Das große Geheimnis der Bow Street - Israel Zangwill - E-Book

Das große Geheimnis der Bow Street E-Book

Israel Zangwill

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Beschreibung

Die Geschichte beginnt in "Bow", dem Arbeiterviertel im East End von London. Es ist Dezember, und das 19. Jahrhundert ist in den letzten Zügen. Ein dichter Morgennebel, begünstigt durch den Rauch von Millionen Kohleöfen, wirbelt durch die Straßen. Mrs. Drabdump ist in Angst um ihren Untermieter. Sie klopft mehrmals an seine Tür, aber keine Antwort. Sie rennt zu Inspektor Grodman, und zusammen brechen sie seine Tür auf, um den Mann zu finden, der mit durchgeschnittener Kehle in seinem Bett liegt. Die Tür ist von innen verschlossen, die Fenster sind verriegelt. Der Roman konzentriert sich auf den Mord, der sich in einem abgeschlossenen Raum ereignet hat, ohne klare Hinweise auf die verwendete Waffe, den Täter oder einen möglichen Fluchtweg. Scotland Yard ist ratlos. Der Roman hat alle Zutaten, den Leser in seinen Bann zu ziehen. Null Papier Verlag

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Israel Zangwill

Das große Geheimnis der Bow Street

Kriminalroman

Israel Zangwill

Das große Geheimnis der Bow Street

Kriminalroman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019Übersetzung und Fußnoten: Jürgen Schulze 1. Auflage, ISBN 978-3-962814-89-2

null-papier.de/620

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Inhaltsverzeichnis

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

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Erstes Kapitel

Als Lon­don an je­nem denk­wür­di­gen De­zem­ber­mor­gen die Au­gen öff­ne­te, sah es sich von ei­nem grau­en, kal­ten Ne­bel er­füllt. Es gibt Tage, an de­nen der Ne­bel den Koh­len­staub in ge­ball­ten Wol­ken über der City sam­melt und sie mit un­durch­dring­li­chem Dunst ver­düs­tert, wäh­rend die Vor­städ­te nur von leich­ten Schlei­ern um­hüllt sind, so­dass es ei­nem sehr gut pas­sie­ren kann, dass man, wenn man mit dem Früh­zug zur City fährt, aus der Däm­me­rung wie­der in das Dun­kel ge­rät. Aber heu­te la­ger­te über Bow und Ham­mers­mith der­sel­be di­cke, bleischwe­re, gel­be Dunst, der et­was Geis­ter­haf­tes hat und Un­heil zu ver­kün­den scheint.

Mrs. Drab­dump, die Glower Street Nr. 2 in Bow wohn­te, war eine der we­ni­gen, die sich von dem Lon­do­ner Ne­bel nicht nie­der­drücken ließ. Sie be­gann ihr Ta­ge­werk so gries­grä­mig, wie sie dies stets zu tun pfleg­te. Als sie den Rol­la­den ih­res Schlaf­zim­mers auf­ge­zo­gen und die Win­ter­land­schaft sich vor ihr ent­hüllt hat­te, als sie ge­se­hen, wie die düs­te­ren Ne­bel­schwa­den sich ihr ent­ge­gen­wälz­ten, wuss­te sie, dass die­ser Ne­bel we­nigs­tens einen Tag blei­ben wür­de und dass in die­sem Quar­tal dann na­tür­lich die Gas­rech­nung auch wie­der be­deu­tend hö­her sein wür­de. Sie wuss­te auch, wes­halb sie jetzt stets so viel für Gas aus­ge­ben muss­te. Es kam da­her, dass sie mit ih­rem neu­en »mö­blier­ten Herrn«, ei­nem Mr. Ar­thur Con­stant, da­hin über­ein­ge­kom­men war, dass er wö­chent­lich nur einen Schil­ling für den Gas­ver­brauch zah­len muss­te an­statt ei­nes ver­hält­nis­mä­ßi­gen An­teils an der je­wei­li­gen Rech­nung des Hau­ses.

