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Jahrhundertelang baute das gewaltige Eisenboot-Handelssyndikat auf Drachenblut – und die außergewöhnlichen Kräfte, die es verleiht. Als die Drachenblutlinien versiegen und Kundschafter ausgesandt werden, um neue Quellen zu entdecken, kommt ein verheerendes Szenario in Gang. Claydon Torcreek ist einer der Überlebenden der gefahrvollen Reise durch das unerforschte Hinterland des Corvantinischen Reiches. Statt der neuen Blutquellen, die die Zukunft seines Volkes hätten sichern können, entdeckt er jedoch einen Albtraum. Der legendäre Weiße Drache ist aus seinem Jahrtausende währenden Schlaf erwacht und giert danach, die Welt der Menschen in Schutt und Asche zu legen. Und noch schlimmer: Er befehligt eine Armee aus Verderbten, die ihm hörig sind.
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Seitenzahl: 1016
Anthony Ryan
Das Heer des Weißen Drachen
Draconis Memoria Buch 2
AUS DEM ENGLISCHEN VON SARA RIFFEL & BIRGIT MARIA PFAFFINGER
Klett-Cotta
Hobbit Presse
www.hobbitpresse.de
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»The Legion of Flame. Book Two of the Draconis Memoria« im Verlag
ACE Books, The Penguin Group (USA) New York 2017
© 2017 by Anthony Ryan
Für die deutsche Ausgabe
© 2018, 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Cover: © Birgit Gitschier, Augsburg
Unter Verwendung einer Illustration von © Federico Musetti
Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde
Printausgabe: ISBN 978-3-608-98363-0
E-Book: ISBN 978-3-608-11087-6
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Karten
I
Die
Ernte
II
Unter einem sternenlosen Himmel
III
Ruf zu den Waffen
Dramatis Personae
Die Regeln des Pastasch
Dank
Für Robin, Norman und Nick, weil wir auf der Seite der Guten gekämpft haben.
I
•••
BEKANNTE SCHÖNHEIT BEI BRAND IN SANATORIUM UMGEKOMMEN
Große Trauer um die »Königin der mandinorianischen Gesellschaft«Privilegiertes Leben endet in Wahnsinn und Flammen
Die wohlhabende Familie Dewsmine trauert um ihre berühmteste Tochter – die ehemals schöne und bezaubernde Catheline –, die im Alter von nur fünfundzwanzig Jahren einen tragischen Tod fand. Es ist kaum zu glauben, dass Catheline vor nicht einmal vier Jahren von ebendiesem Magazin zur Königin der mandinorianischen Gesellschaft erklärt wurde. Mit ihrer strahlenden, vitalen Präsenz auf jedem Ball und bei jeder Zusammenkunft der Führungsschicht vollzog sie einen kometenhaften gesellschaftlichen Aufstieg und schuf sich dabei zahlreiche Bewunderer und nicht wenige scharfzüngige Feinde. Was meine Wenigkeit betrifft, so kann ich bezeugen, dass sie sowohl als »Frau von himmlischer Anmut und grenzenloser Güte« wie auch als »giftige Harpyie mit rasiermesserscharfen Klauen, die sich auf jeder Matratze zu Hause fühlt«, bezeichnet wurde. Wie die Wahrheit auch lauten mag, es steht außer Frage, dass die mandinorianische Gesellschaft nach Cathelines Ableben ein langweiligerer Ort sein wird.
Die Prominenz ihrer Familie geht zurück auf die Zeit des Großreichs. Damals schöpften die Dewsmines ihren Reichtum aus verschiedenen Ländereien, welche ihnen Königin Arrad III. als Dank für ihre Dienste im Kampf gegen die Corvantiner zugesprochen hatte. Zu Beginn des Unternehmenszeitalters erwarben sie als eine der ersten Adelsdynastien Anteile am damals neu gegründeten Eisenboot-Syndikat und mehrten in den kommenden Dekaden ihren Reichtum durch die stetig wachsenden Einkünfte aus den arradsianischen Niederlassungen des Syndikats. Dennoch begnügten sich die Dewsmines nicht einfach damit, die Früchte einer guten Investition zu genießen, sondern nahmen ihre unternehmerischen Pflichten stets ernst. Alle Söhne und Töchter haben dem Syndikat auf einer der unteren Ebenen beizutreten, in der Annahme, dass sie es dank ihrem angeborenen Ehrgeiz und ihrer Intelligenz über kurz oder lang zu einer standesgemäßeren Position bringen werden. Und tatsächlich ist einigen dieser Sprösslinge sogar der Sprung in den Vorstand gelungen.
Catheline erwies sich jedoch als spektakuläre Ausnahme von dieser Regel, sehr zur Bestürzung ihrer Eltern – wie es heißt. Keine Familie, so vornehm sie auch sein mag, ist vom Blut-Los ausgenommen, und der Segen nimmt keine Rücksicht auf Rang und Namen. Während er für blutgesegnete Kinder aus weniger wohlhabenden Verhältnissen ausnahmslos einen Weg aus der Gosse bedeutet, stellt er für Kinder der Führungsschicht einen Fluch dar, da er zwangsläufig den Verlust von Familie, Freunden und eines Anteils am Vermögen der Dynastie mit sich bringt. Catheline blieb dieses Schicksal allerdings erspart, nachdem das Blut-Los ihre wahre Natur offenbart hatte. Als sie aufgefordert wurde, ihre Sachen zu packen und sich nach Arradsia zu begeben, um an der Eisenboot-Akademie für Frauenbildung zu studieren, weigerte sie sich schlichtweg und bekam, was ein früheres Hausmädchen der Familie als »Urvater aller Schreikrämpfe« beschrieb. Obwohl in der Unternehmenswelt jeder Einzelne den Bestimmungen hinsichtlich Ausbildung und Anstellung von Blutgesegneten unterliegt, erreichten die Dewsmines dank umfangreicher und kostspieliger juristischer Hilfe sowie einer kreativen Auslegung des Unternehmensrechts eine »außerordentliche Freistellung« für Catheline, mit der Begründung, sie sei von »zu empfindlicher Natur«, um auf solch grausame Weise dem Schoß ihrer Familie entrissen zu werden.
Anstatt also im Laufe mehrerer Jahre und unter der sachkundigen Aufsicht von renommierten Mitarbeitern der Akademie den richtigen Umgang mit ihren Gaben zu erlernen, erhielt Catheline zu Hause Privatunterricht von verschiedenen blutgesegneten Tutoren. Auch wenn sie nur selten in der Öffentlichkeit von ihren Fähigkeiten Gebrauch machte, gibt es doch zahlreiche Berichte über ihr besonderes Talent im Umgang mit Rot. So erzählte eine Dienstbotin, dass sie aus gut fünfzig Metern Entfernung eine Kerze anzuzünden vermochte, während eine andere beschrieb, wie Catheline in einem Tobsuchtsanfall einen ganzen Obsthain in Brand steckte. Im Sinne einer ausgewogenen Berichterstattung sei jedoch gesagt, dass ihre Familie diesen Vorfall abstritt.
Selbstverständlich erregte Cathelines außergewöhnliche Position das Interesse von Presse und Öffentlichkeit gleichermaßen, und ihr Heranreifen wurde ein beliebtes Thema in zahlreichen Magazinen, die es für angebracht hielten, wiederholt über geröstete Katzen, ausgeweidete Welpen und aus den Fenstern der oberen Stockwerke gestoßene Dienstmädchen zu berichten – was stets aufs Neue dementiert wurde. Da diese mutmaßlichen Vorfälle nie strafrechtlich verfolgt wurden, kann ihr Wahrheitsgehalt leider nicht bestätigt werden. Allerdings ist dem Berichterstatter aufgefallen, dass einige ehemalige Hausangestellte der Dewsmines trotz diverser Behinderungen infolge von Langzeitschäden einen recht angenehmen Ruhestand genießen.
Cathelines Status als interessante, wenn auch unbedeutende Kuriosität sollte sich mit ihrem Debüt bei einer hochkarätigen Veranstaltung der Führungsschicht schlagartig ändern. Sie war erst siebzehn, aber bereits, wie ein Kollege damals schrieb, »der nahezu vollkommene Inbegriff weiblichen Liebreizes«. So gelang es ihr auf dem jährlichen Debütantinnenball im Festsaal von Sanorah, alle in ihren Bann zu ziehen. Gerüchten zufolge erhielt sie in der darauffolgenden Woche nicht weniger als sechs Heiratsanträge, allesamt von angesehenen Männern in hohen Positionen, von denen einer bereits verheiratet war. Doch Catheline war nicht so leicht zu bezirzen, und ihre rauschende, wenn auch kurze Karriere im Mittelpunkt der mandinorianischen Gesellschaft zeichnete sich durch das Fehlen einer Verlobung oder ernsthafter Liebschaft aus. Gerüchte über Tändeleien gab es zuhauf, aber derlei Klatsch und Tratsch ist unter der Würde des Berichterstatters.
Allem Gerede zum Trotz wurde Catheline im Laufe eines Jahres zum begehrtesten Gast bei allen namhaften Veranstaltungen und erzielte ein beträchtliches Einkommen aus der Werbung für verschiedene Modehäuser und Kosmetikhersteller. Schon bald war ihr Photostat überall zu sehen, wenngleich die Bilder ihrer beinahe schon ätherischen Schönheit nicht einmal annähernd gerecht wurden. Um in deren vollen Genuss zu kommen, musste man das Glück haben, sich in Cathelines Nähe zu befinden. Statt einfach nur den gängigen Schönheitsidealen zu entsprechen, verströmte sie eine gewisse Andersartigkeit. Auch auf das Risiko hin, der Übertreibung bezichtigt zu werden, ist der Berichterstatter der Meinung, dass es Catheline unter Zuhilfenahme ihrer blutgesegneten Fähigkeiten irgendwie gelang, sich über ihr banales Menschsein zu erheben. Mehr als ein Zeuge hat die süchtig machende Wirkung ihrer Gesellschaft beschrieben, das Gefühl der Lähmung, wann immer einen ihr Blick traf, den fast schon verzweifelten Wunsch, in ihrer Gegenwart zu verweilen, und das schmerzhafte Zusammenziehen des Herzens, wenn einem dies verwehrt wurde.
