Das Handbuch gegen den Schmerz - Thomas R. Tölle - E-Book

Das Handbuch gegen den Schmerz E-Book

Thomas R. Tölle

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Beschreibung

Über 12 Millionen Menschen in Deutschland leiden: Sie quälen sich mit Kopf- oder Rückenschmerzen, Gelenk-, Nerven- oder anderen chronischen Schmerzen. Sie haben häufig eine lange Leidensgeschichte und eine endlose Ärzte-Odyssee hinter sich – sie haben alles versucht, aber nichts hat geholfen. Jetzt taucht ein Licht am Ende des Schmerztunnels auf: der umfassende Ratgeber einer angesehenen Ärzteriege. Dieser Selbsthilfe-Leitfaden basiert auf neuesten Forschungsergebnissen und gewährt einen Blick in die Zukunft. Er ist leicht verständlich und zeigt an konkreten Fällen, was Betroffene und Angehörige tun können. Er erklärt, was genau chronischer Schmerz ist, woher er kommt und warum er nicht irgendwann von selbst aufhört. Er stellt klar, dass chronischer Schmerz eine eigenständige Erkrankung ist – im Gegensatz zu akutem Schmerz, der als Warnsignal des Körpers und Symptom für eine Verletzung steht. Er thematisiert die zwei Verantwortlichen für den Fortbestand chronischer Schmerzen, obwohl die eigentliche Verletzung oder Krankheit lange zurückliegt: das Schmerzgedächtnis oder eine chronische Erkrankung.

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Inhalt

Vorwort

1. Schmerzen verstehen

Das Phänomen Schmerz

Kann man Schmerz sichtbar machen?

Grafik: Wie Schmerz entsteht

Grafik: Was Schmerz im Körper auslöst

Durch welche Faktoren werden Schmerzen chronisch?

2. Schmerzen unterscheiden

Jeder Schmerz ist anders

Patientengeschichte: „Das Abtun der Schmerzen war das Schlimmste.“

Rückenschmerzen

Bausteine für die erfolgreiche Behandlung

Patientengeschichte: „Meine Schmerzen musste ich ganzheitlich angehen.“

Risikofaktoren für eine Chronifizierung

Nackenschmerzen

Patientengeschichte: „Ich lernte durch Kunsttherapie, mich zu entspannen.“

Muskelschmerzen

Das Wichtigste zu Rücken-, Nacken- und Muskelschmerzen in Kürze

Kopfschmerzen

Migräne

Eine Erkrankung der Intelligenz?

Patientengeschichte: „Ich kämpfe seit 25 Jahren gegen heftige Migräne.“

Clusterkopfschmerzen

Chronische Spannungskopfschmerzen

Das Wichtigste in Kürze

Gelenkschmerzen

Arthrose – der Gelenkverschleiß

Grafik: Wie Entzündungen und Schmerzen zusammenhängen

Rheumatoide Arthritis

Patientengeschichte: „Ich genieße jeden Morgen ohne steifen Rücken.“

Was ist eine Spondyloarthritis?

Das Wichtigste in Kürze

Schmerzen im Bauchraum

Reizmagen und Reizdarm

Chronisch entzündliche Unterbauchschmerzen

Endometriose

Patientengeschichte: „Ich bekam nur zu hören, ich solle Medikamente nehmen.“

Das Wichtigste in Kürze

Nervenschmerzen

Grafik: Wie Nervenschmerzen entstehen

Patientengeschichte: „Meine Nerven an den Schamlippen brennen und stechen.“

Phantomschmerzen

Patientengeschichte: „Ich habe Schmerzen im Fuß, der amputiert wurde.“

Das Wichtigste in Kürze

Fibromyalgie-Syndrom (FMS)

Enstehung von FMS und Risikofaktoren

Patientengeschichte: „Ich zog mich zurück und wurde depressiv.“

Das Wichtigste in Kürze

Komplexes Regionales Schmerzsyndrom (CRPS)

Erklärungsansätze

Patientengeschichte: „Meine Schmerzen wurden als Reinsteigern abgetan.“

Das Wichtigste in Kürze

Schmerzen bei Krebs

Patientengeschichte: „Mein Krebs lässt meine Knochen schmerzen.“

Die vier Dimensionen von Tumorschmerzen

Das Wichtigste in Kürze

Schmerzen durch OPs und Verletzungen

Patientengeschichte: „Ich habe einen Schmerzschrittmacher bekommen.“

Das Wichtigste in Kürze

Schmerztherapie bei Kindern

Zunahme von chronischen Schmerzerkrankungen

Das Wichtigste in Kürze

Schmerzen im Alter

Schmerzempfinden

Wichtig bei Demenzkranken

Das Wichtigste in Kürze

3. Wege aus dem Schmerz finden

Aktiv gegen den Schmerz werden

Medikamentöse Therapie

Grafik: Hauptangriffspunkte von Schmerzmitteln

Können Schmerzmedikamente süchtig machen?

Schmerzpumpe, Schmerzschrittmacher und Nervendurchtrennung

Grafik: Invasive Verfahren

Wann helfen welche invasiven Verfahren?

Psychologische Verfahren in der Schmerztherapie

Wie viel Psychologie steckt in der multimodalen Schmerztherapie?

Kunsttherapie

Konzept und Ablauf der Kunsttherapie

Beispielsitzungen in der Kunsttherapie

Bewegungstherapie

Grundregeln beim Training

Feldenkrais – eine sanfte Alternative

Komplementärmedizin

Akupunktur

Qigong und Tai-Chi

Mind-Body-Medizin und Achtsamkeitstraining

Heilfasten

Multimodale Schmerztherapie

Wie Schmerz das Wohlbefinden beeinflusst

Wohin können Sie sich wenden?

Schmerzmediziner, Schmerzambulanzen, Schmerzkliniken

Bedeutung von Selbsthilfegruppen

Anhang

Die Experten hinter diesem Buch

Impressum

Vorwort

Liebe Patientinnen und Patienten,

dieses Buch wurde für Sie geschrieben. Alle Beteiligten haben langjährige Erfahrungen mit Ihren Nöten und wissen, was es für Sie bedeutet, dass diese Schmerzen, fast egal ob klein oder groß, wie automatisch in den Vordergrund Ihres Lebens geraten sind. Dass sie irgendwann scheinbar alles verdrängen, was schön und lebenswert ist. Viele Millionen Patienten in Deutschland leiden an einer Schmerzkrankheit und benötigen dringend Unterstützung. Viele Betroffene haben eine ganze Reihe an Arztbesuchen und Therapien hinter sich, aber noch immer keinen Weg aus dem Schmerz gefunden. Vielleicht gilt das ja auch für Sie?

Für uns steht der Schmerz ebenfalls im Fokus – aber im beruflichen Leben und mit einem ganz klaren Ziel: ihn zu lindern. Im besten Fall zu helfen, dass Sie sich davon befreien können. Deshalb arbeiten wir als Ärzte in diesem Bereich und deshalb haben wir die Herausgeberschaft dieses Buches übernommen. Sie finden hier die wichtigsten Erkenntnisse aus dem Alltag in der Klinik, aber auch der neuesten Forschung – von uns, jedoch auch einer großen Anzahl weiterer, hochrangiger Schmerzexperten, denen wir für ihre Unterstützung danken möchten.

Besonders herzlich bedanken möchten wir uns bei den Patienten, die sich bereit erklärt haben, ihre Geschichte in diesem Buch zu erzählen – offen, ehrlich und ohne etwas zurückzuhalten. Damit Sie, liebe Leser, einen Halt finden, den Schmerz in allen Dimensionen erfassen und mögliche Wege daraus kennenlernen können. Nicht nur aus Sicht der Experten, die viel wissen und Gutes raten, aber am Ende eines nicht können: Ihren Schmerz im Innersten wirklich nachempfinden. Möglicherweise können Sie sich in einigen Aspekten selbst wiedererkennen und von den Lösungen der anderen Patienten für sich selbst eigene Wege ableiten.

Wir möchten Ihnen mit diesem Buch ein Behandlungskonzept vorstellen, für das und hinter dem wir stehen: den Menschen mit seinen Schmerzen im Ganzen zu betrachten. Denn dieses Leiden beeinflusst den gesamten Menschen! Nicht nur seinen Körper, sondern auch seine Seele und sein soziales Umfeld. All das müssen wir Ärzte lernen ernst zu nehmen, wenn wir wirklich für Sie und mit Ihnen etwas verändern möchten. Ihnen, liebe Patientinnen und Patienten, wünschen wir, dass dieses Buch hilft, für sich herauszufinden, was Ihnen guttun kann und welche Wege aus der Krankheit es für Sie ganz persönlich gibt. Damit das Leben im Fokus steht – und nicht der Schmerz.

