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Flaschenpost aus der Vergangenheit - Die Sommerschwestern E-Book

Monika Peetz

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Beschreibung

Die Sommerschwestern sind zurück an der holländischen Nordseeküste und dieses Mal geht es um alles. Der dritte und letzte Band der Trilogie um die vier Schwestern lässt keine Wünsche offen und keine Leserin kalt.  Die Zwillinge Amelie und Helen feiern an der holländischen Nordsee in Bergen ihren gemeinsamen Geburtstag, als ein ungebetener Gast ihre Party sprengt: Wie aus dem Nichts taucht ihre Mutter in Bergen auf. Henriette Thalbergs erklärtes Ziel ist es, die hoffnungslos zerstrittene Familie zu vereinen. Ihr Einsatz ist hoch: Es geht um die Verteilung ihres Erbes. Keine der Sommerschwestern ahnt, dass auf dem Meeresboden eine verhängnisvolle Flaschenpost aus der Vergangenheit schlummert, die alles infrage stellt, was sie glaubten, über ihre Mutter und den Tod ihres Vaters in der verhängnisvollen Sturmnacht zu wissen. Das Meer nimmt, und das Meer gibt. Leider im falschen Augenblick.

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Flaschenpost aus der Vergangenheit - Die Sommerschwestern

Roman

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Über Monika Peetz

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Inhaltsverzeichnis

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Über Monika Peetz

Monika Peetz, studierte Germanistik, Kommunikationswissenschaften und Philosophie in München. Seit 1998 lebt sie als Drehbuchautorin in Deutschland und den Niederlanden. Monika Peetz ist die Autorin der Bestsellerreihe »Die Dienstagsfrauen«. Ihre Romane um die fünf Freundinnen waren SPIEGEL-Bestseller und verkauften sich allein im deutschsprachigen Raum über eine Million Mal. Ihre Bücher erscheinen in 26 Ländern und sind auch im Ausland Bestseller. Bei Kindler Jugendbuch hat sie die Romantriologie »Herz der Zeit« vorgelegt.

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Über dieses Buch

Die Sommerschwestern sind zurück an der holländischen Nordseeküste und dieses Mal geht es um alles. Der dritte und letzte Band der Trilogie um die vier Schwestern lässt keine Wünsche offen und keine Leserin kalt. 

Die Zwillinge Amelie und Helen feiern an der holländischen Nordsee in Bergen ihren gemeinsamen Geburtstag, als ein ungebetener Gast ihre Party sprengt: Wie aus dem Nichts taucht ihre Mutter in Bergen auf. Henriette Thalbergs erklärtes Ziel ist es, die hoffnungslos zerstrittene Familie zu vereinen. Ihr Einsatz ist hoch: Es geht um die Verteilung ihres Erbes. Keine der Sommerschwestern ahnt, dass auf dem Meeresboden eine verhängnisvolle Flaschenpost aus der Vergangenheit schlummert, die alles infrage stellt, was sie glaubten, über ihre Mutter und den Tod ihres Vaters in der verhängnisvollen Sturmnacht zu wissen. Das Meer nimmt, und das Meer gibt. Leider im falschen Augenblick.

