossene Gestalt.
»Onkel – lieber Onkel Heinrich« – sie wußte nicht, woher sie den Mut zu der herzlichen Anrede nahm – »ich bin von der untersten Klasse an immer die Erste in der Schule gewesen – es war fest bestimmt, daß ich mein Lehrerinexamen machen sollte – ich werde von der Schule als einzige dem Königlichen Seminar ohne Prüfung überwiesen – bitte, bitte, erlaube es doch!« Sie hatte die gefalteten Hände zum Onkel emporgehoben.
»Ja – Marlene ist der Musterknabe der ganzen Schule, sechs Prämien hat sie schon. Du kannst dir gar nicht denken, was sie für ein Bücherwurm ist, Onkel Heinrich,« suchte Lotte ihrem Marlenchen zu helfen.
»Ein Grund mehr, um dem Unfug ein Ende zu machen. Morgen schreibe ich an den Direktor – basta!«
Marlene wagte keinen Widerspruch mehr.
»Nun komme ich dran,« dachte Lotte ergeben, als der Großonkel sich von neuem räusperte. »Wenn er doch den verständigen Gedanken hätte, mich ebenfalls aus der Schule zu nehmen!« Lotte stand mit dem Lernen und mit einigen Lehrerinnen auf dem Kriegsfuß.
»Hm – du, Charlotte, bist in der ersten Klasse, kommst Ostern in die Selekta; da wirst du – – –«
»Ich werde erst zu Michaelis in die Selekta versetzt, Onkel,« warf Lotte in Erinnerung an die letzte Zensur recht bescheiden ein, »aber ich habe mal Typhus gehabt, ja, und – und ein verstauchtes Bein –«
Warum war sie auch sonst immer so kerngesund gewesen! Nun hatte sie weiter keine Entschuldigung dafür, daß sie einmal in einer Klasse kleben geblieben war.
In des Großonkels Augen wetterleuchtete es schon wieder. »Ist die Osterzensur nicht tadellos, Charlotte, nehme ich dich ebenfalls von der Schule. Aus dem Fenster will ich mein Geld nicht werfen; merk dir das!«
»Na, nun weiß ich ja, was ich zu tun habe,« frohlockte das Backfischchen heimlich.
»Johanna wird natürlich vorläufig in der Schule sehr fleißig sein und sich bemühen, auch im Haushalt sich nach Möglichkeit nützlich zu machen –«
»Wer?« unterbrach Lotte den Onkel erstaunt. »Ach so, Hanni!« Sie sah belustigt zu dem Schwesterchen hinüber. Das arme Ding – da war doch die Kleine während der langen Auseinandersetzungen auf ihrem Stuhl fest eingeschlafen! Der Kopf mit dem kurzen Haarschwänzchen war nach vorn übergesunken; wie ein Bild süßen Friedens sah das leicht gerötete Kindergesicht mit den halbgeöffneten Lippen aus.
»Bringt die Schlafmütze ins Bett,« befahl der Großonkel ärgerlich. »Ihr mögt dann auch hinten bleiben.«
Mit gerunzelten Augenbrauen sah er, wie sanft und liebevoll Marlene das verschlafene Schwesterchen zu ermuntern bestrebt war. Aber als Marlene jetzt mit leisem Kuß der müde grunzenden Kleinen zuflüsterte: »Hannichen, wach auf, mein Liebling,« da schwoll des Onkels Stirnader.
»Laß doch das dumme Getue,« fuhr er die zusammenfahrende Marlene an. »Wach auf, Johanna; es schickt sich nicht, am Tisch zu schlafen.« Er rüttelte das neben ihm sitzende Kind nachdrücklich am Arm.
Die Kleine, so aus dem Schlummer gestört, riß erschreckt die Augen auf und sah in des Großonkels erzürntes Gesicht. Da fing sie jämmerlich an zu weinen.