Herzlichst,

SCHMERZEN VERSTEHEN

Experten schätzen, dass fast jeder Dritte unter Schmerzen leidet, die bereits mehr als drei Monate andauern. Doch was sind Schmerzen eigentlich, wie entstehen sie und wie können sie sich äußern? Dieses Kapitel gibt Aufschluss über das Phänomen Schmerz sowie seine Auswirkungen auf Betroffene und ihr Umfeld. Es werden die aktuellen Behandlungsmethoden und neue Ansätze der Schmerztherapie vorgestellt.

Das Phänomen Schmerz

„Meine Schmerzhölle begann mit geschwollenen Händen. Die Finger wurden warm und unbeweglich. Mal pochte es, mal lag ein unheimlich schmerzhafter Druck auf meinen Händen. Irgendwann tat dann plötzlich auch mein Nacken irre weh – so, als würde man ein Messer hineinrammen. Er wurde ganz steif, der Schmerz strahlte stechend in die Schultern aus bis herunter in die Arme, dort wurde er dann drückend. Wenn ich jemanden berührte, fühlte sich das wie Nadelstiche an. Meine Finger kribbelten, ich bekam Fieber, Gliederschmerzen – und große Angst.“

Nina S. (34), Arzthelferin aus der Nähe von München, leidet unter einem Ganzkörperschmerz, genannt „Fibromyalgie“

Sucht man im Internet nach dem Wort „Schmerz“, fallen zwei Begriffe immer wieder: „komplex“ und „subjektiv“. Schmerz wird als komplexe, subjektive Sinneswahrnehmung beschrieben. Was sich fast trivial anhört, bringt das Phänomen aber auf den Punkt. Die beiden Adjektive „komplex“ und „subjektiv“ sind typisch für Schmerz – machen ihn aber gleichzeitig gerade so schwer fassbar, schwer messbar und ebenso schwer beschreibbar. Denn jeder empfindet ihn anders.

Auch die internationale Gemeinschaft der Schmerzwissenschaftler hat sich lange mit einer Definition schwergetan. Sie beschreibt das Phänomen nun so: „Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit tatsächlicher oder möglicher Gewebeschädigung verbunden ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.“ Den Schmerz als eigene Diagnose, also nicht als Symptom oder Begleiterscheinung einer anderen Erkrankung, gibt es bisher nur in Deutschland. Ärzte rechnen Behandlungen über eine Art Katalog mit verschiedenen Ziffern ab – Schmerz hat nur in Deutschland eine solche eigene Ziffer. Die Diagnose „chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren“ (Ziffer F45.41) wurde bereits 2009 in die deutsche Version der internationalen Klassifikation von Krankheiten, den sogenannten ICD-Katalog, aufgenommen. Das stellte einen Meilenstein für die vielen Patienten dar, deren chronische Schmerzerkrankung nicht auf eine einzelne körperliche oder seelische Ursache zurückzuführen war und bei denen somit keine behandelbare Ursache vorlag. Bis dahin hatten Ärzte Probleme, der Erkrankung ihrer Patienten einen Namen zu geben, da ja keine bekannte Krankheit vorlag, die mit einem entsprechenden Diagnosecode versehen werden konnte. Auch wenn es sehr technisch klingt: Mit der Einführung des Diagnosecodes wurde deutlich gemacht, dass Patienten mit einer chronischen Schmerzerkrankung keine Simulanten, sondern krank sind. Sie haben das gleiche Recht auf Behandlung und auf Mitgefühl ihres Umfelds wie ein Patient mit einem Herzinfarkt oder einem Beinbruch.

Mittlerweile gibt es auch international Fortschritte. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat sich entschieden, den Begriff „Chronischer Schmerz“ als eine eigene Diagnose in die Klassifikation der Erkrankungen aufzunehmen, die Menschen überall in der Welt beeinträchtigen. Damit wird klar und akzeptiert, dass Schmerz etwas Eigenes ist, eine Erkrankung mit ganz spezifischen Eigenschaften. Schmerzen betreffen nicht nur den Körper, sondern auch den ganzen Menschen und sie machen eine ganz eigene Behandlung nötig. Darum wird es auch in diesem Buch gehen: Es geht nicht nur rein um das Knie, die Hüfte, den Rücken, den Kopf – es geht um alles, was der Schmerz mit und aus den Betroffenen macht.

Schmerzen sind im Gehirn sichtbar

Mittlerweile beginnen Experten mit der modernen Bildgebung des Gehirns, wie der funktionellen MRT und Verfahren des maschinellen Lernens, Schmerzen im Gehirn sichtbar zu machen. Das trifft auch für Schmerzen zu, für die keine eindeutige körperliche oder seelische Ursache gefunden werden konnte. Das hilft, die Erkrankung ernster zu nehmen, und eröffnet neue Perspektiven für die Diagnostik und Therapie von Schmerzen. Es wird allerdings noch eine gewisse Zeit brauchen, bis diese Forschungsergebnisse für Ärzte und Patienten im vollen Umfang nutzbar sein werden. Das Wissen aus diesem Buch soll Ihnen als Betroffene helfen, Ihr Problem mit dem Schmerz besser beim Arzt vortragen zu können. Das ist Ihr erster Schritt, das Problem in den Griff zu bekommen. Ihr Wissen ist der Schlüssel, um die richtigen Weichen zu stellen.

Häufigkeit von Dauer-Schmerzen

Eine solche Schmerzkrankheit ist alles andere als selten: Experten schätzen, dass jeder Fünfte unter Schmerzen leidet, die mehr als drei Monate andauern. In Deutschland ging man bisher von zwölf bis 15 Millionen Betroffenen aus. Ein Drittel von ihnen ist durch die Schmerzen sehr stark beeinträchtigt, das heißt, sie können den normalen Alltag, den Job, das Privatleben nicht mehr fortführen.

In einer Studie aus dem Jahr 2014 gaben sogar etwa 23 Millionen Deutsche (28 Prozent) an, unter chronischen Schmerzen zu leiden. Das ist fast jeder dritte Deutsche! Chronische Schmerzerkrankungen sind also weitaus verbreiteter als gedacht. Die Deutsche Schmerzgesellschaft bemüht sich, auf diese hohe Rate an Betroffenen aufmerksam zu machen und die Versorgung von Schmerzpatienten zu verbessern. Das ist notwendig, denn die gleiche Studie ergab auch, dass fast ein Viertel der Schmerzpatienten mit ihrer Behandlung unzufrieden ist. Es passiert auch heute noch, dass Menschen mit einer chronischen Schmerzerkrankung über viele Wochen, Monate oder sogar Jahre nicht die richtige Diagnose erhalten und schlimmstenfalls als eingebildete Kranke oder als psychisch krank abgestempelt werden.

Dieses Buch möchte genau hier ansetzen. Schmerz muss ernster genommen, früher erkannt, stringenter behandelt und vor allem: akzeptiert werden. Nicht nur von den Patienten selbst, sondern auch von der Außenwelt. Wenn man bei einer Chemo eine Glatze bekommt, dann erkennt jeder das Problem. Aber Schmerzen kann man nicht sehen – und was man nicht sehen kann, kann man schwer einordnen. Das macht Schmerzen für Betroffene aber nicht weniger real, im Gegenteil, es wirkt sich oft besonders katastrophal aus. Es braucht ein Umdenken – seitens Ärzten, Patienten und Außenstehenden. Mit diesem Buch möchten wir als Expertenteam aufklären und Möglichkeiten aufzeigen, wie man Schmerz entweder endlich effektiv behandelt oder zumindest lernt, so damit umzugehen, dass er Betroffene nicht zu sehr belastet. Jeder Schmerzpatient kann Linderung erfahren. Das ist unser Versprechen.

Was genau sind Schmerzen?

Nach der allgemeinen Einführung zum Phänomen Schmerz geht es nun um tiefere Erkenntnisse: Wie äußern sich Schmerzen? Im Folgenden soll dargelegt werden, welche Funktionen Schmerz hat, was dabei im Körper passiert und was die Auswirkungen von Schmerzen sind.

