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Beschreibung

Die globalen Krisen spitzen sich zu. Doch wo sind Antworten und Lösungen? Das I.L.A. Kollektiv hat sich auf die Suche nach neuen Lebensstilen und Wirtschaftsformen begeben, die nicht auf Kosten anderer und der Natur gehen. Die zentrale Frage: Wie kann ein gutes Leben für alle aussehen? Fakt ist: An vielen Orten setzen sich Menschen bereits jetzt für ein zukunftsfähiges, demokratisches sowie sozial und ökologisch gerechtes Miteinander ein. All ihre Projekte bieten konkrete Alternativen im Hier und Jetzt. Was Mut macht: Die derzeitige imperiale Lebensweise - wie sie das I.L.A. Kollektiv in seinem ersten Buch »Auf Kosten anderer?« thematisiert - ist die Folge politischer Entscheidungen und unseres alltäglichen Handelns. Eine andere Welt ist also machbar. Welche Wege in die solidarische Lebensweise führen, zeigt dieses Buch eindrücklich auf – mit zahlreichen anschaulichen Infografiken.

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I.L.A. Kollektiv
Das Gute Leben für Alle
Wege in die solidarische Lebensweise
© 2019 oekom, Münchenoekom verlag, Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbH,Waltherstraße 29, 80337 München
Autor*innen:Ambach, Christoph; Austaller, Monika; Bähr, Hermine; Beil, Christopher; Brokow-Loga, Anton; Eicke, Laima; Inkermann, Nilda; Hildebrandt, Friederike; Jeglitzka, Elisabeth; Kalt, Tobias; Kolbinger, Julia; Lage, Jonas; Ries, Felix; Ritter, Johanna; Rosswog, Tobi; Schwausch, Christiane; Thomas, Wiebke; van Treeck, Katharina; Walch, Simon.
Projektantrag und -leitung: Katharina van TreeckProzessbegleitung: Karin WaltherProjektinitiative: Thomas KoppRedaktion und Lektorat: Katharina van Treeck, Friederike HildebrandtLektorat: Anja MarwegeLayout und Umschlaggestaltung: Sarah HeuzerothIllustrationen: Sarah Heuzeroth
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-96238-095-3
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Dieses Buch steht unter der Creative Commons 3.0 (CC BY-NC-SA 3.0 DE) Lizenz. Sie dürfen es unter Nennung der Originalquelle vervielfältigen und nicht kommerziell weiterverbreiten.
Für den Inhalt dieser Publikation ist allein Common Future e.V. verantwortlich; die hier dargestellten Positionen geben nicht den Standpunkt von Engagement Global GmbH und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wieder.
INHALT
VorwortVon Ulrich Brand, Maja Göpel, Barbara Muraca, Tilman Santarius und Markus Wissen
EinleitungVon der imperialen Lebensweise zum Guten Leben für Alle
Teil I: Die solidarische Lebensweise Prinzipien, Projekte und Prämissen
KonturenKonturen einer solidarischen Lebensweise: Das Morgen im Heute
LebensbereicheAlles utopisch? Gelebte Alternativen im Hier und Jetzt!
SorgeFür alle gesorgt!
Ernährung und LandwirtschaftGutes Essen für Alle –wie wir eine solidarische Zukunft säen können
MobilitätKurze Wege zum Ziel
WohnenEndlich Raum für alle
GebrauchsgüterSolidarisch produzieren, solidarisch nutzen
EnergieMehr als der Strom in der Steckdose
InstitutionenSkizzieren wir den Rahmen einer anderen Welt!
Teil II: Wege in die solidarische Lebensweise
TransformationAufbruch in eine solidarische Zukunft
Politische StrategienAllianzen für die Transformation
Kultureller WandelGeschichte Schreiben
FazitDas Ende als Anfang
Glossar
Literaturverzeichnis
Über das Projekt und die Autor*innen
Danksagung und Förderhinweise
INFOBOXEN
Selbstpositionierung – Wer sind wir und für wen können wir überhaupt sprechen?
Prinzipien der solidarischen Lebensweise – Legende für die weitere Lektüre
Bedürfnisse – Bedürfnisse haben Grenzen!
Mobilität – Höher, schneller, weiter: also immer mobiler?
Rotes Wien – damals und heute
Rebound-Effekt – Mit Effizienz den Verbrauch reduzieren?
Digitalisierung – Das Gute Leben für Alle 4.0?
Bedingungsloses Grundeinkommen – Ein Schritt in die solidarische Lebensweise?
Grenzen – Können sie solidarisch sein?
Strategien der Transformation – Wie gelingt der Wandel von der imperialen zur solidarischen Lebensweise?
Frontline – Wo ist meine ›Frontline‹?
Energiewende – Die Energiewende unter der Lupe
Konversion der Autoindustrie – Wie gelingt ein sozial-ökologischer Umbau der Autoindustrie?
Freiheit – Miteinander frei
VORWORT
Die Debatte über die Zukunft unserer Gesellschaft wird aktuell bedauerlicherweise vor allem vom politisch rechten und rechtsextremen Spektrum dominiert. Deren These: Wenn nur das – angeblich zentrale – Problem der Migration und vor allem der Geflüchteten gelöst sei, dann würde alles irgendwie gut, dann würden alle Krisen überwunden. Die in vielen Ländern erstarkende Rechte bestimmt zunehmend auch den Ton der Debatte im bürgerlichen Milieu. Sie konstruiert einen äußeren Gegner, der an ›unseren Wohlstand‹ wolle und daran gehindert werden müsse. Dabei geht es nicht nur darum, die europäischen Grenzen zu stärken, sondern auch darum, es Migrant*innen und Geflüchteten schwer oder besser unmöglich zu machen, sich unter neuen Umständen eine Lebensperspektive aufzubauen. Viele Menschen, die von strukturellen Umbrüchen in der Gesellschaft betroffen sind, fühlen sich in der etablierten Parteienlandschaft nicht gehört und folgen dieser Rhetorik von populistischen Parteien.
