Das Haus in der Löwengasse - Petra Schier - E-Book
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Das Haus in der Löwengasse E-Book

Petra Schier

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Beschreibung

Nur das Schicksal kennt ihren Weg. Pauline Schmitz ist Waise. Nach dem Tod ihres Onkels auf sich gestellt, findet die junge Frau 1823 eine Anstellung als Gouvernante in Bonn. Der Hausherr hat Hintergedanken: Als sich Pauline gegen seine Nachstellungen zur Wehr setzt, steht sie plötzlich auf der Straße – mit nicht mehr, als in einen Koffer passt. Mittellos und ohne Beziehungen droht Pauline das Schlimmste. Dann kommt ihr das Glück zu Hilfe: Der Kölner Textilfabrikant Reuther nimmt sie in seine Dienste. Und er verliebt sich in sie. Doch Julius Reuther braucht eine Frau mit Geld, will er sein Unternehmen retten. Und Pauline muss sich entscheiden: Folgt sie ihrem Herzen und lebt ein Leben als Mätresse im Verborgenen? Oder geht sie ihren eigenen Weg?

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Seitenzahl: 438

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Petra Schier

Das Haus in der Löwengasse

Roman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Nur das Schicksal kennt ihren Weg.

 

Pauline Schmitz ist Waise. Nach dem Tod ihres Onkels auf sich gestellt, findet die junge Frau 1823 eine Anstellung als Gouvernante in Bonn. Der Hausherr hat Hintergedanken: Als sich Pauline gegen seine Nachstellungen zur Wehr setzt, steht sie plötzlich auf der Straße – mit nicht mehr, als in einen Koffer passt. Mittellos und ohne Beziehungen droht Pauline das Schlimmste.

Über Petra Schier

Petra Schier, Jahrgang 1978, lebt mit ihrem Mann und einem Schäferhund in einer kleinen Gemeinde in der Eifel. Sie studierte Geschichte und Literatur und arbeitet mittlerweile freiberuflich als Lektorin und Schriftstellerin.

Mehr Informationen zur Autorin unter www.petra-schier.de

 

Weitere Veröffentlichungen:

(die historischen Romane um die Apothekerstochter Adelina)

Tod im Beginenhaus

Mord im Dirnenhaus

Verrat im Zunfthaus

Frevel im Beinhaus

(aus der Romanreihe um die Reliquienhändlerin Marysa)

Die Stadt der Heiligen

Der gläserne Schrein

Das silberne Zeichen

Inhaltsübersicht

MottoKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30

Come again! sweet love doth now invite

Thy graces that refrain

To do me due delight,

To see, to hear, to touch, to kiss, to die,

With thee again in sweetest sympathy.

 

(Melodie von John Dowland, Text: anonym)

Komm wieder: Die süße Liebe lädt jetzt dazu ein,

mir mit deinen Reizen nicht länger zu widerstehen,

sondern mir die mir zustehenden Freuden zu gewähren:

zu schauen, zu hören, zu berühren, zu küssen,

um nochmals mit dir in süßester Verbundenheit zu sterben.

Kapitel 1

Kalt. Das war die erste Empfindung, die Pauline wahrnahm. Etwas kratzte an ihrer Wange. Mit einiger Anstrengung kämpfte sie sich durch den Nebel des Schlafes und öffnete die Augen. Zunächst sah sie nichts als Finsternis. Erst allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit, den Geruch nach Heu und Pferd. Ein Schnauben gleich neben ihrem Ohr ließ sie hochschrecken. Ihr Herz schlug heftig. Wo befand sie sich? In einem Stall?

Kaum hatte sie sich diese Frage gestellt, als die Erinnerung auch schon über sie hereinbrach. Der Polizist, der sie abgeführt hatte. Das Gefängnis. Frau Buschner, die gekommen war, um sie zu entlasten; die ihr das Geld für die Postkutsche gegeben hatte und eine Tasche mit ihren Habseligkeiten darin. Nicht alles, was Pauline einmal besessen hatte. Natürlich nicht, wozu auch? Es war Pauline schon wie ein Wunder erschienen, dass ihre ehemalige Arbeitgeberin sich überhaupt herabgelassen hatte, ihr zu helfen. Noch jetzt klangen ihr Hermine Buschners Worte in den Ohren: «Fräulein Schmitz, diese Angelegenheit ist mir äußerst unangenehm, wie Sie sich vorstellen können. Sie haben sich in meinem Haushalt unmöglich gemacht und damit nicht nur unserem Ruf geschadet, sondern den Ihren auf immer zerstört. Ich weiß, dass dies nicht Ihre Schuld ist, sondern die meines Gatten, doch das ändert nichts an den Tatsachen. Ich wünsche, dass Sie die Stadt verlassen, und zwar so schnell und so weit wie möglich. Gegenüber der Polizei habe ich angegeben, dass es sich bei den Vorwürfen, die mein Gatte gegen Sie erhoben hat, um ein Missverständnis handelt. Dafür verlange ich von Ihnen, dass Sie sich nie wieder in Bonn blicken lassen. Sie dürfen das Gefängnis heute noch verlassen. Von Ihren Besitztümern habe ich mitgebracht, was in diese Reisetasche passte. Außerdem den Ihnen noch zustehenden Lohn für die vergangenen beiden Monate sowie eine Fahrkarte für die Postkutsche, die morgen früh um acht Uhr in Richtung Köln fährt. Mehr kann ich nicht für Sie tun, Fräulein Schmitz – und ehrlich gesagt, will ich auch gar nicht. Halten Sie sich von Bonn und unserer Familie fern. Aber ich gebe Ihnen den einen guten Rat: Vermeiden Sie es, noch einmal in eine derart prekäre Lage zu geraten. Sie sind eine kluge junge Frau. Es wäre schade, wenn Sie in der Gosse landen würden, obgleich ich fürchte, dass Sie davon nicht mehr allzu weit entfernt sind.»

Pauline schauderte, wenn sie daran dachte, welch Härte gerade in den letzten Worten gelegen hatte. Dennoch hatte Frau Buschner ihr geholfen. Hatte sie ein schlechtes Gewissen gehabt? Am liebsten hätte Pauline alles, was mit der Familie des Feldwebels Friedhelm Buschner zusammenhing, auf immer und ewig vergessen. Doch das war nicht möglich, denn was ihre ehemalige Arbeitgeberin gesagt hatte, entsprach leider der Wahrheit: Pauline hatte ihren Ruf ein für alle Mal zerstört. Sie war ein gefallenes Mädchen. Unwürdig, von anständigen Menschen auch nur angesehen zu werden. Schmutzig. Verachtenswert. Und überdies fast vollkommen mittellos. Das bisschen Lohn in ihrer Geldbörse würde schnell aufgebraucht sein. Und was dann? Was sollte sie tun? Wohin sich wenden? An ein Armenhaus? Was würde Onkel Theobald sagen, wenn er sie so sehen könnte? Wie tief enttäuscht wäre er.

Doch Onkel Theobald war tot. Es war niemand mehr da, den es auch nur einen Deut kümmerte, was aus ihr wurde. Sie konnte ebenso gut tot sein. Wer würde es schon bemerken, wer sich grämen?

Pauline setzte sich kerzengerade auf. Was waren das für entsetzlich gottlose Gedanken? Sie war nicht tot. Sie lebte, und sie musste einen Weg finden, aus ihrer misslichen Lage wieder herauszufinden.

Ein erneutes Schnauben neben ihrem Kopf veranlasste sie, von ihrem Heulager aufzustehen. Umständlich klopfte sie Staub und Halme von ihrem braunen Mantel und dem cremefarbenen, mit hellgelben Blüten bestickten Kleid. Inzwischen war es in dem Stall etwas heller geworden, und die braune Stute, in deren Verschlag Pauline die Nacht verbracht hatte, musterte sie neugierig.

Pauline hob zaghaft die Hand und streichelte dem Tier über die Nüstern. «Danke, dass du mir heute Nacht Obdach gewährt hast», murmelte sie. «Aber jetzt muss ich gehen, ehe noch jemand kommt und mich bemerkt.»

