Das Herz der Zeit: Die vergessenen Geschichten - Monika Peetz - E-Book

Das Herz der Zeit: Die vergessenen Geschichten E-Book

Monika Peetz

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Beschreibung

Alles ist verloren. Lenas Gegner haben die Macht in der unsichtbaren Stadt übernommen und machen systematisch Jagd auf flüchtige Zeitreisende. Lena versteckt sich gemeinsam mit ihrer Freundin Bobbie in der Zukunft – verzweifelt versucht sie herauszufinden, ob es noch mehr Aufständische gibt. Dann fängt sie mit dem Chronometer ein schwaches Signal auf: Es kommt von Dante. Lena kann kaum erwarten, ihn wiederzusehen. Doch darf sie dem Zeichen trauen? Noch schlimmer wird es, als sie in der Zukunft Besuch bekommen – von einer Reisegruppe. Zeitreisen sind zu einem großen Geschäft geworden. Dass Ausflüge in die Vergangenheit Chaos anrichten, sogar die Menschheit auslöschen könnten, stört niemanden. Für Lena geht es um alles: Um die Existenz der unsichtbaren Stadt, um die vergessenen Geschichten der Menschen und um ihre Liebe zu Dante.

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Seitenzahl: 424

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Monika Peetz

Das Herz der Zeit: Die vergessenen Geschichten

Roman

Über dieses Buch

Alles ist verloren. Lenas Gegner haben die Macht in der unsichtbaren Stadt übernommen und machen systematisch Jagd auf flüchtige Zeitreisende. Lena versteckt sich gemeinsam mit ihrer Freundin Bobbie in der Zukunft – verzweifelt versucht sie herauszufinden, ob es noch mehr Aufständische gibt. Dann fängt der Chronometer ein schwaches Signal auf: Es kommt von Dante. Lena kann kaum erwarten, ihn wiederzusehen. Doch darf sie dem Zeichen trauen? Noch schlimmer wird es, als sie in der Zukunft Besuch bekommen – von einer Reisegruppe. Zeitreisen sind zu einem großen Geschäft geworden. Dass Ausflüge in die Vergangenheit Chaos anrichten, sogar die Menschheit auslöschen könnten, stört niemanden. Für Lena geht es um alles: um die Existenz der unsichtbaren Stadt, um die vergessenen Geschichten der Menschen und um ihre Liebe zu Dante.

Vita

Monika Peetz studierte Germanistik, Kommunikationswissenschaften und Philosophie in München. Nach Ausflügen in die Werbung und ins Verlagswesen war sie Dramaturgin und Redakteurin beim Bayerischen Rundfunk. Seit 1998 lebt sie als Drehbuchautorin in Deutschland und den Niederlanden. Monika Peetz ist die Autorin der Bestsellerreihe «Die Dienstagsfrauen». Ihre Romane um die fünf Freundinnen waren Spiegel-Bestseller und verkauften sich allein im deutschsprachigen Raum über eine Million Mal. Ihre Bücher erscheinen in 25 Ländern und sind auch im Ausland Bestseller.

Für Lotte, meine treue Erstleserin.

Was bisher geschah

I – Die unsichtbare Stadt

Tief im Inneren hatte Lena schon immer gewusst, dass sie anders war. Seit dem Tod ihrer leiblichen Eltern wohnte sie bei ihrer strengen Tante und ihren beiden Cousinen. Niemand sprach je über die Vergangenheit und den Unfall. Das Gefühl, nicht wirklich dazuzugehören, nagte an ihr. Alles änderte sich, als sie in den Hinterlassenschaften ihrer Eltern eine mysteriöse Uhr mit acht Zeigern, acht Knöpfen und einer endlosen Zahlenspirale fand. Gemeinsam mit ihrer superklugen Freundin Bobbie, die normalerweise auf alles eine Antwort wusste, fand sie heraus, dass der eigentümliche Chronometer ein Datum angab, das Datum des Unfalls ihrer Eltern. Mit der geheimnisvollen Uhr tauchte ein sonderbarer Junge in Lenas Leben auf, der mit seinen hellen, fast schon weißen Haaren, dem langen schwarzen Mantel und zwei verschiedenfarbigen Augen aussah, als käme er aus einer anderen Welt. Dante wirbelte nicht nur die Zeit durcheinander, die mal langsamer, mal schneller zu gehen, dann wieder zu hüpfen schien, sondern ihr ganzes Leben. Mit seiner Hilfe reiste sie in die wundersame Welt der unsichtbaren Stadt. Drei achteckige Straßenringe, flankiert von mehrstöckigen Häusern, umrahmten einen achteckigen Dom, in dessen Mitte sich eine glänzende Kuppel in den Himmel hob. Lena erfuhr, dass die Stadt Heimat der Unsichtbaren war: Zeitreisende, die durch die Jahrhunderte gingen und durch geschickte Eingriffe Lebensläufe korrigierten, bei denen das Schicksal allzu hart zugeschlagen hatte. Dante eröffnete ihr, dass ihre Mutter eine abtrünnige Zeitreisende war und ihre magischen Kräfte an sie vererbt hatte.

Die mächtige Herrscherin der Zeitreisenden, die Zeitmeisterin, die, wie sie herausfand, ihre eigene Großmutter war, setzte alles daran, die ungeliebte Enkelin so schnell wie möglich loszuwerden. Sie hatte ihrer Tochter nie verziehen, dass sie sich für ein Leben an der Seite eines Sterblichen und ein Kind, nämlich Lena, entschieden hatte. Doch Lena war fasziniert von den Möglichkeiten, die ihre Gabe ihr bot. Sie konnte zurückreisen in eine Zeit, in der ihre Eltern noch lebten! Die Idee, alles, was in ihrem Leben schiefgegangen war, zu korrigieren, war zu verlockend. Lena setzte sich über alle Regeln und Verbote, selbst über Dantes gute Ratschläge und wohlgemeinten Warnungen hinweg und reiste auf eigene Faust in die Vergangenheit. Sie setzte Himmel und Erde in Bewegung, um den Unfalltod ihrer Eltern zu verhindern. Lena ahnte nicht, dass sie mit ihrer unüberlegten Handlungsweise in ein Wespennest stach und mächtige Gegner heraufbeschwor. Entsetzt stellte sie fest, dass der Tod ihrer Eltern kein Unfall gewesen war, sondern das Ergebnis eines jahrhundertelangen, schwelenden Kampfes um die Macht in der unsichtbaren Stadt. Harry König, angestachelt durch die geheimen Aufzeichnungen seiner Familie, die auf einen verbannten Zeitreisenden zurückging, hatte sich an die Fersen ihrer Eltern geheftet, und jetzt war er ihr auf der Spur. In ihrer Unwissenheit hatte Lena eine Kettenreaktion in Gang gesetzt, die nicht nur den Gegnern der unsichtbaren Stadt neue Munition gab, sondern zugleich ihrer Freundin Bobbie das Leben kostete.

Voller Scham und Trauer kehrte sie zurück in die unsichtbare Stadt und bat Dante inständig um Vergebung. Mit seiner Hilfe schaffte sie es, die gestrenge Zeitmeisterin davon zu überzeugen, sie noch ein einziges, letztes Mal durch die Zeit reisen zu lassen, um Bobbies Tod ungeschehen zu machen. An ihrer Seite Dante, der in ihrer Lehrzeit in der unsichtbaren Stadt viel mehr geworden war als nur ein Freund.

Alles lief nach Plan, bis eine zufällige Begegnung mit ihrer Mutter das Unternehmen beinahe zum Scheitern brachte. Lena riskierte Kopf und Kragen, um ein einziges Mal mit ihrer Mutter zu sprechen, sie zu berühren und zu umarmen. «Vergiss alles, was mit dem Zeitreisen zu tun hat», gab sie Lena auf den Weg. In diesem Moment schlug ihr Gegner zu. Mit knapper Not gelang es Lena, sich aus den Fängen von Harry König zu befreien und ihre Mission zu einem guten Ende zu bringen. Mit zwiespältigen Gefühlen kehrte sie in ihr altes Leben zurück. Überglücklich, wieder mit Bobbie vereint zu sein, blieb ihr nur noch, die letzte Bedingung der Zeitmeisterin zu erfüllen. Sie musste den Kontakt zu Dante und den Unsichtbaren kappen. Und das, nachdem sie sich gerade zum ersten Mal geküsst hatten.