»Auch das noch – Kindergeplärr – raus – –« rief der Großonkel, und ohne »Gute Nacht« verließen die drei Mädchen am ersten Abend das Wohnzimmer.
In der Hinterstube blieb es lange Zeit still.
Klein Hanni wurde ins Bett gebracht und warf sich mit einer trotzigen Falte zwischen den dunkeln Brauen unruhig in ihren Kissen umher. Stumm machten sich die Großen daran, noch das Nötigste auszupacken.
»Hier halt' ich es keinen – – –« hatte Lotte gleich ihrem Herzen Luft machen wollen, aber Marlene deutete warnend nach dem benachbarten Raum.
»Nicht mal in seinem Zimmer ist man vor fremden Ohren sicher,« grollte Lotte innerlich, als Frau Tanns schlurfende Schritte noch immer aus dem angrenzenden Gemach hörbar waren.
Schließlich lag Marlene in ihrem Bett, und Lotte hockte auf dessen Rand, im Nachthemd und mit hochgezogenen Füßen. So hielten sie Zwiesprach. Das hatten sie getan, seitdem man vor vielen Jahren ihr schönes, lachendes Mütterlein davongetragen, das ihre kleinen Lieblinge abends stets selbst zur Ruhe brachte. Da hatten sich die Kinderherzen im ersten, kaum bewußten Weh fest, fest aneinandergeschlossen, und das war so geblieben. Als man aus der vornehmen Tiergartenvilla auszog, als Wagen und Pferde verkauft wurden, als alle ihre Freunde, der Kutscher, die Köchin, die Bonne und selbst Ulrike, ihre alte Kinderfrau, den Kleinen so mitleidig über das Haar fuhren und seufzten: »Arme Kinder, wie wird man euch in der Welt herumstoßen!« da hatten sie mit verwunderten, verständnislosen Augen dreingeschaut. Sie fanden es ja so herrlich, mal etwas Neues zu erleben. Frau Dorn, zu der man die drei Kinder in Pension tat, war auch lieb und freundlich zu ihnen. Nur daß Väterchen immer jetzt auf Reisen war – er hatte eine Stellung in einem großen Geschäft angenommen – betrübte die Kinderherzen. Wenn er für kurze Zeit heimkehrte, war er still und gedrückt, bis seine kleinen Mädchen mit Streicheln und Schmeicheln ihn wieder die Sorgen vergessen ließen und lächeln machten.
Alle Monat einmal zog Frau Dorn ihnen die Sonntagskleider an. Dann fuhren sie eine lange Weile mit der Pferdebahn zu einem großen, grauen Haus. Da wohnte ein großer, grauer Mann. Der war nie freundlich zu ihnen, sondern immer streng und finster; die kleinen Dinger wagten kaum das Stückchen Kuchen zu essen, das man ihnen bot. Sie ängstigten sich entsetzlich vor dem grauen Haus und dem grauen Mann.
Und heute hatten sie nun für immer in das düstere, graue Haus, das Schreckgespenst ihrer Kinderjahre, übersiedeln müssen! Ach, und es schien fast noch schlimmer zu werden, als sie fürchteten!
»Wir müssen ausharren, Lotte; du weißt doch, was Onkel Theodor noch gestern sagte! Wie gern hätte er uns zu sich genommen, trotzdem er selbst nicht viel zu brocken hat. Aber er meint, wir hätten die Pflicht, all das Gute, was der Großonkel früher an unserer Mutter tat, ihm durch unsere Liebe zurückzugeben. Unserem Mütterchen hat es das Herz gebrochen, daß der Onkel, als sie verarmte, nichts mehr von ihr wissen wollte; daß er all ihre Briefe und Bitten unbeantwortet ließ. Aber Onkel Theodor sagt, er sei gar nicht so bös, der alte Mann, nur so grenzenlos verbittert; vielleicht ist sein Herz doch noch mit Liebe zu erwärmen.« Marlenes Gesicht sah mit einem Male um Jahre reifer aus.