Schmerz als Warnsignal

Zunächst ist diese Sinnesempfindung ein Warnsignal des Körpers und somit eine absolut sinnvolle Einrichtung der Natur. Beim mittlerweile sprichwörtlichen Fassen auf die heiße Herdplatte lässt er uns die Hand in Bruchteilen von Sekunden zurückziehen, bevor wir schwere Verbrennungen erleiden. Der Schmerz ist ein Alarm, der uns zeigt: „Hier stimmt etwas nicht, ändere sofort dein Verhalten!“ Er ist unbestritten ein überlebenswichtiges Warnsystem – ohne Schmerzen wäre die Menschheit längst ausgestorben. Wie gefährlich es ist, keine Schmerzen zu empfinden, zeigen Berichte über Menschen mit einer seltenen Genmutation. Ein Artikel aus der ZEIT schildert diese sehr eindrucksvoll: „Sobald die ersten Zähne wachsen, zerbeißt das Baby fröhlich seine Lippen. Dann der erste Knochenbruch, das Kleinkind betrachtet seinen dicken Ellbogen wie ein neues Spielzeug. Von jetzt an dokumentiert das Familienalbum ein Heranwachsen in Bandagen, Gipsverbänden, Schienen; auf den meisten Fotos lacht das Kind.“

In unserer modernen Welt haben viele Menschen diese „Warn-Dimension“ von Schmerz vergessen. Das Gefühl zeigt, dass etwas nicht in Ordnung ist, es wird aber oft ignoriert oder mit Medikamenten „weggedrückt“. Die Betroffenen verpassen, über die Ursachen nachzudenken und dort anzusetzen, um etwas zu verändern. Der Workaholic, der 16 Stunden am Tag arbeitet, erkennt nicht, dass vermutlich genau da die Ursache für die wiederkehrenden Magenschmerzen liegt. Der Computer-Nerd bringt seine Dauerkopfschmerzen nicht mit vielen, vielen Stunden, die er vor dem Bildschirm hängt, zusammen. Und selbst, wenn er es tut, will er nichts verändern, das Spielen ist doch seine Leidenschaft. Übertragen gesprochen lassen diese beiden ihre Hand auf der heißen Herdplatte, bis es zu spät ist und es zu einem körperlichen oder seelischen Zusammenbruch kommt. Oft beides in Kombination. Mehr als die Hälfte aller körperlichen Leiden haben eine psychische Komponente – dennoch tragen seelische Leiden immer noch häufig den Stempel „Tabu“ oder den Aufkleber „Schwächling“. Mittlerweile wird die Psyche in unserer Gesellschaft zwar teilweise sogar überbehandelt. Auch die Zahl an verschriebenen Psychopharmaka steigt stetig. Aber dennoch werden psychische Probleme immer noch oft unterschätzt und klein gemacht. Das fügt gerade für Schmerzpatienten eine weitere, schwierige Ebene hinzu: Scham.

Kann man Schmerz sichtbar machen?

Schmerzen können mit moderner Bildgebung im Gehirn sichtbar gemacht werden. Experte ist Prof. Dr. med. Markus Ploner, Professor für Schmerzforschung an der Klinik für Neurologie der Technischen Universität München. Er erklärt, warum der Blick ins Hirn für die Behandlung von Schmerzen wichtig ist – und in Zukunft noch an Bedeutung zunehmen wird.

Kann die Arbeit des Gehirns beobachtet werden?

Mit der funktionellen Bildgebung können Experten dem Gehirn von außen bei der Arbeit zusehen. Dafür gibt es unterschiedliche, bildgebende Techniken: Die wesentlichen Methoden sind die funktionelle Kernspintomographie (fMRT), die Positronen-Emissionstomographie (PET), die Elektro-Enzephalographie (EEG) und die Magnet-Enzephalographie (MEG). Alle bilden die Hirnaktivität ab, aber jedes dieser Verfahren macht es auf eine etwas andere Art: Die einen, wie beispielsweise die fMRT, können räumlich genau darstellen, wo welche Hirnfunktion im Gehirn verortet ist, sie geben Millimeter für Millimeter des Gehirns wieder. Andere Methoden wie die EEG können die Hirnfunktion zeitlich sehr genau abbilden, quasi Millisekunde für Millisekunde. Die PET hingegen zeigt den Stoffwechsel im Gehirn und damit die aktiven, energieverbrauchenden Hirnareale.

Das EEG wurde bereits 1929 erfunden, die anderen Techniken sind aus medizinischer Perspektive relativ neu und etwa 20 bis 30 Jahre alt. In den 90er-Jahren hat man dann damit begonnen, diese Verfahren einzusetzen, um zu sehen, was bei einem Menschen, der Schmerzen hat, im Gehirn vorgeht. Diese Experimente haben zu einem völlig neuen Verständnis von Schmerz geführt.

Was hat es mit dem Schmerzzentrum auf sich?

Eine wesentliche Erkenntnis wurde aus den Experimenten gewonnen: Es gibt kein klar verortetes Schmerzzentrum oder Schmerzsystem im Gehirn. Da man aufgrund von ähnlichen Experimenten in Erfahrung gebracht hatte, dass es ein visuelles System im Gehirn gibt, ein akustisches System, auch einen Bereich, der bei Berührungen im Gehirn aktiv ist, also ein „Berührungszentrum“, war man davon ausgegangen, dass es auch ein Schmerzzentrum geben müsse.

Aber die Versuche zeigten, dass Schmerz verschiedenste Bereiche des Gehirns aktiviert, auch Areale, die mit ganz unterschiedlichen Funktionen zu tun haben: mit Körperwahrnehmung, aber auch mit negativen Emotionen, mit Aufmerksamkeitssteuerung und mit der Entscheidungsfindung. Diese Erkenntnis hat eine weitreichende Bedeutung für die Schmerzmedizin: Schmerz beeinflusst verschiedene Systeme und kann wiederum auch von unterschiedlichen Systemen beeinflusst werden. Viele Dinge sind für die Schmerzwahrnehmung relevant, wie beispielsweise unsere Erwartungen, unser aktueller Gemütszustand oder auch die Achtsamkeit uns selbst gegenüber.

Das hat schlussendlich auch zu einem Umdenken innerhalb der Schmerztherapie geführt. Es wird aufgrunddessen nicht mehr allein der körperliche Schmerz bekämpft, sondern auch alle diese anderen, sogenannten „weichen“ Faktoren werden beim Patienten konsequent mitbehandelt, um eine Verbesserung seiner Beschwerden zu erzielen.

Die Schmerzreaktion ist an verschiedenen Stellen in unterschiedlicher Intensität deutlich im Gehirn sichtbar.

Was bewirken die Erkenntnisse?

Ein großes Verdienst der funktionellen Bildgebung ist, dass sie Vorurteile gegenüber Menschen abgebaut hat, die chronisch an Schmerzen leiden, bei denen aber keine körperliche oder seelische Ursache gefunden werden konnte. Diese Schmerzen lassen sich bis heute nicht messen oder in irgendeiner Form nachweisen, und die Patienten wurden oft als Simulanten oder psychisch krank abgestempelt.

Seit etwa 20 Jahren lassen sich in wissenschaftlichen Experimenten Schmerzen und ihre vielen Einflussfaktoren mithilfe der modernen Verfahren darstellen. Schmerzen sind somit real. Diese Darstellung hat das Verständnis von Schmerz ganz entscheidend mit beeinflusst und sie hat dazu geführt, dass ein Patient heute mit einer chronischen Schmerzerkrankung viel mehr Akzeptanz und Verständnis erfährt.

Wie geht es weiter mit der Forschung?

Die Internationale Schmerzgesellschaft und staatliche Organisationen der Forschungsförderung haben Projekte angestoßen, die erforschen sollen, wie man mithilfe der Bildgebung Schmerzen besser diagnostizieren, klassifizieren, prognostizieren und letztlich auch therapieren kann. Schmerz spielt sich nicht nur an einer Stelle im Gehirn ab, aber mit den modernen Techniken kann das ganze Gehirn abgebildet werden. Selbst komplexe Muster der Hirnaktivität können auf diese Weise analysiert werden.

Wie sieht diese Analyse konkret aus?