Sie nahm ihre Tasche und schlich zum Stalleingang. Die Morgenluft war herbstlich kühl, irgendwo bellte ein Hund. Nicht weit entfernt quietsche etwas, das sich wie eine Brunnenkette anhörte. Sie musste hier weg, bevor jemand sie entdeckte. Als sie an der Latrine vorbeikam, die sich gleich neben dem Stall befand, wurde sie sich des Drucks ihrer Blase bewusst. Rasch blickte sie sich um; niemand war zu sehen. Also ging sie das Wagnis ein und erleichterte sich. Wenig später stand sie auf der Straße. Unschlüssig sah sie sich nach allen Seiten um. Wohin sollte sie nur gehen? Sie kannte niemanden in Köln, hatte sogar ein wenig Angst vor der großen Stadt. Was gab es hier schon für eine mittellose, unverheiratete Frau ohne Familie? Die Gosse? Würde sie tatsächlich dort enden?

Tränen stiegen in ihre Augen, doch sie drängte sie zurück. Weinen würde ihr nicht helfen. Sie schloss die Finger fester um den Griff ihrer unförmigen Reisetasche. Sie würde in die Stadt gehen. Hier in den Vororten gab es keinen Platz für sie. Aber vielleicht fand sie in einem der Bürgerhäuser innerhalb der Stadtmauern eine Anstellung.

Zuerst musste sie sich eine Zeitung besorgen. Darin standen immer Stellenangebote, auch für Frauen. Vielleicht fand sie eine Agentur, die Arbeitsplätze vermittelte. Sie hatte eine solche von ihrem Heimatort Bad Bertrich aus beauftragt, ihr eine Stellung als Gouvernante zu vermitteln, nachdem ihr Onkel gestorben war. So war sie nach Bonn gekommen. Das Angebot der Buschners hatte so verlockend geklungen, dass sie unmöglich hatte ablehnen können. Eine große Familie mit sieben Kindern, aber nur die beiden jüngsten Töchter sollte sie unterrichten und erziehen. Sie erhielt einen anständigen, ja sogar überdurchschnittlichen Lohn und eine eigene kleine Kammer in der Mansarde. Ungeheizt zwar, aber hübsch eingerichtet. Alles war ganz wunderbar gewesen, die beiden Mädchen ein Ausbund an Tugendsamkeit und Gehorsam. Es war eine Freude, sich um sie zu kümmern. Drei Monate lang war Pauline richtig glücklich.

Sie schloss kurz die Augen. Nein, sie wollte nicht mehr daran denken. Wenn sie es verdrängte, es aus ihren Gedanken ausklammerte, würde vielleicht niemand merken, was mit ihr geschehen war. Man sah es ihr doch nicht an. Kein Mensch konnte in ihren Kopf sehen, ihre Gedanken lesen oder ihre Gefühle wahrnehmen. Hier in Köln wusste niemand, wie der Hausherr sie immer angesehen hatte; wie er ihr mit süßen Worten Komplimente gemacht und ihr geschmeichelt hatte. Wie er sie dazu gebracht hatte, in ihm mehr als nur ihren Arbeitgeber zu sehen.

Oh, wie hatte sie sich gegenüber seiner Gattin geschämt! Aber die anderen Dienstboten, vor allem die Mägde, hatten gesagt, sie solle sich nicht so anstellen. Sie habe doch eine wunderbare Stellung, da müsse sie der Herrschaft schon ein bisschen Dankbarkeit zeigen. So hatte es auch Friedhelm Buschner ausgedrückt: Sie schuldete ihm etwas, sollte dankbar sein für die gute Stellung, die er ihr bot. Sie war ja auch dankbar und fühlte sich auch irgendwie geschmeichelt von seinen Worten, von den Blumen, die er ihr manchmal zusteckte, oder von dem Konfekt, das sie hin und wieder auf ihrem Kopfkissen fand. Und es war ja auch alles ganz unschuldig gewesen. Er hatte lediglich ein wenig mit ihr poussiert, manchmal sogar ganz unverschämt in Anwesenheit seiner Gattin. Pauline war dann immer fast gestorben vor Verlegenheit.

Sie schüttelte energisch den Kopf. Nicht mehr daran denken!, mahnte sie sich. Es war aus und vorbei. Bonn war weit weg und damit auch Friedhelm Buschner. Vielleicht nicht weit genug, aber fürs Erste musste es reichen. Und solange sie keine neue Anstellung hatte, würde sie hier in Köln bleiben.

***

Gegen Mittag hatte sie den Stadtkern erreicht. Geschäftiges Treiben herrschte hier. Große zweiachsige Landauer, kleine einspännige Wagen und schwere Fuhrwerke fuhren an ihr vorüber. Handwerker, Mägde und Hausfrauen bevölkerten die Marktplätze. Dazwischen flanierten die Herren und Damen der höheren Kreise, die entweder in Geschäften unterwegs oder samt einem Tross aus Dienstboten mit Einkaufen beschäftigt waren.

Pauline blickte sich mit großen Augen um. Niemals zuvor war sie in einer so großen Stadt gewesen. Als sie den riesigen, unvollendeten Dom erreichte, stockte ihr regelrecht der Atem. Was für ein Bauwerk! Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte staunend an der Fassade empor, bis jemand sie unsanft anrempelte.

«Dumme Trin!», schimpfte eine korpulente Frau, die zwei schwere Eimer trug und sie unfreundlich taxierte. «Häls’ wohl Maulaffen feil! Du stehs’ im Wääch, Mädche! Mach, dat de vun dr Strooß küss’!»

Erschrocken trat Pauline beiseite, denn vor lauter Schauen hatte sie nicht bemerkt, dass hinter ihr weitere Pferdegespanne aufgetaucht waren. So viel Verkehr war sie nicht gewöhnt. Rasch drückte sie sich an den Straßenrand. Sie wollte der Frau danken, doch diese war bereits weitergegangen, ohne sie zu beachten.

Die Tasche in ihrer Hand schien immer schwerer zu werden. Einige Passanten musterten sie neugierig, machten jedoch einen kleinen Bogen um Pauline.

Waren ihre Kleider schmutzig? Ihr Haar unordentlich? Vorsichtig tastete sie nach ihrem Kopf, der von einer einfachen, schmucklosen und nicht zu großen Schute bedeckt war, unter der sie ihr welliges honigblondes Haar fest hochgesteckt hatte. Natürlich gab es keine modischen Korkenzieherlöckchen an ihren Schläfen. Für aufwendiges Frisieren war keine Zeit mehr gewesen. Wahrscheinlich sah man ihr die Aufregung und Anstrengungen der vergangenen beiden Tage an. Sie hatte versucht, sich nicht schmutzig zu machen. Ihr Kleid war dennoch inzwischen verknittert und am Saum eingestaubt. Würde sie in diesem Aufzug überhaupt eine Anstellung finden?

Pauline seufzte innerlich. Als Gouvernante würde sie so gewiss niemand haben wollen. Sie musste sich irgendwo waschen und zurechtmachen. Aber wo? Sie hatte ja nicht einmal ein Dach über dem Kopf. Zwar gab es in Köln bestimmt Mietshäuser, in denen einzelne Zimmer vermietet wurden, aber nicht an alleinstehende Frauen. Oder wenigstens nur dann, wenn sie eine feste Stelle hatten – in einer Manufaktur oder Fabrik vielleicht.

Sie machte kehrt und ging die Hohe Straße entlang. Dabei kam sie am Redaktionsgebäude der Kölnischen Zeitung vorbei, vor dem ein Junge von höchstens zehn oder elf Jahren die neueste Ausgabe ausrief. Rasch kramte sie ein Geldstück aus ihrer Börse und kaufte sich ein Exemplar.

Mitten auf der belebten Straße konnte sie die Zeitung nicht nach Stellenanzeigen absuchen. Also machte sie sich auf die Suche nach einem ruhigen Ort. Bald befand sie sich auf einem kleinen Platz. Dem Namen an der Fassade eines Kaufmanns zufolge war es der Laurenzplatz. Neugierig trat sie näher an das große Schaufenster des Geschäfts heran. Es handelte sich um einen Kolonialwarenladen. Neben Tabak, Zucker und Kakao gab es dort auch andere Genussmittel, getrocknete Früchte, Gewürze und importierte Alltagsgegenstände wie elfenbeinerne Kämme, seltene Stoffe, wundersame geschnitzte Figuren und allerlei mehr zu kaufen.

Wehmütig betrachtete Pauline die Auslagen. Sie war bei ihrem verwitweten Onkel aufgewachsen und nie sonderlich wohlhabend gewesen. Dennoch hatten sie sich Kaffee, Kakao und hin und wieder Feigen oder andere Südfrüchte gegönnt. Nun schien es ihr, als wäre diese Zeit ein für alle Mal vorbei. Ihr Magen knurrte. Heute wäre sie schon mit einem Butterbrot und einem Becher Wasser zufrieden gewesen. Vielleicht einem schmackhaften Apfel. Doch sie scheute sich, Geld auszugeben, denn sie wusste nicht, wie lange sie mit dem wenigen, das sie noch hatte, würde auskommen müssen.