Lotte gab ihr den allerletzten Gutenachtkuß. Aber zur Ruhe kam sie trotzdem noch nicht.
»Verflixt und zugeknöpft – au, meine große Zehe – Marlenchen, das Bett ist ja viel zu klein! Sieh nur, ich liege wie ein Frosch mit hochgezogenen Beinen da,« jammerte sie.
Marlene antwortete nicht mehr. Sie war bereits dabei, sich unhörbar in den Schlaf zu weinen; das tat sie immer, wenn ihr das Herz ganz besonders weh tat. Ob der Großonkel sie wirklich aus der Schule nehmen würde?
»Solch ein Geiz ist doch noch nicht dagewesen; jetzt steckt man mich ausgewachsenen, großen Backfisch in ein Kinderbett!« Das war das letzte, was Lotte dachte, ehe ein freundlicher Traumgott auch ihre Lider schloß.
So endigte der erste Tag in dem grauen Hause.
Graue Tage folgten.
Gleich am nächsten Morgen, als Frau Tann schon um sechs Uhr mit spitzem, knöchernem Finger gegen die Verbindungstür pochte, und »Aufstehen – 's ist höchste Zeit!« hineinrief, begann die Pein. Lotte hatte zwar ziemlich ausgeschlafen; aber da sie erst um acht in der Schule sein mußte, war es gegen ihre Grundsätze, auch nur eine Sekunde vor drei Viertel sieben aufzustehen. Marlene wiederum hatte jeden Morgen einen neuen Kampf mit sich selbst auszufechten, ehe sie sich entschließen konnte, das warme Bett zu verlassen. Hanni endlich lag in traumlos festem Kinderschlaf.
»Soll ich die ganze Arbeit etwa allein machen?« Frau Tann, griesgrämig wie der schwarze Novembermorgen draußen, erschien in der Nachtjacke auf der Bildfläche, mit dünnem Haarzöpfchen und merkwürdig eingefallenem Munde. »Na, wird's bald? Was guckst du mich denn an wie die Katze den Kaiser?« fuhr sie Lotte an, die sie mit ungeheurer Verwunderung betrachtete. Wo hatte Frau Tann denn bloß ihre wunderschönen weißen Zähne?
Ehe Lotte indessen hinter dieses Rätsel gekommen war, fühlte sie bereits das Deckbett aufgeschlagen, und ohne auf den empörten Widerspruch des Backfischchens zu achten, zog Frau Tann es vollends aus den Federn. Dann spielte sich das gleiche mit der noch viel entsetzteren Marlene ab, die nicht anders glaubte, als der Böse habe sie plötzlich beim Wickel. Klein Hanni aber wurde von Lotte inzwischen vor Frau Tanns kräftigem Griff gerettet.
Laut gähnend ging man ans Ankleiden.
»Marlene brüht den Kaffee, halbvoll den Topf – Lotte bürstet die Kleider und putzt die Stiefel – Hanni deckt den Kaffeetisch; beeilt euch!« rief Frau Tann aufs neue.
»Rrrrrr – so 'ne Quälerei – rrrrrr – wir sind doch keine Dienstboten!« Lotte hätte sich vor Ärger beinahe beim Mundspülen verschluckt.
Marlene war noch viel zu müde, um irgendwelche auflehnenden Empfindungen zu haben. Mit gläsernen Augen stand sie am Herd, goß den Kaffee auf und kochte die Milch ab. Sie goß und goß, ohne zu sehen, daß der Topf längst voll war.
Was lief denn da so heiß an ihrem Kleide hinunter? Himmel, sie stand bereits in einem bräunlichen Kaffeeteich! Ein scheuer Blick über den Gang – Frau Tann teilte gerade Hanni im Eßzimmer mit, daß Ordnungssinn die Haupttugend eines Mädchens sei – dann wurden flink die Fliesen aufgewischt und die Hälfte des Mokkas in den Ausguß befördert!
