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Über die Zukunft der Anthroposophie Das Buch behandelt dringende Fragen, die die inneren und spirituellen Hintergründe der Anthroposophie und die Aufgabe der anthroposophischen Bewegung in der Welt betreffen. Seine Kernbotschaft ist: Betrachte deine eigenen Nöte und Freuden nicht als ausschließlich persönlicher Natur, sondern versuche sie als Ausdruck von etwas Allgemein-Menschlichem zu sehen.
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Seitenzahl: 158
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BERNARD LIEVEGOED
Ein Vermächtnis
Aus dem Niederländischen von Frank Berger
Verlag Freies Geistesleben
BERNARD C. J. LIEVEGOED, 1905 in Indonesien geboren, studierte Medizin und Kinderpsychiatrie. Nach der Gründung des ersten heilpädagogischen Instituts 1931 in den Niederlanden und seiner Promotion setzte er sich intensiv mit Fragen der Organisationsentwicklung in Unternehmen auseinander. 1954 wurde er Professor an der Universität Rotterdam und gründete im gleichen Jahr das in vielen Ländern tätige NPI (Institut für Organisationsentwicklung). Bernard Lievegoed starb am 12. Dezember 1992.
Vorwort
Jelle van der Meulen
Der erste Tag
Über die Notwendigkeit dieses Buches
Der zweite Tag
Die drei Geistesströmungen
Der dritte Tag
Rudolf Steiner als Bringer von Erkenntnis
Der vierte Tag
Die Strömung des Christian Rosenkreutz
Der fünfte Tag
Die heutige Aufgabe der Rosenkreuzer
Der sechste Tag
Die Geistesströmung des Manu
Der siebte Tag
Die Aufgabe Manus in der Zukunft
Der achte Tag
Die Strategie der Gegenmächte
Anhang
Hinweise auf Personen
Anmerkungen zum Text
Als Bernard Lievegoed am 12. Dezember 1992 im Alter von siebenundachtzig Jahren verstarb, hatte er die Arbeit an diesem Buch gerade noch abrunden können. Das letzte Gespräch darüber fand zehn Tage vor seinem Tod statt. Bernard Lievegoed betrachtete dieses Buch als seinen Abschiedsgruß und nannte es mehrmals sein «geistiges Testament». Während unseres letzten Gesprächs bat er mich, ein Vorwort zu schreiben und darin die Entstehungsumstände zu schildern. Er war der Meinung, der Leser müsse sie kennen, um sich ein angemessenes Urteil bilden zu können. So komme ich gerne dieser Bitte nach.
Bernard Lievegoed hat mit dem Thema dieses Buches, wie er im ersten Kapitel berichtet, mehr als sechzig Jahre gerungen. Es hat dringende Fragen, die die inneren und spirituellen Hintergründe der Anthroposophie und die Aufgabe der anthroposophischen Bewegung in der Welt betreffen, zum Inhalt. Lange Zeit blieben diese Fragen offen. Nach einer schweren Operation bekam er aber endlich Antwort. Seine Freude darüber war groß, und er nahm daraufhin alle Kräfte zusammen, um diese Antwort schriftlich niederzulegen.
Bernard Lievegoed hatte mich um Hilfe gebeten, da er nicht mehr die physische Kraft hatte, das Buch selber zu schreiben. Mit einem Kassettenrecorder habe ich zehnmal an seinem Krankenbett gesessen und dem zugehört, was er zu sagen hatte. Ich sehe noch den Anblick vor mir: sein abgezehrtes, doch stolzes Haupt auf dem hohen Kissen, die weißen Schläfen, die ernsten Augen in den tiefliegenden Höhlen. Er sprach langsam, schwieg manchmal lange und schaute dabei in sich versunken über mich hinweg. Was er dann wohl sehen mochte? Ich glaube, das geistige Schlachtfeld, auf dem in der nächsten Zukunft der große Geisteskampf zwischen den Mächten des Materialismus und denen des esoterischen Christentums geführt werden wird. Denn davon handelt dieses Buch: von den Dingen, die da kommen werden.
Mit großer Kraft erhob er sich über den Schmerz und die physischen Beschwerden und konzentrierte sich ganz auf die Arbeit an dem Buch.