Fragen nach dem Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen spielen diese rechtsextremen Parteien herunter oder tun sie als fortschrittsfeindlich ab. Gleichzeitig treten sie die Idee der internationalen Solidarität mit Füßen. Anstatt eines konstruktiven Dialogs, der wichtige Ängste und Zukunftswünsche der Menschen in diesem Land thematisiert, liefern sich die Parteien zunehmend abstoßende Duelle der gegenseitigen Anschuldigungen und Verdächtigungen.
Zudem ist bedenklich, dass marktorientierte – neoliberale – Rezepte gegenüber den rechtspopulistischen Positionen den Anstrich von vernünftigen Lösungen erhalten. Dabei rechtfertigen diese Ansätze die ansteigende soziale Ungleichheit damit, dass Konkurrenz und Standortwettbewerb angeblich notwendig seien, um Wirtschaft und Wohlstand dynamisch zu halten. Freihandel sei die vernünftige Antwort auf den Brexit oder die Trumpsche Abschottung. Und Investor*innen sollen auf keinen Fall vergrault, sondern mehr denn je durch ›gute‹ Bedingungen – sprich: die Absenkung arbeits-, gesundheits- oder umweltpolitischer Standards – angelockt werden. Österreichs jüngstes Standortsicherungsgesetz ist hierfür ein Paradebeispiel.1
Die Forderung nach einem Guten Leben für Alle findet angesichts von Hassreden, Fake News und ›Wachstum und Standortsicherung um jeden Preis‹ in Zeiten gesellschaftlicher Polarisierung und (vermeintlichen oder realen) Abstiegsängsten nur schwer Gehör im öffentlichen Raum. Im alltäglichen Austausch sind es jedoch Themen rund um die Lebensqualität, die die Menschen bewegen. Öffentlich debattiert werden sie aber kaum. Stattdessen wird in reichen Gesellschaften das Gute Leben fast ausschließlich als zunehmend materieller Wohlstand für sich selbst verstanden.
Dieses Verständnis veranlasst viele Menschen dazu, billige – und damit sozial und ökologisch problematisch produzierte – Lebensmittel, Kleidung und High-Tech-Geräte zu konsumieren. Wie sie hergestellt wurden, wollen die meisten Menschen dabei lieber nicht wissen. Sie blenden aus, dass diese Form der imperialen Lebensweise auf der respektlosen Ausbeutung der Natur und anderer Menschen basiert – in der eigenen Gesellschaft und vor allem international.
Gleichzeitig zwingt die immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich viele Menschen auch in materiell reichen Gesellschaften dazu, auf solch billig produzierte Waren und Dienstleistungen zurückzugreifen. Diese können jedoch nur hergestellt werden, wenn noch ärmere Menschen und die Natur ausgebeutet werden. Egal ob sich Menschen damit den Zugang zu lebensnotwendigen materiellen Gütern oder soziale Anerkennung für sich und ihre Kinder verschaffen wollen – durch ihren Konsum verstärken sie oft unfreiwillig den sogenannten Krieg der Armen gegen die Armen. Daraus folgen Ausbeutung und Unterdrückung anderer statt Umverteilung und Solidarität.
Die imperiale Lebensweise ist aber auch deshalb so tief verankert, weil sehr viele Menschen – selbst wenn sie die Ausbeutung anderer Weltregionen und der Natur kritisch sehen – durch ihre Erwerbsarbeit Teil dieser Lebensweise sind. Deswegen gilt es nicht nur das individuelle Konsumverhalten zu verändern, sondern auch das Wirtschaftssystem grundlegend umzubauen. Die Arbeits- und Wirtschaftswelt muss so gestaltet sein, dass sie Menschen nicht mehr in ausbeuterisches Handeln und strukturelle Zwänge bringt.
»Gutes Leben für Alle kann nicht auf Kosten anderer gehen!
Hier setzt das Buch des I.L.A. Kollektivs an. Die Perspektive einer solidarischen Lebensweise basiert dabei auf zentralen Prinzipen für das gesellschaftliche Zusammenleben, sowie für Politik und Wirtschaft:
Gutes Leben für Alle kann nicht auf Kosten anderer gehen!
Es kann keine nachhaltigen Geschäftsmodelle in einer nicht nachhaltigen Volks- und Weltwirtschaft geben!
Es wird keine nationalistischen und konkurrenzgetriebenen Strategien für einen langfristigen Wohlstand geben können!
Damit liefert das Buch zum einen eine Begriffsklärung und ein Verständnis vom Guten Leben, das als Gegenmodell zu Ausgrenzung und Abschottung, zu Zukunftsblindheit und Fremdenfeindlichkeit steht. Das ist wichtig, denn in wirren Zeiten bedarf es kluger Konzepte, die Haltung, Orientierung und Alternativen bieten. Zum anderen zeigt das Buch konkrete Ansatzpunkte für das Handeln von Individuen, für die Gestaltung durch die Politik sowie für das Rückerlangen der Diskurshoheit durch emanzipatorische Akteure und damit für eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse.
Die Autor*innen des Buches plädieren dafür, die imperiale Lebensweise zurückzudrängen und gleichzeitig die solidarische Lebensweise aufzubauen. Das ist heute nicht selbstverständlich, selbst wenn es die Vereinten Nationen in ihrer Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung von September 2015 ähnlich formulieren. Viele Kräfte werden heute davon ausgefüllt, bestehende soziale und politische Standards – wie Arbeiter*innenrechte, selbstorganisierte Räume und starke öffentliche Sektoren – zu verteidigen. Diese – dringend nötigen – Kämpfe zur Verteidigung emanzipatorischer Errungenschaften bedürfen der Ergänzung um neue Visionen eines Guten Lebens. Es geht auch darum, im Hier und Heute konkrete Alternativen für die Zukunft aufzuzeigen und voranzutreiben. Diese liegen auf ganz unterschiedlichen Ebenen: Im beruflichen Alltag, indem beispielsweise schädliche Sektoren (wie der Braunkohlesektor oder die Automobilindustrie) aufgegeben beziehungsweise umgebaut werden, im gesellschaftlichen Engagement, zum Beispiel für eine demokratische und sozial-ökologische Energieversorgung oder Mobilität, im privaten Verhalten, wie durch Verzicht aufs Auto, in der Reform politischer Institutionen oder in einer Stärkung kritischer Medien.