Mrs. Drab­dump zün­de­te das Kü­chen­feu­er an, kunst­ge­recht, denn sie kann­te die Ei­gen­tüm­lich­keit der Koh­len und den Ei­gen­sinn des Hol­zes, das, wenn man nicht ein schar­fes Auge dar­auf hielt, elend rauch­te, statt knis­ternd zu bren­nen. Ihre Kunst hat­te wie ge­wöhn­lich den schöns­ten Er­folg, und Mrs. Drab­dump er­hob sich zu­frie­den von den Kni­en, wie eine Par­sen­pries­te­rin, die ih­rer Gott­heit das Mor­gen­op­fer dar­ge­bracht hat. Dann er­schrak sie plötz­lich und ver­lor bei­na­he das Gleich­ge­wicht. Ihr Auge war auf die Zei­ger der auf dem Ka­min ste­hen­den Uhr ge­fal­len: sie zeig­ten ein Vier­tel vor sie­ben. Ge­wöhn­lich brann­te Mrs. Drab­dumps Feu­er re­gel­mä­ßig um ein Vier­tel nach sechs. Was war mit der Uhr los?

Mrs. Drab­dump dach­te mit Un­mut dar­an, dass es am Ende nö­tig sein wür­de, sie mal von dem be­nach­bar­ten Uhr­ma­cher nach­se­hen zu las­sen. Der wür­de sie dann si­cher wo­chen­lang be­hal­ten und end­lich, äu­ßer­lich re­pa­riert, in­ner­lich nun wirk­lich ver­letzt, zu­rück­brin­gen, »um sein Ge­schäft zu ha­ben«. Die­ser Ge­dan­ke ver­schwand so rasch, wie er ge­kom­men, als sie jetzt von der St.-Duns­tan-Kir­che die Uhr drei Vier­tel schla­gen hör­te. Aber da er­schrak sie noch viel mehr, denn nun ver­stand sie, warum sie ein so mü­des, selt­sa­mes Ge­fühl be­herrsch­te; sie hat­te ver­schla­fen.

Ernst­lich ver­stimmt, setz­te sie rasch den Was­ser­kes­sel über das hell fla­ckern­de Feu­er; es fiel ihr näm­lich ein, dass Mr. Con­stant ge­be­ten hat­te, ihn eine drei­vier­tel Stun­de frü­her als sonst zu we­cken und ihm schon um sie­ben Uhr das Früh­stück zu brin­gen, da er schon früh in ei­ner Ver­samm­lung un­zu­frie­de­ner Tram­bahn­be­am­ter spre­chen müs­se. Mit dem Lich­te in der Hand lief sie rasch die Trep­pe hin­auf. Er wohn­te oben. Das gan­ze obe­re Stock­werk war Mr. Con­stants Reich; es be­stand näm­lich nur aus zwei nicht mit­ein­an­der ver­bun­de­nen Zim­mern. Mrs. Drab­dump klopf­te an die Tür der ihm als Schlaf­zim­mer die­nen­den Stu­be und rief: »Sie­ben Uhr, Herr, Sie wer­den zu spät kom­men, wenn Sie nicht so­fort auf­ste­hen.« Sein ge­wöhn­li­ches schläf­ri­ges »Schon gut«, wo­mit er ih­ren Mor­gen­gruß zu er­wi­dern pfleg­te, ant­wor­te­te ihr nicht, aber nach­dem sie ih­ren Mor­gen­gruß mehr­mals wie­der­holt, war­te­te sie sei­ne Ant­wort nicht ab, son­dern ging in die Kü­che zu­rück, um sich mit der Vor­be­rei­tung von Mr. Con­stants Früh­stück zu be­schäf­ti­gen.