Seine Freude war groß, als ihm ein handgeschriebenes, fast unleserliches Manuskript in die Hände kam: ein eigenhändiger Lebensabriss seines Freundes Ehrenfried Pfeiffer, der 1961 in den USA verstorben war. Auf seinem Krankenbett las Lievegoed die Aufzeichnungen über den inneren Kampf, den Pfeiffer durchstehen musste, über seine Begegnungen mit Rudolf Steiner, über seine Sorgen hinsichtlich des Entwicklungsgangs der Anthroposophie. Und er fasste diese Betrachtungen Pfeiffers sogleich als Ansporn und Hilfe für das auf, was er selbst noch zu vollbringen hatte.
Bernard Lievegoed blickte während seines letzten Lebensjahres durch die Oberfläche der Dinge hindurch, unterschied das Wesentliche vom Unwesentlichen, urteilte wie ein milder Fürst über menschliche Schwächen und stieß sich nicht an den Ecken, die das Leben eben mit sich bringt. Vor allem in den letzten Wochen – so stellte es sich mir dar – hatte er sich über seine eigene Biografie erhoben. Er sprach nicht mehr über «seine» Institute, wie beispielsweise das «Zonnehuis», das «NPI» und die «Vrije Hogeschool». Auch sprach er nicht mehr über seine Bücher, seine Zeit als Vorsitzender der Anthroposophischen Gesellschaft in den Niederlanden, seine Erfolge und Misserfolge (die es auch gab). Er fasste sein Leben gleichsam noch einmal zusammen und konzentrierte dessen Inhalt in kräftigen Bildern, die er dann mit schlichten Worten aussprach.
Zum besseren Verständnis des Inhaltes dieses Buches ist es notwendig, auf den Ernst hinzuweisen, mit dem Bernard Lievegoed sprach. Eine auffallende Eigenschaft war bei ihm immer schon der Realismus, mit dem er die Vorgänge in der Welt und in der anthroposophischen Bewegung betrachtete. Es war ihm, wie vielleicht nur wenig anderen, deutlich, dass die nächsten Jahre von entscheidender Bedeutung sein werden.
Im persönlichen Umgang gab er einem immer das Gefühl, dass der eigene Lebenslauf, mit allen hartnäckigen Problemen, die dabei mitspielen, Teil eines größeren Ganzen darstellt. Ohne viele Worte zu verwenden – wir unterhielten damals noch keine freundschaftliche Beziehung –, appellierte er an unsere Fähigkeit, uns über uns selbst zu erheben. Im Grunde enthält dieses Buch dieselbe Botschaft: Betrachte deine eigenen Nöte und Freuden nicht als ausschließlich persönlicher Natur, sondern versuche, sie als Ausdruck von etwas Allgemein-Menschlichem zu sehen. Im Schnittpunkt des Persönlichen mit dem Allgemein-Menschlichen kann sich das vollziehen, worauf so viele Menschen in ihrem Lebenslauf, wenngleich unbewusst, hoffen: die Metamorphose der persönlichen Impulse in allgemein-menschliche. In dieser Hinsicht darf Über die Rettung der Seele als ein ermutigendes Buch gelten, das sich an jeden Leser persönlich wendet.
Dieses Buch handelt aber nicht nur vom persönlichen Schicksal einzelner Individuen, sondern auch von dem der anthroposophischen Bewegung als ganzer. Was das betrifft, kann von einem drohenden Drama gesprochen werden: Wenn die anthroposophische Bewegung ihr eigenes Schicksal – mit allen inneren Kämpfen, die dazu gehören – nicht in Ordnung zu bringen vermag, so wird der Anschluss an das Schicksal der Welt versäumt werden.