Leider war ihr Höhenflug von viel zu kurzer Dauer. Erste Anzeichen, dass mit Catheline etwas nicht stimmte, offenbarten sich bei der Feier zu ihrem zwanzigsten Geburtstag – einer wahrhaft opulenten Veranstaltung, die zur Gänze vom Bekleidungs- und Accessoiresektor des Alebond-Handelskonglomerats finanziert wurde. Allen Berichten zufolge war Catheline den Großteil des Abends gewohnt charmant und unwiderstehlich, trotz eines unschönen Vorfalls, bei dem einer ihrer Verehrer sein Begehr etwas zu forsch zum Ausdruck brachte und vor die Tür gesetzt wurde. Ob diese Episode sie so in Wallung versetzt hatte oder eine bislang verborgene Gemütskrankheit dahintersteckte, vermag niemand zu sagen. Auf jeden Fall verfiel Catheline Dewsmine gegen Ende des Abends in Kauderwelsch. Es begann als unverständliches, kehliges Gemurmel – und der Gedanke daran jagt dem Berichterstatter auch fünf Jahre später noch Schauer über den Rücken. Die Eile, mit der ihre Familie Catheline aus dem Ballsaal bugsierte, ließ erahnen, dass es sich nicht um den ersten Vorfall dieser Art handelte. Dabei verlor sie indes vollends die Fassung. Das Gemurmel steigerte sich zum Geschrei, und ihr perfektes Antlitz verwandelte sich in eine hässliche, scharlachrote Fratze. Während man sie davonzerrte, schlug sie wild um sich, spuckte und biss. Ihre Worte hallten in dem bestürzten Schweigen wider, das hinter ihr zurückblieb. Ich werde sie nie vergessen: »Er ruft nach mir! Er verspricht mir die Welt!«
Von da an wurde Catheline Dewsmine nie wieder in der Öffentlichkeit gesehen. Alle Fragen nach ihrem Befinden wurden von der Familie harsch zurückgewiesen, allerdings berichteten etliche Dienstboten später von einer hässlichen Phase, in der ihre Eltern versuchten, sie zu Hause zu pflegen. Nerven- und Allgemeinärzte kamen und gingen, verschiedene Heilmittel wurden verschrieben, neue und experimentelle Grün-Destillate dargereicht. Doch nichts half. Zuverlässigen Zeugen zufolge war Catheline zu diesem Zeitpunkt bereits völlig und unheilbar dem Wahnsinn anheimgefallen. Noch vor ihrem einundzwanzigsten Geburtstag wurde sie ins Ventworth-Sanatorium für Geisteskranke eingewiesen, eine von Eisenboot unterhaltene Institution für die Betreuung und Behandlung gemütskranker Blutgesegneter. Schon bald war Catheline aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden und musste nur noch gelegentlich für gemeine Scherze oder Karikaturen herhalten. Ohne diesen schrecklichen Vorfall vor zwei Tagen wäre sie wohl über kurz oder lang vollständig in Vergessenheit geraten.
Die Ursache für das Feuer, welches das Ventworth-Sanatorium verwüstete, konnte noch nicht festgestellt werden. Aus offensichtlichen Gründen herrscht auf dem Gelände ein völliges Produkt-Verbot und die Patienten unterliegen genauer Beobachtung. Fest steht, dass zwei Stunden nach Mitternacht im Westflügel ein gewaltiges Feuer ausbrach und schon bald auf das gesamte Gebäude übergriff. Nur sechs Angestellte und drei Patienten kamen mit dem Leben davon. Tragischerweise war Catheline nicht unter ihnen. Der Brandschutz- und Sicherheitsdirektor des Eisenboot-Protektorats erklärte in einer ersten Stellungnahme, das Feuer habe im Gebäudeinneren seinen Anfang genommen und die Ursache müsse erst noch ermittelt werden. Zudem sei aufgrund des Zustands der Ruine eine genaue Bestimmung der Opfer derzeit nicht möglich.
So also ist Catheline Dewsmine, eine unvergleichliche Schönheit und einst so etwas wie eine Königin, auf eine Art und Weise aus der Welt geschieden, wie man sie sich schlimmer nicht vorstellen kann. Ihr Licht scheint nicht länger auf uns, und die Welt ist, der bescheidenen Meinung des Berichterstatters nach, seither ein dunklerer Ort.
Leitartikel im Sanoraher Aufklärer vom 35. Verester 1600 (211 Unternehmenszeitrechnung) – von Sigmend Talwick, Chefredakteur
Katryas Weinen weckte ihn. Ein leises Wimmern in der Dunkelheit. Mittlerweile hatte sie gelernt, nicht mehr laut zu schluchzen, wofür Sirus dankbar war. Majack hatte gedroht, sie zu erwürgen, als sie in der ersten Nacht dicht aneinandergedrängt in der stinkenden Flut saßen – Katrya an Sirus gepresst, die Arme fest um ihn geschlungen, ohne Unterlass weinend.
»Bring sie zum Schweigen!«, hatte Majack geknurrt und sich an der mit grünem Schleim überzogenen Kanalwand hochgestemmt. Seine Uniform war zerschlissen, und das Gewehr hatte er irgendwo oben im Chaos verloren. Aber er war groß gewachsen, und mit seinen starken Soldatenhänden packte er Katryas durchnässte Bluse. »Halt’s Maul, du blöde Schlampe!«
Er ließ von ihr ab, als Sirus ihm das Messer gegen die Kehle drückte. »Lass sie in Ruhe«, flüsterte er, erstaunt, wie fest seine Stimme klang. Die Klinge, ein breites Metzgerwerkzeug aus der Küche seines Vaters, war von der Spitze bis zum Schaft dunkelrot gefärbt – ein Souvenir vom Beginn ihrer Reise, die sie an diesen grässlichen Zufluchtsort geführt hatte.
Majack bleckte herausfordernd die Zähne, sah dem Jungen mit dem blutigen Messer in die Augen und erkannte genug bitteres Versprechen darin, um die Hände sinken zu lassen. »Sie wird sie noch zu uns führen«, krächzte er.
»Dann kannst du hoffentlich schneller rennen als wir«, entgegnete Sirus, steckte die Klinge weg und zog Katrya tiefer in den Tunnel. Er drückte sie an sich und flüsterte ihr beschwichtigende Lügen ins Ohr, bis ihr Schluchzen zu einem kläglichen Wimmern wurde.
In dieser ersten Nacht waren sie zu zehnt, zehn verzweifelte Seelen, die sich im unterirdischen Schmutz aneinanderdrängten, während über ihnen Morstal zugrunde ging. Majacks Angst zum Trotz lockte Katryas Schluchzen ihre Feinde nicht an. Weder in dieser noch in der nächsten Nacht. Die anhaltende Kakophonie, die durch die Gitter drang, wies darauf hin, dass die Eindringlinge genug Zerstreuung hatten, zumindest vorerst. Doch dieser Zustand war natürlich nicht von Dauer.
Aus zehn wurden neun, als der Hunger sie am fünften Tag nach draußen trieb, um Vorräte zu suchen. Sie warteten, bis es dunkel war, und kletterten dann durch einen Gully zur Tickerstraße hinauf, wo es die meisten Lebensmittelgeschäfte der Stadt gab. Auf den ersten Blick war alles ruhig, kein aufgeschreckter Drache, der mit schrillen Schreien Alarm schlug, keine Verderbten-Patrouille, die sie zurück in die Kanalisation jagte. Majack trat eine Ladentür ein, und sie füllten mehrere Säcke mit Zwiebeln und Kartoffeln. Als sie fertig waren, wollte Sirus den Rückweg antreten, aber wegen der vorherrschenden Ruhe waren die anderen inzwischen überzeugt, dass die Ungeheuer fort waren, und beschlossen, ihr Glück auch noch bei einem nahe gelegenen Metzger zu versuchen. Sie befanden sich gerade, beladen mit Rinder- und Schweinekeulen, auf dem Rückweg durch eine schmale Gasse, die zum Hailwell-Markt führte, als es geschah.
Ein plötzliches heiseres Knurren, das kurze Aufblitzen eines vorbeiwischenden Schwanzes, und eine von ihnen war fort. Es traf eine Frau mittleren Alters, die einen kleinen administrativen Posten beim Kaiserlichen Ring bekleidet hatte. Ihre letzten Worte waren ein abgehacktes Flehen um Hilfe, ehe der Drache sie über den Rand eines Daches zerrte. Die anderen warteten nicht, bis die Schreie einsetzten, sondern hetzten zurück zum Unterschlupf, wobei sie in der Eile die Hälfte ihrer Beute verloren. Im Versteck angekommen, flohen sie noch tiefer. Simleon, ein spindeldürrer Junge mit krimineller Vergangenheit, kannte sich in dem Labyrinth aus Rohren und Tunneln aus und brachte sie zu einer Stelle, wo die einzelnen Ströme zusammenliefen und das Abwasser sich in einen breiten Schacht ergoss, der ins Meer führte. Zunächst war der rauschende Strom eine einzige stinkende Brühe, doch im Laufe der Tage wurde das Wasser immer sauberer.
»Glaubt ihr, dass oben noch jemand am Leben ist?«, fragte Majack einmal. Seit ihrem verlustreichen Streifzug mochte etwa ein Monat vergangen sein, aber hier unten verlor man die Zeit aus den Augen. Majack starrte mit leerem Blick auf das vorbeiströmende Wasser. Seine Feindseligkeit war einer stumpfen Teilnahmslosigkeit gewichen, die dem Hunger und der Verzweiflung geschuldet war. Obwohl sie ihre Vorräte streng rationierten, blieben ihnen vielleicht noch zwei Tage, ehe das Essen ausging.
»Keine Ahnung«, murmelte Sirus, allerdings vermutete er stark, dass er und die anderen acht hungrigen Seelen die letzten Überlebenden der Bevölkerung von Morstal darstellten.
