Das Gute tun - Bernard C. J. Lievegoed - E-Book

Das Gute tun E-Book

Bernard C. J. Lievegoed

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Beschreibung

Doing the Good! Geradezu visionär waren die von Bernard Lievegoed in den 1960erJahren gehaltenen Vorträge für junge Menschen. Darin beschreibt er plastisch und lebendig die Herausforderungen an unser Erkennen und Handeln, die das 21. Jahrhundert der Menschheit stellt. Was damals skizziert wurde, ist heute aktuelle, dringliche Realität.

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BERNARD LIEVEGOED

DAS GUTE TUN

BERNARD C. J. LIEVEGOED, 1905 in Indonesien geboren, studierte Medizin und Kinderpsychiatrie. Nach der Gründung des ersten heilpädagogischen Instituts 1931 in den Niederlanden und seiner Promotion setzte er sich intensiv mit Fragen der Organisationsentwicklung in Unternehmen auseinander. 1954 wurde er Professor an der Universität Rotterdam und gründete im gleichen Jahr das in vielen Ländern tätige NPI (Institut für Organisationsentwicklung). Bernard Lievegoed starb am 12. Dezember 1992.

BERNARD LIEVEGOED

DAS GUTE TUN

Ankommen im 21. Jahrhundert

Aus dem Englischen

von Frank Berger

Inhalt

Vorwort zur deutschen Übersetzung

1. Das 20. Jahrhundert

2. Der Strudel

3. Das Gute tun

4. Dreierlei Prüfungen

5. Die neue Moral

6. Gruppenbildung – Gruppenleben

7. Die Dreigliederung und die geistige Signatur der Gegenwart

8. Dem 21. Jahrhundert entgegen!

Interview mit Bernard Lievegoed

Literatur

Vorwort zur deutschen Übersetzung

Die folgenden Vorträge wurden 1965 für junge Amerikaner in Spring Valley bei New York gehalten.

Voraus gingen zwei Vorträge in New York, an denen mehr als hundert junge Menschen teilnahmen. Die Vorträge sind nicht mitgeschrieben oder auf Tonband aufgenommen worden. Sie behandeln das Wirken des Erzengels Michael seit 1879 und die geistige Lage der Menschen, die im 20. Jahrhundert geboren wurden.

Damit bildeten sie den Auftakt für die folgenden Vorträge im nahen Spring Valley. Der Kern der Zuhörer hatte die New Yorker Vorträge gehört, und so konnte daran angeknüpft und fortgefahren werden. Dadurch fällt der erste Vortrag ohne Einleitungen sofort «mit der Tür ins Haus» und fährt dort fort, wo in New York aufgehört wurde.

Diese Vorträge sind gehalten für Menschen, die mit den zentralen anthroposophischen Gedanken vertraut sind.

Wenn man in Amerika für junge Menschen spricht, dann braucht man eine andere Sprache als in Europa, besonders in Deutschland: kurze, prägnante Sätze, die direkt das Ziel anvisieren und den Willen ansprechen. In dem amerikanischenglischen Text kommt dies deutlich zum Vorschein. Bei der Rückübersetzung der Vorträge ins Niederländische oder Deutsche kommt man dann in Schwierigkeiten, weil alles bei wörtlicher Übersetzung anders klingt und deshalb manchmal neu umschrieben werden müsste. Trotzdem wurde in dieser Übersetzung der Versuch gemacht, so weit wie möglich den ursprünglichen Charakter beizubehalten.

Die amerikanisch-kanadische Ausgabe der Vorträge wurde von den Freunden dort besorgt und vom Vortragenden nicht mehr korrigiert. Sie wurden gehalten im Hinblick auf das damals kommende letzte Drittel des Jahrhunderts. Manches, was da als Zukunft geschildert wurde, ist jetzt schon Wirklichkeit und damit nur deutlicher und dringlicher geworden.

Die vorliegende Ausgabe wurde im Anhang mit einem Interview aus der Zeitschrift Info3 ergänzt, in dem ich auf das Näherrücken der Jahrhundertwende eingehe.