Marlenchen atmete auf. Aber da nahte schon wieder die Tücke des Schicksals. Ein scharfbrenzliger Geruch machte sich bemerkbar. Es zischte und wallte in der Milchkasserolle; in unternehmungslustigen Blasen und Bläschen sprang der weiße Schaum über den Rand in die weite Welt hinein. Marlene aber stand wie vom Donner gerührt und sah dem merkwürdigen Schauspiel, ohne eine Hand zu rühren, mit müde blinzelnden Augen zu.
Lotte, die auf der Hintertreppe an der Küchentür des Großonkels Stiefel bearbeitete, eilte bei dem durchdringenden Duft herbei, die Wichsbürste in der Hand.
»Menschenkind!« Das war alles, was sie hervorstieß; dann riß sie die Milch vom Feuer und lief mit der ziemlich geleerten Kasserolle spornstreichs zur Wasserleitung. Hier ergänzte sie den Verlust aufs großmütigste.
»Niemand merkt es,« tröstete sie die unpraktische Marlene, stieß das Fenster auf und half auch die letzten Spuren beseitigen.
»Alle guten Geister!« Sie hatte ja ihre Mappe noch nicht gepackt! Marlene war natürlich gestern nicht eher ins Bett gegangen.
Schnell holte sie ihren Bücherriemen auf den Treppenflur hinaus, denn eine Schulmappe war in der ersten Klasse verpönt. Zeichenstunde war ja auch heute; hatte sie denn überhaupt einen Bleistift? Einen Stiefel über die Hand gestreift, machte sie sich an eine eingehende Untersuchung ihres nicht gerade musterhaften Federkastens. Dabei merkte sie nicht, daß der Radiergummi entsprang und sich heimtückisch in des Großonkels Stiefel einquartierte.
Nun waren noch dessen Hosen und Rock auszuklopfen. Lotte schlug auf die unschuldigen Kleider los, als ob sie allen Ärger an ihnen auslassen wollte.
»Ich werde hier ganz bestimmt schlecht,« dachte sie dann kummervoll bei sich selbst und begann den Rock sanft und ehrerbietig mit der Bürste zu streicheln.
»Kinder, kommt Kaffee trinken, sonst versäumt ihr die Schule!« Frau Tanns Stimmung klärte sich in gleichem Verhältnis auf wie die zunehmende Tageshelle draußen. Auch ihr äußerer Mensch gab jetzt neugierigen Backfischaugen keinen Grund mehr zum Staunen. »Marlene, für Frühlingsgefühle ist es schon viel zu spät im Jahr« – sie schloß kopfschüttelnd das weitgeöffnete Küchenfenster – »pst, Kinder, pst – ganz leise – der Onkel schläft noch!«
»Das ist das Vernünftigste, was er tun kann,« dachte Lotte wieder nicht sehr ehrerbietig, und auch Marlene und Hanni begrüßten die Botschaft mit erleichtertem Herzen.
»Viel vom Kochen scheinst du nicht zu verstehen, Marlene.« Frau Tann musterte die hellbraune Flüssigkeit mit zweifelhaften Blicken. Aber Lotte behielt recht; die kleine Mogelei wurde nicht bemerkt.
»Nicht mal Butter, und die Semmel ist zäh wie altes Leder,« knurrte das unzufriedene Backfischchen schon wieder. Es stopfte und würgte noch an seinem Gebäck, als die anderen schon in Hut und Mantel waren.
»Mach schnell, Lotte, wir kommen zu spät,« drängten die Schwestern.
»Das ist mir ganz wurscht!« Der rangenhafte Berliner Ausdruck ließ sie plötzlich an ihr Frühstücksbrot denken. »Wir haben ja noch gar kein Frühstück; ohne Stullen kann ich doch nicht in die Schule gehen.« Die Mappe schien ihr zum Schulbesuch weniger notwendig als das Frühstücksbrot.