«He da! Weg von meinem Fenster», rief eine aufgebrachte Männerstimme hinter ihr. Erschrocken drehte sie sich um und sah sich einem kräftigen, grauhaarigen Mann mit Kinnbart und erboster Miene gegenüber. «Was hat du hier zu suchen, Mädchen? Geh von dem Fenster weg, du versperrst meinen guten Kunden die Sicht.»

«Entschuldigung.» Pauline machte einen Schritt rückwärts. «Ich wollte nicht … Ich habe nur …»

«Nun hau schon ab.» Der Mann wedelte ungeduldig mit der rechten Hand, dann fiel sein Blick auf die Zeitung, die unter Paulines Arm klemmte, und ihre Reisetasche. «Oder bist du die Neue?»

Pauline schluckte. «Die Neue?»

Der Mann musterte sie eingehend. «Ja, die neue Magd. Bist wohl nicht allzu helle, wie? Haben dich deine Eltern ganz allein hergeschickt? Ohne Begleitung? Na, egal. Siehst ja ganz ordentlich aus. Dann komm mal mit rein. Meine Frau wird sich freuen, dass sich so schnell jemand für die Stelle gefunden hat.»

Pauline zögerte nur kurz. Vielleicht hatte ihr Glück sie doch nicht ganz verlassen. Wenn sie hier eine Stellung fand, wären ihre schlimmsten Sorgen erst einmal beseitigt. Also folgte sie dem Mann in das Geschäft. Es roch nach orientalischen Gewürzen, gemahlenem Kaffee und Seife.

«Hier entlang», sagte der Kaufmann und deutete auf eine Tür im hinteren Teil des Ladens. «Ariane!», brüllte er in harschem Befehlston. «Komm runter, die neue Magd ist da.»

Von irgendwo im Haus wurden eilige Schritte laut, Augenblicke später erschien eine sehr gepflegte Dame im weißen Musselinkleid in der Hintertür. Ihr hellblondes Haar war in adrette Locken gelegt und unter einem ausladenden Hut hochgesteckt. «Die neue Magd?» Sichtlich überrascht musterte sie Pauline von Kopf bis Fuß. «Die Anzeige ist doch erst seit gestern in der Zeitung. Das ging aber schnell. Wie heißt du, und woher kommst du?»

Pauline schluckte und räusperte sich. «A… also mein Name ist Pauline Schmitz. Ich komme aus Bad Bertrich, aber ich habe bis … bis vor kurzem noch in Bonn gearbeitet.»

«Aha. Das erklärt, wie du so schnell hier sein konntest. Hast du Referenzen vorzuweisen?»

Pauline wurde rot. «N-nein, leider haben mir meine letzten Arbeitgeber kein Zeugnis geschrieben.»

«Warum nicht?» Argwöhnisch hob die Hausherrin die Brauen an.

Pauline überlegte fieberhaft und entschied sich für eine Notlüge. «Sie sagten, dass ich zu kurz in ihrem Dienst gestanden hätte. Ich war wirklich nicht lange dort. Als mein Onkel gestorben ist, wollte ich weg und …»

«Dein Onkel?», unterbrach sie die Frau des Kaufmanns ungeduldig. «Und was ist mit deinen Eltern?»

«Sie sind tot. Ich habe keine Verwandten mehr.»

«Das ist traurig.» Die Stimme der Hausherrin klang vollkommen gleichgültig. «Nun gut. Du machst einen ganz ordentlichen Eindruck. Das Kleid, das du da anhast, ist ein abgelegtes von deiner früheren Herrschaft, nehme ich an? Mägde können sich solchen Stoff normalerweise nicht leisten. Aber es sieht ja noch ganz gut aus, und dann muss ich dich wenigstens nicht einkleiden. Zeig mal deine Hände.»

Pauline stellte ihre Tasche ab, die sie bisher noch immer fest umklammert hatte, und hielt der Frau ihre Hände hin.

«Hm, schlecht. Keine Schwielen. Hast wohl nur leichte Arbeit verrichtet, was? Oder bist du vielleicht wegen Faulheit entlassen worden?»

«Nein, ganz gewiss nicht!», rief Pauline erschrocken. «Ich habe auf die Kinder aufgepasst und …»

«Ein Kindermädchen warst du?» Erneut traf Pauline ein Blick unter hochgezogenen Augenbrauen. «Na, vielleicht kannst du dann unserer Elfie ein wenig zur Hand gehen, wenn es nottut. Ansonsten wirst du dich um den Haushalt kümmern. Ich gebe dir eine genaue Aufstellung der Arbeiten, die du jeden Tag zu erledigen hast. Erst einmal für zwei Wochen auf Probe, dann sehen wir weiter. Wenn ich zufrieden mit dir bin, erhältst du neben freier Kost und Logis drei Mark im Monat. Mittwochs und sonntags je eine freie Stunde für den Kirchgang, jeden zweiten Sonntag ein freier Nachmittag. Ansonsten hast du dich jederzeit zur Verfügung zu halten. Müßiggang dulde ich nicht. Verstanden?» Ehe Pauline etwas darauf antworten konnte, wandte sich ihre neue Arbeitgeberin ab. «Komm mit, ich zeige dir deinen Schlafplatz. Danach setzte ich den Dienstvertrag auf und gebe dir deine Anweisungen.»

Kapitel 2

Bibbernd lag Pauline unter ihrer Wolldecke, die Knie bis zum Kinn angezogen. Mit den Händen rieb sie über ihre eiskalten Schienbeine und Füße. Nun war sie also ein Dienstmädchen. Ihre Arbeitgeber waren Ariane und Marius Stein. Er war ein sehr erfolgreicher und wohlhabender Kaufmann, sie stammte aus einer Bankiersfamilie. Sechs Kinder zwischen sieben und achtzehn Jahren hatten sie und noch einige weitere Dienstboten: einen Hausdiener, eine Köchin, einen Knecht, ein Kindermädchen und noch eine weitere Magd, die sich aber in Kürze verheiraten wollte. Ihren Platz sollte Pauline einnehmen.

Natürlich war sie glücklich und erleichtert, dass ihr der Zufall zu Hilfe gekommen war. Aber schon nach den wenigen Stunden, die sie im Haushalt Stein verbracht hatte, war ihr klar geworden, was für ein Leben ihr hier bevorstehen würde. Tine, die andere Magd, hatte sie bereits eingearbeitet. Pauline war sich aber nicht sicher, ob sie all die anfallenden Aufgaben jemals würde bewältigen können. Es galt, das Haus zu putzen, das Silber zu polieren, Töpfe und Geschirr zusammen mit der Köchin zu spülen, Teppiche zu klopfen, Silber, Türdrücker, Ofentüren und Fenster zu reinigen, ebenso die Wasch- und Nachtgeschirre sowie alle Lampen. Die Betten mussten geklopft und bezogen und die einzelnen Zimmer gründlich gesäubert werden. Auch für Botengänge und Einkäufe musste sich Pauline bereithalten und, falls nötig, dem Kindermädchen Elfie bei der Beaufsichtigung der jüngeren Kinder helfen. Und all das nach streng festgelegten Tages- und Wochenplänen.

Pauline seufzte leise. Sie hatte sich nie Gedanken über die Arbeit der Dienstmädchen im Haushalt der Buschners gemacht. Schon nach wenigen Stunden hier wusste sie, dass es Knochenarbeit war.

Seit ihrer Kindheit hatte sie allein mit ihrem Onkel, Theobald Schmitz, einem bekannten Badearzt aus Bad Bertrich, zusammengelebt. Natürlich hatten sie eine Wirtschafterin gehabt, Agathe, die für den Haushalt zuständig war und kochte. Außerdem kümmerte sich ein Hausdiener um den Onkel und erledigte die schweren Arbeiten wie Holz hacken und schwere Kisten schleppen.