II – Die Nacht der Eulen

Wie sollte sie Dante jemals vergessen? Lena versuchte, ein normales Leben zu führen. Doch die Geister, die sie gerufen hatte, ließen sie nicht mehr los. Die Gegner der unsichtbaren Stadt setzten alles daran, an Lenas Chronometer zu kommen. In eine Sackgasse gedrängt, steckte Lena Bobbie die magische Uhr zu. Ein verhängnisvoller Fehler. Durch eine Reihe unglücklicher Zufälle stürzte ihre beste Freundin kopfüber ins Jahr 1900 und fand nicht mehr heraus.

Lena brach ihr Versprechen und kehrte zurück in die unsichtbare Stadt. In ihrer Verzweiflung ließ sie sich auf einen Deal mit der Zeitmeisterin ein. Lena erfuhr, dass der Urvater der Königs das illegitime Kind eines Unsichtbaren gewesen war. Seitdem, als letzter Rest Unsterblichkeit, vererbte sich die rasende Wut auf die Zeitmeisterin und der unbedingte Wille, die Macht in der unsichtbaren Stadt zurückzuerobern, von einer Generation auf die nächste. Doch die Chefin der Unsichtbaren hatte auch intern Widersacher. Offenbar hatte sich jetzt ein Zeitreisender mit dem begabtesten aller Königs, dem genialen Uhrmacher und Illusionisten Stanislaus König, genannt der Zauber-König, zusammengetan. Die Zeitmeisterin forderte von Lena, den Verräter zu überführen, der in einem anderen Jahrhundert sein Unwesen trieb. Es gab bereits einen furchtbaren Verdacht, um wen es sich handelte: Dante.

Während in der unsichtbaren Stadt alles für die Nacht der Eulen vorbereitet wurde, die feierliche Verleihung von Chronometern an neue Zeitreisende, begab sich Lena ins Jahr 1900, wo Bobbie inzwischen eine neue Heimat gefunden hatte. Tatsächlich gelang es Lena, von ihrem Versteck in der Haushaltsschule von Fräulein Polle, Dante aufzuspüren. An seiner Seite, wie von der Zeitmeisterin befürchtet, der Zauber-König. Lenas Herz konnte kaum glauben, was ihre Augen sahen. Nach einer nächtlichen Veranstaltung des Zauber-Königs geriet sie heftig mit Dante aneinander. Erst als sie ihre Differenzen überwanden und nebeneinanderlegten, was sie herausgefunden hatten, formte sich ein ungeheuerlicher Verdacht. Es war die Zeitmeisterin selbst, die mit König zusammenarbeitete. Aber warum? Sie hefteten sich an die Fersen des Zauber-Königs und folgten ihm in die Uhrenfabrik, die magische Grenze zwischen realer Welt und unsichtbarer Stadt. Einmal dort angekommen, stellten sie fest, was wirklich hinter der Intrige der Zeitmeisterin steckte. Lena war weit mehr als eine gewöhnliche Zeitreisende. Lena, als rechtmäßige Erbin ihrer Mutter, war die Einzige, die Zugang zum geheimen Herz der Zeit hatte. Der magische Ort bestand aus einem übergroßen Chronometer. Die Uhren der Zeitreisenden wurden dort in einem mächtigen Flug der Eulen aktiviert und justiert. Doch die Zeit ließ sich nicht zwingen: Es war ein Ort, den sie nur aus eigenem Antrieb erreichen konnte.

Lena begriff, dass die Zeitmeisterin Harry König auf die Eltern angesetzt hatte, um ihre Mutter so unter Druck zu setzen, zurückzukehren. Mit dem Tod der Mutter waren die magischen Kräfte auf Lena übergegangen. Und nun machte die Zeitmeisterin gemeinsame Sache mit ihren Gegnern, um Lena ihrer wahren Bestimmung zuzuführen. Alles, um die Zukunft der Zeitreisenden zu garantieren.

Jetzt, in der Nacht der Eulen, sollte Lena erstmals ihre neue Funktion ausfüllen. Die Zeitmeisterin ging so weit, ihren eigenen Chronometer abzulegen und König an den Ehrentisch zu bitten. Sie holte zu einer letzten ultimativen Erpressung aus: Wenn Lena nicht tat, was sie verlangte, drohte sie, ihre Position niederzulegen. Lena war so entsetzt über all das, was sie gehört hatte, dass sie den richtigen Moment verpasste …

1Der Fall

Lenas Hand zitterte über dem Schalter. Eine einzige Berührung sollte die mächtige Dachkonstruktion öffnen und den Weg frei machen für den Höhepunkt der Zeremonie: das Einschweben der Eulen mit den Chronometern für eine neue Generation Unsichtbarer. Lena spürte, wie Schweiß ihren Rücken hinunterlief. Die Zeitreisenden, die sich zur Nacht der Eulen im prunkvoll geschmückten Kuppelbau versammelt hatten, schienen geschlossen die Luft anzuhalten. Alle Blicke richteten sich nach oben, in der Erwartung, dass die enorme Glaskonstruktion sich in Bewegung setzte. Unruhe breitete sich unter den Kandidaten aus. Nervöses Getuschel schwoll an und wogte durch den Saal.

 

Lena thronte auf der eigens für die Zeremonie hochgezogenen Empore, wo sich das Führungsgremium um die Zeitmeisterin versammelt hatte. Sie blickte in das feixende Gesicht des Zauber-Königs, den die mächtige Chefin der Unsichtbaren an den Ehrentisch eingeladen hatte. Alle Augen ruhten erwartungsvoll auf ihr und ihrer unschlüssig schwebenden Hand.

Was sollte sie nur tun? Irgendwo da draußen irrten Bobbie und Dante durch die Zeit. Mit Chronometern, deren Nummern in dieser Zeremonie anderen Trägern zugewiesen werden sollten. Lena wusste, die Neuvergabe kam für den ursprünglichen Besitzer einem Todesurteil gleich. Verzweifelt suchte sie nach einer Lösung. Die Zeitmeisterin durchbohrte sie mit ihrem harten Blick. Ungeduldig riss sie ihren eigenen Chronometer vom Handgelenk. Die Chefin der Unsichtbaren war bereit, alles in die Waagschale zu werfen: ihre Macht, ihre Führungsrolle, ihre eigene Familie. Sie hatte den Tod von Lenas Mutter in Kauf genommen, um den Fortbestand der Zeitreisenden zu sichern. Und jetzt war sie bereit, sich selbst zu opfern, um Lena zu zwingen, sich in ihr vorbestimmtes Schicksal zu fügen.

Lena zögerte einen Moment zu lang. Ohrenbetäubender Lärm erschütterte den Raum. Eine der majestätischen, blau schimmernden Eulen krachte ungebremst durch die gläserne Kuppel und taumelte hinab auf die Zeitreisenden, um am Boden zu zerschellen und in Flammen aufzugehen. Eine Eule nach der anderen stürzte aus dem Himmel auf die entsetzten Unsichtbaren herab. Die führungslosen Tiere verwandelten sich in Bomben und den Festsaal in ein Schlachtfeld. Ein Regen aus Glas und Feuer ging auf die Versammlung nieder. Panisch schlug Lena mit der flachen Hand auf den Knopf, um das Dach zu öffnen. Wieder und wieder, so, wie es die Zeitmeisterin von ihr verlangt hatte. Doch ihr Einsatz kam zu spät. Nichts konnte die Katastrophe mehr aufhalten. In rasender Geschwindigkeit griff das Feuer um sich, erfasste Kleidung von Unsichtbaren, verschlang die Dekoration und fraß sich über den roten Teppich in Richtung Podium, das mit dunklem Samt abgehängt war. Flammen schlugen in die Höhe und sprühten Funken über den gesamten Saal. Die Unsichtbaren drängten alle gleichzeitig auf die Ausgänge des Kuppelsaals zu.