Inhaltsverzeichnis

Widmung

1. Eiszeit

2. Blauer Montag

3. Herzlichen Glückwunsch

4. Am falschen Ort

5. Überraschung

6. Es liegt an dir

7. Nächtliche Besucher

8. Guten Morgen

9. Hilf dir selbst

10. Ohne dich

11. Ein neuer Job

12. Finden und gefunden werden

13. Alles Käse

14. Wie eine Löwenmama

15. Hand und Fuß

16. Zukunftspläne

17. Fragen über Fragen

18. Das ist meine Geschichte

19. Krumme Linien

20. Umwege

21. Bekannte Unbekannte

22. Die Welt als Bühne

23. Der Moment größten Glücks

24. Die Botschaft des Universums

25. Jenseits von Gut und Böse

26. Fragen über Fragen

27. Alles weg

28. Erinnerungen schaffen

29. Der Letzte kocht

30. Besuch bei Papa

31. Gestrandet

32. Eine von uns

33. Nächtliche Tänze

34. Zu Hause

35. Schlechtes Karma

36. Flexibel für immer

37. Parkplatz gesucht

38. Geordneter Rückzug

39. Tauschgeschäfte

40. Liebe zu dritt

41. Vaterfreuden

42. Ein neues Zuhause

43. Ohne euch

44. Kopfschmerzen

45. Aufräumen

46. Chronisch untreu

47. Hoch hinaus

48. Lasst mich nicht allein

49. Abschied

50. Wieder zu Hause

51. Neuanfänge

52. Ciao, Papa

Dank

Für Emma und Paul

1.Eiszeit

Der Winter kam früh. Über Nacht hatte strenger Frost eine Decke zart glänzenden Puderzuckers über Nordholland gelegt und die Dünen in eine Märchenlandschaft verwandelt. Bäume, Sträucher und Gräser hüllten sich in ein schimmerndes Kleid aus winzigen Eiskristallen, auf dem Boden glitzerte kandiertes Herbstlaub. Amelie war extra früh aufgestanden, um das zauberhafte Winteridyll für ihre Follower einzufangen. Seit sie an die Nordsee ins niederländische Bergen gezogen war, teilte sie ihre Tage nicht nur mit Philomena, sondern auch mit einer stetig wachsenden Zahl von Menschen, die ihrem Instagram-Kanal »Sachensuchen mit Amelie« folgten.

Der Ferienort ihrer Kindheit und die Gemeinschaft rund um das Cultuurdorp waren für sie zu einer neuen Heimat geworden, auch wenn das Leben in und mit der Natur oft eine Herausforderung darstellte. Holländer beschwerten sich leidenschaftlich gerne über das Wetter: »Zu heiß, zu kalt, zu nass, zu trocken, zu windig, zu unbeständig …« Doch als das Thermometer unter die magische Null-Grad-Grenze sank, verstummte das Dauerklagen schlagartig. Je niedriger die Temperatur, desto besser die Stimmung.

»Schlittschuhwetter«, jubelte Philomena.

Die anhaltende Kältefront versetzte ganz Holland in kollektive Euphorie. Das kleine Land, das von Entwässerungskanälen, Wasserstraßen und Seen durchzogen war, zelebrierte die stetig dicker werdende Eisdecke als Ereignis von nationaler Wichtigkeit.

Wollt ihr nicht kommen? schrieb Amelie an ihre drei Schwestern. Hier grassiert das Eisfieber.

Ihre Einladung stieß auf taube Ohren. Seit dem letzten Sommer war ihre Familie komplett zerstritten. Die ungeklärten Fragen rund um den Unfall des Vaters vor über zwanzig Jahren hatten Doro, Yella und die Zwillinge Amelie und Helen auseinanderdriften lassen. Jede der Schwestern versuchte auf ihre eigene Weise, sich mit ihrer exzentrischen Mutter zu arrangieren. Henriette Thalberg wehrte sich energisch dagegen, die ganze Wahrheit über den Tod des Vaters preiszugeben. Die Familienlegende wollte, dass ihr Vater in der Sturmnacht trotz grimmigster Wetterumstände ans Meer gefahren war, um einen Blick auf die aufgepeitschte Nordsee zu werfen. Diese Theorie war in sich zusammengebrochen, nachdem sie herausgefunden hatten, dass Johannes Thalberg an dem Abend nicht alleine gewesen war. Er hatte den Weg anscheinend mit einer heimlichen Geliebten angetreten. Bis heute war es ihnen nicht gelungen, die Frau, die ihren Vater in Abwesenheit der Mutter aufgesucht hatte, zu identifizieren.

Die dunklen Geheimnisse aus der Vergangenheit überschatteten die familiären Beziehungen. Yella und Doro beschuldigten sich gegenseitig, über die Sturmnacht gelogen zu haben, während Helen vor allem wütend auf ihre Mutter war, die sich aus unerfindlichen Gründen weigerte, ihre Version der Ereignisse mit den Töchtern zu teilen und den Namen der Unbekannten zu nennen. Doro stand wie immer bedingungslos zu ihrer Mutter und reklamierte so ganz nebenbei schon mal das mütterliche Erbe für sich alleine. Auf Kosten ihrer Schwestern! Kein Wunder, dass sie auf Amelies Einladung kurz angebunden reagierte: Keine Zeit.