Pauline hatte erst die Volksschule besucht und danach eine kleine private Mädchenschule, die von einem Frauenverein ins Leben gerufen worden war. Ihr Onkel hatte alles dafür getan, ihr eine gute, umfassende Ausbildung zu ermöglichen, ganz so, wie es der Wunsch ihrer Eltern gewesen war. Diese waren vor vielen Jahren bei einem Unfall mit einer Kutsche ums Leben gekommen. Leider war Pauline von dem Erbe ihrer Eltern nicht viel geblieben. Lediglich eine kleine Mitgift, die der Rede kaum wert war, und die Kosten für ihre Ausbildung waren abgedeckt. Das bescheidene Vermögen ihrer Eltern hatte ein Cousin geerbt.

Dennoch hatte Pauline sich nie als arm empfunden. Sie hatte ein behagliches Zuhause; ihr Onkel war ein ruhiger, freundlicher Mann gewesen, der sie gernhatte und sich bemühte, ihr eine gute Erziehung zukommen zu lassen.

Pauline hatte es ihm in diesem Punkt leicht gemacht. Sie liebte Bücher, hatte Stunden in seiner kleinen Bibliothek zugebracht oder in der Schulbücherei. Sie hatte sich bemüht, immer zu den besten Schülerinnen zu gehören, und konnte neben Lesen, Schreiben und Rechnen auch Englisch, Französisch und Italienisch sprechen und schreiben. Sie verfügte über Kenntnisse in Geographie und Geschichte, hatte Pianoforte- und Tanzunterricht erhalten und bei Gesellschaften immer wieder mit ihrer schönen Singstimme für Beifall gesorgt. Sie konnte nähen, sticken und knüpfen, hatte Zeichenunterricht erhalten und so manche Stunde mit dem Bemalen von kleinen Kommoden, Stühlen oder Truhen zugebracht. Auch die Grundzüge der Haushaltsführung waren ihr vertraut.

Selbstverständlich hatte all diesen Bemühungen um eine umfassende Ausbildung der Wunsch des Onkels zugrunde gelegen, sie eines Tages gut zu verheiraten. Und Interesse hatte sie tatsächlich bei so manchem Mann geweckt. Der Onkel hatte sich aber nicht recht entschließen können. Je länger sie zusammenlebten, desto weniger wollte er sie fortgehen lassen. Manch wohlmeinender Nachbar oder Freund hatte ihn gemahnt, Pauline nicht zur alten Jungfer verkümmern zu lassen, doch Onkel Theobald hatte immer lachend abgewinkt. Alte Jungfer? Nein, das war seine geliebte Pauline gewiss nicht. Sie hatte noch so viel Zeit, so viele Möglichkeiten. Als der Onkel plötzlich an einem Gehirnschlag starb, war Pauline von einem Tag auf den anderen allein. Ihr Cousin hatte auch dieses Erbe eingestrichen, noch bevor alle Trauerfeierlichkeiten vorbei und alle Tränen getrocknet gewesen waren. Zwei Wochen später fuhr er bereits auf einem Schiff in Richtung New York.

Und nun war sie also eine Magd. Gewaltsam bemühte sie sich, die Zeit in Bonn aus ihren Gedanken auszuklammern. Es brachte nichts, sich über Vergangenes zu grämen. Vielmehr musste sie sich auf die Gegenwart konzentrieren. Niemand hier wusste von ihrer Ausbildung und von ihrem Wunsch, als Gouvernante ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Vermutlich hätte ihr auch kaum jemand geglaubt, geschweige denn ihr die Chance gegeben, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Nicht nachdem sie in einem schmutzigen Kleid und mit nichts als einer kleinen Reisetasche und ohne jede Referenz durch Köln geirrt war. Sie musste Fortuna wirklich dankbar für die Anstellung sein, obwohl sie erbärmlich fror und ein nagendes Hungergefühl in ihrer Magengrube saß. Frau Stein hatte ihr lediglich einen Teller Wassersuppe und einen Kanten Brot zum Abendessen zugestanden; das war das Einzige, was Pauline heute gegessen hatte. Sie hatte auch keine eigene Schlafkammer. Ihr Lager befand sich auf einem winzigen Hängeboden über dem Hausflur, der nur über eine wackelige Hühnerleiter zu erreichen war, die tagsüber abgeschlagen wurde. Aufrecht stehen konnte sie hier oben nicht, und das schmale Bett mit der muffigen, durchgelegenen Matratze und eine Kleidertruhe füllten den Raum komplett aus. Tine hatte zwar gesagt, dass dieses Lager für eine Magd recht komfortabel sei, aber so ganz glauben konnte Pauline das nicht. Tine und Elfie teilten sich einen weiteren Hängeboden über der Küche. Zumindest so lange, bis Tine wegen ihrer Heirat das Haus verlassen würde. Vermutlich war es dort über dem Küchenofen wenigstens warm.

Allmählich strömte Wärme durch ihre Beine, und Pauline schloss die Augen und versuchte einzuschlafen.

***

Sie stand in Friedhelm Buschners Bibliothek und stellte die Bücher zurück ins Regal, aus denen sie den Mädchen heute Lektionen in Geographie und französischer Literatur gegeben hatte. Als sie hörte, wie die Tür geöffnet wurde, drehte sie sich lächelnd um. Friedhelm Buschner trat auf sie zu, in der Hand eine Schachtel mit süßem Konfekt. «Ein kleines Geschenk für Sie, meine Liebe», raunte er und zwinkerte ihr zu. «Sie leisten hervorragende Arbeit, Fräulein Schmitz.»

Erfreut nahm Pauline das Präsent an. «Vielen Dank, gnädiger Herr. Das ist sehr nett von Ihnen.»

«Für Sie doch immer, mein liebes Fräulein Schmitz. Sie sind eine wahre Perle. Wir wüssten nicht, was wir ohne Sie tun sollten. Die Mädchen entwickeln sich prächtig unter Ihrer Anleitung. Und …» Er hielt einen Moment inne und trat noch einen halben Schritt auf sie zu. «Nun ja, was mich angeht, so muss ich sagen, dass ich Ihre Gesellschaft außerordentlich genieße.» Er hob die Hand und strich ihr sanft eine ihrer blonden Locken hinters Ohr.

«Nein!» Pauline fuhr auf und starrte entsetzt in die Dunkelheit. Die Decke rutschte an ihr herunter; erst der kalte Luftzug, der sie erfasste, machte ihr klar, dass sie sich in ihrem Bett auf dem Hängeboden befand und nicht mehr in Buschners Haus. Ihr Herz pochte hart gegen ihre Rippen, ihr Atem ging viel zu schnell.

Pauline bemühte sich, ruhig ein- und auszuatmen und ihre Gedanken auf die Arbeiten des kommenden Tages zu richten. Friedhelm Buschner war weit weg, zwischen seinem Haus in Bonn und dem Stein’schen Anwesen lagen viele Meilen. Obwohl sie sich redlich Mühe gab, an etwas anderes zu denken, dauerte es lange, bis sie sich so weit beruhigt hatte, dass sie wieder einschlafen konnte.

***

Bibbernd stand Pauline am Brunnen hinter dem Haus und wusch sich Gesicht, Hals und Hände. Es hatte in der Nacht leichten Frost gegeben, und im Schein der Hoflampe glitzerte das Pflaster ringsum vom Reif. In den wenigen Tagen, die sie ihren Dienst tat, hatte sie sich angewöhnt, als Erste morgens zum Waschen hinauszugehen. Wenn der Knecht, die Köchin und der Hausdiener wach waren, hatte sie keine ruhige Minute mehr. Auch jetzt beeilte sie sich sehr. Nicht nur, weil die Luft eiskalt war, sondern vor allem, weil sie es nicht gewohnt war, sich mitten im Hof, möglicherweise vor aller Augen, zu waschen.

Sie hatte bisher sehr viel Wert auf Körperpflege gelegt und regelmäßig ein Bad genommen. Selbst in ihrer Stellung als Gouvernante hatte man ihr dies zugestanden, da sie ständig an der Seite ihrer Schützlinge gewesen und daher zur sauberen, adretten Erscheinung verpflichtet war. Ein Dienstmädchen hingegen wurde anders behandelt. Sauber sollte sie sein, das war alles. Für Haarpflege oder gar gründliche Körperreinigung blieb nicht viel Zeit. Trotzdem brachte Pauline jeden Morgen ihre Bürste mit heraus und bearbeitete damit ihr honigblondes Haar, bis es knisterte und sich in seidigen Wellen um ihr Gesicht legte. Dann steckte sie es zu einem eher praktischen denn modischen Knoten auf.

Sie wünschte sich, sie hätte die Möglichkeit, ihr Haar wieder einmal zu waschen, doch laut Tines Aussage bekamen die Dienstboten dazu nur selten Gelegenheit, und wenn, dann nur vor den Feiertagen oder in der warmen Jahreszeit.