Führt man die Untersuchung bei sehr vielen Schmerzpatienten durch und wendet Verfahren des maschinellen Lernens an, hoffen die Forscher, eine Art Schmerzlandkarte erstellen zu können. Damit ließe sich dann der individuelle Schmerz genauer klassifizieren und beschreiben. Man wüsste beispielsweise, wenn das Hirnareal X und das Hirnareal Y zugleich aktiv sind, ist es mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Schmerz der Sorte und Intensität Z. Ein solches „Mapping“ der Schmerzen könnte die Diagnose erleichtern, insbesondere bei Patienten, die sich nicht äußern können (zum Beispiel Babys, aber auch demenzkranke Menschen). Außerdem ließe sich dann auch ein Schmerz gut einordnen. Der Arzt wüsste, welche der vielen Einflussfaktoren auf Schmerz bei dem jeweiligen Patienten wichtig sind, und hätte die Möglichkeit, die Behandlung genau anzupassen. Auch könnte die Auswertung von Hirnaktivitätsmustern dazu beitragen, frühzeitig Patienten zu erkennen, die mit einer hohen Wahrscheinlichkeit aus einem akuten Schmerz heraus eine chronische Schmerzerkrankung entwickeln. Experten nehmen an, dass bei diesen Patienten, die für eine Chronifizierung anfällig sind, andere Muster von Hirnaktivität zu finden sind als bei denen, die nach akuten Schmerzen schnell wieder schmerzfrei sind. Erkennt man die Risikopatienten, könnte man bei ihnen so früh wie möglich mit einer Therapie beginnen, um nach Möglichkeit die Entwicklung einer chronischen Schmerzkrankheit von vornherein zu verhindern.

Was folgt daraus für die Behandlung?

Zukünftig könnten dann möglicherweise auch zielgerichtete Therapieansätze gegen die verschiedenen Schmerztypen entwickelt werden, die anhand der unterschiedlichen Muster von Hirnaktivität erkennbar sind. Man kann beispielsweise versuchen, die entsprechenden Gehirnaktivitätsmuster systematisch durch Medikamente, Psycho- und/oder Physiotherapie zu beeinflussen. Auch die direkte Beeinflussung der Gehirnaktivitätsmuster durch neue Verfahren der Hirnstimulation und Neurofeedbackverfahren werden derzeit erforscht.

Das Ziel dieser Forschungsarbeit ist somit zum einen, etablierte Behandlungsformen früher und methodisch bei Patienten einzusetzen. Zum anderen erscheinen ganz neue, direkt am Gehirn anzusetzende Behandlungsmethoden ebenfalls denkbar. Die Erforschung der Schmerzlandkarte im Gehirn ist daher eines der ganz großen Themen der aktuellen Schmerzforschung.

Schmerz als Begleitsymptom

Schmerz ist aber nicht nur ein Warnsignal, sondern oft auch ein Begleitsymptom von Erkrankungen. So (und nur so) wurde er lange von der medizinischen Forschung eingeordnet und damit in vielerlei Hinsicht bagatellisiert. Das vermeintlich Schöne an dieser Definition: Sie ist einfach und beinhaltet gleich eine Lösung. Bekämpft man erfolgreich die Schmerzursache, ist der Schmerz weg. Ist der kariöse Zahn saniert, sind die Zahnschmerzen Vergangenheit, ist die Bandscheibe operiert und wieder gerichtet, ist der Patient von den quälenden Rückenschmerzen befreit. Das kann oftmals der Fall sein, insbesondere bei kleineren Blessuren, aber bei weitem nicht immer.

Erschwerend kommt hinzu, dass Schmerzen nicht nur eine Begleiterscheinung körperlicher, sondern auch seelischer Erkrankungen sein können – und diese sind manchmal schwer zu erkennen. Hat jemand infolge eines Unfalls eine Gehirnerschütterung und deshalb Kopfschmerzen, ist der Zusammenhang ganz einfach herzustellen. Sind die Kopfschmerzen Begleiter einer nicht diagnostizierten Depression, wird die Ursache weder erkannt noch behandelt. Es besteht die Gefahr, dass der Schmerz chronisch wird, sich also dauerhaft festsetzt. Dass „chronische Schmerzzustände“ seit wenigen Jahren als eigenständige Erkrankung anerkannt sind, ist in der Öffentlichkeit bisher kaum bekannt – weshalb die Betroffenen einer großen sozialen Stigmatisierung ausgesetzt sind. Ihnen wird häufig unterstellt, sich vor der Arbeit drücken zu wollen, eingebildet krank zu sein, sich nicht zusammenzureißen oder nicht ganz richtig im Kopf zu sein. Sie erleben, wie Menschen sich von ihnen abwenden, was nicht selten zur kompletten sozialen Isolation führt. Sie sind dann allein mit ihrem Schmerz.

Die subjektive Wahrnehmung von Schmerz

Wie bereits dargelegt, beinhaltet Schmerz noch ein weiteres wichtiges Merkmal: Er ist subjektiv. Auch das trägt dazu bei, dass die empirische, auf den Gesetzen der Naturwissenschaften beruhende Medizin Schwierigkeiten mit dem Phänomen Schmerz hat. Warum braucht von zwei Krebspatienten trotz der gleichen Erkrankung und dem gleichen Krankheitsverlauf der eine sehr viel Morphium und der andere deutlich weniger in der letzten Phase des Lebens? Warum kann der Zahnarzt bei einem Patienten den Zahn ganz ohne Betäubung plombieren, während der nächste eine Spritze zur örtlichen Betäubung benötigt und bei einigen wenigen Patienten der gleiche Eingriff sogar nur unter leichter Vollnarkose durchzuführen ist? Lässt sich das wirklich nur damit erklären, dass der erste Patient – in dem Fall natürlich nicht wörtlich – die Zähne zusammenbeißt?

Jeder Mensch ist individuell und jeder Körper anders. Schmerz ist eine Sinneswahrnehmung. Liegt es da nicht auf der Hand, dass auch das Schmerzempfinden von Mensch zu Mensch variiert, so wie man das auch von anderen Sinneswahrnehmungen kennt? Es gibt Menschen, die sich von wenigen Geräuschen in ihrer Umgebung bereits empfindlich gestört fühlen, während andere völlig unbehelligt über einer Großraumdiskothek oder an der Autobahn leben. Ein Mensch reagiert bei beißenden Gerüchen sofort mit Atemnot oder Brechreiz und andere nehmen den Geruch nicht einmal wahr. Liegt es da nicht auch nahe, dass einige Menschen schmerzempfindlicher sind als andere?

„Die moderne Schmerzmedizin wertet nicht, sie vergleicht nicht und sie steckt Patienten nicht in Schubladen.“

Na klar – und trotzdem fällt es immer noch vielen Menschen, auch behandelnden Ärzten, schwer, das anzuerkennen und einzuordnen. Wenn Schmerz subjektiv ist, empfindet der eine bei gleicher „Schmerzquelle“ den Schmerz als lästig, der andere aber als unerträglich. Für den Letzteren ist dieser unerträgliche Schmerz Realität. Er leidet stark, der Schmerz beherrscht sein Leben. Der Hinweis „der andere macht doch auch nicht so ein Theater“ ist weder hilfreich noch haltbar: Er empfindet den Schmerz offensichtlich nicht in dieser Intensität. Für eine Wissenschaft, die alles ausmessen, kartographieren, kategorisieren und objektivieren möchte, stellt das eine Herausforderung dar – es erscheint nicht logisch, dass ein Patient bei Verbrennungen ersten Grades mehr leidet als ein anderer mit Verbrennungen zweiten Grades. Doch die tatsächliche Realität beim Schmerz ist nach neueren Erkenntnissen immer eine subjektive Wahrnehmung und ein ganz persönliches Erleben. Es bedeutet, dass der Patient mit den leichteren Verbrennungen „wahnsinnig große“ Schmerzen empfinden kann, die ihn schier an den Rand der Verzweiflung treiben.

Die moderne Schmerzmedizin, die wir Ihnen hier näherbringen möchten, wertet daher nicht, sie vergleicht nicht und sie steckt Patienten nicht in Schubladen. Ganz im Gegenteil, sie akzeptiert, dass Schmerzempfinden individuell ist, sieht die Not jedes einzelnen Patienten und hat zum Ziel, das Leiden, das er fühlt, zu lindern. Im angloamerikanischen Sprachraum heißt es „pain is whatever the patient says it is“, also „Schmerz ist, was der Patient als solchen beschreibt“. Niemand außer der Betroffene selbst darf sich über den Schmerz und seine Intensität ein Urteil erlauben oder ihn bewerten.