Helen war da schon ehrlicher. Mir steht der Sinn nicht nach Familientreffen schrieb sie. Und von Yella erhielt Amelie statt einer Zusage einen Brief, in dem sie alles zusammengefasst hatte, was sie gemeinsam mit Helen über ihren Vater und die Unfallnacht herausgefunden hatte.

Es sollen keine Geheimnisse mehr zwischen uns stehen schrieb sie.

Yella hatte damals ihren Vater Arm in Arm mit der Fremden ertappt, jetzt hatte sie erstmals probiert, das Porträt der Unbekannten zu Papier zu bringen. Die Zeichnung hatte sie allen Schwestern und der Mutter zukommen lassen.

Vielleicht könnt ihr euch mal im Dorf umhören? forderte Yella Amelie und Philomena auf. Jemand muss die Frau doch kennen.

Die Unbekannte mit dem auffällig roten Schopf verfolgte sie in ihre Träume. Nach einer unruhigen Nacht fand Amelie am Morgen zu alter Gelassenheit zurück.

»Es ist für mich nicht wichtig, was diese Frau mit Papa verband«, sagte sie am Frühstücktisch zu Philomena. »Mir geht es nur darum, was mich mit Papa verbindet.«

Welchen Sinn sollte es haben, diese Frau zu finden? Amelie konnte so gut nachvollziehen, dass ihre Mutter nicht an dieser für sie sicher schmerzhaften Geschichte rühren wollte. Sie fand es nicht mal beunruhigend, dass Doro die Familienvilla überschrieben bekommen hatte.

»Ich bin mir sicher, Doro zahlt uns aus, sobald es ihr finanziell besser geht«, meinte sie.

Philomena verschluckte sich fast an ihrem Müsli: »Du bist echt zu nett«, prustete sie.

»Familie ist wichtiger als jedes Geld der Welt«, sagte Amelie. »Seit wann heißt die Maßeinheit von Liebe Euro?«

Energisch setzte sie ihre leere Kaffeetasse auf den Tisch und ging an die Arbeit. Für Amelie bedeutete es die größtmögliche Freiheit, mit wenig auszukommen. In den Wintermonaten vertrieb sie über Instagram Kosmetik, Tee und Gewürzmischungen aus eigener Herstellung. Daneben lebten sie von dem, was Philomena als Taxifahrerin oder Comedian in verschiedenen Klubs erwirtschaftete. Ihre Bedürfnisse waren so bescheiden, dass es ihnen sogar gelang, Geld für ihren großen Traum beiseitezulegen, die betagte Jurte im nächsten Jahr durch ein Tiny House zu ersetzen.

»Interessiert dich nicht, was deine Mutter umtreibt?«, fragte Philomena, während sie ihr beim Verpacken der Bestellungen assistierte.

»Jeder Mensch hat ein Recht auf Geheimnisse«, sagte Amelie leise. »Selbst Mütter.«

 

Das Frostwetter kam wie gerufen. Die äußere Eiszeit lenkte bestens von der Eiszeit in ihrer Familie ab. Amelie ließ sich von der Aufregung anstecken, die ganz Holland erfasste. Wie jedes Jahr konkurrierten unzählige Vereine um die Austragung des allerersten Marathons auf Natureis. In Amsterdam und anderen Grachtenstädten traten umgehend offizielle Fahrverbote auf den Kanälen in Kraft. Kein Schiffsbug sollte der lang ersehnten Eisbildung im Weg stehen. In Nachrichten und Talkshows spekulierten ijsmeester Eismeister, gemeinsam mit Eisschnellläufern und Hobbysportlern zur besten Sendezeit darüber, ob es nach über 25 Jahren wieder einen Elfstedentocht geben könnte, einen legendären Langstreckenwettbewerb im Eisschnelllauf, der sich über 200 Kilometer und 11 friesische Städte zog.

»Seit 1909 hat der Elfstedentocht ganze fünfzehn Mal stattgefunden«, erzählte Philomena. »Das hält keinen Holländer davon ab, Jahr für Jahr endlos darüber zu spekulieren.«

Als Amelies persönliche Wetterfee begrüßte Philomena den Frost wie einen lang erwarteten Freund. Anders als die Offiziellen im Land, die fachkundig ein Loch bohrten und aus der Beschaffenheit des Eises ablasen, wie die Chancen zum Schlittschuhlaufen standen, setzte das kleine Energiebündel auf Körpereinsatz. Unter vollem Risiko testete Philomena nach vier Tagen erstmals die Tragfähigkeit der Eisdecke.