Sie wuss­te, dass Ar­thur Con­stant nicht taub blieb, wenn die Pf­licht – an die er durch sie ge­mahnt wur­de – ihn rief. Er hat­te einen sehr leich­ten Schlaf, und wahr­schein­lich tön­te ihm schon das ihn zu der Ver­samm­lung ru­fen­de Läu­ten der Tram­bah­nen in die Ohren. Wa­rum Mr. Ar­thur Con­stant, B. A.1 – ein Herr, der wei­ße fei­ne Hän­de hat­te und blen­den­de Wä­sche trug – sich dazu her­a­bließ, sich mit Tram­bahn­kut­schern zu be­fas­sen, wäh­rend sei­ne ge­sell­schaft­li­che Stel­lung ihn doch si­cher nicht in Be­zie­hun­gen zu Drosch­ken und Wa­gen­füh­rern brach­te, das hat­te Mrs. Drab­dump nie be­grei­fen kön­nen. Wahr­schein­lich be­ab­sich­tig­te er, sich in »Bow« für das Par­la­ment wäh­len zu las­sen; al­ler­dings wäre es dann di­plo­ma­ti­scher ge­we­sen, sich eine Wir­tin zu su­chen, de­ren Mann noch leb­te und die da­durch stimm­be­rech­tigt war. Eben­so un­pas­send er­schi­en es ihr, dass er durch­aus dar­auf be­stand, selbst sei­ne Stie­fel put­zen zu wol­len, ob­wohl er dar­in kein Meis­ter war, und dass er in je­der Wei­se wie ein ein­fa­cher Ar­bei­ter Bows le­ben woll­te. Nur dass die Ar­bei­ter nicht so ver­schwen­de­risch mit dem Was­ser um­gin­gen und so vie­le Bä­der, fri­sches Trink­was­ser und rei­ne Wä­sche be­an­spruch­ten wie er. Auch be­ka­men sie nicht so gute Din­ge zu es­sen, wie Mrs. Drab­dump für ihn be­rei­te­te, wo­bei sie ihm weis­mach­te, dass es ge­wöhn­li­ches Ar­bei­ter­es­sen sei. Sie konn­te es nicht er­tra­gen, dass er un­ter­halb sei­nes Stan­des le­ben soll­te. Ar­thur Con­stant war ge­hor­sam und aß al­les, was sei­ne Wir­tin ihm vor­setz­te, und glaub­te al­les, was sie sag­te. Es ist ja für Hei­li­ge nicht so leicht, klar zu se­hen, in der Pra­xis ver­ne­belt der Hei­li­gen­schein oft das Auge!

Der Tee, der in Mr. Con­stants Tee­topf be­rei­tet wer­den soll­te, war nicht etwa von der ge­wöhn­li­chen, or­di­nären Mi­schung, den sie für sich und Mr. Mort­la­ke ver­wen­de­te; wäh­rend sie das Früh­stück be­rei­te­te, muss­te sie plötz­lich an ih­ren zwei­ten Miets­herrn den­ken. Die­ser arme Mr. Mort­la­ke war um vier Uhr schon auf­ge­stan­den und hat­te sich ohne je­des Früh­stück in die neb­li­ge, düs­te­re Win­ter­nacht ge­wagt. Nun, sie hoff­te nur, dass sein Ei­fer be­lohnt und dass er gute Rei­se­spe­sen her­aus­schla­gen wer­de, was er, wie an­de­re mit ihm ri­va­li­sie­ren­de Ar­bei­ter­füh­rer be­haup­te­ten, meis­tens tat. Sie gönn­te ihm sei­nen Ver­dienst gern, und es ging sie ja auch wei­ter nichts an, wenn er, als er ihr Mr. Con­stant als Mie­ter für ihre leer­ste­hen­den Zim­mer zu­führ­te, noch viel­leicht einen an­de­ren Zweck da­mit ver­band als den, sei­ner Wir­tin ge­fäl­lig zu sein. Je­den­falls hat­te er ihr einen großen Dienst da­durch er­wie­sen, ob­gleich der Mie­ter, den er ihr zu­führ­te, in man­chen Stücken selt­sam ge­nug war. Auch, dass Mr. Mort­la­ke ein Spre­cher der ar­bei­ten­den Klas­se war, be­küm­mer­te sie nicht. Tom Mort­la­kes ei­gent­li­cher Be­ruf war der ei­nes Schrift­set­zers ge­we­sen; sei­ne Tä­tig­keit als Ar­bei­ter­füh­rer brach­te ihm aber eine bes­se­re Stel­lung und hö­he­ren Lohn ein. Tom Mort­la­ke, der Held von hun­dert Streiks, des­sen Name in großen Buch­sta­ben auf den An­schlag­säu­len ge­druckt war, war ganz ge­wiss eine ge­wich­ti­ge­re Per­sön­lich­keit als Tom Mort­la­ke, der be­schei­de­ne Schrift­set­zer. In­des­sen be­stand sei­ne Ar­beit doch nicht nur dar­aus, Re­den zu hal­ten, Bier zu trin­ken und Ke­gel zu schie­ben; Mrs. Drab­dump wuss­te, dass sei­ne letz­te Ex­pe­di­ti­on kei­ne be­nei­dens­wer­te war.