Manchmal bleibt der Schmerz trotz Behandlung der Ursache

Schmerz kann sich auch zu einer eigenständigen Größe entwickeln, ganz unabhängig von einer körperlichen oder seelischen Grunderkrankung. So sind viele Patienten, die sich einer Bandscheibenoperation unterzogen haben, trotz geglückter OP nach dem Eingriff nicht schmerzfrei.

Auch sogenannte Phantomschmerzen nach Amputationen zeigen, dass die einfache „Ursache-Wirkung“-Erklärung für den Schmerz in vielen Fällen zu kurz greift und Schmerz ein viel komplexeres Phänomen darstellt. Es gibt Menschen, bei denen bleibt der Schmerz, obwohl die vermeintliche Schmerzquelle längst behoben ist oder solche, bei denen nie eine gefunden wurde.

Wie Schmerz entsteht

Schmerz ist neurobiologisch gut erforscht. Von der Schmerzreizung bis zur -verarbeitung dauert es nur Bruchteile von Sekunden. Dabei passieren Schmerzreize Umschaltstellen, an denen ihre Weiterleitung auch gehemmt werden kann. Das ist wichtig, denn sonst würde jedes kleinste Signal Schmerz auslösen. Ist ein Signal stark genug, dass es als Schmerz wahrgenommen wird, sendet das Gehirn schmerzhemmende Impulse zurück. Die Grafik zeigt, wie das genau funktioniert.

1| Schmerzentstehung

Schmerzreize werden von Nozizeptoren wahrgenommen. Das sind „Schmerzfühler“, die in der Haut, in Muskeln, in Gelenken sowie auf den Organen sitzen. Wenn sie erregt werden – sei es durch einen mechanischen Reiz (sich stoßen), einen chemischen Reiz (im Rahmen einer Entzündung) oder einen Temperaturreiz (sich verbrennen) –, leiten sie Schmerzimpulse zum Rückenmark.

2| Schmerzweiterleitung

An den Übergangsstellen zwischen Nervenbahnen aus dem Körper und den Nervenzellen im Rückenmark, den Synapsen, werden verschiedene Botenstoffe ausgeschüttet. Sie wirken wie eine Brücke, denn ein Schmerzreiz kann sich nicht einfach über Zellgrenzen hinweg übertragen. Die eine Nervenfaser schüttet Botenstoffe aus, die die nächste Nervenzelle dann in elektrische Impulse übersetzt und ans Gehirn weiterleitet.

3| Schmerzverarbeitung

Im Gehirn filtert der Thalamus die einlaufenden Informationen und leitet sie an die verschiedenen Stellen des „Schmerznetzwerkes“ weiter. Die Regionen tragen zum Gesamterleben Schmerz bei: Der somatosensorische Kortex sagt, wo es weh tut, das limbische System verknüpft die Schmerzwahrnehmung mit Emotionen, der anteriore cinguläre Kortex reguliert, wieviel Aufmerksamkeit wir dem Schmerz widmen, und der präfrontale Kortex bewertet/vergleicht mit früheren Erfahrungen und schickt hemmende Signale zurück zum Rückenmark.

Wie entsteht Schmerz im Körper?

Auf der Grafik von Seite 16/17 sind die Vorgänge im Körper bei der Schmerzentstehung dargestellt. Berührt beispielsweise ein Finger die heiße Herdplatte, werden Schmerzfühler in der Haut, sogenannte Nozizeptoren aktiviert. Diese auf Gefahrensignale spezialisierten Nervenenden kommen besonders in den verschiedenen Schichten unserer Haut, der uns umgebenden und schützenden Schicht, sehr zahlreich vor. Wird eine ganze Gruppe der Schmerzfühler aktiviert – selbst an einer Fingerkuppe sitzen Abertausende –, wird dadurch ein Impuls an das Rückenmark geleitet, genauer gesagt an das „Hinterhorn“. Das ist der Bereich des Rückenmarks, wo die sensiblen Nerven zum Beispiel aus den Armen und Beinen enden und die Informationen der Sinneswahrnehmungen eingehen. Ist ein Reiz stark genug, wird sofort ein Reflex ausgelöst („Hand zurückziehen“) und dann über sogenannte sensorische Bahnen vom Rückenmark an das Gehirn weitergeleitet. Das wiederum reagiert mit einer entsprechenden Antwort: Wir spüren Schmerz.

Die Schmerzwahrnehmung im Detail

Die Schmerzfühler (Nozizeptoren) sind hoch spezialisiert, einige werden durch mechanische Reize aktiviert, zum Beispiel, wenn man sich stößt. Andere reagieren aufgrund von Hitze- oder Kältereizen (bei Verbrennungen oder Erfrierungen), wiederum andere wegen chemischer Reize (zum Beispiel Verätzungen oder Entzündungen im Gewebe). Die von den jeweiligen Schmerzfühlern, zum Beispiel bei einer Verbrennung die auf Hitze spezialisierten Fühler, wahrgenommenen Schmerzreize werden dann über das Rückenmark an das Gehirn weitergeleitet. Das bedeutet, die Reize werden von einer Nervenzelle zur anderen übertragen, erst bis ins Rückenmark und dann, wenn sie stark genug sind, an das Gehirn. Für die Reizweiterleitung muss jedoch der Raum zwischen den einzelnen Nervenzellen überwunden werden, den Mediziner als synaptischen Spalt bezeichnen. Wenn ein Schmerzreiz sich als elektrisches Signal über die Zelloberfläche ausbreitet, kann er nicht einfach den Zwischenraum überspringen, er benötigt einen „Transport“.

Unser Körper hat dafür ein ausgeklügeltes System entwickelt: Die Zelle, die den Schmerzreiz an die Nachbarsstelle übertragen will, schüttet bestimmte chemische Botenstoffe aus, sogenannte Neurotransmitter. Das sind Stoffe, die eine Nerveninformation übertragen (englisch: „transmit“). Sie übertragen die Information an den Synapsen von einer Nervenzelle zur nächsten. Synapsen sind die Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen. Für diese ausgeschütteten Botenstoffe haben die Nachbarzellen spezielle Aufnahmestellen, wo der Botenstoff anbinden kann – das kann man sich wie ein Schlüssel in einem Schloss vorstellen. Durch diese Bindung werden bestimmte Kanäle (sogenannte Ionenkanäle) geöffnet, über die die elektrische Spannung, also der Schmerzreiz, von der einen auf die anderen Nervenzellen weitergegeben werden kann.

Umschaltstellen für Schmerzreize

Das Hinterhorn im Rückenmark ist die erste Stelle, an der die Information über Schmerzen aus dem Körper das zentrale Nervensystem erreicht – und das ist entscheidend dafür, was wir als Schmerz erleben. Das Hinterhorn ist quasi ein erster „Umschlagplatz“ für eingehende Schmerzreize. Auch dort werden über Botenstoffe alle Informationen aus den Nerven, die hier enden, auf die „Hauptleitung“ in Richtung Gehirn übertragen. An dieser ersten Umschaltstelle wird entschieden, ob das Schmerzsignal aus der Umgebung, beispielsweise bei einer Verletzung des Knies, zum Gehirn und damit zu der bewussten Wahrnehmung „mein Knie tut weh“ weitergeleitet wird – oder eben nicht. Man kann es sich wie ein Tor vorstellen, das den Eintritt in das Zentralnervensystem kontrolliert. Experten sprechen dabei von der „Gate-Control-Theorie“: Das Hinterhorn des Rückenmarks verfügt über einen Mechanismus, der die Schmerzleitung öffnen oder schließen kann. Der entscheidet, ob ein Schmerzimpuls überhaupt ans Gehirn gesendet wird – und in welcher Intensität.

Ein Teil des Zwischenhirns (Thalamus), eine weitere Station auf dem Weg zum Schmerzwahrnehmungszentrum im Gehirn, ist die nächste Umschaltstelle. Angehende Mediziner merken sich das zumeist so: Der ThalaMUS ist das, wo alles durch MUSS. Von dort aus wird die Information dann an die verschiedenen Gehirnareale weitergeleitet, die die einlaufenden Impulse unter drei Gesichtspunkten auswerten.

Warum tut es nicht immer nur dort weh, wo die Schmerzursache liegt?