Lena war so paralysiert von dem Grauen, dass sie nicht mitbekam, welches Unheil sich in ihrem Rücken zusammenbraute. Der Angriff kam aus dem Nichts. Noch bevor sie die Tragweite der Tragödie vor ihr überriss, traf sie ein heftiger Stoß. Xaver hatte sich mit seinem ganzen Körpergewicht gegen sie geworfen. Lena krachte in das hölzerne Geländer der Tribüne, die eilig für die Nacht der Eulen in der Kuppel hochgezogen worden war. Ein jäher Schmerz durchzuckte ihren Körper. Das Knirschen und Knacken zerberstenden Holzes ging ihr durch Mark und Bein, sie spürte, wie die provisorisch zusammengezimmerten Balken unter ihrem Gewicht nachgaben. Panisch suchte sie Halt, doch ihre Hand griff ins Leere. Ihr Oberkörper befand sich bereits jenseits der Kante, nur die Zehenspitzen berührten gerade noch den Boden der Tribüne. Sosehr sie auch ruderte: Die Schwerkraft packte Lena und zog sie gnadenlos in den Abgrund. Sie rechnete jede Sekunde damit, schmerzhaft auf dem Boden aufzuschlagen, als der Chronometer, den Xaver ihr heimlich zugesteckt hatte, an ihrem Handgelenk aufflammte. In dieser Sekunde wurde Lena bewusst, welch ungeheures Wagnis Xaver eingegangen war. Der knurrige Mitarbeiter der Revision hatte sie mit einem beherzten Stoß aus der Gefahrenzone katapultiert. Vielleicht hatte er ihr sogar das Leben gerettet.

 

Ein mächtiger Strudel erfasste Lena und riss sie mit sich. Die Nacht der Eulen, glanzvoller Höhepunkt im Kalender der unsichtbaren Stadt, löste sich in Tausende Puzzleteile auf. Ein glitzernder Kosmos aus schwebenden Glasscherben verschluckte sie. Im Funkenregen schwirrten Bilder von Chaos und Verderben, von abstürzenden Eulen, wütenden Feuern und flüchtenden Zeitreisenden. Aufnahmen fallender Körper und panischer Gesichter schwebten an ihr vorbei. Jedes einzelne Bruchstück erzählte von Verwirrung und Untergang. Lena taumelte zwischen Erinnerungsfetzen hindurch, die den Zauber-König zeigten, der den Chronometer der Zeitmeisterin an sich riss. Sie las den Triumph in seinen Augen, hörte sein verzerrtes Lachen, sah die schwarzen Wachen, die sich wie seelenlose Roboter auf seine Seite stellten. Die entmachtete Zeitmeisterin registrierte ihren Untergang mit versteinertem Blick, unbewegt und ungebrochen – im nächsten Moment explodierte ihr Bild vor Lenas Augen. Aufnahmen von Xaver flogen heran, wahnwitzig verlangsamt, als dehne sich die Zeit ins Unendliche. Hundertfach wandte er sich Lena zu, öffnete den Mund wie ein Fisch, der nach Luft schnappte. Aus seinem Mund flossen abgehackte Worte: Zeit. Zuhause. Kontakt. Chronometer. Umgekehrt. Nur zusammen. Du musst … Als Xaver merkte, dass er sich mit Worten nicht verständlich machen konnte, ging er zu Handzeichen über. Mehrfach wiederholte er eine flatternde Bewegung mit der rechten Hand. Wollte er damit andeuten, dass sie sich irgendwo durchschlängeln sollte? Lena hatte den Eindruck, dass er versuchte, sie irgendwohin zu dirigieren. Aber wohin nur? Die wirbelnden Scherben fügten sich beim besten Willen nicht zu einer zusammenhängenden Botschaft. Bevor es Lena gelang, aus Xavers verzweifelten Gebärden eine konkrete Anweisung herauszulesen, lösten sich auch diese Erinnerungssplitter auf. Zuhause? Kontakt? Was meinte er bloß? Neu heranschwirrende Bilder zeigten, wie Xaver nun selber angegriffen wurde. Der Zauber-König riss ihn wutentbrannt an der Schulter zurück und brachte ihn zu Fall. Bevor Lena erkennen konnte, was mit ihrem unerwarteten Verbündeten geschah, kollidierte das Puzzlestück mit einem anderen Erinnerungsfragment und zerbarst vor ihren Augen. Winzige Glassplitter bohrten sich schmerzhaft in ihre Haut wie tausend kleine Nadelstiche.

Was passierte jetzt mit der unsichtbaren Stadt und ihrer Herrscherin? Mit den Unsichtbaren? Mit Xaver? Was wollte er ihr mitteilen? Wohin versuchte er sie zu schicken? Warum nur fühlte sich dieser Sprung so anders an als all ihre bisherigen Reisen durch die Zeit?

Die Nacht der Eulen verwandelte sich in eine ferne Erinnerung. Erst verschwanden die Bilder, dann die Geräusche. Alles kam zum Stillstand. Lena fiel es zunehmend schwer, sich zu bewegen. Jenseits von Zeit, Raum und Schwerkraft drohte sie in einer dickflüssigen, gallertartigen Substanz zu erstarren. Eine ungeheure Müdigkeit erfasste sie. Es war so verlockend, sich der Leere hinzugeben. Unwillkürlich dachte sie an Bobbies Tintenfisch im Regal ihres Kinderzimmers, der seit Jahren in konzentriertem Alkohol schwamm. Vielleicht war auch sie nun auf immer und ewig konserviert im Tunnel zwischen den Zeiten? Der Gedanke an die Freundin trieb Lena Tränen in die Augen. Wo waren Bobbie und Dante abgeblieben? Mit letzter Kraft versuchte sie, über den Chronometer eine Nachricht an Dante abzusetzen. Es gelang ihr nicht einmal, den Arm zu heben. Ihre Kräfte und ihr Wille, sich gegen die Erstarrung zur Wehr zu setzen, schwanden mit jeder Sekunde. Schlafen, einfach schlafen. Endlich wieder Ruhe. Seit sie den Chronometer gefunden hatte, raste sie atemlos durch ihr Leben und die Zeiten. Alle Versuche, die verhängnisvollen Fehler zu korrigieren, die ihr auf ihrem Weg als Zeitreisende unterlaufen waren, hatten zu immer neuen Kettenreaktionen und Verwicklungen geführt, um schlussendlich in die Katastrophe zu münden. Wehmütig dachte sie an die Zeit zurück, als ihr Leben um so alltägliche Dinge wie ihre nervigen Schwestern, die überforderte Tante, Citybox, Bobbie, die Schule und Handball kreiste. Wann hatte sie zuletzt das Gefühl gehabt, ihr Leben im Griff zu haben? Vor ihrem inneren Auge zogen Bilder aus ihrer Vergangenheit vorbei. Die zweiflügelige Tür der Sporthalle flog auf. Mit wehendem schwarzem Mantel, Sonnenbrille und einem unverschämten Grinsen betrat Dante das Spielfeld und eilte auf sie zu. So nah und doch so fern. Die Erinnerung an ihre magische erste Begegnung wärmte Lenas Herz. Würde sie Dante je wiedersehen? Der Gedanke an ihren eigentümlichen Gefährten rüttelte Lenas Lebensgeister noch einmal richtig wach. Nein, sie durfte nicht aufgeben. Sie durfte nicht zulassen, dass ihr gemeinsamer Weg an dieser Stelle zu Ende war und feindliche Kräfte ihre gemeinsame Zukunft zerstörten. Xaver hatte sich nicht umsonst für sie geopfert und ihr einen Chronometer zugeschoben. Solange sie atmete, war noch nichts verloren!

Mit äußerster Kraftanstrengung bewegte sie den kleinen Finger, dann die Hand und den Unterarm. Lena boxte energisch Luftlöcher in die unsichtbare Materie, die sie fest umklammerte. Schon erreichte sie ein leiser Windzug, der mit jeder Bewegung anschwoll. Ungekannte Kräfte rissen an ihrem Arm wie ein gewaltiger Staubsauger. Doch der Rest ihres Körpers saß fest, als wäre er in Beton gegossen. Sie trampelte und trat, ruderte und boxte und bemerkte, wie sich die zähe Masse langsam löste und das linke Bein freigab, dann den rechten Arm. Je mehr sie sich bewegte und wehrte, umso heftiger zerrte der Luftstrom an ihr. Sie spürte ihr zweites Bein loskommen. Im selben Moment erfasste sie ein gewaltiger Wirbel und sog sie mit so ungeheurer Macht weiter durch den Zeittunnel, dass Lena jede Kontrolle über ihren Körper verlor. Sie konnte nicht einmal mehr einschätzen, wo oben und unten war. Atmen wurde fast unmöglich. Kurz bevor sie das Bewusstsein verlor, fand ihre Reise ein abruptes Ende. Lena schlug unsanft auf dem Boden auf. Alles wurde dunkel.