Das Buch zeigt, dass eine solidarische Gesellschaft nicht nur dringend nötig, sondern auch machbar ist. Dass es nicht nur Konflikte mit herrschenden und mächtigen Interessen geben wird, sondern dass die notwendigen tiefgreifenden Veränderungen – und damit die Abkehr von bestimmten Gewohnheiten – für Menschen auch positiv erfahrbar sein müssen. Es geht schließlich um die Freiheit, nicht mehr auf Kosten anderer leben zu müssen. Und wir gehen soweit zu prognostizieren, dass genau die vielen kleinen Projekte einer solidarischen Lebensweise Werkstätten dieser Befreiung sein können. Denn hier können Menschen gemeinsam kreativ und selbstwirksam alternative Formen des Zusammenlebens ausprobieren und erleben. So können sie der angstschürenden populistisch-rechten Hetze eine konstruktive und visionäre Praxis entgegenstellen. Das Kollektiv stellt detailliert dar, welche Ansatzpunkte es in unterschiedlichen Bereichen wie der Landwirtschaft, dem Wohnen, der Mobilität oder der Sorge bereits gibt. Gleichzeitig stellen sich die Autor*innen auch der Frage, welche politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen nötig sind, um die solidarische Lebensweise auf nationaler und globaler Ebene zu verankern.
Das Buch sprüht vor Ideen, seine Lektüre ist anregend und eine große Freude. Wir gratulieren dem zweiten I.L.A. Kollektiv zu dieser vorzüglichen und wichtigen Arbeit. Und wir sind froh darüber, dass wir bei unseren persönlichen Begegnungen und Diskussionen miterleben durften, mit wieviel Leidenschaft und Energie dieses Projekt angegangen und umgesetzt wurde.
Nun wünschen wir dem Buch und den damit verbundenen Anliegen eine weite Verbreitung.
Ulrich Brand, Maja Göpel, Barbara Muraca, Tilman Santarius und Markus Wissen
EINLEITUNG
VON DER IMPERIALEN LEBENSWEISE ZUM GUTEN LEBEN FÜR ALLE
DIE NÄCHSTEN JAHRE SIND ENTSCHEIDEND. ES GILT LEBENS- UND WIRTSCHAFTSWEISEN AUSZUPROBIEREN, DIE NICHT AUF KOSTEN ANDERER MENSCHEN UND DER NATUR IN GEGENWART UND ZUKUNFT GEHEN. WIE KANN DER WANDEL VON DER IMPERIALEN LEBENSWEISE ZU EINEM GUTEN LEBEN FÜR ALLE AUSSEHEN?
Heute ist ein guter Tag. Du hast endlich beschlossen nicht mehr auf Kosten anderer zu leben! Ab heute soll dein Leben frei von Ausbeutung (siehe Glossar), fair und nachhaltig sein!
Nachdem du dein Auto stehen gelassen hast, fällt dir auf, dass du mit keinem der Busse rechtzeitig bei der Arbeit bist. Und du fragst dich, ob der Bus mit Erneuerbaren Energien betrieben wird. Deine Kinder beschweren sich, dass es keine Kiwis zum Frühstück gibt und du so lange damit beschäftigt bist, Wurmlöcher aus den Äpfeln zu schneiden. Beim Blick auf deinen Pulli stellst du fest, dass er vermutlich unter menschenunwürdigen Bedingungen hergestellt wurde. Du diskutierst eine Stunde mit deinen Kollegen, warum du es besser findest, Fairtrade-Kaffee zu trinken. Dein Chef droht dir mit Kündigung, als du ein Vier-Stunden-Arbeitsmodell vorschlägst. Die Energiegenoss*innenschafti) will dich nicht aufnehmen, weil du kein Kapital anlegen kannst. Und als du deiner Mutter vorschlägst ein Wochenende an der Ostsee zu verbringen, statt nach Portugal zu fliegen, sagt sie: »Die Bahnfahrt ist teurer als der Flug. Ich weiß gar nicht was mit dir los ist, das ist doch ganz normal. Das machen doch alle so.«
Es ist unmöglich heutzutage so zu leben, dass weder Menschen noch die Natur dabei ausgebeutet werden. Überall stoßen wir auf Hindernisse. Gerade in reichen Gesellschaften bleibt den Menschen keine andere Wahl als tagtäglich auf Kosten anderer zu leben – selbst wenn sie sich bemühen, dies nicht zu tun. Zu realisieren und sich einzugestehen, dass man auf Kosten anderer Menschen, zukünftiger Generationen und der Natur lebt, kann schmerzhaft sein. Das ist aber nicht zu vergleichen mit dem Schmerz, den diejenigen erfahren, die ausgebeutet werden. Wir machen unterschiedliche Erfahrungen und wir haben unterschiedliche Möglichkeiten. Doch verbinden uns Zwang und Ausbeutung auf unheimliche Art und Weise.
Ausbeutung findet nicht nur in der Ferne statt. Auch in unseren reichen Gesellschaften türmen sich Probleme, die etwa durch steigende Mieten, unsichere Arbeitsverhältnisse, zunehmenden Leistungsdruck und eine Ellenbogengesellschaft hervorgerufen werden. Für immer mehr Menschen wird das Versprechen eines Guten Lebens nicht mehr erfüllt.