Wenn ein Gewebe verletzt wurde, erhöht sich die Empfindlichkeit aller Schmerzfühler (Nozizeptoren) in der Umgebung. Denn verletztes Gewebe setzt sogenannte Schmerzvermittler (Schmerzmediatoren) frei. Das sind chemische Substanzen wie Histamin oder Serotonin, die die Reizschwelle der Schmerzfühler herabsetzen. Aus diesem Grund schmerzt eine kleine Verletzung oft stark und großflächig. Wenn man sich in den Finger schneidet, tut nicht nur die Stelle rund um den Schnitt weh, sondern oft der ganze Finger. Mediziner nennen das Sensibilisierung – auch das nicht betroffene Gewebe im Umfeld wird sensibel und schmerzt.

Außerdem gibt es das sogenannte Konvergenzphänomen: Das Wort Konvergenz aus dem Lateinischen bedeutet „Zusammenlaufen“. In der Schmerzmedizin heißt das, dass Schmerzen aus zwei verschiedenen Bereichen über die gleiche Schmerzbahn an das Gehirn geleitet werden. Das Gehirn kann dann nicht zuordnen, in welchem der beiden Bereiche, die an die Schmerzbahn angeschlossen sind, die Schmerzquelle tatsächlich sitzt und nimmt den Schmerz an beiden Stellen wahr. Deshalb tut beispielsweise auch die linke Schulter bei einem Herzinfarkt weh. Die Schmerzbahnen von Herz und Schulter laufen im Rückenmark zusammen und melden Schmerz an das Gehirn. Obwohl eigentlich nur die Schmerzfühler im Herzen Alarm schlagen, weil die Herzzellen durch den Infarkt nicht mehr mit Sauerstoff versorgt sind und absterben, kann das Gehirn die Schmerzen nicht genau zuordnen und empfindet Schmerzen in Herz und Schulter.

Das sensorische System beurteilt die Art des Schmerzes („Ist er drückend? Ist er scharf stechend? Wo tut es weh?“).

Das kognitive System bewertet seine Gefahr, indem es ihn mit vergangenen Schmerzerfahrungen abgleicht. Wenn man sich beispielsweise in den Finger geschnitten hat, gleicht das Gehirn den Schmerz ab („Tut es mehr weh als beim letzten Mal, als ich mich geschnitten habe?“) und erfasst die Situation („Großer, tiefer Schnitt – Verletzung könnte also gravierender sein.“).

Das emotionale System beurteilt den Schmerz auf der Gefühlsebene („Warum bin ich immer so ungeschickt? Bei meinem Pech wird sich die Wunde entzünden, es wird sicher wieder Komplikationen geben.“ Ein Anderer beurteilt den Schmerz ganz anders: „Ach, auch wenn es jetzt stark blutet, ist ja nur ein Kratzer, das wird schon!“).

Alle drei Systeme nehmen Einfluss darauf, in welcher Intensität der Schmerzreiz empfunden wird. Gerade das emotionale System hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss! Bei jemandem, der sich wegen der Schnittverletzung keine großen Sorgen macht, wird das emotionale System den eingehenden Schmerzreiz nicht verstärken. Der Schmerz wird weniger intensiv wahrgenommen als beispielsweise von einer Person, bei der dieses System Alarm schlägt, da sie schon einmal nach einer Schnittverletzung eine lebensgefährliche Blutvergiftung bekommen hat. Die eigene Einstellung und der Gemütszustand nehmen also Einfluss auf das Schmerzempfinden. Und das nicht nur bezogen auf die aktuelle Situation, sondern auch auf den allgemeinen Gemütszustand. Sind Sie gestresst oder traurig, empfinden Sie Schmerzen viel stärker, als wenn Sie glücklich sind. Schmerz ist also immer auch abhängig von der Gesamtsituation, in der sich der Patient befindet. Das ist insofern interessant, weil sich hier eine Möglichkeit bietet, aktiv in den Schmerzprozess einzugreifen: Wenn es ein Schmerzpatient schafft, seine Lebenssituation und seine psychische Verfassung zu verbessern, kann das den Schmerz reduzieren! Diese Erkenntnis ist ein wesentlicher Teil der heutigen, modernen Schmerztherapie.

Das körpereigene Schmerzhemmsystem

So wie der Schmerz bei einem Schnitt in den Finger von dort über das Rückenmark an das Gehirn geleitet wird – man bezeichnet sie als die aufsteigenden Schmerzbahnen –, kann das Gehirn über sogenannte absteigende Bahnen Schmerzen auch hemmen. Hier werden schmerzhemmende Substanzen wie beispielsweise Serotonin ausgeschüttet, sodass neue Schmerzimpulse erst einmal nicht im Gehirn ankommen. Zum schmerzhemmenden System gehören darüber hinaus auch die körpereigenen Opioide (Endorphine). Sie binden an den gleichen Andockstellen auf den Zellen (Rezeptoren) wie beispielsweise Morphin und führen zu einer verminderten Wahrnehmung des Schmerzes.

Den Befehl dazu gibt das Gehirn. Jeder hat es schon einmal erlebt: Fällt man zum Beispiel mit dem Rad hin, tut es erst einmal gar nicht so weh. Der Schmerz kommt oft erst später. Manchmal wird sogar ein Knochenbruch nicht sofort bemerkt. Grund dafür ist diese körpereigene Schmerzhemmung. Sie ist auch dafür verantwortlich, warum Menschen in Extremsituationen oft noch Unglaubliches leisten können: Bei Olympia 2016 holte der deutsche Turner Andreas Toba mit einem Kreuzbandriss wertvolle Punkte für sein Team. Auch ist es nicht selten, dass sich Menschen nach einem Unfall trotz eigener schwerer Verletzungen noch um die anderen Unfallopfer kümmern. Der typische Satz lautet dann: „Meinen eigenen Schmerz habe ich in der Situation gar nicht bemerkt!“

Wenn der Schmerz zur Dauerschleife wird

Ein akuter Schmerz hält nur eine bestimmte Zeit lang an. Er geht vorüber, wenn die schmerzauslösende, klar erkennbare Ursache behoben wurde und der Heilungsprozess weitgehend abgeschlossen ist. Ausmaß und Intensität des Schmerzes stehen in direkter Beziehung zum Verletzungsgrad oder der Erkrankung. Beim chronischen Schmerz ist das anders, denn dann hat sich der Schmerz verselbstständigt und dauert bereits über drei Monate an. Eine enge Beziehung zwischen Schmerz und Schmerzursache muss es nicht mehr geben oder sie ist nicht mehr erkennbar.

Die Neurobiologie bietet dafür schlüssige Erklärungsmodelle: Bei chronischen Schmerzen kommt es zu Veränderungen der „Schmerzreizleitung“ (siehe „Wie Schmerz entsteht“). Zum einen wird die Verbindung zwischen den Synapsen im Rückenmark-Hinterhorn weiter ausgebaut und dadurch dauerhaft „scharfgeschaltet“. Experten sprechen auch vom Schmerzgedächtnis. Hinzu kommt, dass sogenannte hemmende Neuronen, die eine Art Wächterfunktion im Rückenmark übernehmen und entscheiden, ob eine Schmerzinformation weiter an das Gehirn geleitet wird oder nicht, bei chronischen Schmerzen häufig außer Kraft gesetzt sind. Im Ergebnis kommt es zur „Dauerdurchlässigkeit“ des Schmerzsystems oder auch zu spontaner Aktivität, also zu Schmerzimpulsen ohne einen Schmerzreiz. Der Schmerz wird zu einer eigenständigen Krankheit und ist kein Symptom oder keine Begleiterscheinung einer anderen Erkrankung mehr.

Besonders problematisch ist, wenn der Schmerz durch eine Schädigung der Nervenstrukturen hervorgerufen wird (siehe Kapitel 2, Nervenschmerzen). Die führt dazu, dass die Nerven neue Schmerzkanäle bilden, die betroffene Region noch empfindlicher wird und der Schmerz sich verselbstständigt. Der Schmerzforscher Lorimer Moseley vergleicht das schmerzende Körpergewebe dann mit einem VW-Käfer, in dem man einen Ferrarimotor eingebaut hat: Während das Auto sonst lange brauchte, um auf Touren zu kommen, schießt es nun direkt los und beschleunigt bereits bei der zartesten Berührung des Gaspedals. Genauso wird der Schmerzreiz in Richtung Gehirn beschleunigt und die Schmerzkanäle allmählich zu „Schmerzautobahnen“ ausgebaut. Auch das Gehirn verändert sich durch die Schmerzerfahrungen und wird schmerzempfindlicher. In den sogenannten Schmerzknotenpunkten im Gehirn werden mehr Sensoren gebildet, die Schmerzen wahrnehmen. Außerdem werden Stoffe ausgeschüttet, die diese Schmerzknoten aktivieren. Das Gehirn wird durch die Schmerzerfahrung besonders hellhörig für Schmerz, und kleinste Reize lösen dann bereits wieder Schmerz aus.