2Zwischen den Welten

Ein langgezogener, verzweifelter Schrei hallte durch das Tal und riss Dante jäh aus der Betäubung. Neugierig öffnete er das rechte, dann das linke Auge. Dicker Rauch behinderte seine Sicht. Die Sonne kämpfte sich mühsam durch die Schwaden und zauberte Lichtflecken auf die ausgedorrte Wiese. Wo war er? Was war mit ihm geschehen? Dante erinnerte sich lebhaft an den Abschied. Während Lena der Zeitmeisterin zur Nacht der Eulen in die Kuppel gefolgt war, hatte Dante die Aufgabe übernommen, Coco und Bobbie aus der unmittelbaren Gefahrenzone bei der Uhrenfabrik zu lotsen. Er erinnerte sich, wie er Bobbie zur Sicherheit seinen eigenen Chronometer zugesteckt hatte. Er erinnerte sich, wie sie sich auf der Flucht vor den Wachen in den altertümlichen LKW gerettet hatten, um ihn gezielt über die Felskante in den Abgrund zu steuern. Der Fall sollte ihnen Schwung für den Sprung durch die Zeit geben. Er hatte einen kurzen, heißen Blitz an seinem Handgelenk gespürt und dann nichts mehr. Noch im Flug hatte sich der Eigenbau in seine Einzelteile aufgelöst. Ohne Justierung im Herz der Zeit funktionierte die von Bobbie und Coco neu angefertigte Uhr nicht ordnungsgemäß. Das vertraute Gefühl, elegant durch den Zeittunnel zu schweben, war ausgeblieben, die Landung abrupt und schmerzhaft gewesen. Aber wo in aller Welt war er aufgeschlagen?

Der Rauch biss in seinen Augen und erschwerte die Orientierung. Um ihn herum kokelten die dampfenden Reste des alten Lastwagens. In der Luft hing der Geruch von Benzin und angeschmortem Gummi. Ein Rad baumelte über seinem Kopf auf einem Felsvorsprung, aufgespießt von einem herausstehenden Ast, der drohte, jeden Moment nachzugeben.

Mühsam erhob sich Dante und sortierte seine Knochen. Er klopfte den schwarzen Mantel ab, strich sich durch die weißen Haare und betastete sachte die schmerzhafte Beule an seinem Kopf. Das Atmen fiel ihm schwer, seine Augen tränten. Hoch über ihm zeichneten sich undeutlich die schemenhaften Umrisse der Fabrik ab. Erleichtert realisierte er, dass er in der Nähe des Taxistandplatzes gelandet war, zwischen den Welten.

«Coco? Bobbie?», rief er in die dunstige Landschaft hinein. «Alles klar bei euch?»

Seine Stimme verlor sich in der Ödnis. Es blieb still. Gespenstisch still. Er vermisste das fröhliche Geschnatter von Cocos und Bobbies neugierigen Fragen schmerzlich. Mit klopfendem Herzen näherte Dante sich den Trümmern des Lastwagens. Erleichtert stellte er fest, dass die Fahrerkabine leer war. Nirgendwo entdeckte er auch nur die allergeringste Spur der Mädchen. Ein Lächeln flog über sein Gesicht. Ganz offensichtlich war Coco und Bobbie die Flucht gelungen. Er vertraute darauf, dass die beiden in Sicherheit waren. Bei Lena war er sich leider nicht so sicher. War sie noch in der unsichtbaren Stadt?

Ein heller Lichtblitz zuckte über die Wiese und unterbrach jäh seine Gedanken. Dantes Augen glitten misstrauisch über die unwirkliche Landschaft, als ihm ein verdächtiges Glitzern zwischen den Steinen auffiel. Ein heiseres metallisches Schnarren drang an sein Ohr. Was war das? Irgendetwas bewegte sich dort. Argwöhnisch tastete er sich Schritt um Schritt an den blitzenden Gegenstand heran. Sein Herz blieb beinahe stehen, als er auf dem Boden eine der magischen Eulen erkannte, die sich aus Tausenden Zahnrädern zusammensetzten. Es handelte sich nicht um eines der gewöhnlichen grauen Exemplare, die Nachrichten durch Raum und Zeit hinweg transportierten, sondern um eines der hoheitsvollen bläulich weißen Tiere, die ausschließlich in der Nacht der Eulen flogen und auf geheimnisvolle Weise die Chronometer für neue Zeitreisende überbrachten. Wie hatte sich dieses Tier hierher verirrt? Warum war es so weit vom Kurs abgekommen und abgestürzt? Dante beugte sich sorgenvoll über die verletzte Eule. Ihre riesigen blauen Augen brachen zu einem trüben Graublau. Sie erinnerten an zersprungene, milchig gewordene Glasmurmeln. Vorsichtig streckte Dante die Hand nach dem mechanischen Tier aus. Die Eule hob ermattet den linken Flügel, bevor sie vollends in sich zusammensackte. Alles Leben wich aus dem majestätischen Tier.

Kurz zögerte Dante, dann öffnete er behutsam die Mechanik am Bauch der Eule. Im Inneren fand er tatsächlich einen angeschlagenen Chronometer. Was war in der Nacht der Eulen nur geschehen? Hektisch tippte er Lenas Mitarbeiternummer ein, als plötzlich eine Nachricht einging. Für einen kurzen Moment blickte er in Lenas panisches Gesicht, das sich ihm immer und immer wieder zuwandte. Sein Mut sank, als das schwebende Hologramm vor seinen Augen zerfiel. Verzweifelt drückte er auf den acht Knöpfen am Rand herum und versuchte zigmal Kontakt zu Lena herzustellen. Der Chronometer gab nur noch beängstigend schwache Lichtsignale von sich. Das müde flackernde Wort Error schwebte vor seinen Augen, dann Lenas angsterfülltes Gesicht, irgendein Kauderwelsch, wieder Error, bis das Bild endgültig erlosch. Die Eingabe von Lenas Mitarbeiternummer hatte den letzten Saft aus dem Chronometer gezogen. Das Gerät war tot.

Wie eine Reaktion auf das Versagen der Uhr tönte ein langanhaltender, gellender Schrei durch das Tal. Dante hob den Kopf. Über ihm schwebten weitere Eulen in orientierungslosem Zickzack durch den Himmel. Die Warnrufe der Tiere gingen ihm durch Mark und Bein. Man musste kein Stimmenexperte sein, um zu verstehen, dass sich die Tiere in höchster Not befanden. Als er wieder zu Boden blickte, zerfiel die Eule vor ihm zu glänzendem, bläulich schimmerndem Staub. Eine heftige Sturmböe wirbelte die glitzernden Reste auf und pustete sie in alle Himmelsrichtungen davon. Mit dem Wind zogen dunkle Wolken auf, die erst die Fabrik, dann die fliegenden Eulen verschluckten. Gleichzeitig riss im Tal der Nebel auf. Aus dem Dunst schälten sich Schatten, dann vage Umrisse. Immer deutlicher erschienen in der Ferne die charakteristischen Linien der unsichtbaren Stadt. Die achteckige Bebauung, der Fluss, der die Stadt umarmte: der vertraute Anblick der Stadt, die ihm, seit er denken konnte, Heimat war, trieb Dante Tränen in die Augen. Oder war es der beißende Rauch? Nun sah er, wo die dichten Schwaden herkamen, doch sein Verstand weigerte sich zu begreifen, was sich vor seinen Augen abspielte. Im Herzen der Stadt, dort, wo normalerweise die Kuppel eindrucksvoll in der Sonne glänzte, klafften dunkle Löcher in der Fassade. Aus dem zerstörten Auge stiegen dicke Rauchsäulen in den unschuldig blauen Himmel. Sein Herz raste, seine Kehle war wie zugeschnürt. Was in aller Welt war dort unten geschehen?

3Im grünen Bereich

Lena lag wie ein Käfer platt auf dem Rücken und blickte verwundert in den Himmel. Statt Wolken schwebten lange Reihen von Neonleuchten über ihrem Kopf. Sie hörte das charakteristische Quietschen von Gummisohlen auf Linoleum, das Klatschen von Bällen, Anfeuerungsrufe, Pfiffe, schweres Atmen. Glücklich sog sie die vertraute, muffige Luft ein. Wann hatte sie das letzte Mal das Gefühl gehabt, ihr Leben im Griff zu haben? Hier! Die Macht der Gedanken hatte sie an einen Ort getragen, an dem sie sich sicher und geborgen fühlte. Kein Zweifel möglich: Sie war in der Sporthalle gelandet, beim Handballtraining. Sie war in ihr eigenes Leben entkommen. Ein Glücksgefühl durchströmte sie. Lena bewegte zaghaft ihre Glieder, unsicher, ob sich nach der ungewöhnlich ruppigen Reise noch alles am richtigen Platz befand. Ein Dutzend Kinderfüße in Turnschuhen hopsten um sie herum, als wäre es die normalste Sache der Welt, dass jemand mitten auf dem Spielfeld herumlag. Offenbar machte sie Fortschritte in einer der Hauptdisziplinen des Zeitreisens: unsichtbar sein.