Zeist, im März 1991

Bernard C. J. Lievegoed

1. Das 20. Jahrhundert

Stellen wir die Frage: Was ist die Bedeutung der Anthroposophie und der anthroposophischen Bewegung in der heutigen Welt? Wir können, wenn wir sie beantworten wollen, zunächst von zweierlei Ansichten ausgehen.

Eine würde besagen: Die Anthroposophen bilden eine von vielen kleinen Sekten mit ca. dreißigtausend Mitgliedern, ohne Einfluss auf das Weltgeschehen. Diese Sekte hat allerdings etwas geleistet. Ihre Mitglieder haben zum Beispiel Schulen gegründet, in denen Kinder auf erfreuliche Weise unterrichtet werden.

Es gibt aber auch eine andere Auffassung: Im Hinblick auf die geistige Wirklichkeit zählt nicht die Quantität, sondern die Qualität – die Qualität des Bewusstseins, die Qualität der Willensimpulse. Schon ein Mensch, der sich mit einer geistigen Wirklichkeit befasst, irgendwo in der Welt, stellt ein Licht dar, das ein weites Erdgebiet durchstrahlt, so wie das Licht einer Kerze, die in einer dunklen Kammer brennt, alle Wände erreicht.

Wenn sich in irgendeinem Erdteil oder in einem großen Land ein oder mehrere Menschen im rechten Sinne mit geistigen Wirklichkeiten auseinandersetzen, dann ist in geistiger Hinsicht dieser Teil der Erde nicht finster. Bei der Auseinandersetzung mit geistigen Wirklichkeiten kommt es auf die Qualität des Bewusstseins an. Wir können daher, wenn wir heute über Anthroposophie sprechen, fragen: «Haben wir wirklich die Qualität des Bewusstseins und des Willens, die unsere Zeit braucht?» Nur aus völliger Ehrlichkeit und Bescheidenheit kann eine Antwort kommen.

Bis zum Jahre 1500 n. Chr. wurde die Menschheit von den Hierarchien geführt. Alles, was bis 1500 geschah – das teilte Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie, jungen Lehrern 1922 mit –, war eine Wiederholung von Wiederholungen von Wiederholungen.

Was bedeutet das? Es bedeutet, dass alles, was während der griechischen und römischen Kultur und im Mittelalter geschehen war, immer noch eine Wiederholung war von dem, was die Hierarchien in vorangegangenen Epochen der Welt gebracht hatten. Seit 1500 ist, nach Rudolf Steiner, zum ersten Mal in der Weltentwicklung, zum ersten Mal seit der alten Saturnzeit, die Menschheit mitverantwortlich für das künftige Werden des Weltalls. Zum ersten Mal ist das, was seit 1500 geschieht, nicht eine Wiederholung – es ist neu.

Dieses neue Instrument ist die Entwicklung der «Bewusstseinsseele». Vor 1500, in den ersten nachatlantischen Zeiten, wurden die Führer der Menschheit durch hierarchische Wesen inspiriert. Diese Führer waren die Halbgötter der alten Griechen. Auch von Gilgamesch wurde gesagt, dass er zu einem Drittel Mensch war und zu zwei Dritteln Gott. Das heißt: Er war von einem hierarchischen Wesen durchdrungen, das durch diesen Führer als Macht wirkte, die die Menschheit leitete. Erst nach 1500 beginnt eigentlich die Führung des Menschen durch den Menschen selbst.

Rudolf Steiner sagte, dass der große Führer der Sonnenmysterien in den atlantischen Zeiten, Manu, gleichsam ein «göttlicher Manu» war und dass nach 1500 die Zeit der «menschlichen Manus» kommen musste, menschlicher Führer, die aus den geistigen Kräften der Sonnenmysterien heraus wirken.

Dieser Übergang um 1500 wird von der modernen Geschichtsschreibung nicht verzeichnet. Jahrhundertelang waren die Menschen nicht fähig gewesen, die Wirklichkeit der geistigen Welten zu schauen. Um 1500 wirkte die erste Hierarchie in die Welt des Menschen herein und gab seiner Physiologie einen völlig neuen Impuls. Bis dahin hatte die kosmische Intelligenz im Menschen in einer anderen Weise gelebt. Alte Texte, Homer oder die Kalevala zum Beispiel, schildern Götter, die den Menschen ganz nahe waren, so nahe, dass sie tatsächlich in das Leben der Menschen hereintraten und zu deren Herzen und Verstand sprachen durch die Mysterien. Weisheit war nicht einfach ein Wissen des Verstandes, war nicht intellektuell; Weisheit erfüllte das ganze Wesen eines Menschen, strahlte aus den Herzenskräften hervor; war etwas, das so eins war mit dem Menschen, dass er nicht Weisheit besaß – sondern Weisheit war. Sie lebte einfach in ihm; und er besaß sie nicht.