Auf ih­rem Wege zur Kü­che klopf­te sie im Vor­über­ge­hen an sei­ne Tür, er­hielt aber kei­ne Ant­wort. Die Haus­tür war nur ein paar Schrit­te seit­wärts, und ein Blick auf sie zer­stör­te ihre Hoff­nung, dass Tom viel­leicht sei­ne Rei­se auf­ge­ge­ben hat­te. Die Ket­te war nicht mehr vor­ge­legt, der Rie­gel zu­rück­ge­zo­gen, und die Tür war ein­fach mit dem Haus­schlüs­sel ab­ge­schlos­sen. Mrs. Drab­dump emp­fand ein ge­wis­ses Un­be­ha­gen, aber um ihr Ge­rech­tig­keit wi­der­fah­ren zu las­sen, muss man sa­gen, dass sie nicht über­ängst­lich war oder, wie die meis­ten gu­ten Haus­frau­en, im­mer vor Ver­bre­chen, die nie kom­men, ge­zit­tert hät­te. Nicht ge­ra­de ge­gen­über, aber doch nur ein paar Tü­ren wei­ter auf der an­de­ren Sei­te der Stra­ße wohn­te der be­rühm­te De­tek­tiv Grod­man, und die­se Tat­sa­che gab Mrs. Drab­dump ein wohl­tu­en­des Ge­fühl der Si­cher­heit; sie be­trach­te­te sich ge­wis­ser­ma­ßen un­ter sei­nem Schut­ze ste­hend. Dass ir­gend­ein zwei­deu­ti­ger Mensch be­wusst in den Bann­kreis die­ses be­rühm­ten Spür­hun­des tre­ten soll­te, er­schi­en ihr mehr als zwei­fel­haft. Grod­man hat­te sich al­ler­dings of­fi­zi­ell vom Ge­schäft zu­rück­ge­zo­gen und war nun ein schla­fen­der Wach­hund; aber die Spitz­bu­ben wa­ren ver­nünf­tig ge­nug, ihn nicht zu we­cken.

Mrs. Drab­dump ver­mu­te­te also nicht ir­gend­ei­ne Ge­fahr, be­son­ders da ein zwei­ter Blick auf die Haus­tür ihr zeig­te, dass Mort­la­ke dar­an ge­dacht hat­te, die Schlei­fe, die den Rie­gel des Schlos­ses hielt, vor­sich­tig los­zu­ma­chen. Sie dach­te mit In­ter­es­se an den Ar­bei­ter­füh­rer, der jetzt auf dem Wege nach der Werft von De­von­port war. Nicht dass er selbst mit ihr über sei­ne Rei­se au­ßer­halb der Stadt ge­spro­chen hät­te, aber sie wuss­te, dass in De­von­port eine Werft war, weil Jes­sie Dy­mont – Toms Ge­lieb­te – ihr ein­mal zu­fäl­lig er­zählt hat­te, dass ihre Tan­te dort in der Nähe woh­ne. Des­halb glaub­te sie, dass Tom den Werft­ar­bei­tern zu Hil­fe eil­te, die, dem Bei­spie­le ih­rer Lon­do­ner Brü­der fol­gend, in den Aus­stand ge­tre­ten wa­ren.