»Es war nicht unsere Schuld.« Majack wandte sich Sirus zu, die Teilnahmslosigkeit war aus seinem Blick verschwunden, und seine Stimme klang flehend. »Es waren zu viele. Tausende von diesen Drachen und Verderbten. Bis auf eine Handvoll Männer hatte Morradin die Garnison für den Kampf gegen die Unternehmen abgezogen. Wir hatten keine Chance …«
»Ich weiß«, erwiderte Sirus kurz angebunden. Er hörte dieses Lamento nicht zum ersten Mal und wusste, dass Majacks selbstmitleidiges Gejammer sich über Stunden ziehen konnte, wenn man ihn ließ.
»Hundert Schuss für jeden, mehr hatten wir nicht. Eine einzige Batterie Kanonen, um eine ganze Stadt zu verteidigen …«
Mit einem Stöhnen wandte Sirus sich ab und ging vorsichtig über den feuchten Steinboden zu Katrya, die auf einem Vorsprung neben einem der größeren Rohre lag. Sie hielt eine Hand unter die sich daraus ergießende Kaskade, die schlanken Finger weit aufgefächert. »Glauben Sie, es ist schon sauber genug zum Trinken?«, fragte sie. Sie hatten vielleicht noch anderthalb Flaschen Wein – ihre einzige nicht verseuchte Flüssigkeit.
»Nein.« Er setzte sich, ließ die Beine über den Vorsprung baumeln und beobachtete, wie das Wasser in dem dunklen Schacht verschwand. Er hatte bereits mehrmals erwogen zu springen, allerdings nicht in selbstmörderischer Absicht. Simleon zufolge floss das Wasser in einen großen unterirdischen Tunnel, der ins Meer führte. Wenn sie den Sturz überlebten, mochte ihnen vielleicht die Flucht gelingen. Wenn sie überlebten …
»Sie denken schon wieder an sie, nicht wahr?«, fragte Katrya.
Sirus musterte sie scharf und war versucht, sie ruppig an ihre Position zu erinnern. Vergiss nicht, dass du nichts weiter bist als eine Dienstbotin im Haus meines Vaters, Fräulein. Doch dann trafen sich ihre Blicke, und die Worte blieben ihm im Hals stecken, als er den trotzigen Vorwurf in ihren Augen bemerkte. Wie die meisten Dienstboten seines Vaters hatte auch Katrya seine peinliche, aber unauslöschliche Besessenheit missbilligt.
»Genau genommen, nein«, sagte er und deutete mit dem Kinn auf den Schacht. »Nach unten sind es fünfundzwanzig Meter, sagt Simleon.«
»Das ist Selbstmord«, entgegnete sie knapp.
»Vielleicht. Aber so wie ich das sehe, gehen uns langsam die Alternativen aus.«
Sie zögerte, dann rutschte sie näher heran und legte den Kopf auf seine Schulter, eine allzu vertraute Geste, die noch vor wenigen Wochen völlig undenkbar gewesen wäre. »Oben ist es schrecklich ruhig«, sagte sie. »Vielleicht sind sie ja weg. Weitergezogen nach Kerberhafen. Das glauben jedenfalls ein paar von den anderen.«
Weitergezogen. Warum auch nicht? Was soll sie hier auch halten, nachdem sie alle niedergemetzelt haben? Die Vorstellung war unerträglich verlockend … und gefährlich. Was sind die Alternativen?, fragte er sich, und die Düsternis des Schachts zog erneut seinen Blick an.
»Ihr Vater wäre wenigstens nachsehen gegangen«, sagte Katrya sanft. Obwohl sie weder feindselig noch anklagend klang, schob Sirus sie weg und stand auf.
»Mein Vater ist tot«, erklärte er. Im Weggehen überkam ihn die Erinnerung an das letzte Verhör. Der Kader-Agent, der am Fuß seines Bettes saß und ihn mit arglistigem Blick betrachtete, wirkte auf seine Art noch furchterregender als die Männer, die Sirus in diesem Keller gefoltert hatten. »Wo ist sie? Wohin könnte sie gegangen sein?« Aber er hatte keine Antwort außer einer: »Weit weg von mir.«
Tatsächlich konnte er sich kaum an Tekelas Flucht erinnern. Die Stunden davor waren so von Schmerz und Angst geprägt gewesen, dass die Erinnerung daran nicht klar in sein Gedächtnis eingegangen war. Man hatte ihn kurz nach dem Tod seines Vaters verhaftet, ein halbes Dutzend Kader-Agenten hatte die Tür aufgebrochen und ihn aus dem Bett gezerrt, Fäuste und Knüppel waren die einzige Antwort auf seine gestammelten Fragen und Proteste gewesen. Als er das Bewusstsein wiedererlangte, war er an einen Stuhl gefesselt, und Major Arberus starrte ihm streng mahnend in die Augen. Arberus war, wie Sirus schnell feststellte, ebenfalls gefesselt und saß zu seiner Rechten. Ebenso Tekela. An den Ausdruck auf ihrem Puppengesicht konnte er sich noch erinnern, denn er hätte ihn nie dort zu sehen erwartet: tiefe, unverhohlene Schuld.
»Es tut mir leid«, hauchte sie, und Tränen liefen ihr über die Wangen. In diesem Augenblick schlugen seine Gefühle um: die Besessenheit, die er Leidenschaft genannt hatte, die Selbsttäuschung, die ihn veranlasst hatte, bei jeder Gelegenheit einen völligen Narren aus sich zu machen und Gedichte zu schreiben, von denen er tief im Herzen wusste, dass sie grässlich waren. Seine einzig wahre Liebe war nichts weiter als ein schuldgeplagtes Mädchen, das an einen Stuhl gefesselt war und würde zusehen müssen, wie er starb.
Ihre Aufseher waren zwei Männer mittleren Alters in Lederschürzen und von unauffälligem Erscheinungsbild, die ihrer Arbeit mit der Effizienz erfahrener Handwerksleute nachgingen. Als Erstes nahmen sie sich den Major vor, und Sirus verschloss fest die Augen vor dem grausigen Schauspiel, das von Tekelas Schreien untermalt wurde. Als Arberus das Bewusstsein verlor, wandten sie sich Sirus zu, und er erfuhr zum ersten Mal im Leben, was echte Schmerzen waren. Sie stellten ihm Fragen, die er nicht beantworten, Forderungen, denen er nicht Folge leisten konnte. Er wusste, dass es dabei um nichts ging, es war nur eine weitere Form der Druckausübung, ein Theater für Tekela. Er konnte nicht sagen, wie lange es dauerte, aber es erschien ihm wie eine Ewigkeit. Dann irgendwann verlangsamte sich sein Herzschlag und verebbte zu einem schwachen Trommeln in der Brust, das ihm sagte, dass sein Abschied aus dieser Welt unmittelbar bevorstand. Der Keller wurde zu einem Nebel entfernter Geräusche und Gefühle. Irgendwann hörte er Schreie und Schläge, Kampfgeräusche, doch er hielt sie für eine Einbildung seines schwindenden Geistes. Trotz aller Wirrnis war ihm der Moment, als sein Herz zu schlagen aufhörte, in Erinnerung geblieben. Er hatte von Menschen gelesen, die von der Schwelle des Todes zurückgekehrt waren und von einem hellen, lockenden Licht berichteten; ihm allerdings war dieser Anblick verwehrt. Es gab nur Schwärze und die entsetzliche, bedeutungsschwere Stille seines nicht mehr pochenden Herzens.
Der Kader holte ihn zurück, aber es war knapp gewesen, wie sein Arzt ihm bereitwillig mitteilte. Er war ein fröhlicher Mann mit dem melodiösen Akzent der nördlichen Provinzen. In seinem Blick lag jedoch eine gewisse Härte, die vermuten ließ, dass er ebenso viel darüber wusste, Leben zu nehmen, wie sie zu retten. Tagelang kümmerte er sich um Sirus, verabreichte ihm großzügige Mengen Grün und andere Medikamente, bis er so gut wie möglich wiederhergestellt war und die unzähligen Narben auf seiner Brust zu einem schwachen Muster ineinander verwobener Linien verblichen waren. Allerdings war er sich bewusst, dass dies nur eine Verschnaufpause war. Der Kader war noch lange nicht mit ihm fertig.
Der Mann, der kam, um ihn zu verhören, war klein und schlank. Er trug den typischen, nichtssagenden schwarzen Anzug der Kader-Agenten, doch eine kleine Anstecknadel am Revers unterschied ihn von den anderen. Sie war rund und mit einem Eichblatt versehen, wie es sich auch im kaiserlichen Wappen fand. Sirus war zwar noch nie jemandem mit diesem Abzeichen begegnet, doch wusste jeder Bürger des Kaiserreichs nur zu gut, was es bedeutete. Ein Agent des Blutkaders.
»Sie hat Sie zurückgelassen«, waren die ersten Worte des Mannes, begleitet von einem mitleidigen Lächeln. »Nichts härtet das Herz eines Mannes so gut wie unerwiderte Liebe.«
Der Agent begann, ihm zahlreiche Fragen zu stellen, doch aus Gründen, die Sirus noch immer nicht ganz verstand, verzichtete der Kader fortan auf direktere Verhörmethoden. Vielleicht, weil er bereitwillig kooperierte, nachdem seine Erfahrungen im Keller ihm jegliche Ambitionen in Bezug auf nutzlose Tapferkeit geraubt hatten. »Mein Vater und Burggraf Artonin arbeiteten gemeinsam an eigenen Projekten. Sie bezogen mich da nicht ein.«
»Der Apparat.« Der Agent beugte sich in seinem Stuhl vor, so einfach ließ er sich nicht abspeisen. »Sie müssen doch etwas darüber wissen. Denken Sie daran, dass Ihr weiteres Wohlergehen davon abhängt.«
Nichts, dachte Sirus und erinnerte sich daran, wie eifersüchtig sein Vater über die Artefakte gewacht hatte, die für ihn und seinen hochgeschätzten Gelehrtenzirkel von Interesse waren. Ich weiß gar nichts. Früher hatte er sich die Illusion erlaubt, dass diese Vorsichtsmaßnahme seinem Schutz galt. Je weniger er wusste, desto weniger Interesse würde der Kader an ihm zeigen. Eigentlich jedoch war er sich im Klaren darüber, dass sein Vater nicht genug Herz besaß, um sich derart um ihn zu sorgen. Ihm war es allein um die Wahrung seines Berufsgeheimnisses gegangen. Sein Vater war auf etwas von großer Bedeutung gestoßen, etwas, das alles auf den Kopf stellen konnte, was über diesen Kontinent und seine Geschichte bekannt war. Wie viele Gelehrte wollte auch Diran Akiv Kapazin seinen Ruhm ungern teilen. Sirus hatte nur gelegentlich einen Blick auf das Artefakt und die Aufzeichnungen seines Vaters erhascht. Es war und blieb ein unergründliches, wenn auch spannendes Rätsel.