Wir, die Autor*innen dieses Buches, sind wütend und traurig: Warum müssen wir in einer Welt voller Ausbeutung leben? Warum haben wir und alle anderen Menschen nicht das Recht, nicht auf Kosten anderer zu leben? Warum können wir kein Leben jenseits von Leistungsdruck, Wettbewerb und unsicherer Zukunft leben? Wir sind uns sicher, dass es auch anders geht und überzeugt, dass die globale Gemeinschaft das Zusammenleben auf diesem Planeten besser organisieren kann. Und zwar so, dass alle Menschen ein Gutes Leben führen können und gleichzeitig die natürlichen Lebensgrundlagen erhalten bleiben. Mit diesem Buch möchten wir dazu beitragen, neue Ideen, Vorstellungen und Möglichkeiten in die Welt zu bringen – jenseits von Ausbeutung und Unfreiheit.
Wir glauben an ein Gutes Leben für Alle anstatt eines besseren Lebens für wenige auf Kosten anderer.
Die imperiale Lebensweise: Warum wir auf Kosten anderer leben
Der Widerspruch unserer Zeit: Trotz Wissens ändert sich wenig
Die alltägliche Art und Weise, wie die meisten Menschen im Globalen Norden (siehe Glossar) wirtschaften und leben geht auf Kosten anderer: der Natur, zukünftiger Generationen und benachteiligter Menschen in Nord und Süd. Mit dem Auto zur Arbeit und mit dem Flugzeug in den Urlaub, jederzeit eine große Auswahl an exotischem Obst und die tägliche Wurst, monatlich ein neues Outfit, endlich wieder ein neues Möbelstück für die eigenen vier Wände und alle zwei Jahre ein neues Smartphone – all dies und viel mehr treibt Menschen in dieser Lebensweise an. Wie die Produkte hergestellt wurden und später wieder entsorgt werden, welche Rohstoffe verbraucht werden, wo diese herkommen und welche menschliche Arbeit dafür nötig ist blenden die Menschen dabei aus.
Die Beispiele machen auch deutlich: So zu leben und zu wirtschaften ist nicht verallgemeinerbar. Bereits heute, wo nur ein Teil der Menschheit von dieser Lebensweise profitiert, sind die natürlichen Ressourcen dieser Erde und ihre Senken (siehe Glossar), die der Mensch zur Entsorgung von Müll und Abgasen nutzt, (wie die Atmosphäre und Meere) überlastet. Die Grenzen dieser Lebensweise werden tagtäglich sichtbarer. Aber auch die Ausbeutung von Menschen ist Grundlage dieser Lebensweise. Nur weil Menschen – vor allem im Globalen Süden – dazu gezwungen sind, unter unwürdigen Bedingungen für die Produktion des Globalen Nordens zu arbeiten, kann der Rest der Menschheit so viel und so günstig konsumieren.
Abb. 1.1: Das Konzept der imperialen Lebensweise
Und obwohl sich immer mehr Menschen bewusst sind, dass ihr alltägliches Handeln andere Menschen ausbeutet und die Natur in Gegenwart und Zukunft belastet, ändert sich wenig. Ein umfassender Wandel bleibt aus. Der globale Energie- und Ressourcenverbrauch steigt sogar. Dabei drängt die Zeit: Die Erderwärmung schreitet voran, immer mehr Menschen fliehen vor Konflikten und wirtschaftlicher Not und auch in reichen Gesellschaften sind immer mehr Kinder und Alte von Armut betroffen – all das prägt das Bild der heutigen Zeit.
»Warum ändert sich nichts, auch wenn immer klarer wird, dass diese Lebensweise das Potenzial hat, in nicht allzu ferner Zukunft die Natur – und damit die Lebensgrundlage aller Menschen – zu zerstören?«
Wie kann das sein? Warum hält die Gesellschaft an dieser Lebens- und Wirtschaftsweise fest, obwohl die meisten wissen, dass damit Mensch und Natur ausgebeutet werden und deswegen nicht alle Menschen so leben können? Warum bleibt ein System bestehen, welches duldet, dass Luxus und Wohlstand neben Hunger, Sterben und Flucht existieren? Warum ändert sich nichts, auch wenn immer klarer wird, dass diese Lebensweise das Potenzial hat, in nicht allzu ferner Zukunft die Natur – und damit die Lebensgrundlage aller Menschen – zu zerstören?
Warum ist das so? Das Konzept der imperialen Lebensweise bietet eine Erklärung
Antworten auf diese Fragen liefert das I.L.A. Kollektiv in seinem ersten Buch »Auf Kosten anderer? Wie die imperiale Lebensweise ein gutes Leben für alle verhindert«. Dabei haben sich die Autor*innen am Konzept der imperialen Lebensweise, wie es die Sozialwissenschaftler Ulrich Brand und Markus Wissen entwickelt haben,1 orientiert (siehe Abbildung 1.1). Das Konzept nennt die oben skizzierte Art und Weise zu leben und zu wirtschaften imperiale Produktions- und Lebensweise (kurz: imperiale Lebensweise). Imperial, weil sie einem Teil der Menschheit ermöglicht, übermäßig auf Arbeit und Natur zuzugreifen, die negativen Folgen dieses Handelns auslagert, und andere Lebens- und Wirtschaftsformen verdrängt. Produktions- und Lebensweise, weil sie nicht nur das private Leben der Menschen durchdringt, sondern auch die Art und Weise, wie die Gesellschaft wirtschaftet und produziert. Auch in diesem Buch arbeiten wir mit diesem Konzept. Es zeigt nicht nur, warum die vorherrschende alltägliche Art zu leben systematisch Mensch und Natur ausbeutet. Es bietet auch eine Erklärung dafür, warum die Gesellschaft trotz des Wissens über die Widersprüche daran festhält und keinen Wandel einleitet. Das Konzept begründet dies mit der Tatsache, dass die imperiale Lebensweise sowohl den Alltag und das Denken der Menschen bestimmt, als auch durch politische Institutionen (Freihandelsabkommen, Steuersysteme und so weiter) und Infrastrukturen (Autobahnen, Flughäfen, Supermärkte, Einfamilienhäuser und so weiter) gestützt wird.