Man brauch­te Mrs. Drab­dump sol­che Din­ge nicht erst zu er­zäh­len, sie er­kann­te sie ganz von selbst. Sie mach­te sich also dar­an, Mr. Con­stant eine fei­ne Tas­se Tee zu be­rei­ten, und grü­bel­te da­bei dar­über nach, warum wohl heut­zu­ta­ge das Volk im­mer so un­zu­frie­den war. Als sie dann den Tee, ge­rös­te­te Brot­schnit­ten und fri­sche Eier in Herrn Con­stants Wohn­zim­mer, das ne­ben dem Schlaf­zim­mer lag, brach­te, war sie sehr er­staunt, Mr. Con­stant noch nicht dar­in zu fin­den. Sie steck­te das Gas an und deck­te den Tisch. Dann ging sie auf den Vor­platz zu­rück und klopf­te noch ein­mal ener­gisch an die Tür des Schlaf­zim­mers, sag­te ihm, wie viel Uhr es sei, aber al­les blieb still, nur der Klang ih­rer eig­nen Stim­me tön­te selt­sam durch das Haus. »Der arme Herr«, mur­mel­te sie, »ge­wiss hat er die­se Nacht wie­der so arge Zahn­schmer­zen ge­habt und hat kei­nen Schlaf ge­fun­den, viel­leicht ist er erst jetzt ein­ge­schlum­mert. Scha­de, dass er um die­ser Leu­te von der Tram­bahn wil­len ge­weckt wer­den muss! Ich will ihn ru­hig so lan­ge wie sonst schla­fen las­sen.« Sie trug die Tee­kan­ne wie­der hin­un­ter und be­dau­er­te nur, dass die schö­nen weich­ge­koch­ten Eier kalt wür­den.

Um halb acht klopf­te sie wie­der. Aber Mr. Con­stant schlief im­mer noch.

Um acht Uhr kam die Post mit meh­re­ren Brie­fen für ihn und ein paar Mi­nu­ten spä­ter ein Te­le­gramm. Nun rüt­tel­te Mrs. Drab­dump an sei­ner Tür und schob das Te­le­gramm un­ten hin­durch. Ihr Herz klopf­te jetzt hef­tig, ihr war, als grif­fe eine kal­te, har­te Faust da­nach. Sie stieg wie­der hin­un­ter und ging, ohne zu wis­sen, warum, in Mr. Mort­la­kes Zim­mer. Sie sah, dass der Be­woh­ner nicht or­dent­lich zu Bett ge­gan­gen war und wahr­schein­lich aus Angst, den Zug zu ver­pas­sen, wohl nur in den Klei­dern sich ein paar Stun­den dar­auf ge­legt hat­te. Sie hat­te ja kei­nen Au­gen­blick er­war­tet, ihn in dem Zim­mer zu fin­den; aber das Be­wusst­sein, ganz al­lein mit Con­stant im Hau­se zu sein, hat­te plötz­lich et­was Be­ängs­ti­gen­des für sie; es war, als pres­se die Faust, die ihr Herz er­fasst, es fes­ter und fes­ter zu­sam­men.