Die erste Hierarchie griff in die Entwicklung der Menschen in folgender Weise ein: Die Fähigkeit zu denken, Gedanken hervorzubringen, verlagerte sich vom Herzen auf das Gehirn. Dies ist der Punkt, wo die «individuelle Intelligenz» eigentlich anfängt.

Der Erzengel Michael war der Verwalter der «kosmischen Intelligenz» der großen Sonnenmysterien. Michael ist zu allen Zeiten der Verwalter der Sonnenmysterien gewesen. Alte Schilderungen und Sagen übermitteln uns, wie in bestimmten Augenblicken der Geschichte Michael gesprochen und eingegriffen hat in die Schicksale der Menschheit. Der Lenker der eigentlichen Menschheitsentwicklung war immer Michael. Er durchdrang das Wesen der Menschheitsführer in den alten Kulturen.

Die Möglichkeit zu denken, Gedanken zu bilden, verschob sich also seit der Neuzeit vom Herzen, von woher es den ganzen Menschen erfüllt hatte, zum Gehirn, gegen den Kopf hin. Der Intellekt entwickelte sich jetzt in ganz neuartiger Weise: Michael zog sich gewissermaßen zurück, und die Intelligenz konnte nur von menschlichen Gehirnen hervorgebracht werden, die nicht mehr unbedingt inspiriert zu sein brauchten. Als nun die Intelligenz durch menschliche Wesen selbst hervorgebracht werden konnte, konnte es Ahriman gelingen, das menschliche Gehirn-Denken zu ergreifen. Solange noch kosmische Gedanken in den Herzen der Menschen gelebt hatten, konnte er keinen Einfluss gewinnen. In dem Augenblick, da das menschliche Denken in das Gehirn wanderte, konnte Ahriman eindringen und damit beginnen, das menschliche Denken zu fesseln.

Noch etwas veränderte sich. Im neunzehnten seiner «Briefe an die Mitglieder» («Was ist die Erde in Wirklichkeit im Makrokosmos?», in: Anthroposophische Leitsätze. Der Erkenntnisweg der Anthropospohie – Das Michael-Mysterium) beschreibt Rudolf Steiner, dass in der Natur stets ein Überschuss an jungen Wachstumskräften herrscht. Wenn die Pflanzen im Frühling ihre Knospen treiben, enthalten sie mehr Keimkraft, als sie für ihr Pflanzenwachstum verbrauchen. Diese Überschusskräfte, die dann in den Kosmos hinausgehen, sind die frischen Keimkräfte der nächsten großen kosmischen Entwicklungsstation, der zukünftigen Jupiterentwicklung. Das ist die Situation in der Natur. Doch seit 1500 besteht solch ein Überschuss auch bezüglich der Willenskräfte des Menschen. Diese strahlen aus, zusammen mit den jungen Keimkräften. Ein Überschuss an Willenskraft ist im Menschen – Willenskraft, die in den Kosmos hinausstrahlt. Und auch diese überschüssige Willenskraft wird einen Teil der Kräfte ausmachen, die einmal die neuen kosmischen Schöpfungen ausgestalten werden. Die Menschheit wirkt jetzt schon mit am Schöpfungsprozess der künftigen Welten durch ihre Willenskräfte. Zum Guten – wenn sie spirituell ihre Willenskräfte einsetzt; zum Übel, wenn sie materialistische einsetzt. Der Mensch ist jetzt für das verantwortlich, was er will. Das ist ein ganz neuartiger Aspekt unserer gegenwärtigen Situation! Rudolf Steiner wies darauf hin, dass nach und nach die Kräfte des Denkens gleichsam starben. Sie offenbaren nur mehr Schatten eines Denkens, das in älteren Zeiten lebendig war. Selbst wenn wir heute Gedanken über die Saturn-, Sonnen-, Mond- und Erdenentwicklung bilden, bleibt alles das doch tot, solange wir lediglich mit unseren Köpfen «wissen».