«He, Prinzessin, willst du noch länger Maulaffen feilhalten, oder dürfen wir allmählich auch mal ans Wasser?»

Pauline erschrak, als sie die mokante Stimme des achtzehnjährigen Hausknechts Heiner direkt hinter sich vernahm. Feixend trat er neben sie und begann seelenruhig, den Eimer in den Brunnen hinabzulassen. Rasch trat Pauline beiseite und knöpfte mit fliegenden Fingern die oberen Knöpfe ihres Kleides zu. «Ich bin schon fertig», sagte sie und trat den Rückzug an, als auch die dicke Köchin Mathilde zum Brunnen kam.

«Brauchst ja nicht gleich wegzulaufen, Kleine», kicherte sie. «Wir schaun dir schon nix weg. Dem Heiner biste sowieso zu dürr, nicht wahr, Heiner?»

Der Knecht grinste breit und fuhr sich mehrmals mit nassen Händen durch sein kurzes blondes Haar. «Stimmt, ich mag sie lieber ein bisschen molliger. So ein lecker Mädche, bei dem man gleich sehen kann, wo vorne und hinten ist.»

Peinlich berührt senkte Pauline den Kopf und eilte zurück ins Haus. Hinter sich hörte sie die anderen Dienstboten lachen. Sie kletterte die Leiter zu ihrem Hängeboden hinauf, um die Bürste zu verstauen und ihr Handtuch ordentlich zum Trocknen aufzuhängen. Danach schlug sie die Leiter ab, wie Heiner es ihr gezeigt hatte, und verstaute sie in einer Nische unter dem Treppenaufgang. Bevor sie in die Küche ging, um sich ihr Stück Morgenbrot abzuholen, machte sie einen kleinen Umweg über den vorderen kleinen Salon. Dort pflegte die gnädige Frau am Abend Listen mit Aufträgen auszulegen, die die Dienerschaft zusätzlich zu den alltäglichen Pflichten zu erledigen hatte. Auf dem Zettel, der Paulines Namen trug, waren zwei Aufgaben verzeichnet: der Gang zum Schuster, bei dem zwei Paar Kinderschuhe abgeholt werden mussten, und das Polieren des guten Silbers, da am Nachmittag eine Teegesellschaft anstand.

Sie nahm den Zettel und schob ihn in den Ärmel ihres Kleides, dann ging sie rasch in die Küche, um sich ihr Frühstück zu sichern. Morgens gab es dünnbestrichene Butterbrote für die Dienerschaft und etwas Milch. Die Köchin war schon dabei, den Ofen anzuheizen und Wasser aufzusetzen, mit dem sie der Herrschaft später Kaffee und Kakao aufbrühen würde. Tine saß ebenfalls bereits in der Küche und kaute an ihrem Brot. Die junge Magd wartete immer, bis alle anderen vom Brunnen fort waren, bevor sie sich einer Katzenwäsche unterzog. Als sie Pauline eintreten sah, winkte sie ihr und deutete auf zwei Eimer voller Holzscheite. «Da, die hab ich schon mal reingeholt. Du bist heute an der Reihe, die Öfen im Obergeschoss anzuheizen. Ich übernehme den Salon und den Laden. Ach ja, und wenn du oben mit Staubwischen und Putzen fertig bist, kannst du mir vielleicht noch hinten im Lager helfen. Heute soll eine neue Lieferung Kaffee und so für den gnädigen Herrn kommen, und wir müssen die Regale auswischen, bevor die Sachen eingeräumt werden.»

«Aber ich muss noch zum Schuster und das ganze Silber polieren», protestierte Pauline schwach.

Tine winkte ab. «Zum Schuster kannst du heute Nachmittag gehen. Die Regale sind viel wichtiger, weil die Warenlieferung um zwölf Uhr erwartet wird. Also beeil dich ein bisschen mit dem Silber.»

«Es soll aber gründlich poliert werden», warf Pauline ein. «Ich will nicht riskieren, dass die gnädige Frau schimpft, weil ich nachlässig arbeite.»

«Ach Jottchen!» Tine verdrehte die Augen. «Dann arbeite eben gründlich und schnell. Wie willste denn erst die ganze Arbeit schaffen, wenn ich nicht mehr hier bin?» Sie stand auf und wedelte mit der Hand. «Husch, husch. Wir haben alle viel zu tun.»

Pauline würgte schnell den letzten Bissen ihres Brotes hinunter und spülte mit dem Rest Milch aus ihrem Becher nach. Dann schnappte sie sich die beiden schweren Holzeimer und trug sie ins obere Geschoss.

Drei Stunden später saß sie an einem der Tische im großen Salon, vor sich einen großen Kasten mit Silberbesteck, von dem sie erst die Hälfte zum Glänzen gebracht hatte. Zweimal war Frau Stein bereits hereingekommen und hatte Paulines Arbeit bekrittelt. Dem scharfen Auge der Hausherrin entging nicht der winzigste Fleck auf dem guten Besteck. Paulines Schultern und Nacken schmerzten von der gebeugten Haltung, in der sie schon so lange dasaß. Eine Pause konnte sie sich jedoch nicht leisten. Nach dem Silber war das Reinigen der oberen Schlafräume an der Reihe. Und wenn sie Tine noch helfen wollte, würde sie sich sehr beeilen müssen.

***

«Entschuldigen Sie bitte die Störung, gnädiger Herr.» In der Tür zu Julius Reuthers Arbeitszimmer war dessen Hausdiener Jakob aufgetaucht, wie immer in seinem schwarzen Anzug, der schon bessere Jahre gesehen hatte, und einem vorbildlich gestärkten Hemd. Das hellblonde, fast weiße Haar ließ ihn älter als seine 45 Jahre wirken. Verstärkt wurde dieser Eindruck durch das hagere Gesicht mit der Adlernase und den klug dreinblickenden wasserblauen Augen.

Julius hob nur kurz den Kopf. «Ja, was gibt es denn, Köbes?»

Der Hausdiener trat einen Schritt näher. «Ich soll Sie daran erinnern, dass heute Abend die Gesellschaft bei der Familie Oppenheim stattfindet. Und heute Nachmittag ist eine Teegesellschaft bei den Steins, aber ich vermute, dort möchten Sie nicht hingehen?»

Julius schüttelte den Kopf. «Nicht, wenn es sich vermeiden lässt.»

«Sie wurden schon zweimal eingeladen und haben sich beide Male entschuldigen lassen, Herr Reuther.»

«Du meinst also, sie würden es als Affront betrachten, wenn ich nicht hinginge?»

Jakob lächelte schmal. «Die nächste Einladung sollten Sie annehmen, gnädiger Herr. Heute haben Sie eine gute Ausrede. Die Eltern Ihrer zukünftigen Gattin gehen schließlich vor.»

Julius’ Kopf ruckte hoch. «Zukünftige Gattin? Woher hast du das denn schon wieder? Es handelt sich lediglich um einen Freundschaftsbesuch bei den Oppenheims.»

«Natürlich, Herr Reuther.» Jakob nickte mit ernster Miene.

«Von einer Hochzeit kann nicht die Rede sein.»

«Natürlich nicht, Herr Reuther.»

«Ich wünsche nicht, dass derartige Gerüchte in die Welt gesetzt werden, Köbes.» Julius runzelte die Stirn, als er das amüsierte Funkeln in den Augen seines Dieners wahrnahm. «Sonst noch etwas?»

Jakob zögerte. «Ihr Fräulein Tochter hat einen schriftlichen Verweis von der Schule mitgebracht.»

«Schon wieder?» Die Furchen auf Julius’ Stirn vertieften sich; er fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die kurzgeschnittenen braunen Locken. «Was ist es diesmal?»

«Sie weigerte sich offenbar, einen Schmetterling zu sticken.»

«Einen Schmetterling?» Irritiert legte Julius den Kopf schräg.

«Im Handarbeitsunterricht», erklärte der Hausdiener. «Sie fragte die Lehrerin, weshalb sie Schmetterlinge sticken müsse, während die Jungen in der Schule gegenüber zur gleichen Zeit etwas über Napoleon und Amerika lernen dürfen. Das hat ihr einen schweren Rüffel und den Verweis eingebracht.»