»Es hält«, rief sie begeistert in die Kamera und hüpfte wie ein Flummi auf dem Kanal hinter dem Cultuurdorp herum. Beim vierten Hopser brach sie sang- und klaglos im ächzenden Eis ein.

»Bodenfrust statt Bodenfrost«, kommentierte Amelie trocken.

Philomena lachte am lautesten über ihr Missgeschick: »Schlecht für mich, großartig für Instagram.«

 

Nach ein paar weiteren Frostnächten war es dann wirklich so weit. Amelie zog ihre Unox-Mütze über die Ohren, die sie beim traditionellen Neujahrsschwimmen ergattert hatte, als sie sich todesmutig mit zigtausend anderen in das fünf Grad kalte Wasser der Nordsee geworfen hatte. Die knallorangefarbene Wollmütze mit dem Bommel und dem Bündchen, die in den niederländischen Landesfarben Rot, Weiß, Blau leuchteten, stach als bunter Farbklecks in dem Meer an Grautönen heraus. Vorsichtig wagte sie sich aufs Eis, nur um festzustellen, dass man manche Dinge nie verlernte: Fahrradfahren, Schwimmen und anscheinend auch Schlittschuhlaufen.

 

Die Niederländer stürzten sich begeistert auf das Eis. Halb Holland hatte »ijsvrij«, eisfrei, genommen. Amelie fühlte sich, als wäre sie aus Versehen in eines dieser berühmten Wimmelbilder aus dem 17. Jahrhundert hineingeraten, die das winterliche Eistreiben abbildeten.

Richtig genießen konnte sie die Winterfreuden allerdings nicht. Amelie merkte, dass Yellas Brief gegen ihren Willen in ihr rumorte. Sie konnte nicht verhindern, dass sie die Schlittschuhfahrer auf dem Eis unwillkürlich musterte, um ihr Äußeres insgeheim mit dem gezeichneten Porträt der rothaarigen Frau abzugleichen. Kritisch beäugte sie jeden, der ihr auf dem Eis entgegenkam: die sportlichen Langstreckenläufer, die in hastigem Tempo an ihnen vorüberzogen, ambitionierte Eishockeyspieler, die den Puck in improvisierte Tore stießen, Kinder, die mit Stühlen als Gleichgewichtshilfe über das Eis schlitterten, ein älteres Paar, das gemeinsam Pirouetten drehte. Selbst bei den Imbissbuden, die neben den Kanälen aus dem Boden wuchsen, kontrollierte sie, wer da heiße Erbsensuppe, den klassischen holländischen Kakao Chocomel oder Glühwein an unterkühlte Schlittschuhläufer verkaufte. Es gelang ihr einfach nicht, Yellas Bitte abzuschütteln. Dabei hatte sie längst beschlossen, sich nicht aktiv an der Suche nach der geheimnisvollen Affäre ihres Vaters zu beteiligen. Amelie hatte nicht das geringste Interesse, die alten Verletzungen in ihr neues Leben zu tragen. Sie war so viel mehr als ihre tragische Vergangenheit. Bislang hatten die Fragen und Enthüllungen nur Elend über die Familie gebracht.

Hektisch sah sie sich um. Die Menschenmenge überforderte Amelie. Philomena spürte ihre Not. Kurzerhand bremste sie ab. Die Eisen ihrer Schlittschuhe gruben sich so tief in die glatte Oberfläche, dass Eissplitter aufstoben. Schwungvoll zog sie Amelie auf einen baumgesäumten Nebenkanal, der sie auf direktem Weg hinaus in die weite Polderlandschaft führte. Je weiter sie sich vom Dorf mit seinem Getümmel entfernten, desto einsamer und stiller wurde es auf dem Eis. Erst in dieser friedlichen Umgebung realisierte Amelie so richtig, warum die Holländer so schlittschuhverrückt waren. Es war ein geradezu erhebendes Erlebnis, durch die menschenleere Winterlandschaft zu schweifen. Ihre Kufen erzeugten ein leises, rhythmisches Knirschen auf dem Eis, neben sich hörte sie Philomenas Atem. Eine Gans flog erschreckt auf, ein paar Krähen riefen. Ein Gefühl von Freiheit und Leichtigkeit ergriff sie. Hand in Hand glitten sie Richtung Windmühle, die sich als Silhouette in dem Meer von Grautönen allenfalls erahnen ließ. Der frostige Atem, der ihre Lippen verließ, schwebte einen Moment in der Luft vor ihnen, bevor er sich auflöste. Kilometerlang flogen sie schweigend über die gefrorenen Wasserflächen. Selbst die kleinen Umwege gehörten dazu. So ganz nebenbei lernte Amelie ein neues Wort: klunen. Wieder so ein typisch niederländischer Ausdruck, für den es keine direkte deutsche Übersetzung gab. Klunen hieß nichts anderes, als dass man auf Schlittschuhen über ein Stück Land laufen musste, um von einer mit Eis bedeckten Fläche zur nächsten zu gelangen.