Nur wo das Wissen von übersinnlichen Tatsachen und deren denkerische Verarbeitung gleichzeitig den Willen mitergreift, nehmen diese Gedanken Leben an. Rudolf Steiner fasst dies in einem Satz zusammen:

«Die Vergangenheit Schatten werfend, die Zukunft Wirklichkeitskeime enthaltend, begegnen sich in der menschlichen Wesenheit. Und die Begegnung ist das Menschenleben der Gegenwart.» Willenskräfte schaffen der Erde einen Weg zu neu sprossendem Leben.

Es können natürlich Verirrungen, Einseitigkeiten entstehen; einerseits, nur Wissen und Gedanken anzuhäufen; zum anderen, immer nur zu wollen, zu wollen ohne geistigen Inhalt für die Willensimpulse. Nur wo ein geistiger Inhalt den Willen erfüllt, kann wirklich die Rede vom «Menschenleben der Gegenwart» sein. So verstehen wir, dass die Menschheit an der Schaffung der zukünftigen Welten mitwirkt durch ihre durchgeistigten Willenskräfte. Mit unseren Köpfen können wir geisterfüllte Gedanken bilden, doch vom Kopf aus müssen diese Gedanken unseren Willen durchdringen.

Und vielleicht darf ich einmal charakterisieren, worauf es in der gegenwärtigen Situation ankommt: Wir müssen lernen zu wollen – auf eine spirituelle, durchgeistigte Weise zu wollen: mit einem geistigen Inhalt. Für die Zukunft der Menschheit zählt in Wahrheit nur das, was wir wollen, nicht der Erfolg der Tat. Der Wille ist es, der zählt, dasjenige, was wir zusätzlich an Willenskräften aufbringen über das hinaus, was für das Resultat notwendig ist – der Überschuss an jenen Willenskräften also, die dann in den Kosmos hinausstrahlen: Sie werden die Keimkräfte neuer Welten.

Nach 1500 zog sich Michael von der Menschheit zurück. Er hielt nicht länger die Verbindung mit den Gedanken aufrecht, die nun von den menschlichen Gehirnen hervorgebracht wurden. Er begann nun, sich auf sein Kommen als Zeitgeist im Jahre 1879 vorzubereiten: Er bereitete seine Wirkungszeit in einer kosmischen Schule vor, in der er noch einmal mächtige Imaginationen vor diejenigen Seelen hinstellte, die noch nicht inkarniert waren, die aber auf der Erde sein sollten am Ende des 19. und während des 20. Jahrhunderts. Noch einmal übermittelte er die «kosmische Intelligenz», deren Verwalter er seit den atlantischen Zeiten gewesen war. Und es ist «Inhalt» dieser Schule gewesen, was Rudolf Steiner uns durch die Anthroposophie vermittelt hat.

Rudolf Steiner – einer jener Menschheitsführer, die aus den zentralen Kräften der Sonnenmysterien heraus wirkten – hatte die Aufgabe, diese kosmische Intelligenz im 20. Jahrhundert auf die Erde zu bringen, sie in menschliche Gedankenformen und Worte zu gießen. Dadurch konnte sie die Eignung erlangen, menschliches Fühlen und menschliches Wollen zu inspirieren. Die Anthroposophie trat zuerst in der Form der Philosophie in Erscheinung, als ein Weg der inneren Entwicklung und als Kosmologie. Später kam die Beleuchtung des Neuen Testaments, insbesondere der vier Evangelien hinzu, und es wurde nach dem Ersten Weltkrieg die Michaelweisheit in die Form einer esoterischen Schule gegossen. Wir können also Folgendes feststellen:

1879 übernimmt Michael seine Aufgabe als «Zeitgeist».