Frau Tanns Gesicht wurde lang und länger; daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Jetzt wurde bestimmt ihrem Brot der Garaus gemacht. Und wie das in die Butter ging, so dünn sie dieselbe auch aufzustreichen bemüht war. Sie mußte mit Herrn Grimm wegen Erhöhung des Wirtschaftsgeldes sprechen, wenn er auch noch so böse wurde!
Endlich konnte Lotte mit ihren in Zeitungspapier gewickelten Broten hinter den Schwestern herjagen.
An der Ecke hörte Lotte bereits die eherne Zunge der Liesenschule, die ihre säumigen Kinder rief. Schnutke, der kleine, wohlbeleibte Schuldiener, der den Glockenstrang zog, flüsterte ihr mit gutmütigem Lächeln zu: »Flink, Freileinchen, machen Se schnell; ick bimmele noch 'n bisken, bis Se oben sind.«
Aber er konnte es trotz seines ohrenzerreißenden Läutens nicht hindern, daß Doktor Wenzel bereits die I B-Klasse betreten hatte. Lotte hängte ihre Sachen an den Haken und huschte dann lauschend an die Tür. Die Erste betete noch; jetzt durfte man nicht stören.
Da – Tritte – ein Schlüsselbund rasselte – das war sicher der Direktor! Wenn der sie hier abpaßte! Lautlos verschwand sie hinter dem langen Mantel, der gerade neben der Tür hing.
Die Schritte kamen näher. Lotte schielte durch ein Knopfloch. Richtig, es war der Gestrenge: seine Brillengläser blitzten selbst hier im Halbdunkel.
»Weiter – weiter,« drängte Lotte unhörbar, als das Hallen der Schritte auf dem Steinboden plötzlich verstummte. Gerade der Klassentür gegenüber war der Herr Direktor vor dem großen Stundenplan stehen geblieben. Eingehend ließ er seinen Zeigefinger darauf herumspazieren und machte sich Notizen. Das Backfischchen litt Folterqualen. Die Sekunden wurden ihm zu Ewigkeiten; es konnte kaum noch in der gekrümmten Stellung verharren. Aber es wagte keine Bewegung. Der Wintermantel, hinter dem es stak, krabbelte an der Nase, auch roch er abscheulich nach Mottenpulver und – »hatschi – hatschi« – hallte es plötzlich laut aus dem wie ausgestorbenen Gang.
Der Direktor tat entsetzt einen Schritt zur Seite; dann aber wandte er sich stirnrunzelnd um. Lotte hielt es nun für das klügste, nachdem sie eben so geräuschvoll ihre Besuchskarte abgegeben hatte, ihr Persönchen ganz und gar folgen zu lassen. Geknickt stand sie vor dem überraschten Herrn.
»Das sind ja recht erfreuliche Sachen – Charlotte Elmert, was muß ich sehen?«
Der Herr Direktor schnarrte das R noch schärfer als sonst; es ging Lotte durch und durch. Aber so leicht war sie nicht um eine Ausrede verlegen.
»Entschuldigen Sie bitte, Herr Direktor, wir wohnen seit gestern bei unserem Großonkel, und da habe ich die Entfernung unterschätzt.«
»Und die Schwestern? Die sind mir doch vorhin schon begegnet; wohnen die etwa näher? Charlotte – Charlotte, ich warne Sie! Solch liebe Schülerin, wie mir Marlene ist, ich dulde keine Elemente in meiner Anstalt, welche die Schulordnung nicht innehalten!«
Das Schlüsselbund begleitete jedes Wort des Herrn Direktors mit aufgebrachtem Gerassel.
»Es soll gewiß nicht wieder vorkommen, Herr Direktor,« bequemte sich das Backfischchen zu versprechen, und erlöst sah es des Gestrengen etwas nach vorn geneigte Gestalt im Konferenzzimmer verschwinden.