»Ich war in … einige Details eingeweiht«, log er.
»Genug, um das Gerät nachzubauen?«
»Wenn ich …« Er verschluckte sich, die Lügen kamen ihm nur schwer über die ausgetrockneten Lippen. Der Agent trat an sein Bett, schenkte ihm ein Glas Wasser ein und hielt es ihm an den Mund. »Wenn ich genug Zeit hätte«, presste Sirus hervor, nachdem er den Inhalt des Glases hinuntergestürzt hatte.
Der Mann machte einen Schritt zurück und schürzte nachdenklich die Lippen. »Zeit ist, so fürchte ich, unser beider Feind, junger Herr. Sie müssen wissen, dass ich von einem äußerst anspruchsvollen Auftraggeber geschickt wurde, um das Gerät sicherzustellen. Jemand von Ihrer Intelligenz kann sich gewiss denken, von wem ich spreche.«
Nicht gewillt, den Namen auszusprechen, nickte Sirus.
»Sehr gut.« Der Agent stellte das Glas auf den Nachttisch. »Ich werde Sie gehen lassen, Sirus Akiv Kapazin. Sie werden Ihren Haushalt größtenteils unverändert vorfinden. Allerdings mussten meine Kollegen den Butler in Gewahrsam nehmen, und er hat die Befragung nicht überlebt. Sämtliche Unterlagen, die wir im Büro Ihres Vaters im Museum gefunden haben, erwarten Ihre sachkundige Überprüfung.«
So war er nach Hause zurückgekehrt und hatte es frei von Dienstboten vorgefunden, mit Ausnahme von Lumilla, der langjährigen Haushälterin seines Vaters, und ihrer Tochter Katrya. Offenbar hatte der Besuch des Kaders die anderen dazu bewogen, sich anderswo eine neue Anstellung zu suchen. Wochenlang brütete Sirus über den Dokumenten, erstellte unzählige Notizen, fertigte eine Skizze nach der anderen an und machte dennoch kaum Fortschritte. Der Agent kam ihn mehrmals besuchen und wirkte mit jedem Mal weniger beeindruckt.
»Drei Zahnräder?«, fragte er mit hochgezogener Augenbraue, als er Sirus’ neuestes Angebot begutachtete – eine schlichte, aber präzise ausgeführte Skizze. »Nach zwei Wochen zeigen Sie mir drei Zahnräder?«
»Sie bilden das zentrale Element der Apparatur«, erklärte Sirus, bemüht, möglichst überzeugt zu klingen. »Die exakte Bestimmung ihrer Größe ist der Schlüssel, um den gesamten Mechanismus zu rekonstruieren.«
»Und das sind die korrekten Maße?«
»Ich gehe davon aus.« Sirus durchsuchte den Papierstapel auf dem Schreibtisch seines Vaters und zog ein abgegriffenes Notizbuch hervor. »Mein Vater verwendete eine von ihm erfundene Kurzschrift, daher habe ich eine Weile gebraucht, um seine Aufzeichnungen zu entschlüsseln. Ich bin überzeugt, dass die Größe der Zahnräder in direkter Relation zu den Umlaufbahnen der drei Monde steht.«
Das Interesse des Agenten schien geringfügig zu wachsen, und er wandte sich wieder der Skizze zu. »Da könnten Sie recht haben, mein Herr. Allerdings …« – er seufzte und legte die Zeichnung beiseite – »habe ich in wenigen Stunden eine Blau-Trance-Sitzung mit unserem Auftraggeber, und ich fürchte, er wird von Ihren Fortschritten alles andere als beeindruckt sein. Er wird mich wohl leider instruieren, Sie zu größeren Anstrengungen zu bewegen.« Er ging zur Arbeitszimmertür. »Bitte begleiten Sie mich in die Küche.«
Dort schrubbte Katrya gerade ein paar Pfannen, während Lumilla das Abendessen vorbereitete. Sirus kannte sie fast sein ganzes Leben lang: eine lebhafte Frau mit runden Wangen und einem freundlichen Lächeln – das jäh erstarb, als sie den Agenten erblickte. »Welche der beiden liegt Ihnen weniger am Herzen?«, fragte dieser, zog eine Glasphiole aus einem Etui und nahm ein Quäntchen Schwarz zu sich.
»Bitte …«, setzte Sirus an, verstummte jedoch, als sich eine unsichtbare Hand um seinen Hals legte. Katrya wich vom Spülbecken zurück und erstarrte, die unsichtbare Gewalteinwirkung ließ ihren Oberkörper und ihre Glieder erzittern.
»Ich nehme an, dass Sie die Hübsche bevorzugen.« Der Agent zog Katrya auf Reichweite heran, ihre Schuhe schleiften über die Küchenfliesen. »Ich bin immer wieder erstaunt«, stellte der Agent fest und streichelte Katryas Wange, »was für einen angenehmen Anblick diese Gossegeborenen trotz ihrer niederen Herkunft mitunter abgeben.«
Mit einer Geschwindigkeit und Entschlusskraft, die Sirus ihr nie zugetraut hätte, packte Katryas Mutter ein Fleischermesser und stürzte sich auf den Agenten. Dieser ließ sie fast ganz herankommen und dann auf der Stelle erstarren, die bebende Messerspitze einen Zentimeter von seinem Gesicht entfernt.
»Sieht aus, als wäre Ihnen die Entscheidung soeben abgenommen worden, mein Herr«, stellte er fest und entließ Katrya aus seinem Griff. Sie sank zu Boden und streckte verzweifelt die Hände nach ihrer Mutter aus, die soeben in die Luft gehoben wurde.
»Wohlan, meine gute Frau.« Der Agent legte den Kopf schief und ließ Lumilla noch weiter abheben, wobei ihr das Messer entglitt und unter lautem Scheppern auf die Fliesen fiel. »Ich bin nicht grausamer als nötig. Also lasse ich es für heute bei einem Auge bewenden. Aber bei welchem …«
Er brach ab, als draußen ein lautes Krachen ertönte, das die Fensterscheiben zum Wackeln brachte. Er riss den Kopf herum, und für einen Moment trat leichte Verärgerung auf sein ansonsten ausdrucksloses Gesicht. Mehrere Sekunden lang geschah nichts, dann krachte es erneut, ebenso laut wie beim ersten Mal, und gleich darauf noch zweimal. Aller Angst zum Trotz erkannte Sirus das Geräusch: Kanonenfeuer.
»Wie merkwürdig«, sagte der Agent und trat ans Fenster, ohne von Lumilla abzulassen. Auf der Straße rannten Menschen vorbei, dutzendweise, und sahen immer wieder zum Himmel, die Gesichter blass und verängstigt. Dann erklang ein neues Geräusch, nicht das dumpfe Dröhnen von Kanonen, sondern ein schriller Ton, der in den Ohren wehtat. Sirus konnte ihn augenblicklich zuordnen, denn sein Besuch in den Zuchtställen von Morstal in Kindertagen hatte einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen. Drachenschreie. Allen in Gefangenschaft gezüchteten Drachen wurden kurz nach der Geburt die Stimmbänder durchtrennt, aber bis dahin brüllten die Jungtiere ihre Pein in die Welt hinaus. Als Kind war er darüber in Tränen ausgebrochen und hatte prompt eine Ohrfeige von seinem Vater kassiert, doch jetzt versprach das Geräusch eine mögliche Rettung, denn offensichtlich hatte der Agent nicht die geringste Ahnung, was es damit auf sich hatte.
»Was im Namen des Kaisers …?«, murmelte er, während immer mehr Menschen am Fenster vorüberhasteten.
In genau diesem Moment packte Katrya das Fleischermesser und rammte es dem Mann tief in den Rücken. Die Reaktion erfolgte unmittelbar und hätte sie fast alle das Leben gekostet, denn eine eruptionsartige Explosion setzte die Schwarzreserven des Agenten frei. Sirus wurde gegen die gegenüberliegende Wand geschleudert und rutschte, von rieselndem Putz begleitet, zu Boden. Er brauchte mehrere Sekunden, um wieder zu sich zu kommen und sich schwankend aufzurappeln. Der Agent kniete schreiend am Boden und krümmte sich wie ein Zirkusartist, während er versuchte, das Messer aus seinem Rücken zu ziehen.
»Du … dreckige … kleine Schlampe!«, brüllte er Katrya an, die wenige Meter von ihm entfernt halb bewusstlos am Boden lag. Mit einem letzten Schmerzensschrei riss er die Klinge heraus. »Du miese Hure!« Seine Stimme hatte einen merkwürdig beleidigten Unterton, er klang wie ein Kind, das zum ersten Mal geohrfeigt worden ist. Wankend kam er auf die Beine und tastete schluchzend und hasserfüllte Drohungen ausstoßend nach seinem Etui, das Kinn blutüberströmt. »Ich reiße deiner Mutter die Eingeweide raus und stopf sie dir in –«
Die Gusspfanne machte ein dumpfes Geräusch, als sie gegen den Hinterkopf des Mannes prallte. Er stürzte vornüber, das Etui entglitt ihm, und die Glasfläschchen rollten über den Boden. Er blickte über die Schulter zu Sirus, der mit der Pfanne zu einem weiteren Schlag ausholte, und schaute ihn schmerzlich gekränkt an. »Ich … habe … Sie … gehen … lassen …«, stieß er hervor. »Nein«, antwortete Sirus. »Haben Sie nicht.« Er ließ die Pfanne mit aller Kraft niedersausen. Einmal, zweimal, ein Dutzend Mal, bis vom Kopf des Agenten nur noch Matsch übrig war und seine Füße endlich aufhörten zu zucken.