Plötzlich verdunkelte sich ihr Blickfeld. In hohem Tempo schoss ein Ball direkt auf sie zu. Lena war nach ihrer Bruchlandung nicht zu einer schnellen Reaktion fähig. Ein paar Zentimeter vor der Kollision schnappten zwei kleine Kinderhände das runde Leder. Lena blinzelte überrascht in eine Wiese direkt vor ihren Augen, die sich bei näherem Hinsehen als das überraschend naturalistisch bedruckte T-Shirt des Kindes entpuppte. Ein erhitztes rotes Jungengesicht, das vor allem aus Zähnen und Sommersprossen bestand, beugte sich zu ihr runter.

«Was machst du denn da?», fragte die laufende Grasmatte.

«Ich freue mich», sagte Lena ehrlich.

«Hier? Auf dem Boden?», wunderte sich der kleine Handballer.

«Der beste Platz der Welt», antwortete Lena und meinte jedes einzelne Wort.

Doch in die Dankbarkeit, dem Inferno in der Kuppel entkommen zu sein, mischte sich langsam ein Gefühl quälender Ungewissheit. Sie musste Bobbie und Dante finden. Der Gedanke an ihre Gefährten versetzte ihr einen heftigen Stich in der Magengegend. Sie hoffte inständig, dass den beiden die Flucht gelungen war.

Der Junge zog seine Stirn in nachdenkliche Falten und kaute auf seiner Unterlippe herum, unschlüssig, ob es sich lohnte, dieses eigenartige Gespräch mit dem verrückten Mädchen zu vertiefen. Ein schriller Pfiff orderte ihn zu seiner Mannschaft zurück und enthob ihn einer Entscheidung. Sommersprossengesicht und Wiese hopsten fröhlich von dannen.

Lena rappelte sich ein wenig ungelenk vom Boden auf und betrachtete neugierig ihre Umgebung. Ganz offensichtlich hatte der Handballverein einen neuen Sponsor gewonnen, denn die ganze Mannschaft des Jungen trug diese schreiend grünen Gras-T-Shirts. Überrascht musterte Lena den Trainer der Knirpse. Den kannte sie doch! Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Seine Haare waren viel kürzer als sonst, und sein Gesicht wirkte magerer, als sie es in Erinnerung hatte. Als wäre er über Nacht älter geworden. Konnte das wahr sein? Lena kratzte sich verwundert am Hinterkopf. Seit wann trainierte Jonas Rasmus eine Kindermannschaft? Das war doch Jonas?

Ihre Sinne waren vielleicht ein wenig getrübt, ihre Reflexe jedoch funktionierten wieder einwandfrei. Fast schon automatisch, ohne genau hinzusehen, fing Lena einen Schmetterball ab, der sich in ihre Richtung verirrte. Das Leder fühlte sich angenehm griffig und warm an. So wie immer. Selbstvergessen ließ sie den Ball prellen und dribbelte über das Spielfeld. Die vertrauten Abläufe vermittelten ihr ein Gefühl von Normalität. Den Ball in der Hand wiegen, rennen und dabei immer aus dem Augenwinkel den Gegner observieren. Plötzlich lief der merkwürdige Junge, der aussah wie Jonas und doch auch wieder nicht, in ihr Blickfeld. Lena drehte sich in einem unerwarteten Manöver pfeilschnell um und zielte aus einem schier unmöglichen Winkel auf das leere Tor. Bei jedem Schritt, den sie nahm, spürte sie Jonas’ sezierenden Blick im Rücken. Die körperliche Anstrengung schaffte es nicht wie sonst, die aufgeregten Stimmen in Lenas Kopf zu beruhigen. Alle brüllten ihre Unkenrufe durcheinander.

«Mit diesem Jonas stimmt was nicht.»

«Von wegen gerettet.»

«Xaver hat etwas von zu Hause gesagt. Aber ist das wirklich zu Hause?»

«Wer sagt, dass Xaver dir überhaupt helfen wollte?»

«Warum sieht der junge Trainer dir so argwöhnisch hinterher?»

Lena hob einen herrenlosen Ball auf und schmetterte mit aller Kraft ein zweites Mal aufs Tor, als könnte sie damit die Stimmen zum Schweigen bringen. Das Leder knallte an den Pfosten. Lena blieb wie angewurzelt stehen, sodass der Rückprall sie voll an der Schulter erwischte. Sie nahm den Schmerz kaum wahr. Vielleicht hatten die Stimmen diesmal recht. Ein paar Minuten hatte sie sich in ihrem alten Leben gewähnt – doch dieses Bild geriet nun heftig ins Wanken. Auf einem großen Transparent stand der verwirrende Text: Wir gratulieren den Junioren zum Landesmeister 2031.

Lena starrte auf den Schriftzug. 2031? Was war das für ein merkwürdiger Slogan? Als sie sich misstrauisch umsah, entdeckte sie weitere verstörende Details. Auf den ersten Blick schien die Sporthalle unverändert, doch auf den zweiten registrierte Lena tausend winzige Veränderungen. Es waren nicht allein das Spruchband und die komischen Trikots. Da waren noch das Fenster zur Kantine, hinter dem neue Leuchten strahlten, die Farbe der Fensterrahmen, die hypermodernen Lichtschalter an den Wänden. Und diese unerträglich warme Luft! Lena schwindelte. Ein paar wenige Spielzüge hatten ausgereicht, um sie komplett auszulaugen und ihr Gehirn zum Überkochen zu bringen. Vielleicht war doch alles beim Alten, und sie hatte früher einfach nicht genau genug hingesehen, versuchte sie die aufgeregten Stimmen in ihrem Kopf zu beruhigen. Wer erinnerte sich schon an Lichtschalter? Oder die neueste Mode der Kids? Vielleicht waren Grasshirts gerade in. Und das Transparent war vielleicht nur eine ironische Aufmunterung, ein Witz für Eingeweihte.

Das Sommersprossengesicht von vorhin trabte heran, um einen verirrten Ball einzusammeln. Unter der Haut an seiner Hand, zwischen Daumen und Zeigefinger, bemerkte Lena nun ein sachte schimmerndes, violettes Licht. Als sie sich umsah, entdeckte sie, dass alle Kinder diese Lichtpunkte an der Hand trugen. Was um alles in der Welt war das? Ihr Gehirn funktionierte nicht richtig. Offenbar steckten ihr die Nacht der Eulen und der beängstigende Nachhauseweg durch die Zeit tiefer in den Knochen als ursprünglich gedacht. Verwirrt taumelte sie auf die Tür zu. Sie brauchte eine Dusche, einen frischen Kopf. Lena flüchtete aus der Halle, bevor Jonas sie ansprechen konnte.

Unbehelligt schlüpfte sie in die vertraute Umkleidekabine, wo eine Horde zehnjähriger Mädchen nach ihrem Training die Kleidung wechselte. Als sie den Nassbereich betrat, stellte sie verwundert fest, dass sämtliche Wasserhähne über Nacht entfernt worden waren.

«Wie kriegt man die denn an?», erkundigte Lena sich irritiert bei der kleinen Spielerin neben ihr.

Das Mädchen quittierte ihre Frage mit einem bösen Blick. «Von mir kriegst du nichts ab», sagte sie schnippisch. «Wenn du deine Wasserration aufgebraucht hast, ist das dein Problem.»

Wasserration? Wovon redete das Mädchen? Empörte Blicke richteten sich auf Lena. In den fassungslosen Gesichtern las sie, dass sie irgendeinen groben Fehler begangen hatte. Wieder beschlich sie das unheimliche Gefühl, dass etwas nicht stimmte. War das wirklich die vertraute Sporthalle?

Mit offenem Mund beobachtete sie, wie eine Spielerin nach der anderen unter einen Duschkopf trat und offenbar mit einer bloßen Berührung der Wand das Wasser aktivierte. Im Nebel der heißen Duschen leuchteten die violetten Lichtpunkte an ihren Händen. Waren das Sensoren? Eingepflanzt unter der Haut? Seit wann gab es so eine revolutionäre Technik? Lena schüttelte sich. In welch schrägem Albtraum war sie jetzt schon wieder gelandet?