Die imperiale Lebensweise: normal und alternativlos?!
Was viele Menschen lähmt, ist deshalb das Gefühl, keine anderen Optionen zu haben: Das derzeitige Leben und Wirtschaften – mit all den gravierenden Folgen, die es hat – scheint normal und alternativlos. So halten die meisten Menschen an ihrem Alltag fest, auch wenn sie wissen, dass dies auf Kosten anderer geschieht. Trotz der finanziellen oder politischen Möglichkeiten etwas zu ändern, sehen selbst gut Verdienende keinen Ausweg aus ihrem Alltag: Jeden Morgen gehen sie zur Arbeit, die für die meisten nur den Zweck hat, Geld zu beschaffen, und wenig Zeit für Familie und Freund*innen lässt. Aus Zeitmangel fühlen sich viele gezwungen, im Supermarkt Fertiggerichte zu kaufen, statt selbst zu kochen und als Stimmungsaufheller gönnen sie sich ein neues Technik-Gadget wie eine Smartwatch. Viele kaufen von ihrem Lohn ein Auto, um zur Arbeit zu kommen und Kleidung, um dort schick auszusehen. Der Arbeitsalltag der Menschen wird immer anstrengender und zur notwendigen Erholung wartet die warme Insel auf sie – mit dem Flieger schnell erreichbar. Nach Feierabend sind viele Menschen so erschöpft, dass sie sich nur noch vor den Fernseher setzen können. Immer mehr Menschen haben mit Stress, Abstiegs- und Zukunftsängsten oder Schlaflosigkeit zu kämpfen. Wir Autor*innen erfahren die Zwänge und Attraktivität dieser Lebensweise selbst.
Doch dieses Leben und diese Gesellschaft sind nicht alternativlos: Die Art und Weise, wie wir Menschen miteinander und mit der Natur leben, ist nicht vom Himmel gefallen, sondern menschengemacht. Wir bauen selbst die Strukturen und Bedingungen für unser Zusammenleben. Es gibt also die Möglichkeit, unser Miteinander auf diesem Planeten neu zu gestalten.
Warum die solidarische Lebensweise eine echte Alternative ist
Die solidarische Lebensweise muss nicht in ferner Zukunft liegen
Alternativen zur imperialen Lebensweise gibt es nicht nur in der Theorie, sondern auch im Hier und Jetzt! Viele Ansätzen zeigen schon heute, wie Leben und Wirtschaften aussehen können, wenn sie nicht oder weniger auf Kosten anderer gehen: Wohnprojekte mit gemeinsam genutzten Gärten und Geräten, Ernährungsräte und Energietische, bei denen Bürger*innen ihre Lebensmittel- und Stromversorgung demokratisch und ausbeutungsfrei gestalten, Bürger*innenbusse, die es auch Menschen auf dem Land ermöglichen, auf das eigene Auto zu verzichten, Kleidertauschbörsen und Cafés, in denen Menschen sich gegenseitig helfen ihre Gegenstände zu reparieren, verkürzte Arbeitszeiten, die es Menschen erlauben, neben ihrer Arbeit für sich selbst und ihre Mitmenschen zu sorgen und politisch aktiv zu sein, regionale Wirtschaftskreisläufe und fairer Handel.
Manche sind klein und lokal, andere sind global vernetzt und haben viele Unterstützer*innen. Für einige Initiativen steht die Änderung politischer Verhältnisse im Vordergrund, andere erleichtern es, im Alltag sozial und ökologisch zu leben und viele machen beides. Sie alle sind Teil der Suche nach einem Guten Leben für Alle – statt eines vermeintlich besseren Lebens für wenige. Wir, die Autor*innen dieses Buches, sind überzeugt: Eine andere Lebens- und Produktionsweise ist möglich. Wir nennen diese Lebensweiseii), die allen ein Gutes Leben ermöglicht, solidarisch.
Was heißt solidarisch?
Die solidarische Lebensweise ermöglicht es allen Menschen, ihre Bedürfnisse (siehe Infobox Bedürfnisse) zu verwirklichen und gleichzeitig die Mitwelt – Tiere, Pflanzen und die lebendige Natur (siehe Glossar) – zu erhalten. Sie schließt niemanden aus und ermöglicht allen ein Leben, das nicht auf Kosten anderer geht, eben ein Gutes Leben für Alle. Sie ist deshalb – im Gegensatz zur imperialen Lebensweise – verallgemeinerbar. Denn wir können als Menschheit nur dann alle gut leben, wenn niemand Bedürfnisse auf Kosten anderer oder der Natur in Gegenwart und Zukunft verwirklicht. Solidarische Alternativen setzen auf Zusammengehörigkeit, Kooperation, Gerechtigkeit und Ökologie. Sie verringern Ungleichheiten dort, wo Menschen und Natur kein Gutes Leben möglich ist und einige wenige auf Kosten anderer leben. Ungleichheiten, wie die Ausstattung mit Geld und Macht, werden deshalb in der solidarischen Lebensweise im Vergleich zu heute verringert.
Die solidarische Lebensweise entspricht nicht dem einen politischen oder wirtschaftlichen System, es gibt auch kein Rezept für das solidarische Leben. Jenseits von Ausbeutung und Diskriminierung füllen die Menschen den Begriff des solidarischen Lebens vielfältig. Wir, die Autor*innen dieses Buches, haben uns aktuelle Modelle und Debatten näher angeschaut und uns auf die Suche nach den Bausteinen der solidarischen Lebensweise begeben.