Lumilla war tot, beim Aufprall gegen die Wand war ihr Genick gebrochen. Während Katrya um ihre tote Mutter weinte, trat Sirus ans Fenster und sah zum ersten Mal in seinem Leben einen ausgewachsenen wilden Drachen. Der Rote landete in der Mitte der Straße und zerquetschte einen unglückseligen Morstaler unter seinen Klauen. Von der Schnauze bis zur Schwanzspitze maß er mindestens sieben Meter und hatte nicht das Geringste mit den ausgezehrten, flügellosen Tieren aus den Ställen gemeinsam. Unter der scharlachroten Haut waren deutlich die Muskeln zu erkennen, er schlug mit den Schwingen und stieß ein leises, triumphierendes Krächzen aus, ehe er sich seiner Mahlzeit widmete. Dann lenkte ein weiterer seltsamer Anblick Sirus’ Aufmerksamkeit ab. Draußen liefen jetzt noch mehr Leute vorbei, ihrer fremdländischen Kleidung nach keine Stadtbewohner. Einer von ihnen blieb direkt vor dem Fenster stehen, ein großgewachsener Mann in einer gehärteten Lederrüstung; sie glich dem Ausstellungsstück, das Sirus aus der arradsianischen Abteilung des Museums kannte, bis aufs Haar. Sein Verdacht bestätigte sich, als der Mann den Kopf drehte. Verderbte … Das schuppige, mit Dornfortsätzen überzogene Gesicht ließ keinen Zweifel daran, dass er einen waschechten, lebenden Angehörigen des deformierten Eingeborenenstammes dieses Kontinents vor sich hatte.
Er duckte sich und hoffte, dass der Mann ihn nicht bemerkt hatte. Dann schlich er zu Katrya und steckte unterwegs das Messer ein. »Wir müssen verschwinden!«, erklärte er ihr.
Und so flohen sie durch die von Grauen und Gedränge erfüllten Straßen. Es regierte das Chaos, Drachen und Verderbte töteten unzählige Menschen, mehr oder weniger ungehindert von den wenigen in der Stadt verbliebenen Polizisten und Soldaten. Diese waren ebenso ängstlich wie die Zivilisten, augenscheinlich war der Angriff ohne Vorwarnung gekommen.
Zunächst hatte Sirus noch gehofft, dass sie es zu den Hafenanlagen schaffen könnten, doch alle Wege dorthin waren verstopft von Leuten, die ebenfalls dem Irrglauben aufsaßen, auf einem Schiff entkommen zu können. Ein derartiger Menschenauflauf war natürlich ein unwiderstehliches Ziel für die am Himmel kreisenden Roten. Als das Massaker begann, zog Sirus Katrya in einen Hauseingang, wo sie vor den niederprasselnden Leichen und Gliedmaßen geschützt waren. In die Kanalisation zu fliehen, war Katryas Idee gewesen und wurde von einigen anderen geteilt, die über ähnlich gute Überlebensinstinkte verfügten. Erst zehn, dann neun und jetzt, wie Sirus feststellte, als er von Katryas leisem Weinen geweckt wurde, nur noch zwei.
•••
»Sie haben abgestimmt«, murmelte Katrya. »Wollten Sie nicht wecken, wahrscheinlich, weil sie wussten, dass Sie dagegen sind. Es war Majacks Idee.«
»Aber du bist hiergeblieben.«
Sie erwiderte nichts, zuckte nur unruhig und blickte zu dem Tunnel, der zu den Hafenanlagen führte.
»Wie lange sind sie schon weg?«
»Ein paar Stunden. Es war nichts zu hören. Das könnte ein gutes Zeichen sein.«
»Oder sie sind alle tot.«
Ihr Gesicht zitterte, als sie versuchte, sich zu beherrschen. »Hier gibt es nichts!«, brach es aus ihr hervor, und sie stampfte mit dem Fuß auf, sodass das Wasser nur so spritzte. »Wenn Sie bleiben und zwischen lauter Scheiße sterben wollen, bitte schön! Ich gehe!«
Mit diesen Worten wirbelte sie herum und verschwand im Tunnel. Sirus warf noch einen Blick auf den fünfundzwanzig Meter tiefen Schacht, stieß einen wütenden Fluch aus und rannte hinter ihr her.
Der Ausgang befand sich neben der westlichen Helling und bot einen Blick über den gesamten Hafen. Sirus war überrascht, dass noch mindestens zwanzig Schiffe vor Anker lagen, obschon von deren Besatzungen jede Spur fehlte. Einige waren beschädigt oder wiesen Brandstellen auf, zum Großteil waren sie jedoch intakt. Die niedergebrannten Häuser oberhalb der großen Hafenmauer waren übel zugerichtet, einige waren völlig zerstört, und anderen fehlte das Dach, sodass die Silhouette einem rußigen Sägeblatt glich. Dass bis auf das entfernte Klagegeschrei der Möwen kein Geräusch zu hören war, beunruhigte Sirus weit mehr als das Fehlen der Menschen. Er bedeutete Katrya zu warten und bewegte sich vorsichtig auf den Ausgang zu, dann streckte er den Kopf hinaus und schaute sich nach allen Richtungen um. Nichts zu sehen. Nur der friedlich daliegende Hafen, und – was vermutlich an der Gefräßigkeit der Drachen lag – keine Leichen. Er hielt einen Moment inne, ehe er einen längeren Blick riskierte, und diesmal konzentrierte er sich auf den Himmel, der, von vereinzelten Wolken abgesehen, leer war.
»Ich hab’s doch gesagt«, sagte Katrya und boxte ihn in die Rippen. »Die sind alle weg. Wahrscheinlich schon ewig. Wir haben wochenlang ohne Grund gehungert.«
»Warte.« Sirus griff nach ihrem Arm, als sie mit in die Sonne gerecktem Gesicht und geschlossenen Augen aus dem Rohr trat.
»Lassen Sie mich!« Sie schüttelte ihn ab und brachte sich außer Reichweite. »Ich such mir was zu essen. Kommen Sie mit oder nicht?«
Sirus beobachtete, wie sie forschen Schrittes auf das nächstgelegene Lagerhaus zuging, und lief ihr dann hinterher, nicht ohne immer wieder zum Himmel aufzusehen. Eine Hand hatte er an das Messer in seinem Gürtel gelegt. Bis auf ein paar Kisten, die aufgetürmt in einer Ecke standen, war das Lagerhaus so gut wie leer. Katrya stieß eine Reihe von Flüchen aus, als Sirus mithilfe seines Messers die Deckel aufhebelte und nur Porzellan zum Vorschein kam. Sie gingen von einem Lager zum nächsten, bis sie schließlich etwas zu essen fanden: eine Ladung in Weinbrand eingelegter Früchte.
»Langsam«, mahnte Sirus, als Katrya ein halbes Glas Mandarinen verschlang. »Wenn du zu viel auf einmal isst, wird dir schlecht.« Aber sie streckte ihm nur die Zunge heraus und aß weiter. Letzten Endes setzte ihr eher der Weinbrand zu als die Früchte, und Sirus musste sie auf dem Weg zum Kai stützen. Einen Sack Gläser hatte er sich über die Schulter geworfen.
»Hier hat Tante Sal gewohnt«, lallte Katrya und schaute zu den zerstörten Häusern hin.
Sirus ließ den Blick über die Landungsbrücken schweifen, bis er das kleinste Schiff ausgemacht hatte: ein etwa vier Meter langes Fischerboot, aus dessen winzigem Steuerhaus ein schmaler Schornstein aufragte. Er hatte noch nie ein Schiff gelenkt und baute darauf, dass kleiner gleichbedeutend mit besser war.
»Sollten wir nicht die anderen suchen?«, fragte Katrya, als er sie auf das Boot zuführte. Er antwortete nicht, spürte jedoch, wie das Schweigen mit jeder Sekunde drückender wurde. All seine Instinkte brachten ihn zu dem einen Schluss: Sie mussten hier weg, und zwar schnell.
»Und das Tor?«, hakte Katrya nach, als Sirus den Sack an Bord warf und das Boot an einem Tau näher zog. Er spähte zu dem großen Tor in der Mitte der Hafenmauer. In Anbetracht des Algenteppichs und des Treibguts, das sich davor angesammelt hatte, war es seit Wochen nicht angehoben worden.
»Wir müssen einfach die Motoren starten«, antwortete er und zeigte mit dem Kinn auf die Steuerhäuser, die das Tor zu beiden Seiten flankierten. »Ich habe einmal dabei zugesehen. Vater hatte mich mitgenommen …«
Er verstummte, als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte; blass und mit weit aufgerissenen Augen starrte sie etwas an, das sie offenbar schlagartig wieder nüchtern gemacht hatte. Die lähmende Angst niederkämpfend, die ihn plötzlich ergriff, zückte Sirus das Messer und folgte ihrem Blick.
Der Drache saß mit schief gelegtem Kopf auf einem Fuhrwerk und betrachtete sie neugierig, sein sich träge windender Schwanz glich einer schläfrigen Schlange. Zwei Dinge stachen Sirus sofort ins Auge. Zum einen die Größe des Drachen. Er war viel kleiner als alle, die er bisher gesehen hatte, genau genommen nur ein wenig größer als ein Hund, was die Annahme nahelegte, dass es sich um ein Jungtier handelte. Zum anderen die Farbe. Nicht schwarz, nicht grün, nicht rot. Dieser war komplett weiß.
Der Drache starrte sie für geraume Zeit an, und sie starrten zurück. Später dachte Sirus, dass es womöglich ewig so weitergegangen wäre, hätte nicht Katrya leise und ängstlich gewimmert. Bei dem Geräusch zuckte der Drache zusammen, schlug mit dem Schwanz, spreizte die Flügel und öffnete das Maul, um ein klagendes Kreischen auszustoßen. Es hallte von den Hafengebäuden und aus den leeren Straßen wider – eindeutig ein Hilferuf.