1899 Ende des «Kali Yuga», des fünftausend Jahre währenden «finsteren Zeitalters».

1900 Beginn eines Zeitalters des neuen Lichtes. Geistiges Licht kann nun wieder zur Erde strömen.

Wir können verfolgen, wie Rudolf Steiner in drei Schritten diese kosmische Weisheit in die Welt hereinführt, in drei Siebenjahres-Perioden. In der ersten Periode (ca. 1902 bis 1909) veröffentlicht er nach der vorausgehenden Philosophie der Freiheit die Theosophie und Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? (darin beschreibt er den Weg einer inneren Entwicklung). Diese Periode endet mit Die Geheimwissenschaft im Umriss, einer Skizze der gesamten Kosmogonie unserer Erde und des Menschen.

Zwischen 1909 und 1916 werden die Künste weiterentwickelt. Eine neue Bewegungskunst (die Eurythmie), die Kunst der Sprachgestaltung, die dramatische Kunst werden ausgebildet. Innerhalb kurzer Zeit schreibt Rudolf Steiner seine vier Mysteriendramen. Auch die Neuerschließung der Evangelien gehört hierher. 1917 veröffentlicht Rudolf Steiner seine Erkenntnisse über den Menschen als dreigliedriges Wesen, und von 1916 bis 1923 arbeitet er die Strukturen des dreigegliederten sozialen Organismus aus.

Während der ersten sieben Jahre wurde die Anthroposophie als eine einzige große Imagination vor die Mitglieder hingestellt. In den zweiten sieben Jahren wurde sie mit Gemütskräften verbunden, die sich nun entwickeln konnten auf dem Gebiet der Künste und einer Erneuerung des Religiösen. In den dritten sieben Jahren drang Rudolf Steiner bis zum Willensleben vor und schuf dadurch die Grundlage für eine spirituelle Erziehungskunst in neuartigen Schulen, Ansätze zu einer erweiterten Heilkunde, eine Bewegung für biologisch-dynamische Landwirtschaft und schließlich eine Bewegung für die «Dreigliederung des sozialen Organismus».

Am Ende des Jahres 1923 wurde es Rudolf Steiner möglich, zu Weihnachten die Grundsteinlegung der allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft zu vollziehen.

Während dieser «Weihnachtstagung» begründete er die neuen Mysterien. Das bedeutet: Er führte diese Mysterien bis in den Willen der Menschen. Danach deutete er (sinngemäß) an: Ich werde mich nun selbst mit der Anthroposophischen Gesellschaft verbinden. Ich werde den Vorstand bilden und dessen ersten Vorsitz übernehmen. Der Vorstand wird ein Organ sein für Taten und Handlungen wie auch für Erkenntnisse geistiger Zusammenhänge … Mit anderen Worten: ein «Initiativ-Vorstand». Das besagt, dass hier Dinge getan werden müssen, nicht nur abstrakt erkannt, nur empfunden. Es ist notwendig, dass etwas erkannt, erfühlt und schließlich getan wird.

Dies ist eine Übersicht über die Zeitspanne, in der Rudolf Steiner im 20. Jahrhundert wirkte. Solche Siebenjahres-Rhythmen leben in der Entwicklung der ganzen Anthroposophie. Derartige Rhythmen durchziehen die kosmischen Entwicklungsvorgänge. Der Rhythmus von Tag und Nacht, der Jahresrhythmus, der Rhythmus des Sonnenganges durch den Tierkreis – allesamt sind sie dem Kosmos eingeschrieben durch die Tätigkeit der Hierarchien während vergangener Epochen der Evolution. Nun gibt es einen neuen Entwicklungsrhythmus. Das ist der Rhythmus von 33½ Jahren. Er ist durch das Erdenleben des Christus in den Kosmos eingeschrieben und umfasst die Zeit zwischen Weihnachten und Ostern 33 Jahre danach. Das Leben Christi auf der Erde bewirkte, dass der 33-Jahres-Rhythmus von dem Zeitpunkt an, da Christus am Ur-Osterfest Tod und Auferstehung erlebte, zu einem Rhythmus wurde, der jedem wahrhaft christlichen Entwicklungsvorgang innewohnt. Die alten Rhythmen der Tage, Jahre, Jahrhunderte sind Realitäten. Doch eine neue Realität, die durch das Leben des Christus hervorgerufen ist, durchzieht seither das Leben der Erde. Rudolf Steiner weist einmal auf Folgendes hin: Wenn in der Welt irgendetwas geschieht, und ein Impuls wird dabei geboren, so bedeutet das gewissermaßen den Weihnachtstag dieses Impulses. 33 Jahre danach wird dieser Impuls seine Ostern, seine Auferstehung erfahren.