Auf Kosten anderer? – Das Gute Leben für Alle!
aufkostenanderer.org
Anhand verschiedener Lebensbereiche (wie beispielsweise Ernährung und Landwirtschaft, Digitalisierung und Mobilität) zeigt das erste Buch des I.L.A. Kollektivs »Auf Kosten anderer?«, warum die vorherrschende Lebensweise im Globalen Norden nicht weiter fortbestehen sollte und kann. Wir bedanken uns ganz herzlich bei den Autor*innen des ersten Buches für die hervorragende Analyse der imperialen Lebensweise. Diese für uns so wertvolle Vorarbeit erlaubt es uns direkt an die Kritik der imperialen Lebensweise anzuknüpfen und ihr eine andere, solidarische Lebensweise entgegenzustellen: »Ein Gutes Leben für Alle!« lautet daher der Titel dieses Buches. Die Problematik der imperialen Lebensweise reißen wir an, allerdings nur kurz, um uns dann auf solidarische Alternativen fokussieren zu können. Den Leser*innen dieses Buches empfehlen wir deshalb für eine ausführliche Kritik die Lektüre des Buches »Auf Kosten anderer?«.
Die solidarische Lebensweise braucht ein Umdenken auf allen Ebenen
Das Konzept der imperialen Lebensweise macht deutlich, dass diese Lebensweise sowohl in Gesetzen, gesellschaftlichen Strukturen und Organisationen verankert ist, als auch im Denken und in den Vorstellungen der Menschen darüber, was sie als normal und erstrebenswert erachten. Wenn die Gesellschaft wirklich etwas ändern möchte, braucht es deshalb nicht nur eine Veränderung von Konsumgewohnheiten Einzelner, sondern auch von wirtschaftlichen und politischen Strukturen und Institutionen.
Warum es weder ausreicht individuelles Verhalten zu ändern...
Es reicht also nicht aus, wenn der*die Einzelne sein*ihr persönliches Handeln ändert, zum Beispiel indem er*sie nur noch biologisch und fair hergestellte Kleidung und Lebensmittel kauft oder auf das eigene Auto verzichtet. Klar, Konsument*innen haben eine gewisse Macht, wenn sie auf Konsum verzichten und durch ihre Nachfrage Unternehmen einen Anreiz geben nachhaltig und fair zu produzieren oder ihre Arbeiter*innen an Gewinnen zu beteiligen. Aber diese Appelle an individuellen Verzicht sind wenig attraktiv und für viele Menschen unter den jetzigen Bedingungen schwer umzusetzen. Solange es auf politischer Ebene keine neuen Regeln gibt, wird sich nur wenig ändern. Solange Straßen besser ausgebaut sind als Fahrradwege und biologisch hergestellte Lebensmittel und Zugfahrten teurer sind als konventionelle Lebensmittel und Flugreisen, wird kein umfassender Wandel stattfinden. Auch vermag das Verhalten Einzelner nicht die grundlegenden Prinzipien des aktuellen Wirtschaftssystems – wie Profit, Wettbewerb und Wachstum – zu ändern. Der Alltag mit Lohnarbeit (siehe Glossar), wenig Zeit für sich selbst, Freunde und Familie und dem Hinarbeiten auf den nächsten Urlaub wird nicht hinterfragt und weiterhin den Alltag der meisten Menschen prägen. Andere Tätigkeiten, so genannte Sorgetätigkeiten, wie Kindererziehung, Kochen, Putzen und Pflege von Mitmenschen werden weiterhin hinten runterfallen und gegenüber Lohnarbeit geringgeschätzt. Auch die Art und Weise, wie die Gesellschaft ihre Mitwelt sieht, nämlich hauptsächlich als Quelle für Rohstoffe und als Deponie für Müll, wird unverändert bleiben.
Aber auch diese grundlegenden Sichtweisen und Handlungen muss die Gesellschaft ändern, wenn ein Gutes Leben für Alle ihr Ziel sein soll.
...noch Politik oder Wirtschaft in alleiniger Pflicht zu sehen
Genauso reicht es nicht aus, darauf zu hoffen, dass die Politik Regeln und Gesetze einführt, die ein umweltschädigendes und menschenunwürdiges Verhalten bestrafen und sozial-ökologische Modelle bevorzugen. Ohne Druck aus der Gesellschaft wird sich die Politik nicht bewegen. Auch die Schuld und damit die Pflicht allein bei Konzernen oder Banken zu sehen, bringt keinen Wandel.
Alles greift ineinander, behindert oder verstärkt sich gegenseitig. Es gilt, einen Wandel gleichzeitig im Alltag, in Institutionen und in Infrastrukturen einzuleiten. Genauso braucht es nicht nur ein Umdenken in der alltäglichen Art und Weise zu leben – in der Lebensweise –, sondern auch in der Art und Weise zu wirtschaften und zu arbeiten – also in der Produktionsweise.
Warum es die Vision einer solidarischen Lebensweise braucht
Die solidarische Lebensweise jenseits von marktorientierten, grünen und autoritären Scheinlösungen
Diesen umfassenden Wandel sehen wir weder in marktorientierten noch autoritären Lösungen, wie sie die Gesellschaft derzeit hauptsächlich diskutiert.
Rechte Gruppen, wie die AfD in Deutschland, der Front National in Frankreich oder Trump in den USA, antworten mit autoritären Lösungen. Sie wollen ihren Wohlstand und die imperiale Lebensweise absichern, indem sie Grenzen verstärken und Menschen ausschließen. Die negativen Folgen ihres wirtschaftlichen Handelns – die Ausbeutung von natürlichen Ressourcen und menschlicher Arbeitskraft – möchten sie weiterhin auslagern. Ein Anstieg von Ungleichheit, Ausbeutung und Diskriminierung von benachteiligten Gruppen ist die Folge.