Was Schmerz im Körper auslöst

Im Nervensystem

Das sogenannte vegetative Nervensystem steuert im Hintergrund die Vitalfunktionen des Körpers – also Atmung, Herzschlag oder Verdauung. Wir können diese nicht bewusst beeinflussen. Das Nervensystem besteht aus zwei Teilen: Das sympathische Nervensystem regt die Vitalfunktionen wie die Atmung, den Herzschlag etc. an und bringt den Körper auf Hochtouren. In Stresssituationen setzt es Adrenalin frei, wodurch sich die Atemfrequenz erhöht und der Blutdruck sowie der Blutzuckerspiegel steigen – all das ermöglichte dem Steinzeitmenschen die erfolgreiche Flucht vor dem Säbelzahntiger. Nach der Gefahr sorgt der Gegenspieler des sympathischen Nervensystems, das parasympathische Nervensystem, dafür, dass der Körper wieder herunterfährt und sich von der Stresssituation wieder erholen kann. Bei Schmerzen allerdings ist das sympathische Nervensystem dauerhaft aktiviert. Die Adrenalinspiegel von Schmerzpatienten sind permanent erhöht, weil immer Gefahr signalisiert wird. Und genau hier liegt das Problem.

Im motorischen System

Das sogenannte motorische Nervensystem kontrolliert Muskeln, Haltung und Bewegungen. Unter dem Stress, den chronischer Schmerz auslöst, spannen sich die Muskeln an. Hält dieser Anspannungszustand über eine lange Zeit an, kommt es zu Dauerverspannungen. Die Muskeln verhärten sich mehr und mehr – und das kann wiederum zu neuen Schmerzen führen. Dieser Teufelskreis wird in Dauerschleife so weitergeführt.

Im Hormonsystem

Ist das sympathische Nervensystem aktiviert, beeinflusst es auch das Hormonsystem (endokrine System). Durch Stress wird eine Hormon-Kettenreaktion ausgelöst: Der Hypothalamus, ein Bereich im Gehirn, der das vegetative Nervensystem steuert, produziert dann Hormone, die dafür sorgen, dass die Hirnanhangsdrüse (Hypophyse) das Hormon ACTH ausschüttet und in den Blutkreislauf abgibt. Erreicht ACTH die Nieren, sorgt es dafür, dass die Nebennieren sehr viele Stresshormone, wie zum Beispiel Cortisol, produzieren. Mediziner nennen das sehr komplex eine aktivierte Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrindenachse.

Im Immunsystem

Das auf Stress geschaltete sympathische Nervensystem und das stressaktivierte Hormonsystem haben auch Einfluss auf das Immunsystem – es wird unter anderem durch Cortisol und Adrenalin aktiviert. Das Immunsystem schaltet in der Konsequenz die Immunabwehr scharf.

Was bei einer akuten Gefahr absolut sinnvoll ist, wird bei „Daueralarm“ kontraproduktiv. Die vielen Stresshormone sind an die weißen Blutkörperchen gebunden und sorgen dafür, dass diese weniger vom Stoff Interleukin-1-beta ausschütten. Der Stoff ist jedoch wichtig, damit sich neue Immunzellen und Antikörper gegen Erreger bilden. Das bedeutet, dass der ständige Stress, den chronische Schmerzen verursachen, das Immunsystem auf Dauer lahmlegt.

Das vegetative Nervensystem

ist bei Dauerstress ständig hochgefahren. Adrenalin im Körper aktiviert vielfältige Vitalfunktionen: Das Herz schlägt schneller, die Sehkraft der Augen wird optimiert und Energiereserven werden mobilisiert. Der ganze Körper wird in Alarmbereitschaft versetzt.

Das motorische Nervensystem

Bei erhöhtem Stress spannt sich die Muskulatur an, was zu Dauerverspannungen führen kann. Die Muskelverhärtungen haben weitere Schmerzen zur Folge. Es entsteht also ein Teufelskreis aus innerer und äußerer (muskulärer) Anspannung.

Das Immunsystem

Durch die Aktivierung von Cortisol und Adrenalin wird die Immunabwehr auf Dauer unterdrückt, da weniger Antikörper und Immunzellen entstehen. Die Folge sind häufigere Infektionen bzw. das Gefühl, krank zu werden oder krank zu sein.

Das Hormonsystem

Durch den Dauerstress, den chronische Schmerzen im Körper auslösen, wird eine hormonelle Kettenreaktion in Gang gebracht (siehe oben). Die Stressachse beginnt im Gehirn, und zwar im Hypothalamus. Dort wird das Schlüsselhormon CRH gebildet, das für die Ausschüttung von ACTH sorgt. Dieses wiederum veranlasst die Nebenniere, wichtige Stresshormone wie Cortisol oder Adrenalin auszuschütten.

Kann das Hirn Schmerz vergessen?

Wenn Schmerz sich einmal im Schmerzgedächtnis festgesetzt hat, ist es schwierig und langwierig, diesen Prozess wieder rückgängig zu machen – aber es ist möglich! Niemand sollte daher die Hoffnung aufgeben. Mithilfe der modernen, multimodalen Schmerztherapie kann es gelingen. Ein großes Problem ist jedoch, dass Patienten mit chronischen Schmerzen oft bereits in einen gefährlichen Teufelskreis geraten sind. Wie oben bereits angesprochen, haben auch die allgemeine Lebenssituation und die psychische Verfassung einen deutlichen Einfluss auf die Schmerzwahrnehmung. Angst, Verzweiflung, Sorgen und soziale Isolation verstärken Schmerzen maßgeblich. Dagegen können Entspannt- und Geborgenheit, Optimismus, Selbstvertrauen und positives Denken eine lindernde Wirkung haben. Allerdings bekommt man Letzteres eben nicht auf Rezept.

Verlust der positiven Einstellung

Genau diese positiven Gefühle sind Patienten in ihrer oft langjährigen Schmerzgeschichte verloren gegangen. Sie haben in der Regel zahlreiche Behandlungsversuche hinter sich, die jedoch allesamt ohne Erfolg waren. Das führt zunächst verständlicherweise zu Enttäuschung, Frust, Wut und Angst bei den Patienten. All das macht den Teufelskreis jedoch nur noch schlimmer. Der Schmerz hat eine negative Grundhaltung mit seelischer Anspannung zur Konsequenz, die dann auch wieder rein körperlich Stress erzeugt und damit auch wiederum die Schmerzwahrnehmung erhöht. Hinzu kommt: Durch die Schmerzen hat sich das Leben der Betroffenen oft ganz dramatisch verändert. Viele können beispielsweise ihren Beruf nicht mehr ausüben, sind in ihren sozialen Kontakten sowie Aktivitäten stark eingeschränkt und haben möglicherweise sogar einen sozialen Abstieg erfahren. Manchmal zerbricht auch eine Beziehung an der Belastungsprobe Dauerschmerz. Die Patienten fühlen sich vermehrt lebensuntüchtig, ungeliebt, minderwertig, niedergeschlagen. Viele Betroffene werden auch depressiv. All diese negativen Gefühle wirken auf neurobiologischer Ebene dann noch als zusätzliche Schmerzverstärker – und damit dreht sich die Schmerzspirale noch weiter nach unten.

Den Schmerzkreislauf durchbrechen

Die oben beschriebene Negativspirale führt dazu, dass der Schmerz immer stärker wird und oftmals das Leben vieler Patienten komplett beherrscht. Das Gute daran ist jedoch: Wie aus jedem anderen Teufelskreis können Sie auch aus diesem ausbrechen, wenn Sie sich ihn erst einmal bewusst gemacht haben. Dann wissen Sie, welche Haltung und welche Handlungen zu welchen Konzequenzen führten, und Sie können gezielt gegensteuern. Es gibt viele Optionen, dem Schmerz entgegenzuwirken und an verschiedenen Stellen aus dieser Schmerzspirale auszusteigen. Mehr darüber erfahren Sie ab Seite 31. Was gibt es an ersten Möglichkeiten, um die Schmerzen zu reduzieren?