Eilig schlüpfte sie wieder in ihre verschwitzten Klamotten und floh in den Gang, wo ein paar Eltern auf ihre Kinder warteten. Es überraschte sie schon ein bisschen weniger, dass auch die Erwachsenen diese violetten Lichtpunkte an den Händen trugen. Sie waren sogar das große Thema.

«Ich habe schon wieder eine Abmahnung von der Krankenkasse bekommen», beschwerte sich eine Mutter mit Blick auf ihren Sensor. «Dabei bemühe ich mich wirklich, meine persönlichen Fitnessvorgaben zu erfüllen. Ich laufe jeden Tag meine 10000 Schritte!»

«Und mir sitzt mein Arzt im Rücken, weil mein Gewicht aus dem Rahmen fällt. Angeblich habe ich zwei Kilo zu viel!»

Ein anwesender Vater toppte die Erzählung. «Mein Sensor ist neulich komplett ausgefallen», berichtete er und starrte vorwurfsvoll auf den Lichtpunkt auf seiner Hand. «Steht mitten in der Nacht eine dieser rundfahrenden Ambulanzen vor der Tür und will mich reanimieren.»

«Scheiß Technik», sagte die erste Sprecherin. «Ich hasse diese ständige Überwachung. Allein diese Stimme …»

Jetzt erst entdeckte Lena, dass sämtliche Anwesenden einen unscheinbaren Knopf im linken Ohr trugen. Offenbar gehörte der ebenfalls sacht violett leuchtende Ohrhörer zu dem Sensor in der Hand.

«Früher war alles besser», seufzte eine der Mütter.

Früher? Was war dieses Früher? Oder besser noch: wann? Lena versuchte aus dem Augenwinkel einen besseren Blick auf die Lichtpunkte zu erhaschen, die offenbar mehr waren als Modeschmuck oder das neueste technische Gadget. Konnte es sein, dass diese Sensoren, die unter der Haut getragen wurden, vierundzwanzig Stunden am Tag Daten über Blutdruck, Herzschlag, Gewicht und Aktivität sammelten und an irgendwelche Behörden meldeten? Die ihrerseits Anweisungen sendeten? Seit wann gab es so mächtige Kontrollinstrumente? Etwas war hier ganz und gar nicht in Ordnung.

Benommen taumelte Lena an den wartenden Eltern vorbei Richtung Ausgang. Der Flur war in ein seltsam bläuliches Flimmerlicht getaucht, das von einem flachen, übergroßen Computerschirm ausging, der an der Stelle des früheren Anschlagbretts hing. War sie vielleicht länger weggewesen als gedacht? Nicht nur Spieler und Eltern waren mit der neuesten Technik ausgestattet, auch der Handballverein hatte offenbar aufgerüstet, während sie in der Zeit herumgereist war. Neugierig berührte Lena den riesigen Bildschirm. Die Anzeige erwachte zum Leben und präsentierte ihr die aktuellen Vereinsnachrichten. Neugierig wischte und klickte sie sich durch das digitale Schwarze Brett. Kalter Schweiß brach ihr aus, als sie realisierte, dass sich sämtliche aufgeführten Termine auf das Jahr 2031 bezogen.

Sie konnte den Verdacht, der schon die ganze Zeit an ihr nagte, nicht länger verdrängen. Zögerlich warf sie einen Blick auf Xavers Chronometer. Die acht Zeiger wiesen auf acht verschiedene Ziffern. Eins-fünf-drei-fünf-zwei-eins-null-null. Lena war inzwischen darin geübt, die Zahlen in einem Augenaufschlag in der richtigen Reihenfolge abzulesen. Lena schnappte nach Luft, ihr Herz schlug bis zum Hals. 2031! 15.05.2031! Konnte das wirklich wahr sein? Kein Zeitreisender hatte jemals von einem Auftrag in der Zukunft berichtet. Die Agentur für Schicksalsschläge widmete sich ausschließlich der Korrektur von Lebensläufen in der Vergangenheit. Auch Dante hatte niemals von der Möglichkeit berichtet, Jahre in die Zukunft zu springen. Seit wann konnte man mit dem Chronometer in die entgegengesetzte Richtung reisen? Alarmiert dachte sie an ihren merkwürdigen Sturz durch die Zeit zurück, der sie beinahe umgebracht hatte. War der Grund dafür gewesen, dass sie in die verkehrte Richtung gereist war?

Lena friemelte unentschlossen an ihrem Chronometer herum. Sie sehnte sich danach, mit jemandem die neuesten Entwicklungen zu besprechen, aber durfte sie es wagen, Dante anzufunken? Ihr war bewusst, dass sie ein unkalkulierbares Risiko einging, wenn sie den Chronometer einschaltete. Jede Bewegung der Zeitreisenden wurde in der Kuppel registriert. Würde sie sich damit verraten? Lenas Blick fiel wieder auf die digitale Anzeigetafel, ihre Augen blieben an der unfassbaren Jahreszahl hängen. Sie beschloss, dass sie das Risiko eingehen musste. Sie rief Dantes Mitarbeiternummer auf. Die Worte Unbekannter Empfänger schwebten über der Uhr. Vielleicht hatte sie sich in ihrer Nervosität verdrückt. Sie probierte es erneut. 6-4-5-4. Wieder und wieder gab sie über die Knöpfe am Rand des Chronometers die vertraute Nummer ein. Das Ergebnis blieb dasselbe: Unbekannter Empfänger. Alarmiert versuchte sie es mit Cocos Mitarbeiterkennzahl, dann Xavers und mit jeder anderen Nummer, an die sie sich erinnern konnte. Nichts. Nicht einmal zufällige, vierstellige Ziffernfolgen brachten ein Ergebnis. Es gelang ihr nicht, mit irgendjemandem aus dem Kreis der Unsichtbaren Kontakt aufzunehmen.

Die Bilder aus der Kuppel drängten in ihr Gedächtnis, und ein furchtbarer Verdacht formte sich in ihrem Kopf. War die unsichtbare Stadt mit all ihren Bewohnern etwa untergegangen? Hatte sie mit ihrem verhängnisvollen Zögern die Zeitreisenden ausgelöscht? Panik machte sich in ihr breit. Über die Knöpfe veränderte Lena die Jahresangabe auf die Gegenwart. Sie wollte einfach nur nach Hause, in ihre eigene Zeit. Sie musste wissen, ob Bobbie sicher zu Hause angekommen war. Sie brauchte eine Vertraute an ihrer Seite. Bobbie wusste vielleicht, was mit Dante geschehen war.

Mit zitternden Fingern stellte sie den letzten Zeiger ein. Das Zifferblatt flammte rot auf. Lena holte Anlauf, setzte zum Sprung an, stolperte – und landete auf der Nase. Sie rappelte sich auf und versuchte ihre Nervosität zu bändigen, als sie es mit einem anderen Datum versuchte. Nichts geschah. Kein Tunnel, keine Bilder, keine Rückkehr in ihr eigenes Leben. Die Zeiger rasteten gnadenlos auf ihrer neuen Position ein. Es blieb dabei. Mit klopfendem Herzen blickte Lena zwischen Chronometer und Anzeigetafel hin und her, bis die Erkenntnis schließlich zu ihr durchdrang. Sie musste sich der erschreckenden Realität stellen: Nach der Katastrophe in der Nacht der Eulen war Lena nicht in ihrer eigenen Zeit gelandet, der Chronometer, den Xaver ihr zugesteckt hatte, hatte sie geradewegs in die Zukunft katapultiert. Lena hatte auf wundersame Weise eine ganze Dekade übersprungen. Es war Donnerstag, der 15. Mai 2031. Und Lena steckte fest.

4Ganz unten

Dantes Herz klopfte bis zum Hals. 365 Stufen trennten den Taxistellplatz von der unsichtbaren Stadt. 365 Schritte, bis er herausfinden konnte, was in der Nacht der Eulen mit Lena geschehen war. Wie lange war es her, dass sie diesen Weg gemeinsam zurückgelegt hatten? Mehrere Stufen auf einmal nehmend, stürzte er Hals über Kopf nach unten. Doch schon nach ein paar Schritten musste er sein Tempo widerwillig drosseln. Je tiefer der Weg ihn ins Tal führte, umso mehr behinderten Rauch und Nebelschwaden die Sicht. Er verharrte verwundert, als sich aus dem Rauch vor ihm eine schemenhafte Gestalt schälte. Wer auch immer da auf ihn zukam, lief so hastig die Treppe hinauf, als wären Teufel hinter ihm her. Als die Person näher kam, erkannte Dante einen der jüngeren Zeitreisenden, mit dem er zuletzt ins Jahr 1576 gereist war, um zwei junge Mädchen vor der Hexenverbrennung zu retten. Die festliche weiße Kleidung, die er für die Nacht der Eulen angelegt hatte, hing in Fetzen von seinem Leib, Schweiß lief ihm über das schmerzverzerrte Gesicht, das von weit aufgerissenen, rot unterlaufenen Augen dominiert wurde.