Andere, wie der Thinktank Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, marktliberale und konservative Parteien und die meisten Wirtschaftswissenschaftler*innen fordern marktorientierte Maßnahmen für die oben skizzierten Probleme. Wenn die Weltwirtschaft nur weiter wachse, dann stiegen auch die Löhne und Einkommen der armen Gruppen und keiner müsse mehr aus wirtschaftlicher Not fliehen. Steuersenkungen sollen das Wachstum ankurbeln, weil dies Unternehmen anzieht. Und wenn Gesundheits- und Bildungssystem sowie die Strom- und Wasserversorgung nicht gut funktionieren, dann solle der Staat diese Dienste am besten privatisieren. Die Prämisse lautet also Mehr vom Alten, nämlich mehr Wachstum, mehr Privatisierung und mehr Lebensbereiche der demokratischen Kontrolle der Menschen entziehen.2
»Probleme kann man nicht mit derselben Denkweise lösen durch die sie entstanden sind.«
Albert Einstein
Auch für den Klimawandel und andere Symptome, die auf die Ausbeutung der Natur hinweisen, haben diese marktorientierten Ansätze eine Lösung: Autos mit Verbrennungsmotoren sollen durch E-Autos, Benzin durch Agrartreibstoffe und die tägliche Wurst aus Massentierhaltung durch Biofleisch ersetzt werden. Vielflieger*innen können ihre Umweltbelastung wiedergutmachen, indem sie ein Stück Regenwald vor der Rodung retten. Diese marktorientierten Ansätze sind auch als grünes Wachstum bekannt. Der sogenannte Rebound-Effekt macht ökologische Einsparungen jedoch wieder zunichte (siehe Glossar und Infobox Rebound-Effekt): Stromeinsparungen, zum Beispiel durch effizientere Küchengeräte, werden aufgefressen, weil sich Menschen durch die Kostenersparnisse weitere oder größere Küchengeräte leisten oder diese mehr gebrauchen. Auch an den grundlegenden problematischen Strukturen ändert grünes Wachstum (siehe Glossar) nichts: Die Wirtschaft wächst weiter, Ausbeutung, Profit, Lohnarbeit und Wettbewerb prägen weiterhin den Alltag der Menschen und soziale und ökologische Schäden werden weiter ausgelagert.3
Wir als I.L.A. Kollektiv sehen deshalb weder in einem marktorientierten Weiter-so oder in Ansätzen des grünen Wachstums, noch in rechten, autoritären Bewegungen eine Antwort und erachten diese Vorschläge als Scheinlösungen. Was derzeit fehlt, ist eine grundsätzlich andere, nämlich menschenwürdige, demokratische, gerechte und ökologisch nachhaltige Alternative – kurz: Ein Projekt der solidarischen Lebensweise.
Es ist an der Zeit eine neue Geschichte zu erzählen: Die Geschichte eines guten Lebens für Alle
In diesem Buch möchten wir eine neue Geschichte erzählen. Die Geschichte von einer Gesellschaft, in der Wohlstand mit Lebensqualität und Zeit, Verbundenheit und Kooperation von Menschen und Mitwelt, Genuss und Muße sowie sozialer Gerechtigkeit und Freiheit gleichgesetzt ist. Die Geschichte eines Guten Lebens für Alle. Wir stellen hier Prinzipien, Pionier*innen und Projekte der solidarischen Lebensweise vor.
Unser Ziel ist es, der scheinbar alternativlosen imperialen Lebensweise, aber auch den Scheinlösungen, eine positive Vision entgegenzusetzen. Wir sind überzeugt: Die solidarische Lebensweise ist möglich und machbar. Dieses Buch soll einen Beitrag dazu leisten, den Weg für neue Vorstellungen zu ebnen und Anknüpfungspunkte für jede*n im Hier und Jetzt zu geben. Wir möchten ein Gutes Leben für Alle konkret und erfahrbar machen.
Infobox: Selbstpositionierung – Wer sind wir und für wen können wir überhaupt sprechen?
Die Widersprüche in uns
Unser Vorhaben hat den Anspruch, die derzeitige Verteilung von Macht zu kritisieren, aber gleichzeitig durchziehen Macht- und Herrschaftsverhältnisse auch uns, die Autor*innen dieses Buchs. Obwohl wir in einer Gruppe von 20 Personen eine Vielfalt an Persönlichkeiten, Lebensentwürfen und Erfahrungen vereinen, sind wir uns doch alle auf gewisse Weise ähnlich. Zwar haben wir unterschiedliche Biografien und nicht alle einen bildungsbürgerlichen Hintergrund, aber wir sind alle ›weiß‹, akademisch, städtisch, jung und können die notwendige Zeit und die Ressourcen aufbringen, dieses Buch zu schreiben. Diese sozialen Merkmale schränken unseren Blick auf die Welt ein.
In der heutigen Welt voller Ausbeutung und Ungerechtigkeiten nehmen wir eine privilegierte Position ein. Dass wir das nötige Wissen und die Möglichkeiten haben, ein Buch über eine alternative Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu schreiben, ist weder selbstverständlich noch Zufall. Verschiedene Voraussetzungen befähigen uns dazu – Voraussetzungen, die in unserer Gesellschaft ungleich verteilt sind. Institutionen, wie Familie, Schule, Uni, aber auch unser Freundes- und Bekanntenkreis, haben sie uns mitgegeben. Trotzdem erleben auch wir Diskriminierungen, Belastungen und Unsicherheiten im Alltag, haben Wünsche und Sehnsüchte nach einem besseren, erfüllten, nach einem guten Leben und fühlen uns betroffen von globalen Ungerechtigkeiten und ökologischen Katastrophen.
Was bedeutet das für unser Buch?
Wir wollen nicht darüber schweigen, dass auch wir Macht und Herrschaft vervielfältigen, weil wir dieses Buch schreiben und uns zu einer Stimme verhelfen können. Uns ist klar, dass wir einen subjektiv gefärbten Blick auf die Welt und auf die solidarische Lebensweise haben:
Was sind Prinzipien einer solidarischen Lebensweise? (siehe Konturen) Wir betonen in dieser Frage eine neue, bessere Qualität von Beziehungen zwischen Menschen sowie zwischen Mensch und Natur mehr als die Umverteilung von Geld, Macht und Wissen.