Aktiv gegen den Schmerz vorgehen

Menschen mit starken Rückenschmerzen neigen beispielsweise dazu, sich möglichst wenig zu bewegen. Das ist ganz natürlich, denn jede Bewegung schmerzt höllisch. Wenn Sie aber wissen, dass genau diese Schonung dazu führt, dass sich der Rückenschmerz verschlimmert oder gar chronisch wird, können Sie sich dazu zwingen, in Bewegung zu bleiben, und bezwingen damit auch den Schmerz. Deshalb ist Aktivität so wichtig, denn die größte Gefahr bei diesem Schmerzkreislauf ist die große Hilf- und Hoffnungslosigkeit, die viele Schmerzpatienten verspüren.

Im Kasten unten lesen Sie, wie sich Schmerzen bis ins Privatleben ziehen können. Was sollen Ihnen diese Beispiele zeigen? Schmerz zieht immer auch andere „Baustellen“ nach sich, die die Betroffenen psychisch belasten, wie die Angst, den Partner zu verlieren, oder die Sorge um den Arbeitsplatz. Der seelische Druck, der daraus entsteht, verstärkt wiederum den körperlichen Schmerz. Wichtig ist, zu analysieren, welche dieser Baustellen Sie haben, und diese proaktiv anzupacken. Hierbei können Psychotherapeuten oft helfen. Denn Teufelskreise sind da, um sie zu durchbrechen! Es gibt einen Ausweg, und die moderne Schmerzmedizin weist Ihnen diesen Weg. Auf den folgenden Seiten bekommen Sie ganz konkrete Informationen, um Ihre Schmerzerkrankung und ihre Auswirkungen besser einschätzen zu können. Denn allein mit Wissen gehen Sie den ersten, wichtigen Schritt in die richtige Richtung.

Wie sich Schmerzen auf die Beziehung auswirken

Früher waren Sie und Ihr Partner sehr aktiv, nun aber leiden Sie an chronischen Schmerzen und können deswegen kaum noch etwas mit Ihrem Partner unternehmen. Die Beziehung ist angespannt und das belastet Sie stark. Ihr Partner hat vermeintlich zu wenig Verständnis für Ihre Krankheit. Er hat aber, wenn Sie einmal ehrlich darüber nachdenken, auch viele Enttäuschungen hinnehmen müssen: Viele Ausflüge oder Urlaube sind kurzfristig geplatzt, und oftmals musste er alleine Freunde bewirten oder etwas mit den Kindern unternehmen, weil es Ihnen nicht gut ging. Der Schmerz hat bereits Ihre Beziehung angenagt, letztlich auch deshalb, weil Ihnen gemeinsame positive Erlebnisse fehlen.

Lassen Sie das nicht zu! Nutzen Sie schmerzfreie Tage oder Phasen für die Beziehungspflege – und nicht dafür, die Wohnung zu putzen oder Ihre Karriere voranzutreiben. Gehen Sie positiv auf Ihren Partner zu, überraschen Sie ihn mit einem guten Essen oder mit Kinokarten oder machen Sie einen schönen Spaziergang zu zweit. Das kann sich auch positiv auf den Schmerz auswirken. Denn zum einen lenken schöne Erlebnisse und Gespräche ab, zum anderen festigen sie die Beziehung. Ängste, verlassen zu werden, und andere negative Gefühle verflüchtigen sich. Stattdessen fühlen Sie sich geliebt und geborgen – und mit diesem „warmen“ Gefühl im Herzen werden Sie und auch Ihr Partner die nächste Schmerzphase leichter überstehen.

Durch welche Faktoren werden Schmerzen chronisch?

SCHMERZEN UNTERSCHEIDEN

Fast jeder Mensch kennt Schmerzen, doch bei jedem sitzen sie an einer anderen Stelle. Dieses Kapitel gibt Aufschluss über die verschiedenen Schmerzarten, die Schritte zur jeweiligen Diagnose sowie die Therapiemöglichkeiten. Außerdem berichten Patienten mit typischen Schmerzerkrankungen, wie sie mit ihren Schmerzen umgehen und ihren individuellen Weg zur Schmerzlinderung gefunden haben.

Jeder Schmerz ist anders

Jede chronische Schmerzerkrankung hat irgendwann einmal als akuter Schmerz begonnen. Oft hat sich der Schmerz am Anfang der Erkrankung nur an einer Stelle des Körpers geäußert, sich dann aber im Laufe der Chronifizierung auf weitere Körperstellen ausgedehnt oder auch andere, neue Schmerzen nach sich gezogen.

Chronische Schmerzpatienten haben daher einen hohen Leidensdruck: Es ist in den meisten Fällen nicht nur so, dass sich ein Schmerz an einem Ort über Monate oder Jahre „festsetzt“ – was ja schon schlimm genug ist –, erschwerend kommt hinzu, dass er wie ein Magnet neue Schmerzen anzieht. Zum Beispiel leiden viele Patienten mit chronischen Kopfschmerzen früher oder später auch an Schmerzen im Nacken oder Patienten mit Rückenschmerzen bekommen durch Fehlbelastungen Gelenkprobleme. Viele chronische Schmerzpatienten haben an so vielen verschiedenen Stellen im Körper Schmerzen, dass sie den Schmerz am Ende kaum noch klar verorten können. Manchmal wissen sie nicht einmal mehr genau, wo der Schmerz eigentlich zuerst war. Deshalb ist es so wichtig, jeden Schmerz von Anfang an richtig zu behandeln, um zu verhindern, dass er zum dauerhaften Problem, also chronisch wird.

Kontrolle erlangen

Für jede Schmerzart gibt es in der Akutphase spezielle Behandlungen. Selbstverständlich wird ein Rückenschmerz anders behandelt als eine Migräne. Dieses Buch stellt häufige Schmerzarten vor, die oft den Ausgangspunkt für chronische Schmerzerkrankungen darstellen können. Außerdem werden Leiden erläutert, die bereits von Beginn an chronische Schmerzkrankheiten sind, wie beispielsweise Rheuma oder die Fibromyalgie. Hier schmerzt der gesamte Körper, entweder an verschiedenen Stellen (lokal) oder quasi schwer eingrenzbar überall (diffus).

Dass sich aus akuten Schmerzen chronische Probleme entwickeln, ist besonders häufig dann der Fall, wenn der Schmerz nicht von Anfang an angemessen behandelt wurde. Das folgende Kapitel beschreibt, welche jeweiligen Therapieoptionen es bei diesen verschiedenen Krankheiten gibt, um den Schmerz zu lindern und bestenfalls zu verhindern, dass er chronisch wird und damit andere Lebensbereiche des Betroffenen dominiert. Ziel ist es, dass einerseits ein akuter Schmerz, wie ein Rückenschmerz bei Hexenschuss, sich nicht dauerhaft festsetzt und dass andererseits ein Schmerz, der als Begleiter einer chronischen Krankheit kommt, dem Betroffenen das Leben nicht zur Hölle macht. Dafür ein Beispiel: Ein Rheumapatient kann trotz der chronischen Erkrankung Rheuma ein Leben führen, in dem der Gelenkschmerz in der meisten Zeit erträglich ist und nicht permanent im Vordergrund steht. Niemand kann diesem Patienten eine völlige Schmerzfreiheit versprechen, aber mit einer frühzeitig begonnenen spezifischen Schmerztherapie und einem Behandlungsansatz, der die verschiedenen Ebenen der Erkrankung, nämlich die körperliche, seelische und soziale, mit einschließt, kann der Schmerz meist gut kontrolliert werden. Das folgende Kapitel soll Patienten mit chronischen Schmerzen helfen, dieses Ziel zu erreichen.

Resilienz schützt vor Chronifizierung

Ob ein akuter Schmerz geht oder bleibt, hängt maßgeblich von der seelischen Verfassung des Patienten ab. Auch soziale Faktoren spielen eine Rolle. Ein Hexenschuss beispielsweise verschwindet in den allermeisten Fällen nach ein paar Tagen von selbst wieder. Leidet der Betroffene aber zum Beispiel an einer Depression oder befindet er sich in einer extremen Stresssituation, die er als äußerst kräftezehrend oder existenzbedrohend empfindet („wenn ich das nicht schaffe, verliere ich meinen Job“), sind die Weichen in Richtung Chronifizierung gestellt. Das sogenannte sympathische Nervensystem