Wer davon weiß, kann in seinem eigenen Leben wie auch in den Vorgängen des sozialen Lebens diesen verborgenen Rhythmus der 33 Jahre durchaus wiederfinden. Er macht sich immer dann geltend, wenn der Impuls mit den Werdekräften des Christus verbunden ist, wie sie in der Menschheit wirksam sind.

Vielleicht deutlicher als in früheren Zeiten können wir im 20. Jahrhundert die Wirkung dieses Rhythmus bemerken. Darauf bezieht sich Rudolf Steiner, wenn er über das letzte Drittel des 19. und über das erste Drittel des 20. Jahrhunderts spricht.

Wir sagten: 1900, da begann das neue, «lichte Zeitalter». Das «Kali Yuga» war abgelaufen. Neues Licht konnte zur Erde hinströmen. Rudolf Steiner durchlebte im Jahr 1899 ein inneres Geschehen, welches ihm die Möglichkeit gab, mehr noch: die Aufgabe auferlegte, in das neue Jahrhundert mit dem allmählichen Offenbaren jener Imaginationen der Michaelschule einzutreten, die im Übersinnlichen schon seit 1500 lebten.

Nun können wir uns fragen: Welche Aufgaben hat diese neue Zeit? Was sollte am Beginn des 20. Jahrhunderts geschehen, am Beginn des «lichten Zeitalters»?

In erster Linie sollte die Anthroposophie in ihrer Gesamtheit zur Menschheit gebracht werden. Die Anthroposophie – ein umfassender «Leib» der Weisheit. Es wurden sozusagen die Keime einer erneuerten Philosophie, Wissenschaft, Kunst und einer Erneuerung des religiösen Lebens gelegt. Das waren Keime neuer innerer Entwicklungswege; Keime, aus denen neue Mysterien hervorgehen sollten. Diese Weisheit wollte erarbeitet werden. Die relativ kleine Gruppe um Rudolf Steiner wurde allerdings bestimmt nicht nur von dieser Weisheit geleitet – auch Luzifer bemühte sich, diese Gruppe von Menschen zu erreichen. Er war es, der den Mitgliedern einflüsterte: «Ihr seid die wenigen Auserwählten! Nur ihr kennt diese Wahrheiten. Sondert euch ab von der schlechten Welt, studiert zum Nutzen eurer persönlichen Entwicklung und Befriedigung.»

Das ist der klassische luziferische Ansatz: die Anthroposophen versus die «Außenwelt». Die Redeweise von der «Außenwelt» ist luziferischer Jargon.

Ostern 1933 begann das zweite Drittel des 20. Jahrhunderts. Welches war das bedeutendste Ereignis dieses zweiten Abschnitts? In den Jahren 1911 und 1912 hat Rudolf Steiner über dieses Ereignis viel gesprochen. Er führte aus, dass Christus eine neuerliche Kreuzigung erlitten hatte – durch den Materialismus des 19. Jahrhunderts. Dieser Materialismus hatte für den Christus solch ein Leiden bedeutet, dass es für ihn wie eine zweite Kreuzigung war. Rudolf Steiner beschrieb auch, wie der Christus eine neue Auferstehung – diesmal in der Ätherwelt – erleben würde, schließlich als «ätherischer Christus» zwischen 1933 und 1935 zu erscheinen beginnen würde – und von da an als solcher dann auch in Zukunft gegenwärtig sei. Das Erscheinen des ätherischen Christus war das Ereignis, das im mittleren Drittel des 20. Jahrhunderts eintreten sollte. Die Menschen sollten davon wissen. Sie sollten darauf vorbereitet sein, diesem Ereignis zu begegnen. Heute sehen wir, wie die Mächte der Finsternis alles aufboten, was ihnen möglich war, um die Aufmerksamkeit der Menschen in andere Bahnen zu lenken. Etwas früher, im Januar 1933, gelangte Adolf Hitler an die Macht. Das ist es, was sich ereignet hat! Wir kennen das Resultat. Alles starrte auf diesen Mann: «Was passiert jetzt? Was wird er tun?» So war es den Menschen ganz unmöglich, innerlich zu dem durchzudringen, was eigentlich in der Welt vorging. Das eigentliche Geschehen war ja nicht das, was in Deutschland am Beginn des Jahres 1933 stattfand. Das Eigentliche war der «ätherische Christus», der zur Menschheit kommen wollte.