»Fortsetzung folgt in der nächsten Nummer,« dachte Lotte und pochte an die Klassentür.
»Es klopft,« beeilte sich eine der Tür Nahesitzende, froh über die willkommene Störung, zu melden.
»So öffnen Sie,« gebot Doktor Wenzel und klemmte den Kneifer fester auf die Nase.
Strahlende Mädchengesichter begrüßten Lottes Eintreten; nun kam doch ein bißchen Abwechslung in die einförmige Stunde! Nur Ilse Schwalbe, Lottes beste Freundin, sah erschreckt fragend in ihr gerötetes Gesicht.
»O – o –« Doktor Wenzel wiegte bedauernd seinen runden, zierlichen Kopf, zu dem der stattliche Vollbart eigentlich wenig paßte, »o – Elmert – Charlotte – das tut mir leid!«
»Ach, Herr Doktor, ich bin so gelaufen, aber ich konnte es wirklich nicht mehr erreichen!« Lotte sah treuherzig zu dem freundlichen Herrn auf.
»Na dann – dann setzen Sie sich!« Doktor Wenzel mochte das frische Mädel gern, und außerdem tat seinem guten Herzen solch junges Gesicht in düsterer Trauerkleidung immer weh.
Lotte nahm also ihren Platz auf der Bank vor der Freundin Ilse ein.
»Na?« Ilse puffte Lotte teilnehmend in den Rücken. »Wie war es?«
Lotte zuckte die Achseln und warf einen Blick zur Landkarte empor, der alles besagte.
»Darfst du weiter mit mir verkehren? Wirst du im Kränzchen bleiben und dürfen wir auch zu euch kommen?«
Das war das Wichtigste, was Ilse augenblicklich am Herzen lag.
»Ich weiß noch nicht« – Lotte hielt das Löschblatt vor den Mund – »ich hab' noch nicht fragen können.«
»Na, das ist doch aber die Hauptsache –«
Ilse verstummte, denn Doktor Wenzel hatte ihre Ecke aufs Korn genommen. Er sprach augenblicklich über Miltons »Verlorenes Paradies«.
Aber die beiden hörten trotzdem nicht viel von dem Vortrag. Wie eine Erlösung erschien es ihnen, als endlich die Glocke wieder läutete.
In der nun folgenden Pause spazierten Marlene, Lotte und Ilse im Gang auf und ab, trotzdem es eigentlich nur paarweise geschehen sollte. Immer wenn sich Fräulein Pietsch den dreien näherte, flatterte deshalb das Schwälbchen nach vorn.
Lotte zeigte eben ihr Frühstück, das durch die Regenfeuchtigkeit die ganze Druckerschwärze der Zeitung trug.
»Ich muß erst Hanni das Frühstück hinunterbringen,« sagte sie dabei. »Marlenchen, ißt du lieber Stullen mit Verlobungsanzeigen oder mit entlaufenen Kötern?«
»Da, Kinder« – Ilse zog zwei Brötchen aus ihrer Stullenbüchse hervor – »ich habe heute belegte mit!« Sie hielt jeder der Freundinnen ein Brötchen vor den Mund. »Ziert euch nicht – nein, nun habt ihr daran geleckt; nun müßt ihr's auch essen! Ich will doch auch mal das Brot vom Großonkel versuchen.« Frühstückstauschen war nämlich in der Schule allgemein an der Tagesordnung.
»Nun erzählt von Anfang an!« Ilses bewegliches Mienenspiel begleitete ausdrucksvoll die klagenden Worte Marlenes und die empörten Lottes. Die Zwischenpause reichte aber bei weitem nicht aus zu all den neuen Erlebnissen; viel zu früh rief die Glocke wieder zur deutschen Stunde bei Professor Hartmann.