«Napoleon und Amerika, wie?» Um Julius’ Mundwinkel zuckte es. Er stand auf und trat an die Schrankwand hinter seinem großen Schreibtisch, zog einen schweren Atlas daraus hervor und reichte ihn seinem Diener. «Also gut, da dürfte eine Züchtigung notwendig sein. Übergib meinem Fräulein Tochter diesen Atlas und richte ihr aus, dass sie zur Strafe bis morgen früh alle Namen der nordamerikanischen Staaten und Territorien sowie deren Lage auf der Karte auswendig lernen muss. Zu jedem Staat und Territorium wünsche ich zudem mindestens eine Stadt und einen Fluss von ihr zu erfahren.»

Köbes klemmte sich den Atlas unter den Arm. «Wie Sie wünschen, gnädiger Herr. Eine angemessen strenge Strafe, möchte ich hinzufügen, die zudem den Geist Ihres Fräulein Tochter fordern wird.»

Julius nickte ihm zu. «Leider wird es sie nicht davon abhalten, sich weiterhin mit den Lehrern anzulegen.»

«Ihr fehlt die leitende Hand einer Frau, gnädiger Herr.»

Julius’ Miene verfinsterte sich. «Das weiß ich, Köbes.» Er setzte sich wieder an seinen Platz und blätterte in der Korrespondenz, die sich auf der Tischplatte stapelte. «Aber ich wünsche keines dieser hochnäsigen Frauenzimmer in meinem Haus. Mit Weibsbildern, die sich Gouvernanten schimpfen und selbst nicht mehr als Stroh im Kopf haben, will ich nichts zu tun haben.»

Jakob zog ein wenig den Kopf ein, als er den gereizten Tonfall seines Herrn vernahm. Dennoch wagte er einzuwenden: «Es gibt auch sehr gebildete junge Damen, die Fräulein Ricarda sicherlich zu einer ausgezeichneten Erziehung verhelfen könnten. Und jung Peter ebenfalls, möchte ich anfügen.»

«Ich will nichts davon hören», knurrte Julius verärgert. «Meine Meinung steht. Entweder sind diese Gouvernanten dumme Gänse, die nicht mehr können, als sich herauszuputzen und über die neuesten Tanzschritte zu gackern, oder sie sind tatsächlich einigermaßen gebildet und halten sich deshalb für etwas Besseres, beziehungsweise wollen sich durch eine Heirat eine angesehene Position erwerben. Das mag zwar aus Sicht dieser Damen klug und richtig sein, aber ich kann darauf verzichten, Köbes. Von beiden Sorten sollte jeder Mann, der seine fünf Sinne beisammen hat, die Finger lassen. Ganz gleich, wie sie sich gebärden, Frauenzimmer im Haus sind eine Gefahr für Ruhe und Seelenfrieden, und es ist besser, sich weitgehend von ihnen fernzuhalten.»

«Wie Sie meinen, gnädiger Herr.» Jakob verbeugte sich kurz und wandte sich zum Gehen. Seufzend schloss er die Tür des Arbeitszimmers hinter sich und brachte der Tochter des Hauses den Atlas samt Lernauftrag ihres Vaters.

***

Mit einem leeren Tablett auf dem Arm stand Pauline hinter der Salontür und lauschte andächtig der hellen Frauenstimme, die zur Musik auf dem Pianoforte eine liebliche Weise sang. Ohne es zu merken, wippte ihr Fuß dabei auf und ab, und sie summte leise die Melodie mit.

«He, Prinzessin, träumst du schon wieder?» Mit einem frechen Grinsen stieß Heiner Pauline den Ellenbogen in die Seite.

Pauline zuckte erschrocken zusammen, fing sich jedoch rasch wieder. «Das Lied, das Fräulein Christine da singt, ist eines meiner Lieblingslieder. Ich habe es meinem Onkel so oft vorgesungen, und auf Gesellschaften …» Sie stockte. Es war nicht angebracht, Heiner von ihrem früheren Leben zu erzählen. Insbesondere weil diese Zeit für sie auf immer verloren war.

«Du kannst singen?» Heiners Interesse schien geweckt.

Abwesend nickte Pauline. «Ja, sogar recht gut.»

«Tanzen auch? Ich mein, so wie die feinen Herrschaften mit Menuetten und Polonaisen und all so was?»

Wieder nickte Pauline. «Ich hatte Unterricht in allen modernen Tänzen.»

«Du? Unterricht?» Heiner lachte. «Warum bist du dann nicht beim Zirkus?»

«Wie bitte?»

«Mensch, Prinzessin, erzähl doch nicht solche Geschichten! Am Ende glaubt dir noch jemand. Tanz- und Singunterricht kriegen doch nur reiche Leute.» Unvermittelt veränderte sich Heiners Gesichtsausdruck. Neugierig musterte er sie von oben bis unten. «Oder bist du am Ende eine von denen gewesen? Das würde erklären, warum du so zimperlich und verwöhnt bist.»

«Ich bin nicht zimperlich und verwöhnt!», protestierte Pauline.

«Doch, bist du», erwiderte Heiner. «Glaubst du, wir nennen dich umsonst Prinzessin?» Er machte eine wegwerfende Geste mit der Hand. «Ich dachte erst, dass du einfach faul bist und dich vor der Arbeit drücken willst. Aber so … Warum bist du nicht mehr reich?»

Pauline senkte den Kopf. «Ich war niemals reich.»

«Aber reich genug für feinen Gesang und Tanz.»

«Mein Onkel hat dafür gesorgt, dass ich eine gute Erziehung erhielt. Aber nun ist er tot, und …»

«Und von einer guten Erziehung allein kann man nicht leben», vervollständigte Heiner ihren Satz. «Er hätte dir mal besser was Praktisches beigebracht. Zum Beispiel, wie man richtig Feuer macht und Zimmer putzt. Tine beschwert sich schon dauernd über dich. Wenn du so weitermachst, wird die Gnädige dich nicht fest einstellen.» Er zögerte. «Bist du deswegen auch schon bei deiner letzten Stellung rausgeflogen?»

«Nein, ich …» Pauline biss sich auf die Lippen. «Darüber möchte ich nicht sprechen.»

«Warum nicht?» Neugierig hob Heiner den Kopf.

Ein unangenehm zerrendes Gefühl machte sich in Paulines Magengrube breit. «Weil es dich nichts angeht!», antwortete sie harscher als nötig und wandte sich ab. Sie umfasste das leere Tablett fester und straffte die Schultern, dann trat sie in den Salon.

«Pauline!» Kaum hatte sie den Raum betreten, als auch schon Frau Stein nach ihr rief. «Da bist du ja endlich! Hier, bring die Kaffeekanne in die Küche und lass sie umgehend auffüllen. Und bring auch noch von dem Gewürzkuchen mit.» Sie wandte sich an einen ihrer weiblichen Gäste: «Nicht wahr, Elise, der Kuchen ist von ausgesuchter Qualität. Unsere gute Mathilde benutzt nur die besten Gewürze.»

«Ganz hervorragend», stimmte die Angesprochene zu und tupfte sich geziert mit einer Serviette über die Lippen. Dabei musterte sie Pauline unverhohlen aus kühlen, grauen Augen, die den gleichen Farbton aufwiesen wie ihr aufwendig frisiertes und aufgestecktes Haar unter der seidenen Haube.

Pauline knickste höflich und zog sich eilig zurück. Während sie in Richtung Küche eilte, hörte sie die beiden Frauen über sie sprechen.

«Ist das Ihr neues Mädchen? Sie scheint ein bisschen langsam zu sein.»

«Ja, leider, meine Liebe. Aber vielleicht macht sie sich ja noch. Man sagt doch, dass die Mädchen aus der Eifel so tüchtig sind.»

«Wenn sie sich bis zum Ende der Probezeit nicht gebessert hat, dann werfen Sie sie schnellstens wieder hinaus», empfahl Elise Schnitzler. «Es gibt nichts Schlimmeres als faules oder einfältiges Dienstpersonal. Das ist hinausgeworfenes Geld, meine Liebe. Und wo Stroh drin ist, kann kein Gold herauskommen, sag ich immer.»

Pauline rannte beinahe in die Küche, stellte die Kanne ab und füllte sie mit dem frischgebrühten Kaffee wieder auf. Mathilde hatte bereits geschnittenen Kuchen auf dem großen Tisch vorbereitet, sodass Pauline die Platte gleich mitnehmen konnte.