»Sei still«, zischte Sirus und bewegte sich mit gezücktem Messer auf die Bestie zu. Diese schrie nun noch lauter und durchdringender, sprang von dem Fuhrwerk und suchte eilig das Weite. Dabei warf sie ihm böse Blicke zu, wie ein trotziges Kind auf der Flucht vor einem Raufbold. Aufgebracht über das anhaltende Kreischen ging Sirus zum Angriff über, ohne Katryas Warnruf zu hören.
Als er den Drachen erreichte, erklomm dieser gerade die Mauer eines Lagerhauses. Seine Krallen scharrten über den Stein, und er schrie unablässig. Er fletschte die kleinen, nadelspitzen Zähne, als Sirus mit dem Messer ausholte; all der Schrecken und das erlittene Leid verliehen ihm zusätzliche Kraft. Das war alles deine Schuld!
Da legte sich etwas um Sirus’ Hals und zog sich fest zusammen. Im nächsten Augenblick wurde er von den Füßen gerissen, kurz bevor er die Klinge in die Haut des Drachen rammen konnte. Er wurde rückwärts über die Steinplatten gezerrt und schnappte verzweifelt nach Luft. Katrya schrie auf, und er fuchtelte wild mit dem Messer, fand jedoch keinen Halt. Dann traf etwas mit Wucht sein Handgelenk, und er musste die Klinge loslassen. Jemand packte ihn und drückte ihm Kopf und Glieder mit unerbittlicher Gewalt zu Boden. Gesichter erschienen über ihm, mit Dornfortsätzen überzogene, deformierte Silhouetten, die sich gegen den Himmel abhoben. Verderbte!
In dem Wissen, dass sein Tod unmittelbar bevorstand, wollte Sirus ihnen seine Verachtung entgegenschleudern, doch die Schlinge um seinen Hals erstickte jeden Laut. Die Gesichter kamen näher, er wurde auf den Bauch gedreht, starke Hände fesselten ihn, dann zerrten sie ihn hoch. Taumelnd rang er nach Luft und stellte fest, dass die Schlinge etwas gelockert worden war. Jetzt konnte er auch seine Peiniger ausmachen; sie waren zu zwölft und unterschiedlich gekleidet, gehörten also wahrscheinlich verschiedenen Stämmen an – auch wenn das für sein weiteres Schicksal wohl kaum eine Rolle spielte. Ich hätte besser den Sprung riskiert, dachte er.
Sein Blick blieb an einem der Verderbten hängen, dessen Kleidung ihn von den anderen abhob – sie war aus Stoff statt aus Leder oder grob gewebtem Hanf. Bei genauerem Hinsehen stellte Sirus fest, dass es sich um die zerschlissene, schmutzige Uniform eines corvantinischen Infanteristen handelte. Ihr Träger hatte sie wahrscheinlich einem der toten Garnisonssoldaten abgenommen. Doch dann blickte Sirus in das Gesicht des Verderbten. Es war weniger deformiert als die anderen, die Schuppen um Augen und Mund waren nur schwach erkennbar und die Dornfortsätze auf der Stirn lediglich ein paar Beulen unter der Haut. Außerdem sprach aus seinen Augen – gelbe Augäpfel mit schwarzen Schlitzen – eindeutiges Wiedererkennen.
»Majack?«, fragte Sirus.
Der Verderbte nickte knapp, dann ertönte ein weiterer Schrei, und er und seine Gefährten erstarrten. Diesmal war es nicht das Kreischen des Jungtiers, sondern ein viel tieferer und gebieterischerer Ton. Sie blickten zum Himmel, von dem sich ein großer Schatten herabsenkte. Ein Schwarzer? Sirus blinzelte nach oben, wo sich der Schatten vor die Sonne schob. Nein, dieser Drache hatte eine größere Flügelspannweite als jeder der Wissenschaft bekannte.
Allerdings entsprach sie genau der Legende.
Als der Lärm der neuesten Erfindung ihres Vaters sie aus dem Schlaf riss, träumte sie gerade wieder von der Evakuierung. Sie trieb in den kalten Wogen, und der Blaue ragte über ihr auf. Wasser rann ihm über den Leib, und sein Blick verhieß nichts Gutes, als er den Kopf senkte und sie beäugte wie einen allzu leicht zu fangenden Fisch. Er sagte: »Kannst du ihn nicht dazu bringen, damit aufzuhören? Wenigstens für ein paar Stunden?«
Sie stöhnte und blinzelte verschlafen, bis die Fratze des Drachen sich in das rotäugige, verärgerte Gesicht von Major Arberus verwandelte. Sie zog eine Grimasse, schüttelte den Kopf und ließ sich zurück aufs Bettlaken sinken. »Er ist dein Vater«, fuhr Arberus fort.
»Und du bist in seinem Haus zu Gast«, entgegnete sie, schloss die Augen und drehte sich weg. »Wenn er eine Aufgabe im Leben hat, dann Lärm zu machen. Könnte man den konservieren und verkaufen, wäre unsere Familie um einiges reicher.«
Arberus’ Antwort, wie auch immer sie lauten mochte, ging in dem erneut einsetzenden, rhythmischen Stampfen unter. Lizanne unterdrückte einen Fluch und öffnete ein Auge, um einen Blick auf die Uhr auf dem Nachttisch zu werfen. Viertel nach zehn. Um zwölf hatte sie eine wichtige Verabredung.
»Raus mit dir«, sagte sie und stieß Arberus’ nackten Körper mit dem Fuß an. »Zurück in dein Zimmer. Wir müssen die Etikette wahren.«
»Inzwischen weiß er es doch bestimmt. Deine Tante jedenfalls tut es.«
»Natürlich weiß sie es, und er ebenfalls. Es ist schlicht eine Frage des Respekts. Und jetzt« – sie stieß ihn fester an – »verschwinde!«
Sie spürte, wie die Matratze zurückfederte, als er aufstand, hörte das Rascheln seiner eilig übergeworfenen Kleider. Das Klicken des Schlosses, dann eine Pause, als er vor der Tür stehen blieb. »Du musst nicht hingehen«, sagte er. »Du bist ihnen nichts schuldig.«
»Ich habe einen Vertrag«, erinnerte sie ihn. »Ich möchte gern glauben, dass das in dieser Welt nach wie vor etwas gilt.«
Als er – weniger leise, als ihr lieb gewesen wäre – hinausschlüpfte, drehte sie sich auf den Rücken und blickte zur Decke. Diese war mit einem spiralförmigen Muster aus Vögeln und Libellen verziert, ein Werk ihrer Tante. Die Farben waren etwas ausgeblichen, aber ansonsten hatten sich die herumwirbelnden geflügelten Wesen seit ihrer Kindheit nicht verändert. Jeden Morgen hatte sie damals zu ihnen aufgesehen, bis das Blut-Los dafür gesorgt hatte, dass sie an die Akademie geschickt wurde. Bei diesem Gedanken regten sich die Erinnerung an Madame Bondersil und der anhaltende Schmerz über ihren Verrat. Auch sie hatte einen Vertrag.
•••
Sie fand Tekela am Küchentisch vor, wo sie unter Tante Pendillas Aufsicht ein viel zu üppiges Frühstück zu sich nahm. »Für ein Mädchen deines Alters ist es nicht gut, so dünn zu sein«, sagte Pendilla, schenkte Tee ein und deutete mit dem Kinn auf einen Teller Butterbrote. »Iss das. Wenn du weiter so stockdürr bleibst, findest du nie einen Mann.«
»Ich will ja gar keinen«, antwortete Tekela in ihrem inzwischen beinahe perfekten Mandinorianisch. »Lizanne scheint bestens ohne einen zurechtzukommen. Und Sie offenbar auch, Miss Cableford.«
Als sie sah, wie sich das Gesicht ihrer Tante verfinsterte, eilte Lizanne zu ihr und nahm ihr die Teekanne ab. »Lass mich das machen, Tantchen.«
»Die Zunge dieser jungen Dame ist schärfer, als gut für sie ist«, bemerkte Pendilla.
»Du bist nicht die Erste, der das auffällt.« Lizanne nahm neben Tekela Platz und goss sich Tee ein, während Pendilla in der Speisekammer verschwand.
»Sie ist besessen davon, mich mit Essen vollzustopfen«, murmelte Tekela. »Das geht mir auf die Nerven.«
»Sie stopft alle mit Essen voll«, erwiderte Lizanne. »Im Flüchtlingslager wären ohne Zweifel viele dankbar dafür. Ich finde bestimmt jemanden, der den Platz mit dir tauscht.«
Ein leichter Anflug ihres früheren Schmollmunds war in Tekelas Gesicht zu sehen, aber dann riss sie sich zusammen und setzte ihr Frühstück mit neuer Begeisterung fort. »Ich wollte mich nicht beschweren.«
Lizanne schlürfte ihren Tee und zuckte zusammen, als in der Werkstatt wieder das Stampfen einsetzte. Nach etwa dreißig Sekunden kam es rasselnd zum Erliegen. »Wie ich höre, haben sie es immer noch nicht repariert«, bemerkte sie.