Was sind solidarische Alternativen? (siehe Lebensbereiche) Hier liegen uns städtische Projekte, die alternative Wirtschaftsweisen erproben, näher als Strukturentwicklung im ländlichen Raum oder Mitbestimmung im Betrieb.
Was sind Transformationspfade? (siehe Transformation) In dieser Hinsicht beziehen wir uns eher auf sozial-ökologische Bewegungen anstatt auf anti-rassistische, queere oder migrantische Kämpfe.
Wir haben blinde Flecken in Bezug auf eine Reihe von sozialen Eigenschaften wie Klasse, Flucht und Migration, ländliche Entwicklung, Behinderungen und Queer-Feminismus – und gleichzeitig schreiben wir ein Buch über das Gute Leben für Alle und den Weg dorthin. Wie kann das gelingen?
Wir haben nicht den Anspruch, für andere zu sprechen. Trotzdem fühlen wir uns Menschen verbunden, die in dieser Gesellschaft, die es uns ermöglicht Bücher zu schreiben, tagtäglich um ihre Existenz, um Anerkennung und Teilhabe kämpfen. Auch wir fühlen uns betroffen. Deshalb ist uns der Begriff der Solidarität, der in der solidarischen Lebensweise steckt, besonders wichtig. Dabei steht den Betroffenen frei zu entscheiden, ob sie diese Solidarität annehmen. Mithilfe unserer privilegierten Position möchten wir dazu beitragen, die gemeinsame Zukunft von uns allen inklusiv, gerecht und solidarisch auszurichten.
Wie gehen wir mit diesen Widersprüchen um (oder auch nicht)?
Wir skizzieren das Konzept einer solidarischen Lebensweise und stellen dabei verschiedene – unseres Erachtens wichtige – Prinzipien auf. Dabei ist es nicht unser Ziel, die Utopie nach unseren Vorstellungen auszubuchstabieren und sie anschließend anderen überzustülpen. Vielmehr wollen wir unser Bild der Utopie als einen Aufschlag verstanden wissen. Es ist prozesshaft und offen und kann in Auseinandersetzungen von verschiedenen Gruppen gefüllt, weiterentwickelt und geändert werden – gerade auch von jenen Gruppen, die in der imperialen Lebensweise nicht über Macht und Ressourcen verfügen. Unser Verständnis einer solidarischen Lebensweise ist keine endgültige, allumfassende Definition. Es ist ein Anfang. Je weiter die Menschen dieses ausbauen und ergänzen, umso mehr Solidarität werden wir (er-)leben.
In diesem Buch versuchen wir über unseren Tellerrand hinauszublicken und auch solche Projekte vorzustellen, die jenseits unserer eigenen Lebensrealitäten liegen. Gleichzeitig wissen wir: Unsere Auswahl an Lösungsansätzen bleibt selektiv und von unserem Hintergrund beeinflusst. Auch den Weg in die solidarische Lebensweise können und wollen wir nicht vorgeben. Wir möchten – teilweise auch gerade aus der Distanz – aufzeigen, wie verschiedene Themen, Kämpfe und Strategien zusammengedacht werden und sich hinter der Vision des Guten Lebens für Alle versammeln können.
Weil wir uns unserer eingeschränkten Sichtweise auf die imperiale, aber auch die solidarische Lebensweise bewusst sind, freuen wir uns auf einen kritischen Dialog und einen aktiven Austausch über unsere Ansätze!iii)
»Wir sind überzeugt: Die solidarische Lebensweise ist möglich und machbar.«
Es gibt bereits viele Lösungsansätze - und es werden immer mehr. Nicht nur unzählige konkrete Initiativen und Projekte auf der ganzen Welt, auch theoretische Konzepte und Modelle existieren in großer Vielfalt, zum Beispiel Theorien jenseits von Wirtschaftswachstum, wie sie die Degrowth-Bewegung (siehe Glossar) beschreibt. Sie schaffen Räume für neue Ideen und Handlungen und hinterfragen das Altbekannte.
Indem wir die Geschichte einer solidarischen Lebensweise erzählen und mit Bildern füllen, möchten wir einige ihrer Facetten auffächern, um die solidarische Lebensweise so in unseren Köpfen und mit unseren Händen lebendig werden zu lassen. Unsere Hoffnung ist, dass Menschen auf vielfältige Weise unterschiedliche solidarische Ideen einbringen und ausprobieren, sodass langsam eine Gesellschaft entsteht, in der ein Gutes Leben für Alle möglich ist. Dabei ist es uns wichtig, das Gemeinsame der verschiedenen Ansätze herauszustellen, ohne sie gleichzumachen. Die Beispiele in diesem Buch setzen sich alle für die solidarische Lebensweise ein, auch wenn sie es in unterschiedlichen Lebensbereichen oder aus unterschiedlichen Perspektiven tun.
Gleichzeitig möchten wir den Leser*innen Orientierung im Dschungel der verschiedenen Möglichkeiten und neu aufkommenden Theorien bieten. Welche Ansätze sind solidarisch und können ein Gutes Leben für Alle auf den Weg bringen? Welche sind nur Scheinlösungen, weil sie die imperiale Lebensweise stützen und keinen grundlegenden Wandel zulassen?
Unser Vorgehen: Ausblick auf dieses Buch
Im ersten Teil des Buches Die solidarische Lebensweise – Prinzipien, Projekte und Prämissen skizzieren wir die solidarische Lebensweise und füllen diese mit Leben.
Im Kapitel Konturen entwickeln wir das Konzept derselben. Fünf grundsätzliche Begriffe stellen wir vor, die für uns (zumindest für den Anfang) eine solidarische Lebensweise kennzeichnen: Commoning steht für das gemeinschaftliche Erzeugen, Pflegen und Nutzen von Gütern und Dienstleistungen; Demokratisierung für Teilhabe und Zugang zu den Mitteln, die Teilhabe ermöglichen; ReProduktion und Dependenz