«Was machst du denn …», hob Dante an.

Sein ehemaliger Mitstreiter hetzte schweigend weiter, ohne ihn zu beachten. Dante guckte seinem Kollegen irritiert hinterher, als könne ihm die verstörende Erscheinung verraten, was geschehen war. Hinter ihm kämpften sich weitere Unsichtbare nach oben. Die meisten eilten mit leeren Blicken wortlos an Dante vorbei. Eine ältere Zeitreisende, die mit dem Tempo der jüngeren nicht mithalten konnte, blieb bei Dante stehen, dankbar für den willkommenen Anlass, eine Pause einzulegen und neuen Atem zu schöpfen. Dante erkannte in ihr die Kioskverkäuferin, bei der er sich hundertmal mit Zeitungen vom jeweiligen Tag seines Einsatzes eingedeckt hatte. Ohne ein Schwätzchen hatte er ihren Laden nie verlassen.

«Eine Katastrophe», presste die Verkäuferin schwer atmend hervor, «es ist eine einzige Katastrophe!»

Die sonst so fröhliche Frau war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Der Schleier aus Asche, der sich über ihre schwarzen Haare gelegt hatte, ließ sie um Jahrzehnte älter wirken. Eine Spur getrockneter Tränen lief über die eingefallenen Wangen ihres aschfahlen Gesichts. Die Augen blickten ihn matt an, die Mundwinkel hingen kraftlos herunter. Ihre Kleidung verströmte den unangenehmen Geruch von Rauch, Schweiß und Verzweiflung.

«Dreh um, solange der Tunnel noch offen ist. Es ist die einzige Möglichkeit, ihm zu entkommen», ächzte sie. Die Kioskfrau japste nach Atem. Ihre Arme gestikulierten hilflos durch die Luft.

Das Blut gefror in Dantes Adern. «Ihm?», wiederholte er ihre Worte. «Von wem sprichst du?»

Tausend Fragen schossen ihm durch den Kopf. Waren all diese Zeitreisenden auf dem Weg zu dem geheimen Tunnel, der den Taxistandplatz über der unsichtbaren Stadt mit der Uhrenfabrik verband?

Die Kioskfrau rang um Fassung: «Ich habe Rhea und die anderen Unterseer nie verstanden», presste sie hervor. «Ich habe mir nie vorstellen können, im Exil zu leben. Bis ich in die Augen des Zauber-Königs gesehen habe.»

Der Rest ging in Husten und atemlosem Röcheln unter. Dante klopfte ihr leicht den Rücken. Sein Blick ging hinunter ins Tal zur zerstörten Kuppel. Was erwartete ihn in der unsichtbaren Stadt? Das ehemals vertraute Bild wirkte fremd und unheimlich.

«Was ist mit der Zeitmeisterin?», fragte er alarmiert.

Die Kioskfrau schluchzte auf. Dante versuchte sie in den Arm zu nehmen und zu trösten, doch sie schlug seine Arme weg wie lästige Insekten.

«Ich bin immer noch Zeitreisende und kein Mensch», sagte sie.

Unsichtbare gestatteten sich keine Gefühle, nicht einmal im Untergang.

«Die Zeitmeisterin hat ihren Chronometer abgelegt», rief eine Stimme. Hinter der Kioskfrau näherte sich eine weitere Gruppe Flüchtlinge.

«Freiwillig!», schrie ein älterer Zeitreisender, dessen Glatze vor Schweiß glänzte. «Sie hat freiwillig die Macht an König abgegeben. Weil deine kleine Freundin sie im Stich gelassen hat.»

Dante sah sich auf einmal umringt von aufgewühlten Unsichtbaren, deren Stimmen sich überschlugen. Alle wollten Dante gleichzeitig ihre Beobachtungen mitteilen.

«Die Zeitmeisterin ist Geschichte», rief jemand.

«Die schwarzen Wachen haben sie abgeführt», behauptete ein anderer.

«Sie ist auf der Flucht.»

«König hält sie in der Stadt gefangen!»

«Die Trümmer der Kuppel haben sie begraben.»

«Xaver ist zu ihr gerannt, im nächsten Moment war sie verschwunden.»

Niemand wusste Genaues über das Schicksal ihrer mächtigen Chefin oder Lenas aktuellen Aufenthaltsort.

«Wir waren alle damit beschäftigt, unsere eigene Haut zu retten», gab die Kioskfrau ehrlich zu. «Keiner hat wirklich auf den anderen geachtet.»

Jeder hatte seine eigene Version entwickelt, was mit der Zeitmeisterin geschehen war. Einig waren sie sich nur in einem: Die unsichtbare Stadt war verloren. Und die spurlos verschwundene Lena war schuld daran.

Der Glatzkopf sprach aus, was alle dachten: «Jahrhundertelang haben wir die Königs aus der Stadt fernhalten können. Und dann bringt Lena einen von ihnen hierher. Sie alleine ist für den Untergang verantwortlich.»

Selbst die Kioskfrau sah das nicht anders. «Wenn du Lena nicht in die unsichtbare Stadt gebracht hättest, wäre das alles nie passiert!»

«Sie gehört zu uns», verteidigte Dante seine Freundin. «Wir machen alle Fehler.»

«Sie ist ein halbes Menschenkind, die Tochter einer Verräterin», sagte die Glatze vorwurfsvoll. «Warum hast du sie überhaupt in unsere Welt geführt?»

Die Blicke der Umstehenden richteten sich wie Pfeile auf ihn. Dante senkte betroffen den Kopf. Er hätte viele Antworten auf die beißende Frage geben können. Er hatte Lena den Weg in die unsichtbare Stadt gezeigt, weil er die Geheimnisse satthatte, die sich um Rhea und die Unterseer rankten; weil ihm Lena mit ihrer Hartnäckigkeit, die Wahrheit über den Tod ihrer Mutter herauszufinden, imponiert hatte; weil sie ihm eine neue Welt geöffnet hatte, deren Existenz den Unsichtbaren verborgen geblieben war. Die Welt der Menschen, die Welt der Liebe. Lena hatte ihm beigebracht, im Augenblick zu verweilen. Bei den Zeitreisenden war Leben und Arbeit eins. Ihre Tage waren streng durchgetaktet und von Regeln und minutiöser Planung bestimmt. Bei Lena wusste man nie, welche Überraschung einen im nächsten Moment erwartete. Sie war unberechenbar. Alles war möglich mit Lena an seiner Seite. Er hatte schreckliche Dinge mit ihr erlebt und die allerschönsten. Wie Seifenblasen stiegen Erinnerungen in ihm auf. An Schwimmausflüge, Schlittenfahrten, an Beinahe- und an richtige Küsse. Er konnte weder Lena vergessen noch das Kribbeln im Bauch, das sie bei ihm verursachte. Er wünschte jedem einzelnen Zeitreisenden eine Lena, die ihm zeigte, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gab, als man in acht Grundregeln fassen konnte. Dante seufzte auf. Warum hast du sie in unsere Welt geholt? Ihm fielen tausend Gründe ein. Kein einziger würde diese Zeitreisenden überzeugen, die nur knapp aus der unsichtbaren Stadt entkommen waren.

«Du weißt nicht einmal, warum du unsere Gemeinschaft ins Unglück gestürzt hast», missdeutete der Glatzkopf sein Schweigen. «Sie haben recht», sagte er verächtlich. «Dir ist nicht mehr zu helfen. Die menschlichen Viren haben deinen Kopf zersetzt.» Er spuckte vor Dante aus.

Die Unsichtbaren wandten sich geschlossen ab und ließen Dante stehen.

«Komm mit uns», flüsterte die Kioskdame, die als Einzige zurückgeblieben war. Sie krallte sich in seinen Mantel und versuchte ihn mit ihrer ganzen Kraft davon abzuhalten, den gefährlichen Pfad nach unten zu beschreiten. «Was willst du noch in der Stadt?», fragte sie. Ihre Stimme überschlug sich. «Wir müssen uns zusammentun, wir müssen überlegen, wir brauchen eine Strategie.»