»Jermayah meint, es liegt am Saugventil«, erklärte Tekela. »Der Professor denkt, es ist die Brennkammer.«
»Was bedeutet, dass sie noch wochenlang an dem vermaledeiten Ding herumschrauben werden, statt sich um dringlichere Aufgaben zu kümmern.«
»Wir kommen allen Aufträgen nach«, hielt Tekela ihr entgegen. »Wir stellen bis zu sechs Knallfrösche die Woche her. Wenn man mich lassen würde, könnte ich auch allein einen zusammenbauen. Ich habe sogar eine Idee, wie es schneller ginge.«
Lizanne wollte sie schon anweisen, bei der etablierten Methode zu bleiben, hielt sich jedoch zurück. In den drei Wochen, seit ihre bunt zusammengewürfelte Flüchtlingsflotte in Feros angekommen war, hatte sie gelernt, dass eine gelangweilte Tekela eine anstrengende Tekela war. »Du kannst es mir zeigen, wenn ich heute Nachmittag wieder da bin.« Sie lehnte sich zurück, denn Tante Pendilla kam mit einem vollbeladenen Teller wieder und stellte ihn vor ihr ab. »Danke, Tantchen.«
»Willst du das wirklich tragen?«, fragte Pendilla und musterte leicht kritisch Lizannes schlichtes, hellblaues Kleid, das lediglich am Mieder von der Aktionärsnadel geschmückt wurde. »Das entspricht wohl kaum deiner derzeitigen Stellung.«
Meiner derzeitigen Stellung? Diese Frage beschäftigte Lizanne, seit sie in Feros an Land gegangen war: Was genau war sie jetzt? Vielen galt sie als Heldin. Einigen als Retterin von Tausenden in Kerberhafen. Die Flüchtlinge nannten sie immer noch Miss Blut und begegneten ihr mit einer zermürbenden Ehrerbietung, als besäße sie weiterhin die Autorität, die sie bei der Abwehr des Drachen- und Verderbtenangriffs ausgeübt hatte. Aber egal, welche Titel und welchen Respekt sie ihr angedeihen ließen, in Wirklichkeit war sie eine offiziell suspendierte Eisenboot-Agentin der Abteilung Außerordentliche Maßnahmen, die das Ergebnis einer vom Vorstand gewünschten Untersuchung abwartete.
»Bei Vorstandssitzungen wird schlichte Kleidung erwartet«, erklärte sie ihrer Tante und warf einen Blick auf die Uhr über dem Herd. Noch eine Stunde, und ich sollte besser nicht zu spät kommen.
»Guten Morgen, Major.« Pendilla begrüßte Arberus, der die Treppe herunterkam, mit einem breiten Lächeln und rückte eilfertig einen Stuhl für ihn zurecht. Lizanne war schon vor einer Weile aufgefallen, dass ihre Tante sich in Gegenwart des Majors besondere Mühe gab. Wahrscheinlich hatte sie Angst, Arberus könnte das Weite suchen, ohne ihre schamlose Nichte vorher zu ehelichen. Lizannes Tante hing den gleichen furchtbar altmodischen Auffassungen an wie ihr Vater.
»Schick sehen Sie heute aus.« Pendilla tätschelte die Schulter des überteuerten Anzugs, den Arberus unbedingt als Ersatz für seine zerschlissene Kavalleristenuniform hatte kaufen wollen. Lizanne wunderte sich oft, wie ein Mann von solch egalitärer Überzeugung so viel Wert auf seine äußere Erscheinung legen konnte. »Findet ihr nicht auch, dass der Major gut aussieht, meine Damen?«
»Grün hat dir besser gestanden«, murmelte Tekela, den Mund voller Speck.
»Ich dachte, ich sollte mir Mühe geben.« Arberus zwang sich zu einem Lächeln, als Pendilla ihm eine riesige Portion Essen hinstellte. Im Gegensatz zu Tekela sprach er mit starkem corvantinischem Akzent, seine Syntax war jedoch einwandfrei. »Man betritt schließlich nicht jeden Tag die Höhle der korporatistischen Bruderschaft.«
»Du bleibst hier«, erklärte Lizanne ihm mit einem Seitenblick auf Tekela. »Der Notfallplan.«
Sie sah ihm an, dass er protestieren wollte, doch dann nickte er widerwillig. Ihr Notfallplan bestand aus einer Tasche mit allen Eisenboot-Interimsscheinen und Wechseln, die sie entbehren konnten, sowie zwei Revolvern. Zudem gab es einen ihnen geneigten freien Kapitän, der bereit war, sie zu einem sicheren Hafen zu bringen. »Glaubst du wirklich, dass es so weit kommen wird?«, fragte er. »Die versammelte Exilgemeinde aus Kerberhafen würde auf die Barrikaden gehen, wenn sie dir etwas antun.«
»Die Verzweiflung könnte sie zu extremen Maßnahmen treiben.« Lizanne nahm sich eine Scheibe Toast. »Ich habe ehrlich gesagt nicht die geringste Ahnung, was dieser Tag bringen wird. Aber wenn wir in Arradsia etwas gelernt haben, dann den Wert eines Notfallplans.« Sie schmierte Butter auf den Toast und biss kräftig ab. »Im Haus gegenüber verstecken sich übrigens zwei Agenten der Abteilung Außerordentliche Maßnahmen, zwei weitere lungern in der Gasse hinter der Werkstatt herum und geben sich als Landstreicher aus. Ich glaube, dass nur eine einzige Blutgesegnete darunter ist – die als Landstreicherin verkleidete Frau. Wenn ich nicht bis sechs Uhr zurück bin und die Agenten von gegenüber sich zeigen, heißt das, dass ich verhaftet wurde. Töte als Erstes die Blutgesegnete. Jermayahs Prototyp des tragbaren Beißers sollte dazu ausreichen. Angenommen, die Flüchtlinge tun uns den Gefallen zu randalieren, müsstet ihr genug Deckung haben, um sicher zum Hafen zu gelangen.«
Sie aß ihren Toast und warf einen weiteren Blick auf die Uhr. Dann stand sie vom Tisch auf. »Verzeih mir, Tantchen. Aber ich habe leider nicht genug Zeit, um fertig zu frühstücken.«
»Willst du nicht bei deinem Vater vorbeischauen, bevor du gehst?«
Lizanne sah zur Werkstatttür, hinter der ihr Vater und Jermayah gerade eine hitzige Diskussion führten. »Mir scheint, er hat mal wieder Wichtigeres zu tun.«
•••
Obwohl das Eisenboot-Handelssyndikat bei seinen Gebäuden nie viel Wert auf Pomp gelegt hatte, war es den ersten Vorstandsmitgliedern ein Anliegen gewesen, für das Hauptquartier in Feros eine Ausnahme zu machen. Der Bau war fünf Stockwerke hoch und erinnerte mit seinen vier durch abgesenkte Mauern verbundenen Ecktürmen an ein Schloss. Verstärkt wurde der archaische Eindruck durch die vielen hohen Glasfenster, hinter denen unzählige Schreiber, Juristen und Buchhalter daran arbeiteten, den bürokratischen Apparat des weltgrößten Unternehmens am Laufen zu halten. Lizanne war in den letzten Jahren nur selten hier gewesen. Bei ihrem Beruf musste sie es vermeiden, dass einer der Agenten des Corvantinischen Kaiserreichs oder der zahlreichen Konkurrenten des Syndikats ihre Identität aufdeckte. Derlei Befürchtungen waren nun natürlich kaum noch von Belang, schließlich war sie jetzt so etwas wie eine Berühmtheit.
Bevor sie den Weg zum Haupteingang fortsetzte, hielt sie einen Augenblick inne, um die zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen zu inspizieren; auf den Türmen sowie den Dächern der Nebengebäude standen Batterien aus Knallfröschen und Beißern. Auch wenn Arradsia weit weg war, schien der Vorstand die Warnungen, die sie in ihrem ersten Bericht vorgebracht hatte, ernst genommen zu haben.
Normalerweise hätte sie sich beim Empfang melden und eine zermürbende halbe Stunde im Flur auf und ab laufen müssen, ehe sie vorgelassen wurde. Doch heute war es anders. Zwei bewaffnete Protektoratsoffiziere kamen bereits auf sie zu, als sie aus der Drehtür trat, und geleiteten sie nach einer knappen Begrüßung zum privaten, dampfbetriebenen Vorstandsaufzug. Den Weg zum Sitzungssaal legten sie in völligem Schweigen zurück, und Lizanne nahm die ausgeblichene Hautstelle auf den Händen ihrer Begleiter zur Kenntnis, die das Blut-Los dort hinterlassen hatte. Offenbar wollte der Vorstand heute kein Risiko eingehen.
Sie war erst ein Mal im Sitzungssaal gewesen, und zwar an dem Tag, als sie ihre Aktionärsnadel erhielt. Es war eine formelle Veranstaltung gewesen, an der noch ein Dutzend andere Angehöriger der Führungsschicht teilnahmen, um für das Übertreffen der angekündigten Profite belohnt zu werden oder – wie in Lizannes Fall – für den erfolgreichen Diebstahl der Entwürfe eines Konkurrenten. Kaum zu glauben, dass seitdem nicht einmal ein Jahr vergangen war. Und jetzt war sie hier, um ihr Urteil zu empfangen.
Sie war überrascht, dass bis auf drei alle zehn Vorstandsmitglieder anwesend waren. Dies war ausgesprochen unüblich. Sonst erschien höchstens die Hälfte. Aufgrund der weltumspannenden Aktivitäten des Eisenboot-Syndikats mussten seine Entscheidungsträger oft in ferne Länder reisen und erhielten dann per Blau-Trance eine vollständige Aufzeichnung der Vorstandsberatungen, ehe in wichtigen Sachen ein endgültiges Urteil getroffen wurde. Alltägliche Beschlüsse wurden aus praktischen Gründen von einem mindestens fünfköpfigen Gremium gefasst. Doch heute handelte es sich um alles andere als eine profane Angelegenheit, und augenscheinlich wollten die meisten Mitglieder Lizannes Aussage mit eigenen Ohren hören, bevor sie ihre Stimme abgaben.
Der Vorstand saß an einem halbrunden Tisch, hinter dem sich ein hohes Buntglasfenster mit dem Eisenboot-Unternehmenswappen befand. Es war vornehmlich in Blau gehalten, was dem Licht in dem riesigen Zimmer etwas Surreales verlieh. Lizanne musste an eine vergangene Blau-Trance-Sitzung mit einem Agentenkollegen denken, der nach der Begegnung mit einem corvantinischen Meuchelmörder an der Schwelle des Todes gestanden hatte. Kein sehr ermutigendes Vorzeichen. Sie nahm ihren Platz ein, eine Stelle, wo das blaue Licht einem kleinen weißen Kreis wich. Einen Stuhl gab es nicht, die beiden Protektoratsoffiziere postierten sich neben und gerade so weit hinter ihr, dass sie sie nicht sehen konnte.