In der Geschichte der anthroposophischen Bewegung hat sich eine solche Situation schon früher einmal ergeben, in den Dreißigerjahren, zeitgleich mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus. Um es mit den Worten Bernard Lievegoeds (in: Durch das Nadelöhr) zu sagen: «Die Bedrohung der Dreißigerjahre war unsagbar schwer. Und die Anthroposophische Gesellschaft hatte ihr Mitspracherecht verwirkt. Wenn man seine eigenen Probleme nicht zu lösen vermag, dann hat man keinerlei Recht, der Welt Lösungen ihrer Probleme vorzuschlagen! […] Wenn man so auf die Dreißigerjahre zurückblickt, dann muss man sagen: Wie ist es möglich gewesen, dass in der anthroposophischen Bewegung damals nicht begriffen wurde, worum es eigentlich ging? Rudolf Steiner hat oft über den Anfang der Dreißigerjahre unseres Jahrhunderts gesprochen und darauf hingewiesen, dass in dieser Zeit in der geistigen Welt ein wichtiges Ereignis stattfinden würde: die Erscheinung des Christus in der ätherischen Welt. Wie oft hat er es nicht betont: Es ist von allergrößter Wichtigkeit, dass die Menschheit dieses Ereignis nicht verschläft! Und er sah es als die Aufgabe der anthroposophischen Bewegung an, bei den Menschen Wachheit dafür zu erzeugen!»
Die anthroposophische Bewegung war durch ihre internen Probleme damals nicht fähig, ihre spirituelle Aufgabe zu erfüllen, und Lievegoed rechnete mit der realen Möglichkeit, dass diese Situation in den kommenden Jahren aufs Neue eintreten könnte. «Wenn es der anthroposophischen Bewegung jetzt nicht gelingt, doch noch eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen den einzelnen karmischen Gruppen zu realisieren», sagte er während eines Gesprächs im Januar 1992, «so wird sich die Geschichte in der Zukunft wiederholen. Die geistigen Mächte, die den Nationalsozialismus inspiriert haben, sind nicht tot. Sie warten auf eine neue Chance, und die wird sicher kommen. Du brauchst dich nur umzuschauen! Natürlich werden sich die Mächte des Bösen auf eine völlig neue Art manifestieren, völlig anders als in den Dreißigerjahren. Und es ist sehr die Frage, ob die anthroposophische Bewegung diesmal tatsächlich darauf vorbereitet ist!»
Bernard Lievegoed rang mit der Frage, welchen positiven Beitrag er noch liefern könnte. Im Juni 1992 rief er mich an und erklärte, dass es ihm schlecht gehe – ob ich bitte so bald wie möglich bei ihm vorbeikommen könne? Einige Tage später, am 30. Juni, suchte ich ihn auf. Jedes Detail dieses Besuchs steht deutlichst in meiner Erinnerung eingeschrieben. Ich hatte ihn seit fast einem halben Jahr nicht mehr gesehen und erschrak, als ich ihn sah. Er war sehr schwach geworden und stark abgemagert, außerdem hatte er große Probleme mit seinem Magen (er hatte inzwischen eine schwere Operation hinter sich) und wankte mehr, als dass er ging.
Er informierte mich ausführlich über seinen Gesundheitszustand und berichtete von der Operation, die er hinter sich hatte. Seine Haltung machte einen starken Eindruck auf mich: Er empfand überhaupt kein Selbstmitleid und klagte nicht. Er beschrieb seine Verfassung in nüchternem Ton, offensichtlich wollte er, dass ich mir ein klares Bild machte. Geduldig ging er auf meine Laienfragen ein und sagte schließlich, mit einem jungenhaften Lächeln: «Das Verbleiben in einem physischen Leib kann auch seine weniger angenehmen Seiten haben!» Danach machten wir uns an die Arbeit. Er teilte mir mit, dass er eine Antwort auf seine drängenden Fragen gefunden habe.
«Nach meiner Operation», sagte er, «hat sich mir ein Vorhang geöffnet. Du musst mir helfen, ein Buch zu schreiben.» Und in der nächsten Stunde skizzierte er den geplanten Inhalt dieses Buches. Es handelte sich im Wesentlichen um Folgendes: Wenn die anthroposophische Bewegung in geistiger Hinsicht zu einer Einheit kommen will, so muss daran gearbeitet werden, dass ein Verständnis für die spezifischen geistigen Aufgaben der verschiedenen Tochterbewegungen, Institutionen und Persönlichkeiten entsteht. Die internen Reibungen und so weiter würden erst dann ein Ende nehmen, wenn eine gegenseitige, ehrlich empfundene Bewunderung für die Arbeit der anderen aufkäme, wobei unterschiedliche Auffassungen keinen Anlass für Spannungen bilden, sondern vielmehr zu einer «sozialen Harmonie» führen sollten. Das wirkliche Verständnis für den Auftrag des anderen – das war es, was Lievegoed am Herzen lag.