Selbst dieser sonst so beliebte Unterricht wurde heute zu einer förmlichen Qual für Lotte und Ilse; zu brennend war auf der einen Seite der Drang, zu berichten, auf der anderen die Neugier. So kam es, daß die beiden auch von dieser Unterrichtsstunde wenig Vorteil hatten, und ebensowenig von den noch folgenden.
»Da habt ihr euch nicht schlecht in die Brennesseln gesetzt,« sagte Ilse mit ihrer bekannten Offenheit beim Heimweg von der Schule. »Aber nun kommt es darauf an, daß ihr es euch möglichst gemütlich darin macht. Euer Hausdrachen« – diese liebenswürdige Schmeichelei galt Frau Tann – »scheint ja gar nicht so unmenschlich zu sein. Sei still, Lotte! Natürlich wirst du dich mit ihr zanken, denn du hast nun mal einen vorlauten Mund. Ich würde es auch tun, denn so sanft wie Marlenchen ist nicht jede,« Marlene wollte widersprechen, aber Ilse fuhr schon fort: »Doch nun zu dem bärbeißigen alten Herrn! Am Ende ist er krank, Kinder?«
»Ih, woher denn,« rief Lotte, »Das große Beefsteak gestern abend hat er wie ein ganz Gesunder vertilgt.«
»Na, dann müßt ihr ihn mit Liebe überrumpeln,« riet Ilse sinnend. »Es ist doch einfach unmöglich, daß ein Onkel, und wenn es auch nur ein Großonkel ist, vollständig gefühllos gegen die Zuneigung seiner Nichten sein soll!«
Ilse dachte dabei mit glücklichem Lächeln an ihre eigenen Onkel und Tanten, die sich in dem jungen Nachwuchs sonnten. Sie offenbarte mit Wort und Blick, ja in jeder Bewegung, daß sie einem harmonisch schönen Elternhause entstammte.
»Ich wünschte dir bloß mal, einen Tag da zu sein; ich glaube, du flögst bereits nach einer Stunde wieder 'raus,« prophezeite Lotte.
»Das liegt so in meiner Schwalbennatur,« erwiderte Ilse lachend, »Aber Scherz beiseite: ich glaube, du hast recht! Na, wir werden ja sehen; nächstens überfalle ich euch.«
»Nein – nein,« wehrte Marlene angstvoll ab, und selbst Lotte sagte bedenklich: »Du, erst müssen wir mal fragen, ob der Großonkel es erlaubt.«
»Hört mal« – Ilse stellte sich auf die Zehen, da die Sache, die sie vorzutragen hatte, von größter Wichtigkeit war – »ja, also Muttchen sprach gestern davon, ob sie vielleicht euren Onkel mal besuchen soll; sie möchte sich ihm vorstellen und ihn bitten, euch doch weiter in unserem Hause verkehren zu lassen.«
»Ach« – Lotte umarmte die Freundin aus offener Straße so stürmisch, daß ein vorübergehender Schusterjunge ebenfalls seine Arme mit den schwarzen Pechpfoten ausbreitete.
»Ach, wenn deine Mama das tun wollte,« sagte auch Marlene mit frohem Blick. Solange sie bei fremden Leuten gewohnt hatten, war ihnen Ilses Elternhaus oder das »Schwalbennest«, wie es allgemein genannt wurde, gleichsam eine zweite Heimat geworden. Die warmherzige Frau Schwalbe hatte die verwaisten Kinder mit mütterlicher Liebe an ihr Herz genommen.
»Wenn mich Onkel nur in der Schule läßt! Vielleicht kann deine Mama auch darüber mit ihm sprechen,« fuhr Marlene fort.
»Ja, und ihm einen freundschaftlichen Stoß geben, daß er nicht so brummig zu uns sein soll, und daß in einen ordentlichen Haushalt ein Dienstmädchen gehört!« Weiter fiel Lotte im Augenblick nichts ein.