Sie öff­ne­te die Haus­tür und sah ner­vös die Stra­ße auf und nie­der. Es war halb neun. Die klei­ne, enge Stra­ße lag still und kalt in dem grau­en Ne­bel, durch den die an je­dem Ende bren­nen­den Stra­ßen­la­ter­nen nur matt leuch­te­ten. Im Au­gen­blick war kein Mensch zu se­hen, ob­wohl aus den meis­ten Schorn­stei­nen der Rauch auf­stieg, um sich mit dem Ne­bel zu ver­ei­nen. Im Haus des ge­gen­über woh­nen­den De­tek­tivs wa­ren die Ja­lou­si­en noch her­un­ter­ge­las­sen und die Lä­den ge­schlos­sen. Aber der ihr so wohl be­kann­te nüch­ter­ne An­blick der Stra­ße be­ru­hig­te sie. In der rau­en Luft muss­te sie hus­ten; sie schlug die Tür zu und kehr­te in ihre Kü­che zu­rück, um neu­en Tee für Mr. Con­stant zu ma­chen, der nun doch end­lich er­wa­chen muss­te. Aber das Tee­brett zit­ter­te in ih­rer Hand. Sie wuss­te nicht, ob es ihr ent­fal­len war oder ob sie es ir­gend­wo­hin ge­setzt hat­te, je­den­falls wa­ren ihre Hän­de leer, als sie einen Au­gen­blick spä­ter an die Tür des Schlaf­zim­mers schlug. Nicht das lei­ses­te Geräusch war drin­nen ver­nehm­bar. In ei­ner sie jäh über­fal­len­den tol­len Angst schlug sie ge­gen die Tür, dann drück­te sie die Klin­ke nie­der; die Tür war von in­nen ver­schlos­sen. Die­ser Wi­der­stand gab ihr das Be­wusst­sein zu­rück, sie er­schrak dar­über, dass sie im Be­griff ge­we­sen war, un­er­laub­ter­wei­se in Mr. Con­stants Schlaf­zim­mer ein­zu­drin­gen. Aber ein un­be­stimm­tes Grau­en er­füll­te sie. Sie glaub­te ganz ge­wiss, dass sie al­lein mit ei­ner Lei­che im Hau­se sei. Bei­na­he ohn­mäch­tig sank sie zu­sam­men, dann er­mann­te sie sich, stürz­te, ohne zu­rück­zu­se­hen, die Trep­pe hin­ab, rann­te zur Haus­tür hin­aus, über die Stra­ße auf Mr. Grod­mans Haus zu, des­sen Tür­klop­fer sie er­griff und hef­tig in Be­we­gung setz­te. Im sel­ben Au­gen­blick schon öff­ne­te sich ein Fens­ter der obe­ren Eta­ge – das klei­ne Häu­schen war wie das ih­ri­ge ge­baut –, und Grod­mans vol­les ro­tes Ge­sicht blick­te, von ei­ner Nacht­müt­ze um­rahmt, durch den Ne­bel auf sie her­ab. Ob­gleich das Ge­sicht des Ex­de­tek­tivs durch­aus kei­nen freund­li­chen, son­dern viel­mehr einen är­ger­li­chen, ge­reiz­ten Aus­druck hat­te, fühl­te sie doch eine große Er­leich­te­rung.

»Was in Teu­fels Na­men ist denn los?« rief er her­ab. Nun, da er sich zur Ruhe ge­setzt hat­te, war Grod­man kein Früh­auf­ste­her mehr. Er konn­te sich das jetzt leis­ten, denn das Häu­schen, in dem er wohn­te, war sein Ei­gen­tum: und ver­schie­de­ne an­de­re Häu­ser in der Stra­ße ge­hör­ten ihm eben­falls. Es war im­mer gut, wenn ein Haus­be­sit­zer in Bow auch in sei­nem Ei­gen­tum wohn­te und ein schar­fes Auge über al­les hat­te, was da vor­ging. Vi­el­leicht trug der Wunsch, sei­ne jet­zi­ge Grö­ße un­ter den Ge­nos­sen sei­ner Ju­gend zu ge­nie­ßen, et­was mit dazu bei, dass er sich hier nie­der­ge­las­sen hat­te, denn er war in Bow ge­bo­ren und groß ge­wor­den, hier war er als Jun­ge zu­erst von der Lo­kal­po­li­zei be­schäf­tigt wor­den und hat­te sich jede Wo­che ein paar Schil­lin­ge als Ama­teur­de­tek­tiv ne­ben­bei zu ver­die­nen ge­wusst.

Grod­man war Jung­ge­sel­le. Vi­el­leicht war in dem himm­li­schen Hei­rats­bü­ro eine Frau für ihn re­ser­viert – aber auf die­ser Welt hat­te er sie noch nicht zu ent­de­cken ver­mocht. Es war der ein­zi­ge Mis­ser­folg, den er in sei­ner Lauf­bahn als De­tek­tiv zu be­kla­gen hat­te. Er war ein Mensch, der sich selbst ge­nüg­te und einen Gas­ofen dem häus­li­chen Her­de vor­zog. Er hat­te eine Auf­war­te­frau, die mor­gens um zehn Uhr in sei­nem Hau­se er­schi­en und es abends um zehn Uhr ver­ließ und die sei­nen Jung­ge­sel­len­haus­halt ver­sorg­te.