Faul und einfältig. Mit aller Macht drängte sie die aufsteigenden Tränen zurück, während sie zurück in den Salon eilte, um Kaffee und Kuchen zu servieren. Frau Stein bat sie, sich in einer Ecke des Salons aufzuhalten, für den Fall, dass einer der Gäste etwas benötigte oder Geschirr abgetragen werden musste. Also stellte sich Pauline neben die zweiflüglige Tür, wo sie hoffentlich niemanden störte.

Sie war nicht faul und erst recht nicht einfältig, sondern einfach nicht an die schwere Arbeit gewöhnt! Aber auf gar keinen Fall durfte sie diese Anstellung verlieren. Dann stände sie wieder ohne Geld und Bleibe auf der Straße. Das durfte nicht geschehen. Sie musste alles tun, damit ihre Arbeitgeberin zufrieden mit ihr war.

Christine, die älteste Tochter der Steins, ein hübsches, wenn auch etwas blasses blondes Mädchen von achtzehn Jahren, hatte ihre Gesangsdarbietung inzwischen beendet. Die anwesenden Damen und Herren klatschten Beifall, und sogleich ließ Pauline ihren Blick über die Teegesellschaft wandern. Wollte jemand noch Kaffee oder Kuchen? Am unteren Ende der Tafel winkte eine ältere Dame und verlangte nach einer neuen Serviette, da die ihre zu Boden gefallen war. Pauline brachte sie ihr und bemühte sich fortan, den Gästen ihre Wünsche von den Augen abzulesen. Das war nicht ganz einfach, aber Heiners Sticheleien und Frau Schnitzlers harte Worte hatten ihr Angst eingejagt. Es reichte offenbar nicht, die Arbeit zu tun, die man ihr auftrug. Sie musste gut getan werden. Sehr gut. So gut, dass Frau Stein sie fest einstellen und dies nicht bereuen würde.

Kapitel 3

«Herr Jakob, wann kommt mein Vater nach Hause?» Ricarda Reuther stand auf der untersten Treppenstufe. Mit der rechten Hand wickelte sich die Neunjährige eine lange Haarsträhne um den Zeigefinger.

Jakob, der mit einem Eimer Holzscheite auf dem Weg in das Arbeitszimmer seines Herrn war, blieb stehen und stellte seine Last neben sich ab. «Er wird bald hier sein, Fräulein Ricarda. Heute ist Zahltag in der Fabrik, da bleibt er immer länger dort, das weißt du doch. Und hernach hat er noch einen Termin bei dem Bankier Schnitzler.»

«Immerzu ist er fort.»

Jakobs Miene wurde weich. «Er besitzt eine große Fabrik und trägt damit eine ebenso große Verantwortung, Fräulein Ricarda.»

«Ich weiß.» Die Stimme des Mädchens klang gepresst.

«Er wird sich sicher freuen, zum Abendessen deine Gesellschaft genießen zu dürfen. Und die deines Bruders.»

«Er ist heute Abend irgendwo eingeladen. Das hat er mir heute Morgen gesagt.»

Überrascht hob Jakob die Brauen. «Da weißt du mehr als ich. Von einer Einladung hat er mir gegenüber nichts erwähnt.»

«Nie ist er hier. Immer nur zum Frühstück.»

«Fräulein Ricarda …» Hilflos hob Jakob die Schultern.

«Ich habe ein Bild für ihn gemalt.»

«Oh. Das wird ihn bestimmt freuen.»

«Ja, wenn er mal Zeit hat, es sich anzuschauen.»

«Die Zeit wird er sich ganz sicher nehmen.»

«Wie denn? Wenn er von seiner Einladung nach Hause kommt, bin ich schon im Bett und schlafe. Und morgens ist nie genug Zeit. Da fragt er immer nur, wie es in der Schule geht. Und dann lässt er Peter erzählen. Ist es, weil ich ein Mädchen bin?»

Jakob stutzte. «Wie kommst du denn darauf?»

«Na, weil er immer über Frauen schimpft.»

«Schimpft?»

«Na ja, nicht richtig schimpft. Aber er mag keine Frauen, oder? Er sagt gemeine Dinge über sie. Hat er meine Mutter überhaupt lieb gehabt?»

«Aber natürlich hat er das.» Jakob wusste selbst, dass seine Antwort eine Spur zu schnell erfolgt war. Und er sah Ricarda an, dass sie dies sehr wohl bemerkt hatte.

«Er hat überhaupt niemanden lieb. Nicht so richtig. Höchstens Peter, weil der ein Junge ist. Aber mich nicht und sonst auch niemanden.»

Betroffen ging Jakob einen Schritt auf das Mädchen zu. «Das ist nicht wahr, Fräulein Ricarda. Dein Vater liebt dich und deinen Bruder sehr. Er ist … ein vielbeschäftigter Mann. Und er muss dafür sorgen, dass die Fabrik gut läuft und Gewinne abwirft, damit ihr beiden ein schönes Zuhause habt. Jung Peter kann dann einmal ein gutgehendes Geschäft erben, und du erhältst eine üppige Mitgift.»

«Deshalb ist er nie da, ich weiß.» Ricarda senkte den Kopf und zupfte etwas heftiger an der Haarsträhne. «Trotzdem mag er keine Frauen und Mädchen. Das merkt man ihm an. Aber wenigstens heiratet er dann nicht irgend so eine dämliche Pute.»

«Fräulein Ricarda!» Tadelnd hob Jakob den Zeigefinger. «Halte deine Zunge ein bisschen im Zaum. Was sind denn das für Ausdrücke?»

Ricarda zuckte mit den Schultern, drehte sich um und stieg langsam die Treppe ins obere Geschoss hinauf, in dem sich ihr Zimmer befand. «Vielleicht schenke ich ihm das Bild auch zu Weihnachten», murmelte sie. «Oder zu seinem Geburtstag. Der ist erst im März. Oder gar nicht.»

Jakob sah ihr mitleidig nach, nahm den Holzeimer und trug ihn ins Arbeitszimmer. Wie oft hatte er schon ähnliche Gespräche mit dem Mädchen geführt? Er hatte aufgehört zu zählen. Doch in letzter Zeit schien sich Ricardas Enttäuschung zu steigern. Sie vergriff sich oft im Ton, und aus dem, was sie sagte, war deutlich herauszuhören, dass der Unmut in ihr schwelte. Jakob hoffte, dass sie sich irgendwann wieder beruhigen würde.

Dass den Kindern väterliche Zuwendung und Strenge fehlte, war offensichtlich. Ricarda wurde immer aufmüpfiger, der siebenjährige Peter hingegen immer stiller. Allerdings nur, solange er allein zu Hause war. Unter seinesgleichen heckte er ständig Streiche aus. Wenn es so weiterging, würden die beiden Kinder bald ins Gerede kommen.

Julius Reuther war alles andere als ein Mustervater. Schon während seiner Ehe mit Valentina von Ebersbach war es nicht einfach gewesen. Herr Reuther war zwar ein weltoffener Mann, der sich selbst zu einiger Bildung verholfen und es zu einem erfolgreichen Geschäftsmann gebracht hatte. Doch im privaten Umgang mit Menschen war er eher zurückhaltend. Es fiel ihm nicht leicht, sich zu öffnen, auch nicht seinen Kindern gegenüber, und er gab sich gern ungehobelter und abweisender, als er in Wirklichkeit war. Als seine Frau dann vor zwei Jahren gestorben war, hatte Julius sich gänzlich in sein Schneckenhaus zurückgezogen. Der Skandal um den Tod seiner Frau war groß gewesen, obwohl Julius Reuther aus Rücksicht auf seine Kinder und Schwiegereltern alles dafür getan hatte, dass die wahren Umstände von Valentinas Ableben der Öffentlichkeit verschwiegen wurden. Dennoch war einiges durchgesickert und hatte der Familie das Leben schwergemacht. Leider schien es nun, als steuere die Familie auf eine weitere öffentliche Diffamierung zu, wenn Ricarda und Peter nicht baldmöglichst zur Räson gebracht wurden.

Herr Reuther hatte sie bisher in allem gewähren lassen. Nicht weil er sie nicht liebte. Nein, Jakob wusste nur zu gut, dass das Gegenteil der Fall war. Doch sein Herr war nach den schlimmen Ereignissen vor zwei Jahren offenbar zu dem Schluss gekommen, dass es besser sei, sich abzuschotten. Vor allem Frauen gegenüber legte er große Missbilligung, wenn nicht gar Verachtung, an den Tag. Kein Wunder, dass Ricarda glaubte, ihr Vater würde sie ablehnen, weil sie ein Mädchen war.