Können wir uns mithilfe dessen, was uns durch Rudolf Steiner eröffnet wurde, vorbereiten, den Weg zum «ätherischen Christus» zu finden?

Rudolf Steiner selbst beschreibt diese Vorbereitung. Es gibt drei Prüfungen, die man zuerst durchlaufen muss. Es sind Prüfungen, die nicht nur das Denken, sondern vor allem das Fühlen berühren. Es geht hier um ein so starkes innerliches Fühlen, dass man sozusagen selbst ganz in diesem Fühlen aufgeht, damit ganz eins wird. Am Anfang steht die Empfindung: Wie wenig Wert und Bedeutung hat das materielle, äußere Dasein im Grunde! – Es folgt, zweitens, das Gefühl des Unbefriedigtseins durch materialistische Erklärungsversuche und Begründungen. Wenn wir lange Anthroposophie studiert haben, können wir zutiefst befriedigt werden durch die Deutungen und Erklärungen, die sie uns gibt. Dennoch muss dieses Gefühl stets mehr und mehr vertieft werden. – Dann folgt die dritte Prüfung: Man beginnt eine innere Spaltung zu erleben. Die Empfindung tritt auf: «Mein kosmisches Wesen, mein kosmisches Ich, ist groß und strahlend; während ich hier auf Erden nur ein Zwerg bin. Wie ein Krüppel bin ich, der sein wahres Wesen nicht zum Vorschein bringen kann.» Dann steigt in uns die Frage auf: «Wer gibt mir meine Daseinsrätsel auf, wer stellt mich vor meine Probleme?» Und die Antwort kommt aus uns selbst: «Mein eigenes kosmisches Wesen, mein eigentliches, wahres Ich!»

Wenn die Menschen durch dieses Gefühl des tiefen Unbefriedigtseins, durch das, was die äußere Welt uns gibt, gegangen sind, kann dies zu einer neuen Moralität führen. Die neue Moralität ist ein allumfassendes Mitleid, ein Anteilnehmen gegenüber allem, was da leidet in der Welt. Rudolf Steiner sagte, dass wir nachts eigentlich nicht mehr ruhig schlafen können dürften, solange es noch Leid gibt in der Welt! Doch es haben viele von uns seither so manche Nacht recht gut geschlafen …

Er sagt, Christus werde «aus grauen Geistestiefen» sprechen. Aus grauen Geistestiefen wird Christus Worte des Trostes sprechen. Um aber Worte des Trostes hören zu können, müssen wir wirklich Trost suchen. Meistens ist es aber so, dass unsere normalen Alltagsgefühle keinen Trost fordern. Um dieses Bedürfnis zu verspüren, müssen wir erst einmal durch die Erfahrung jener neuen Moralität gegangen sein, müssen wir jenes umfassende Mitleiden und Mitleben mit allem, was leidet, einmal tief empfunden haben.