Ihr Blick glitt über die Vorstandsmitglieder; sie kannte sie alle, hielt aber nach jemand Bestimmtem Ausschau. Am äußeren linken Ende des Tisches entdeckte sie ihn schließlich. Es handelte sich um einen großgewachsenen, bärtigen Mann von beträchtlichem Körperumfang, gekleidet in einen etwas zerschlissenen Anzug, den Arberus nie im Leben angezogen hätte. Taddeus Bloskin, Leiter der Abteilung Außerordentliche Maßnahmen, der sich heute als ihr bester Verbündeter oder schlimmster Feind erweisen konnte. Sie hatte keine Ahnung, worauf es hinauslaufen würde; er war nie leicht zu durchschauen gewesen.
»Nennen Sie Ihren Namen und Beschäftigungsstatus.«
Sie blickte zur Vorsitzenden. Die Position wechselte jedes Jahr und wurde derzeit von einer kleinen Frau von trügerisch zerbrechlichem Aussehen bekleidet. Madame Gloryna Dolspeake hatte den Großteil ihrer Karriere in der Abteilung Fusionen und Übernahmen verbracht, einem Bereich des Syndikats, der eine rücksichtslose Geisteshaltung ebenso wie eine ausgeprägte Firmenloyalität erforderte. Sie beäugte Lizanne über ihre halbmondförmige Brille hinweg. Den Stift hatte sie über ihren Unterlagen wie einen Dolch gezückt, bereit, jederzeit zuzustechen.
»Lizanne Lethridge«, antwortete Lizanne. »Aktionärin und Geheimagentin auf Lebenszeit bei der Abteilung Außerordentliche Maßnahmen, derzeit vom Dienst suspendiert.«
Mehrere Stifte kratzten über Papier, ansonsten herrschte Stille, bis Madame Dolspeake erneut den Mund öffnete: »Bitte bestätigen Sie der Form halber, dass Sie die Urheberin dieses Berichtes sind.« Sie hielt einen mit einer schwarzen Schleife zusammengebundenen Papierstoß in die Höhe – den hundertseitigen Bericht, den Lizanne bei ihrer Rückkehr nach Feros erstellt hatte. »Vorstandsakte Nummer sechs-acht-zwo, eingereicht am 2. Harvellum, Unternehmensjahr 211.« Der Titel lautet: »Bericht über das Vorgehen der Aktionärin Lizanne Lethridge während eines Einsatzes auf dem arradsianischen Kontinent und die dabei von ihr bezeugten Vorfälle.«
Ehe Lizanne der Aufforderung nachkam, beschloss sie, sich einen ansprechenderen Titel einfallen zu lassen, sollte sie den Bericht je veröffentlichen. »Ja, dieser Bericht stammt von mir.«
»Alle anwesenden und nicht anwesenden Mitglieder haben ihn gelesen und einige ins Auge springende Punkte der weiteren Diskussion für würdig befunden.« Madame Dolspeake begann eine handschriftliche Liste zu verlesen. »Erstens: der mutmaßliche Verrat an den Unternehmensinteressen und die geheime Absprache mit corvantinischen Geheimagenten durch die kürzlich verschiedene Lodima Bondersil, vormals Direktorin der Niederlassungen auf dem arradsianischen Kontinent. Zweitens: die Aussendung und Reise der ›Torcreek-Expedition‹ ins arradsianische Inland und ihre offenbar erfolgreiche Suche nach dem legendären weißen Drachen. Drittens: das erfolgreiche Auffinden und der anschließende Verlust eines Artefakts, bei dem es sich angeblich um eine Erfindung des sogenannten ›Verrückten Tüftlers‹ handelt und das unter Umständen wertvolle Informationen enthält. Viertens: der Angriff auf die Niederlassungen auf dem arradsianischen Kontinent durch, wie es in diesem Bericht heißt, ich zitiere: ›eine Armee aus Drachen und Verderbten, die, wie ich glaube, auf unbekannte Weise vom Weißen befehligt wurden‹, Zitat Ende.«
Lizannes Gesicht blieb ausdruckslos, als Dolspeake in erwartungsvolles Schweigen verfiel. »Was soll ich noch sagen?«, fragte sie in das anhaltende Schweigen hinein. »Mein Bericht liegt Ihnen vor. Außerdem habe ich mich einer Blau-Trance-Befragung durch die Abteilung Innere Sicherheit unterzogen, die, soviel ich weiß, bestätigt hat, dass ich die Wahrheit spreche.«
Jetzt meldete sich eines der anderen Vorstandsmitglieder zu Wort, ein barscher älterer Herr, den sie als den Direktor für Fertigung und Beschaffung erkannte. »Erinnerungen lassen sich fälschen. Ein talentierter Blutgesegneter kann Lügen in die Köpfe anderer pflanzen.«
»Nur in die anderer Blutgesegneter«, wandte Lizanne ein. »Und im Flüchtlingslager befinden sich Tausende ehemalige Einwohner von Kerberhafen, die meinen Bericht bestätigen können. Zu Letzterem könnte auch eine kurze Aufklärungsmission an der arradsianischen Küste beitragen.«
Ihr entging nicht, wie der Admiral der Protektoratsmarine, der gleichzeitig auch der Marinebehörde vorstand, einen kurzen, aber wachsamen Blick mit Madame Dolspeake wechselte. Als Leiter der Behörde, die über sämtliche Kriegsschiffe des Syndikats verfügte, lag es an ihm, einen derartigen Einsatz zu veranlassen. »Wie ich sehe, haben Sie eine solche Mission bereits unternommen«, fuhr Lizanne fort. »Dürfte ich erfahren, was dabei herausgekommen ist?«
Dolspeake wartete ganze zehn Sekunden, ehe sie dem Admiral mit einem kaum sichtbaren Nicken ihre Zustimmung erteilte.
»Wir haben drei schnelle Fregatten ausgeschickt, allesamt moderne Blutbrenner«, sagte er. »Nur eine von ihnen ist zurückgekehrt, mit der Hälfte ihrer ursprünglichen Besatzung. Sie befanden sich gerade einmal in Sichtweite der arradsianischen Küste, als sie von Blauen und Roten angegriffen wurden.«
»Dann darf man der Mannschaft zu einer wahren Heldentat gratulieren«, erklärte Lizanne und wandte sich wieder Madame Dolspeake zu. »Wenn Sie sich also der Richtigkeit meines Berichts bewusst sind, weshalb bin ich dann hier, wenn ich fragen darf?«
Die Frau blickte zum Tischende, wo Taddeus Bloskin gerade ein Streichholz auswedelte und an seiner Pfeife zog.
»In Ihrem Bericht erwähnen Sie eine Corvantinerin.« Bloskins Akzent war deutlich anzuhören, dass er nicht in die Führungsschicht hineingeboren worden war. Er verdankte seine Position nicht einer privilegierten Abstammung. »Eine Blutgesegnete.«
»Die Kurfürstin Dorice Vol Arramyl«, erwiderte Lizanne. Sie rechnete damit, dass man ihr jeden Moment Verrat am Unternehmen vorwerfen würde, und sprach schnell weiter, um dies zu verhindern. »Sie hat die Belagerung und die Evakuierung überlebt, falls Sie sie einer Befragung unterziehen möchten.«
»Das haben wir bereits getan. Sie war sehr entgegenkommend.« Bloskin musterte sie unverwandt durch den aufsteigenden Rauch. »Sie haben ihr eine Blau-Trance mit dem Blutgesegneten des Kaisers gestattet.«
»Morstal war den Drachen und Verderbten anheimgefallen. In Anbetracht der Umstände war ich der Meinung, dass Nachrichten aus Arradsia helfen könnten, weitere Angriffe der Corvantiner zu vermeiden.«
»Was Ihre Befugnisse bei weitem überstieg«, stellte Madame Dolspeake fest.
»Wir sahen dem Tod ins Auge. Ich hatte weder Zeit noch Muße, mich mit banalen Syndikatsvorschriften zu befassen.«
»Ihr Plan ist jedenfalls aufgegangen«, schritt Bloskin ein, ehe Dolspeake erneut zu Wort kommen konnte. »Das Corvantinische Kaiserreich hat seine feindseligen Handlungen gegen mich eingestellt. Was zum Teil vermutlich daran liegt, dass es in arradsianischen Gewässern keine Flotte mehr hat, aber« – er betrachtete den Admiral mit einem dünnen Lächeln – »für uns gilt das Gleiche.«
Der Admiral funkelte den Geheimdienstchef wütend an, besaß jedoch genug gesunden Menschenverstand, um sich ruhig zu verhalten.
»Bislang gibt es zwar noch keinen offiziellen Pakt mit den Corvantinern«, fuhr Bloskin fort, »doch ist man auf inoffiziellen Kanälen an uns herangetreten. Offenbar suchen sie das Gespräch.«
»Verhandeln scheint mir zu diesem Zeitpunkt eine gute Strategie«, sagte Lizanne.
Bloskins Lächeln wurde breiter, zwischen seinen Zähnen quoll Rauch hervor. »Es freut mich, dass Sie das so sehen, denn die Corvantiner wollen mit Ihnen sprechen.«
Lizanne nahm sich lange Zeit, um die Vorstandsmitglieder zu mustern, ihr Blick glitt über eine Reihe völlig unterschiedlicher Gesichter, Männer und Frauen in mittleren Jahren und älter. Manche waren dunkel-, andere hellhäutig wie sie selbst, und obwohl sie immer gedacht hatte, Persönlichkeiten dieses Ranges seien darüber erhaben, hatten sie alle eines gemeinsam: Sie hatten Angst.
»Mit mir?«, fragte sie Bloskin, und Selbstvertrauen breitete sich warm in ihrer Brust aus.
Er schob die Pfeife von einem Mundwinkel in den anderen, und Lizanne bemerkte ein kurzes, ärgerliches Zucken seiner Augenbraue. Von allen hier fürchtete er sich am wenigsten. »Offensichtlich hat Ihre Verwegenheit den kaiserlichen Hof beeindruckt. Von Ihrer Ehrlichkeit ganz zu schweigen. Der Kaiser, oder vielmehr seine hohen Minister, scheinen zu glauben, dass sie Ihnen vertrauen können.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und blickte Madame Dolspeake erwartungsvoll an.