»Ich bit­te Sie, so­fort mit mir zu kom­men«, keuch­te Mrs. Drab­dump, »Mr. Con­stant ist ein Un­glück zu­ge­sto­ßen.«

»Was! Ich hof­fe doch, dass die Po­li­zei ihn heu­te Mor­gen bei der Ver­samm­lung nicht fest­ge­nom­men hat?«

»Nein, nein! Er ist gar nicht da­hin ge­gan­gen. Er ist tot.«

»Tot?« Mr. Grod­mans Ge­sicht wur­de sehr ernst.

»Ja, er­mor­det!«

»Was?« rief der Ex­de­tek­tiv. »Wie? Wann? Wo? Wer?«

»Ich weiß es nicht. Ich kann nicht zu ihm ins Zim­mer ge­lan­gen. Ich habe ver­ge­bens an sei­ne Tür ge­trom­melt. Er ant­wor­tet nicht.«

Grod­mans Ge­sicht er­hei­ter­te sich et­was. »Sie tö­rich­te Frau! Ist das al­les? Ich wer­de mir den Kopf er­käl­ten. Es ist bit­ter kalt. Er ist ges­tern Abend hun­de­mü­de nach Hau­se ge­kom­men: Um­zü­ge – drei Re­den – Kin­der­gar­ten – eine Vor­le­sung. Das ist sein Stil!« So war auch Grod­mans Stil, er war kein Wort­ver­schwen­der.

»Nein«, sag­te Mrs. Drab­dump fei­er­lich, »er ist wirk­lich tot.«

»Ganz recht. Ge­hen Sie nach Hau­se. Alar­mie­ren Sie nicht un­nö­ti­ger­wei­se die Nach­bar­schaft. War­ten Sie auf mich. Ich wer­de in höchs­tens fünf Mi­nu­ten bei Ih­nen sein.« Grod­man nahm die­se Kü­chen­kas­san­dra nicht ernst. Wahr­schein­lich kann­te er die Frau. Sei­ne klei­nen, wie schwar­ze Per­len schim­mern­den Au­gen leuch­te­ten bei­na­he amü­siert, als er den Blick von Mrs. Drab­dump ab­wand­te und den Fens­ter­flü­gel kra­chend zu­warf. Die arme Frau lief über die Stra­ße zu­rück in ihr Haus, wag­te je­doch nicht, die Tür hin­ter sich zu schlie­ßen. Es wäre ihr vor­ge­kom­men, als sol­le sie sich mit ei­nem To­ten ein­schlie­ßen. Sie war­te­te im Haus­flur. Nach ei­ner ihr un­end­lich lang er­schei­nen­den Zeit – in Wirk­lich­keit schon nach sie­ben Mi­nu­ten – er­schi­en Grod­man, wie ge­wöhn­lich ge­klei­det, nur dass sein Haar und sein Ko­te­let­ten­bart noch nicht ge­ord­net und ge­kämmt wa­ren. An die­sen Bart hat­te er sich noch nicht ganz ge­wöhnt, denn er hat­te ihn erst kürz­lich wach­sen las­sen. So­lan­ge er in ak­ti­vem Dienst ge­stan­den, trug Grod­man ein glat­tra­sier­tes Ge­sicht, wie alle Mit­glie­der sei­ner Pro­fes­si­on – denn kein Schau­spie­ler muss die Kunst, sich plötz­lich ver­wan­deln zu kön­nen, so ver­ste­hen wie ein De­tek­tiv. Mrs. Drab­dump schloss die Haus­tür hin­ter ihm und wies ihn die Trep­pe hin­auf, wo­bei sie halb aus Angst und halb aus Höf­lich­keit ihm den Vor­tritt ließ. Grod­man ging hin­auf, sei­ne Au­gen leuch­te­ten im­mer noch vor Ver­gnü­gen. Oben an­ge­kom­men, klopf­te er so­fort an die Tür und rief: »Neun Uhr, Mr. Con­stant, neun Uhr.« Dann horch­te er auf einen Laut von in­nen, aber al­les blieb still. Sein Ge­sicht wur­de sehr ernst. Er war­te­te dann eine Wei­le, klopf­te dann wie­der, rief noch lau­ter. Er ver­such­te, die Tür zu öff­nen, sie war von in­nen ver­schlos­sen. Er ver­such­te durch das Schlüs­sel­loch zu se­hen, es war ver­stopft. Er rüt­tel­te an der Tür, aber sie schi­en nicht nur ver­schlos­sen, son­dern auch ver­rie­gelt zu sein. Ei­nen Au­gen­blick stand er ernst und wie in Nach­den­ken ver­lo­ren da, denn er hat­te den Mann gern und ach­te­te ihn.