Inzwischen hatte Jakob das Feuer in dem offenen Kamin des Arbeitszimmers entzündet und das Holz ordentlich aufgestapelt. Er warf einen prüfenden Blick auf den Schreibtisch und die Regale und stellte fest, dass es an der Zeit war, hier einmal wieder Staub zu wischen. Leider würde diese Arbeit an ihm hängen bleiben, denn sein Herr hatte verboten, dass Kathrin, das Dienstmädchen, oder die Hauswirtschafterin Berthe den Raum auch nur betraten, geschweige denn putzten. Selbst Jakob durfte dies nur mit ausdrücklicher Erlaubnis und unter der Bedingung, dass er nichts anrührte oder gar veränderte. Selbst das Reinigen des Zimmers war nur mit großen Einschränkungen möglich. Da der Raum nicht verwahrlost aussah, vermutete Jakob, dass Julius Reuther hin und wieder selbst zu Besen und Wischtuch griff.

Kopfschüttelnd nahm er den leeren Eimer und verließ den Raum. Wenn sein Herr heute Abend tatsächlich auswärts essen wollte, würde er sich dazu ganz sicher umkleiden wollen. Also würde Jakob ihm einen guten Anzug, ein frisches Hemd und passende Schuhe herauslegen.

***

Mit einem unterdrücken Gähnen schleppte sich Pauline zu der Nische, in der die Leiter zu ihrem Hängeboden verstaut war. Ihre Augen brannten; sie war seit dem frühen Morgen auf den Beinen, inzwischen war es nach neun Uhr abends. Sie wollte nichts anderes mehr als in ihr Bett fallen und schlafen. Jeder einzelne Muskel tat ihr weh. Sie hatte heute der Wäscherin helfen müssen. Das bedeutete, dass sie unzählige Wäschekörbe schleppen, Leib- und Tischwäsche einweichen mussten – die guten Kleider der gnädigen Frau und ihrer Töchter wurden selbstverständlich gesondert gereinigt. Sobald die Sachen getrocknet waren, mussten sie gebügelt werden. Tine und Elfie würden ihr morgen zeigen, wie das ging, denn Pauline hatte noch nie in ihrem Leben ein Bügeleisen benutzt. Eines hatte sie aber schon in Erfahrung gebracht: Bügeln war eine ebensolche Plackerei wie das Waschen. Und zeitraubend obendrein. Doch darüber wollte sie heute Abend nicht mehr nachdenken.

Sie stellte die Leiter auf und hatte gerade drei Sprossen erklommen, als sie hinter sich Schritte vernahm. «Pauline, gut, dass du noch auf bist.»

Pauline verdrehte die Augen und kletterte wieder hinab. «Ja bitte, gnädiger Herr? Kann ich etwas für Sie tun?»

«Meine Gemahlin ist unpässlich. Sie wünscht, ihre Kopfschmerzmedizin einzunehmen und außerdem einen Tee. Bring ihr beides hinauf, so schnell es geht.»

«Natürlich, gnädiger Herr. Sofort.»

Pauline wollte sich bereits abwenden, doch ein Räuspern des Hausherrn hielt sie auf. «Willst du die Leiter etwa hier stehenlassen? Es könnte sich jemand auf dem Weg zur Hintertür daran stoßen.»

«Oh, natürlich. Entschuldigen Sie, gnädiger Herr.»

Pauline machte wieder kehrt und beeilte sich, das Hindernis aus dem Weg zu räumen.

Er nickte zufrieden und ging zurück in die Bibliothek, in der er die meisten Abende verbrachte, wenn er sich nicht mit Freunden auswärts traf.

Seufzend ging sie in die Küche. Die Köchin war natürlich längst zu Bett gegangen. Sie hatte ihr Lager in einem Verschlag neben der Speisekammer. Von dort und vom Hängeboden über der Küche, wo Elfie und Tine schliefen, war leises Schnarchen zu hören.

Rasch stellte Pauline den Wasserkessel auf den Herd. Zum Glück war noch ein wenig Glut darin, sodass es nicht allzu lange dauern würde, bis sie das Feuer entfacht hatte.

Während sie darauf wartete, dass das Wasser zu kochen begann, ging sie hinüber in die Speisekammer, um den Tee sowie die Kräutermischung für die Medizin der gnädigen Frau zu holen. Einen Moment lang blickte sie sich in der geräumigen Speisekammer um. Neben der Tür im Regal stand ein großer Topf mit dünner Gemüsesuppe für die Bediensteten. Daneben lag ein altbackenes, schimmliges Brot. Auch dies würden sie morgen zu essen bekommen. Frau Stein hielt nichts davon, Lebensmittel wegzuwerfen, auch nicht, wenn sie bereits verdorben waren. In den drei Wochen, in denen Pauline nun fest angestellt war, hatte sie so manche saure Milch, vergorene Suppe oder angeschimmeltes Brot vorgesetzt bekommen.

«Der Hunger treibt’s rein», pflegte Tine zu sagen. Zweimal hatte Pauline sich nach dem Essen bereits übergeben müssen. Die anderen Dienstboten hatten sie ausgelacht und gemeint, sie würde sich schon noch daran gewöhnen.

Pauline hatte sich bereits an so einiges gewöhnt. An die harte Arbeit, die niemals ein Ende zu nehmen schien, an die schlechte Laune ihrer Arbeitgeberin, die sie bevorzugt an den Dienstmädchen ausließ. Inzwischen hatte diese zumindest nichts mehr am Aussehen von Paulines Händen auszusetzen. Die anfängliche Weichheit war kaum noch erkennbar, Schwielen gab es nun genug. Anfangs hatte sie sich mehrmals die Haut aufgerissen. Doch mittlerweile hatte sich vom Tragen der schweren Holzeimer oder der Säcke mit Mehl oder Kartoffeln für die Köchin Hornhaut gebildet.

Als das Wasser zu kochen begann, nahm Pauline den Kessel vom Feuer und goss den Tee auf. In Ermangelung einer Uhr musste sie die Sekunden zählen, damit das Gebräu nur ja nicht zu lange zog. Frau Stein hatte diesbezüglich strenge Anweisungen gegeben. Dann goss sie weiteres Wasser in einen zweiten Becher, mischte die Medizin hinein und stellte ihn auf ein Tablett.

Während sie zählte, rieb sie sich die Augen. Wenn sie sich jetzt hinsetzte, würde sie gewiss einnicken, also begann sie in der Küche auf und ab zu gehen. Dabei wanderten ihre Gedanken ab zu der Zeit, die sie mit ihrem Onkel in Bad Bertrich verbracht hatte. Wie sehr sie ihn vermisste! Wenn er sie jetzt sehen könnte, würde es ihm gewiss das Herz brechen. Er hatte doch immer nur das Beste für sie gewollt. Wenn er nicht so unvermittelt und viel zu früh gestorben wäre …

Pauline stieß mit der Hüfte gegen den Küchentisch und erschrak. Sie hatte zu zählen aufgehört! Was, wenn der Tee nun nicht richtig war? Vorsichtig tauchte sie die Spitze des Zeigefingers in die Tasse und probierte die Flüssigkeit. Sicherheitshalber blickte sie sich um, ob auch niemand sie bei dieser verbotenen Tat beobachtet hatte. Der Tee schien in Ordnung zu sein, also hob sie das kleine Sieb heraus und entsorgte die Teeblätter. Dann rührte sie noch einmal die Kräutermedizin um und trug beides in das Obergeschoss, wo sich das Schlafzimmer ihrer Herrschaft befand. Auf ihr leises Klopfen hin erlaubte Frau Stein ihr einzutreten. Die Hausherrin saß im rüschenverzierten Nachthemd im Bett. Ihre Leidensmiene verriet, dass sie wieder einmal unter einer der schlimmen Kopfschmerzattacken litt, die sie mindestens zweimal pro Woche ereilten. Pauline reichte ihr erst die Medizin und dann die Teetasse. Ariane Stein nickte ihr nur knapp zu. «Der Tee ist gut, Pauline. Anscheinend bist du die Einzige im Haus, die verstanden hat, wie er sein soll. Hach, wenn nur diese Kopfschmerzen nicht wären! Grässlich, grässlich. Pauline, geh nach unten und mach mir einen Kräuterumschlag. Ich fürchte, ich werde sonst nicht schlafen können. Und wenn es morgen früh nicht besser ist, musst du zum Apotheker gehen und mir mehr von der Medizin holen.»