Des Weiteren berichtete er, dass er seit den Dreißigerjahren mit der Frage nach den großen, den Kampf gegen den Materialismus impulsierenden Menschheitsführern und deren «Arbeitsweise» gerungen habe. Über diese Frage hatte er seinerzeit oft mit Freunden wie Ita Wegman, Walter Johannes Stein, Herbert Hahn und Willem Zeylmans gesprochen. Seit dem Tod von Zeylmans (1961) hatte er darüber geschwiegen, die Frage jedoch im Seeleninneren weiter bewegt.
Zuerst wollte Bernard Lievegoed den Inhalt des Buches auf Kassette sprechen und mir diese zusenden. Weil er selbst nicht mehr schreiben konnte, sollte ich dann einen lesbaren Text daraus machen. Doch während des Sommers schaffte er das, wegen seiner Krankheit, nicht. Er fand einfach nicht die Kraft, sich zu konzentrieren. Als sich sein Zustand im Oktober weiter verschlechterte und er befürchten musste, dass das Ganze ein bloßer Plan bleiben würde, rief er mich wieder an und schlug eine andere Arbeitsweise vor: Ich sollte jeden Tag eine halbe Stunde an sein Krankenbett kommen. Durch meine Anwesenheit würde er die Kraft finden, die Arbeit durchzuführen.
Und so geschah es denn auch. In einer Periode von weniger als drei Wochen habe ich ihn insgesamt zehnmal besucht, in der ersten Woche fünfmal, in den folgenden beiden jeden zweiten Tag. Während der ersten acht Sitzungen wurde das Buch in seiner Gänze «erzählt». Einmal musste ich wegen medizinischer Komplikationen unverrichteter Dinge wieder weggehen, und einmal sprachen wir über bestimmte Ergänzungen. Immer, wenn ich sein Zimmer betrat, lag er völlig bereit in seinem Bett, den Gehörapparat im Ohr, das Notizbuch aufgeschlagen auf der Bettdecke. Er wusste jedes Mal genau, was er vorhatte.
Es folgte eine Überraschung nach der anderen. Die wohl größte bestand darin, dass er den ersten Tag mit kurzen Charakterisierungen der Menschen beschloss, die nach seinem Empfinden einen Beitrag zu den Inhalten des Buches geleistet hatten. Er versammelte gleichsam seine Freunde um sich, bevor er anfing: Ehrenfried Pfeiffer, Willem Zeylmans, Ita Wegman, Walter Johannes Stein, Eugen Kolisko, Maria Röschl, Ernst Lehrs, Herbert Hahn und Albrecht Strohschein. Ich glaube, er betrachtete sie in gewisser Weise als Mit-Autoren.
Die zweite Überraschung bestand darin, dass er über alle ihm bekannten Inkarnationen der drei Menschheitsführer sprach, von denen das Buch handelt.
Schließlich kam die Überraschung des letzten Kapitels, das die vielsagende Überschrift «Die Strategie der Gegenmächte» trägt. Strategie, Geisteskampf, Schlachtfeld, Gegenmächte – diese Begriffe bestimmen stark die Tonart des letzten Kapitels, ja eigentlich des ganzen Buches. Lievegoed war auch eine Kämpfernatur; er dachte in Begriffen wie Angriff und Gegenzug. Niemals werde ich das Paradoxe dieser Situation vergessen: Physisch war Lievegoed extrem geschwächt, doch geistig war er unantastbar geworden. Nichts konnte ihm mehr etwas anhaben. Und man möchte hoffen, dass etwas von dieser geistigen Unbeirrbarkeit auf dem Weg über sein Buch auch in die anthroposophische Bewegung einfließen wird.