Nach meiner Ansicht standen wir als Anthroposophen in der Mitte des 20. Jahrhunderts vor der Aufgabe, eine breite, weltoffene Bewegung zu entwickeln; eine Bewegung, die sich in der Welt hätte ausbreiten sollen; in der man über die Welt hätte Bescheid wissen sollen – nicht nur mit dem Kopf, auch mit dem Herzen. Wie das Studium der Anthroposophie zur Entwicklung der Imaginationskraft führen will, so bringt uns das Erleben dieses tiefen Mitgefühls für die Welt, wenn unser Gemüt sich dafür empfänglich macht, zu den Kräften der Inspiration. Durch die Anthroposophie hätten in diesem zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts viele, sehr viele Menschen die Inspirationskräfte entwickeln sollen. Ich bin der Meinung, dass wir – und ich sage absichtlich «wir», wir alle zusammen – diese Aufgabe bisher nicht erfüllen konnten. Wir haben zumeist nicht die Kraft aufgebracht, während der Finsternis wirklich so wach zu sein, dass wir die Ätherwelt erreichten, um dem Christus zu begegnen. Kann jetzt noch etwas getan werden? In der Zeit, da eigentlich tief in unseren Herzen alle Kräfte, die die Anthroposophie hervorbringen kann, hätten erweckt werden müssen, um eine Erneuerung der Kultur ins Werk zu setzen, damit der «ätherische Christus» die Menschen hätte finden können, durch welche Er hätte sprechen und wirken können – in dieser Zeit gingen wir unsere eigenen, egoistischen Wege. Wir stritten über Bücher und die «richtigen Methoden». Ich schäme mich tief, wenn ich auf diese Jahre zurückblicke. Wir alle, muss ich leider sagen, die wir in der anthroposophischen Bewegung standen, waren da mit hinein verwickelt. Und wir haben nicht die Kraft aufgebracht, zu erfassen, was sich wirklich in der Welt abspielte und was die große Kulturaufgabe des mittleren Jahrhundertabschnitts war. Vielleicht können wir dennoch etwas tun. Wir können einmal versuchen, unsere egoistischen Spaltungen beiseitezuschieben und unsere Seele als Ohr zu gebrauchen. Mit ihr in die Welt zu lauschen, geradeso wie wir guter Musik lauschen, sodass sich offenbart, was im Hintergrund in den Menschen eigentlich lebt. Und wir können versuchen, Antworten zu geben aus unserer persönlichen Anteilnahme gegenüber den Menschen, aus einer warmen Sympathie für sie.

Michaeli 1966 traten wir in das dritte und letzte Jahrhundertdrittel ein.

Wir können uns fragen: Was muss die Aufgabe der Anthroposophie sein, die Aufgabe der Menschen, die durch sie erkennen können, welche Bedeutung dieses letzte Drittel hat? – Haben wir uns Anthroposophie als kosmische Weisheit wirklich erarbeitet, und sind wir zu einer gewissen Imaginationskraft gekommen, dann können wir folgenden Gedanken Rudolf Steiners mitdenken: Wenn ich die kosmische Entwicklung aus dem Saturn-, dem alten Sonnen- und Mondzustand bis hin zur Erde denkend lebendig mitvollziehen kann, dann stehe ich schon in der Welt der Imagination, denn das sind Bilder, die nicht von einem Sichtbaren her genommen sind. Es sind innere Bilder; und alle inneren Bilder sind der Anfang der Imagination.

Wir können eine weitere Stufe durchleben und versuchen, zur Inspiration zu kommen, indem wir intensiv mit den Menschen, mit der Welt mitleben und mitleiden – wobei wir vielleicht einen gewissen Trost empfangen in Form von Inspiration. Dadurch kommen wir vielleicht soweit, dass wir wahrnehmen, was in der Begegnung mit Ahriman zu tun ist und wie wir junge Keimkräfte für die Zukunft hervorbringen. Rudolf Steiner hat uns mitgeteilt, dass der letzte Abschnitt des 20. Jahrhunderts besonders ernst und schwierig sein wird. Ahriman wird sich anschicken, alles aus dem Weg zu räumen, was mit Geisterkenntnis und Geisteswissenschaft verbunden ist. Wir werden versuchen müssen, unseren Weg in der Welt ganz aus unserem eigenen Wesen heraus zu finden – aus Intuition!

Ahriman wird versuchen, die Freiheit unseres Willens, die uns durch die göttlichen Wesen seit 1500 geschenkt ist, außer Kraft zu setzen. Ahriman trifft seine Vorbereitungen. Den freien Willen will er ausschalten, und dies auf sehr kluge Weise. Er tut es zum Beispiel mittels maschineller Datenverarbeitung: Dort, wo mit mechanischer Informationsgewinnung und -auswertung gearbeitet wird, im Forschungsbetrieb und dergleichen. Er strebt an, Informationen zusammenzustellen, und dann einen «Kurzschluss» zwischen Information und Entscheidung hervorzurufen. Er will uns davon überzeugen, dass wir, wenn eine Information so oder so aussieht, nur entsprechend dies oder jenes tun könnten; alle anderen Wege seien falsch. Der Wille wird lahmgelegt.

Doch wirklich zu einer Entscheidung zu kommen bedeutet, dass wir Imaginationen ausbilden müssen, ganz wir selbst