»Oh«, flüs­ter­te die blas­se Frau, »und wenn Sie noch so laut klop­fen, Sie wer­den ihn nicht er­we­cken.«

Der graue Ne­bel, der mit ih­nen durch die ge­öff­ne­te Haus­tür ge­drun­gen war und im Trep­pen­haus schweb­te, er­füll­te die Luft mit ei­nem kal­ten, feuch­ten Dunst.

»Ver­rie­gelt und ab­ge­schlos­sen«, mur­mel­te Grod­man, noch mal an der Tür rüt­telnd.

»Bre­chen Sie die Tür auf«, hauch­te die Frau, die an al­len Glie­dern zit­ter­te und die Au­gen mit den Hän­den ver­hüll­te, als ob sie das Schreck­li­che nicht se­hen woll­te. Ohne noch ein Wort zu spre­chen, stemm­te Grod­man die Schul­ter ge­gen die Tür und dräng­te mit sei­ner gan­zen Kraft da­ge­gen. Er war sei­ner­zeit Ath­let ge­we­sen und war im­mer noch ganz un­ge­wöhn­lich stark. Die Tür krach­te, sie gab lang­sam nach, das das Schloss um­ge­ben­de Holz split­ter­te; die Bret­ter beug­ten sich nach in­nen, der obe­re Rie­gel gab nach: Die Tür flog kra­chend auf. Grod­man stürz­te in das Zim­mer.

»Mein Gott!« rief er. Die Frau kreisch­te. Der An­blick war schreck­lich …

Ein paar Stun­den spä­ter rie­fen die Zei­tungs­jun­gen mit lau­ter Stim­me: »Ex­trablatt, furcht­ba­rer Selbst­mord in Bow.« Und die­je­ni­gen, die zu arm wa­ren, sich das Blatt zu kau­fen, la­sen an den An­schlag­säu­len: »Ein Phil­an­throp hat sich die Keh­le durch­ge­schnit­ten.«

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Zweites Kapitel

Aber die Zei­tun­gen wa­ren doch zu vor­ei­lig ge­we­sen. Der Ge­richts­hof glaub­te nicht, dass ein Selbst­mord vor­lie­ge, und die spä­te­ren Aus­ga­ben der Zei­tun­gen spra­chen von dem ge­heim­nis­vol­len Mord in Bow. Es wur­den ver­schie­de­ne Per­so­nen ver­haf­tet. Die meis­ten die­ser Leu­te wa­ren Va­ga­bun­den, die sich viel­leicht an­de­re Ge­set­zes­über­tre­tun­gen hat­ten zu­schul­den kom­men las­sen, wo­bei die Po­li­zei sie nicht er­wi­scht hat­te. Ein ganz ver­wirrt aus­se­hen­der Herr stell­te sich selbst, aber die Po­li­zei er­kann­te so­gleich, dass sie es mit ei­nem Geis­tes­kran­ken zu tun hat­te, und gab ihn in die Ob­hut sei­ner Freun­de und Wäch­ter zu­rück. Die Zahl der Kan­di­da­ten für Ne­w­ga­te war er­staun­lich.