Er hatte in diesen letzten Monaten nur noch ein einziges Ziel: das Zustandebringen seines Buches. «Wenn es fertig ist», sagte er, «kann ich mich, bevor ich sterbe, noch einigen persönlichen Dingen widmen.» Vor allem bei den letzten Sitzungen war ihm deutlich anzumerken, dass er sich nach dem Augenblick sehnte, wo er würde sagen können: Es ist vollendet. Und das ist tatsächlich ganz knapp geglückt. Wir hätten keine Woche, ja nicht einmal zwei, drei Tage länger warten dürfen. Er wurde zusehends schwächer. Schließlich konnte er kaum noch seinen Arm zum Gruß heben. Doch er ließ sich dadurch nicht beirren. Schritt für Schritt, bis zum letzten Kapitel, arbeitete er sein Buch aus, sorgfältig jedes Detail mit dem größten Ernst formulierend.
Bernard Lievegoed war sich bewusst, dass Über die Rettung der Seele nicht irgendein Buch ist. Der Inhalt sollte, seiner Intention nach, nicht rein als Information aufgenommen, sondern intensiv von Personen, Zweigen und Instituten durchgearbeitet werden. In unserem letzten Gespräch sagte er, er hoffe inständig, dass der Inhalt «von der anthroposophischen Bewegung nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen aufgenommen wird». Er war sich im Klaren darüber, dass seine Botschaft eine Vielzahl neuer Fragen aufwerfen würde, vor allem auch deswegen, weil sie Elemente enthält, die in der anthroposophischen Bewegung nicht unumstritten sind. Es ging ihm aber darum, ein intensives Suchen in Gang zu bringen. «Wenn dieses Buch zu einer fruchtlosen Pro-und-Kontra-Diskussion führt über die neuen esoterischen Erkenntnisse, die darin präsentiert werden», sagte er, «so verfehlt es sein Ziel. Ich hoffe, dass die Leser längere Zeit in ihren Seelen mit den darin gegebenen Antworten, aber auch mit den neuen Fragen, die dadurch entstehen, werden leben wollen. Ein Urteil, das zu schnell gefällt wird, zum Beispiel dadurch, dass es einem nicht sofort deutlich ist, wie sich die neuen Erkenntnisse zu dem verhalten, was Rudolf Steiner geäußert hat, schlägt die Türe zur geistigen Welt wieder zu.»
Außerdem wollte er vor einem dogmatischen Umgang mit dem Inhalt warnen. Vor allem die Ausführungen in den beiden letzten Kapiteln, die von der nächsten Zukunft handeln, betrachtete er nicht als unumstößliche Gewissheiten, sondern als mögliche Entwicklungen. «Gerade dort, wo es sich um die Zukunft handelt», sagte er, «ist es notwendig, sich einen offenen, unbefangenen Geist zu bewahren.»
Der Text ist in der Form, wie er jetzt vorliegt, auf der Basis von Tonbandmitschnitten der Ausführungen Bernard Lievegoeds angefertigt worden. Ich bin bei der Übertragung immer so nah wie nur möglich am gesprochenen Wort geblieben. Aufbau und Gliederung des Buches stammen von Bernard Lievegoed. Die Kapitelüberschriften habe ich ergänzt, ebenso die Literaturhinweise am Ende des Buches.
Zum Schluss noch eine persönliche Bemerkung. Während der Stunden, die ich an seinem Krankenbett verbrachte, war ich jedes Mal wieder neu davon betroffen, mit welch tiefem Ernst Bernard Lievegoed sprach. Jedes Wort kam aus dem Kern seines Wesens. Wenn dieser Ernst auch in den Lesern geweckt wird, kann – so hoffe ich – die Basis für ein spirituelles Zusammenwirken nicht nur derjenigen Menschen, die auf der Erde leben, sondern auch jener, die jenseits der Todesschwelle weilen, entstehen. Denn als Bernard Lievegoed am 12. Dezember 1992 starb, ließ er zwar den Inhalt seines «geistigen Testaments» in vollem Vertrauen auf der Erde zurück, doch die Grundstimmung dieses Testaments hat er mit in die geistige Welt genommen. Das Buch wird daher nicht nur von den hier auf Erden Lebenden, sondern auch von den verstorbenen und ungeborenen Seelen in der geistigen Welt «gelesen» werden. Es kann darum meines Erachtens auch als eine «innere Werkstatt» angesehen werden, die allen Seelen offen steht – den ungeborenen, lebenden oder verstorbenen –, eine Werkstatt, in der eine geistige Zusammenarbeit entstehen kann.