Dante schüttelte stumm den Kopf. Wie sollte er einen Plan entwickeln, wenn er nicht einmal wusste, was überhaupt die aktuelle Lage war? Was war mit der Zeitmeisterin geschehen? Und wo war Lena? Flucht war keine Option für ihn. Eine unheimliche Kraft zog ihn mit aller Macht in die unsichtbare Stadt hinunter.

Die Frau ließ kopfschüttelnd von ihm ab. «Dort unten findest du nur Verderben», sagte sie.

Dante hörte nicht auf sie. Er hatte eine klare Mission.

«Ich werde meine Fehler wiedergutmachen», sagte er entschlossen.

Der größte von allen war, Lena in der Nacht der Eulen ihrem Schicksal überlassen zu haben.

5Ein Angriff aus dem Dunkel

Das Licht im Gang der Sporthalle erlosch. Viel zu lange hatte Lena regungslos vor dem Bildschirm verharrt. Doch sie war nicht fähig, sich zu bewegen. Wohin auch? War sie wirklich im Jahr 2031 gelandet? Die holprige Reise hierher war ein deutliches Indiz dafür, dass es sich um keinen normalen Zeitsprung gehandelt hatte. Reisen in die Zukunft schienen anderen Regeln zu gehorchen. Sie holte tief Atem, um ihre flatternden Nerven zu beruhigen. Was jetzt?

Die Erinnerungsfragmente, die sie während ihres Falls gesehen hatte, kamen ihr wieder in den Sinn. Warum nur hatte Xaver sie auf diese Mission geschickt? Wer und was erwarteten sie in der Zukunft? Der Mitarbeiter der Revision hatte ihr fraglos etwas auf den Weg geben wollen. War es eine Warnung gewesen? Ein Auftrag? Oder hatte Xaver ihr den vorab eingestellten Chronometer nur zugesteckt, um sie an einen Ort zu befördern, von dem sie nie wieder zurückkehren konnte? Der verstörende Gedanke, mit der Annahme des Chronometers möglicherweise in eine Falle getappt zu sein, jagte ihr kalte Schauer über den Rücken. Lenas Kopf schwirrte. Bobbie würde in dieser Situation erst einmal eine Liste aufstellen, in der sie alle Möglichkeiten festhielt. Doch sosehr Lena sich auch anstrengte, sie kam auf genau zwei Alternativen.

1.

Xaver wollte sie retten.

2.

Xaver wollte sie ein für alle Mal loswerden.

Plötzlich hallte ein lauter Knall durch die Gänge. Lena schrak zusammen und hielt unwillkürlich die Luft an. Ihre Augen tasteten vorsichtig die dunkle Umgebung ab. Seit Kindertagen waren ihr diese Hallen und Gänge vertraut wie ihre eigene Westentasche. Jetzt verwandelten die Katakomben der Sporthalle sich in Feindesland. Angestrengt lauschte sie in das finstere Gängelabyrinth. Hörte sie da Schritte, ein Atmen? Alles in ihr verkrampfte sich, als sich plötzlich von hinten Hände über ihre Augen legten. Lena schrie panisch auf und schlug wild um sich, bis es ihr endlich gelang, sich aus dem Gewirr von Armen und Händen zu winden. Ihr Angreifer war zierlich und sehr viel schwächer als sie. Mit einer einzigen schnellen Bewegung gelang es ihr, ihn an der Wand festzusetzen. Das Licht, ausgelöst durch einen Bewegungsmelder, flammte auf. Ungläubig starrte Lena auf ihr Gegenüber.

«Wow», sagte eine atemlose Stimme. «Das war eine wilde Reise hierher. Ich hatte echt Angst steckenzubleiben.»

Lena traute ihren Augen nicht. Das Mädchen vor ihr trug einen Kurzhaarschnitt mit überlangem Pony, der ihr fransig in die Stirn hing, eine strahlend weiße Bluse und einen kurzen karierten Rock. Lena wich ein paar Schritte zurück und blickte fassungslos in das vertraute Gesicht. Dieselben großen Augen, die sie neugierig musterten, dieselbe kecke Nase. Aber was hieß das schon?

«He, ich bin’s, Bobbie», sagte das Mädchen mit der Stimme, die Lena von ihrer besten Freundin kannte.

«Wo kommst du denn her?», sagte Lena und versuchte so unbefangen wie möglich zu klingen.

War das wirklich Bobbie? Die Bobbie, die sie kannte? Da drinnen in der Sporthalle lief ein Jonas herum, der zehn Jahre älter geworden war. Diese Bobbie sah jedoch genauso aus wie die Bobbie, von der sie sich in der Uhrenfabrik verabschiedet hatte.

«Aus einem klebrigen Tunnel», sagte Bobbie. «Total abgefahren. Ich wollte erst gar nicht glauben, was in meinen Aufzeichnungen stand. Aber es ist wahr. Man kann mit dem Chronometer wirklich durch die Zeit reisen!»

Lena antwortete nicht. Hatte Bobbie tatsächlich denselben Weg zurückgelegt? Wie konnte das sein? War das ein Trick?

«Erinnerst du dich an deinen Ausflug ins Jahr 1900?», fragte Lena misstrauisch.

Bobbie schüttelte energisch den Kopf. «Ich erinnere mich an nichts», sagte sie nicht ohne Stolz in der Stimme. «Aber ich weiß alles.»

Lena verstand nicht, was ihre Freundin damit meinte. «Die Zeitmeisterin hat deine Erinnerungen gelöscht …», setzte sie an.

«Ich bin in meinem Bett aufgewacht», erzählte Bobbie aufgeregt. «Alles hat sich ganz normal angefühlt. Bis ich das Tattoo mit der Schatzkarte entdeckt habe. Ich hatte in der Vergangenheit alles aufgeschrieben, die Notizen vergraben und auf meinem Körper eine Nachricht an mein zukünftiges Ich hinterlassen.»

Sie zeigte stolz das Tattoo, das tatsächlich auf ihrem Knöchel prangte. Lena musterte Bobbie von Kopf bis Fuß. Skeptisch kniff sie die Freundin in den Oberarm, um sich von der Echtheit der Erscheinung zu überzeugen.

«Aber wie hast du mich gefunden?», fragte sie.

«Du rufst», antwortete Bobbie fröhlich. «Ich komme.»

«Ich habe nicht gerufen», sagte Lena erstaunt.

«Aber ich habe eine Nachricht von dir bekommen», sagte Bobbie und wies auf den Chronometer an ihrem Handgelenk.

Lena schüttelte ungläubig den Kopf, bis Bobbie ihr das Stückchen Film vorspielte. «Ich werde dir alles erzählen», sagte die Hologramm-Lena. «Aber erst einmal brauche ich deine Hilfe.»

«Das bin ich nicht», sagte Lena aufgebracht. «Ich habe dir keine Nachricht geschickt.»

Als Lena den Film ein zweites Mal begutachten wollte, stellte sie entsetzt fest, dass auch dieser Chronometer jeden Kontakt zur Basisstation verloren hatte. Die Uhr gab keinen Pieps mehr von sich. Er war tot. Lena erfasste sofort, was das bedeutete. Bobbie saß genauso hoffnungslos fest wie Lena selbst.

«Offenbar kann man Hologramme fälschen», konstatierte Bobbie nüchtern. Dafür wusste sie sogar, wie man so eine Fälschung nannte. «Deep Fake. Das ist schon in unserer Zeit kein Problem, Gesichter und Stimmen zu imitieren.»

Lena atmete tief durch. Hatte Xaver Bobbie verständigt, um ihr zur Seite zu stehen? «Nur gemeinsam», hatte Xaver gesagt. Seine rätselhaften Worte fielen ihr wieder ein: Zeit. Zuhause. Kontakt. Chronometer. Umgekehrt. Was wollte er ihr damit nur sagen? Sie war felsenfest davon überzeugt, dass es kein Zufall war, dass sie gemeinsam im Jahr 2031 gelandet waren. Xaver hatte geplant, dass sie hier rauskommen würden. Nur warum?

«Und was machen wir hier?», fragte Bobbie aufgekratzt. Ihr war die Tragweite des Chronometer-Ausfalls offenbar nicht sofort klar. «Ist das wirklich die Zukunft?»

«Erzähl mir erst einmal den Rest», flüsterte Lena aufgeregt. «Was ist mit Dante?»

6Jeder gegen jeden

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