»Und daß ich ihm abends beim Gutenachtsagen einen Kuß geben darf!« Klein Hanni, die mit Ilses jüngerer Schwester vorausging, wandte sich zurück; sie hatte die rauhe Verabschiedung am gestrigen Abend noch nicht verwunden.
Mit Ilses besten Wünschen beladen, schritten die Schwestern dem grauen Hause zu.
Ja, wenn Wünsche immer helfen würden! Frau Tann öffnete mit ihrem ängstlichen Hafengesicht; Lotte hatte natürlich gleich diese Ähnlichkeit herausgefunden.
»Leise – seid bloß recht leise! Der Onkel hat heute wieder seinen Gichtanfall; da ist nicht gut Kirschen mit ihm essen.« Frau Tann dachte seufzend an die aufgeregte Unterredung über das Wirtschaftsgeld.
Die Kinder hielten es für das geratenste, bis zum Mittagessen gar nicht zum Vorschein zu kommen. Sie machten es sich in ihrer »Zelle« – Lotte hatte keine andere Bezeichnung für das kahle Hinterzimmer – möglichst wohnlich.
Marlene hing die Bilder der Eltern über die Betten und kramte ihre geliebten Bücher aus. Lotte stellte die kleinen Andenken auf, die ihnen von ihrem Vaterhause her teuer waren.
Ans Fenster kam der Mutter Nähtisch, um den die Mädchen so oft gehockt und mit heißen Wangen den wundersamen Geschichten gelauscht hatten, die ihr Mütterlein zu erzählen wußte. Leise, ganz leise strich die sonst so wenig gefühlsweiche Lotte über das kalte Holz, als ob sie die Hand noch liebkoste, die einst an ihm schaffte.
Hanni aber richtete sich voll Eifer ihren Puppenwinkel ein. Dodo, die Negerpuppe, Väterchens letztes Geschenk, schaute daraus mit glänzenden, erstaunten Glasaugen in die neue Umgebung. Hier, im Puppenwinkel, wurde Hannis eigentliche Heimat; mit all ihren Schmerzen und kleinen Sorgen flüchtete sie sich zu ihrer Dodo.
Das Tischdecken ging heute ohne Störungen vor sich, da des Großonkels verwirrende Blicke fehlten.
Erst als die Suppe bereits auf dem Tisch stand, kam er, sich auf seinen Stock stützend, ächzend und stöhnend hereingehumpelt. In diesem Augenblick tat er seinen Nichten aufrichtig leid. Marlene eilte ihm gleich entgegen und bot ihm freundlich den Arm, um ihn an den Tisch zu führen. Schwer lehnte er sich auf die junge Kraft.
»Hast du große Schmerzen, Onkel?« fragte Lotte, die ihre Teilnahme nun auch beweisen wollte.
»Das siehst du doch,« polterte der alte Herr. »Frag nicht so dumm!« Damit hatte die erfreuliche Unterhaltung ein Ende.
»Merkwürdig, im Sitzen spüre ich so gut wie gar nichts,« sagte er, als die Mahlzeit beinahe vorüber war.
»Am Ende drückt der Stiefel,« wagte Marlene bescheiden zu äußern.
»Unsinn! Die trage ich immer. Hier unter der rechten großen Zehe sitzt's – ich kann kaum auftreten – so fängt es meistens an; nur das Zucken und Ziehen fehlt noch. Na, darauf werde ich mich wohl heute nacht gefaßt machen können!« Er sprach wie viele einsame Leute gern von seinen verschiedenen Leiden.
Als Lotte am anderen Morgen wieder ihre »Magdarbeit« in Angriff nahm und gerade darüber nachdachte, wie wohl die vornehme Käthe Möller die Nase rümpfen würde, wenn die sie hier als Stiefelputzer erblickte, fühlte sie plötzlich etwas Hartes in des Großonkels rechtem Stiefel. Sie zog es heraus und – lachte plötzlich hell auf.