Amsterdam, Januar 1993 Jelle van der Meulen
Liebe Freunde, dies wird eine andere Art von Publikation, als Sie von mir gewöhnt sind. Das hat seinen Grund darin, dass ich infolge meiner Krankheit nicht mehr schreiben kann. Darum erzähle ich meinem Freund Jelle van der Meulen, was ich zu sagen habe. Er wird es mit einem Kassettenrecorder aufnehmen und dann einen druckfähigen Text daraus machen.
Ich möchte einiges zu einem Thema darstellen, das mich sechzig Jahre beschäftigt hat, seit den Dreißigerjahren. Gegen Ende meines Medizinstudiums war ich öfters im Goetheanum in Dornach, dem Ort, wo Rudolf Steiner das Zentrum der anthroposophischen Bewegung ansiedelte, und in der Ita-Wegman-Klinik in Arlesheim, ein paar Kilometer von dort entfernt. Ich kam dort mit dem in Berührung, was die Anthroposophie außer dem geschriebenen und gedruckten Wort zu bieten hatte. In jener Zeit lag aus dem Werk Rudolf Steiners viel weniger als heute im Druck vor, wenigstens soweit es die Vorträge betrifft.
In den Dreißigerjahren wütete in Dornach der sogenannte «Bodhisattva-Streit». Adolf Arenson hielt zu jener Zeit Vorträge, um die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft davon zu überzeugen, dass Rudolf Steiner eine Inkarnation des «Maitreya-Buddha», einer der zwölf sogenannten Bodhisattvas, war.1 Über diese geistigen Wesen werde ich später noch sprechen. In den Kreisen der jüngeren Mitglieder, zu denen auch ich gehörte, befassten wir uns mit ganz anderen Problemen. Aber wir meinten, soweit wir uns überhaupt damit beschäftigten, dass die Ansicht Arensons nicht stimmen konnte.
Wir beschäftigten uns intensiv mit einem bestimmten Ausspruch Rudolf Steiners. Nachdem er in den Zwanzigerjahren eine Zeit lang mit einer Gruppe junger Leute gearbeitet hatte, hatte er beim Abschied zu ihnen gesagt: «Ich erwarte, dass ihr in drei Monaten, wenn wir uns wiedersehen, wisst, in welcher Geistesströmung ihr steht.» Mit diesem Auftrag schickte er die jungen Leute nach Hause. Ich war selber nicht dabei, aber unter den Menschen, mit denen ich in den Dreißigerjahren zu tun hatte, lebte dieser Ausspruch noch sehr stark. Wir fragten uns, was Rudolf Steiner mit diesem Ausspruch bezweckt hatte, und außerdem, was eigentlich eine Geistesströmung ist.
Wir machten uns also auf die Suche nach Antworten, und wir fragten uns, ob die Äußerung Steiners sich vielleicht auf die Konflikte bezog, die sich nach seinem Tod in der Anthroposophischen Gesellschaft offenbarten.2 Es gab bekanntlich Gruppierungen unter den Mitgliedern, die sich mehr zu Ita Wegman hingezogen fühlten, und andere, die mehr auf Albert Steffen oder Marie Steiner hin orientiert waren. Zwischen diesen Gruppen herrschte vielfach gegenseitiges Unverständnis, was sich in heftigen Meinungsverschiedenheiten niederschlug. Wir fragten uns damals, ob Rudolf Steiner den Jüngeren nicht hatte sagen wollen: Erforsche deinen eigenen karmischen Hintergrund, um die Konflikte in der Anthroposophischen Gesellschaft besser zu verstehen.
Wir hatten jedoch das Gefühl, dass Rudolf Steiner noch etwas anderes gemeint hatte. Die Konflikte innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft hingen unserer Meinung nach mit dem Karma zusammen, das zwischen den betreffenden Gruppen waltete. Diese Gruppen hatten zwar ihre Probleme miteinander, standen aber doch innerhalb ein und derselben Geistesströmung. Innerhalb der anthroposophischen Bewegung gibt es eine Pluriformität, herrscht Differenzierung. Aber all diese diversen Gruppen – davon waren wir Jüngeren überzeugt – standen auf dem Boden der anthroposophischen Strömung als solcher.