»Komm, wir machen ein Reel für Instagram«, schlug Amelie vor.

Philomena fing Amelies zaghafte Pirouetten mit der Handykamera ein. Amelie genoss jede Sekunde. Die Wintersonne blinzelte wie ein fahles Auge durch den Vorhang milchiger Wolken. Hier draußen hatte der Westwind freies Spiel und jagte Nebelschwaden über das Eis. Amelie spürte nichts von der Kälte, die sich durch ihre Kleidung drängte, nicht mal die schmerzenden Zehen. Ihre Wangen glänzten rot, der eisige Wind schmeckte nach dem Salz der Nordsee.

 

Am Abend sank Amelie glücklich in ihr Bett. Einen Moment vergaß sie alles, was sie im Alltag belastete. Selbst Yellas Brief, der unter ihrem Bett verstaubte.

Als sie am nächsten Morgen aufstand, war ihr Instagram-Post bereits tausendfach geteilt und kommentiert worden. Amelie glaubte ihren Augen nicht zu trauen, als sie die Rückmeldung überflog. Unheimlichstand da. Einfach nur gruselig fiel eine zweite Stimme mit ein. Viele der Reaktionen stießen ins selbe Horn. Ich würde mich da kein zweites Mal rauswagen, las sie, oder Danke, Amelie, ich wollte eigentlich schlafen. Ein Follower konnte sich gar nicht beruhigen. Ich hoffe, es geht dir gut schrieb er.

Amelie kontrollierte irritiert, was sie da gestern geteilt hatte, das Reel war doch völlig harmlos gewesen. Die idyllischen Winteraufnahmen flackerten vor ihren Augen. Sie beobachtete sich selbst, wie sie auf Schlittschuhen durch die magische Eislandschaft glitt. Doch nach wenigen Sekunden passierte etwas Seltsames: Im Nebel tanzte eine schemenhaft schwebende Gestalt. Der Wind wirbelte das geisterhafte Wesen um sie herum. Die Umrisse der Figur verschwammen und verschmolzen wieder, als ob sie zwischen zwei Welten wanderte. Die Erscheinung wirkte furchteinflößend und faszinierend zugleich.

»Eine optische Täuschung«, meinte Philomena nüchtern.

Amelie schüttelte den Kopf. Sie wusste es besser. Es hatte tiefere Gründe, warum sie sich in Bergen mehr zu Hause wähnte als an allen anderen Orten, an denen sie bislang gelebt hatte. Hier in den Dünen spürte sie überall die Anwesenheit ihres Vaters, der diese Landschaft so sehr geliebt hatte. An guten Tagen fühlte sich seine Präsenz für Amelie an wie eine unsichtbare Umarmung. Seitdem ihre Schwestern jedoch angefangen hatten, in der Vergangenheit herumzuwühlen, strahlte das mystische Kraftfeld zunehmend negative Energien aus.

»Das ist Papa«, wiederholte Amelie. »Seine Seele findet keine Ruhe.«

»Ich glaube eher, er langweilt sich«, witzelte Philomena. »Das ist das Schlimmste am Totsein: Es passiert einfach nichts mehr. Nicht umsonst heißt es tödliche Langeweile.«

»Es passiert zu viel«, widersprach Amelie. »Solange wir Schwestern streiten, kann seine Seele keine Ruhe finden.«

Philomena legte den Kopf schief. »Ruhe wird vollkommen überschätzt.«

Normalerweise half ihr Philomenas nüchternes Relativierungsvermögen dabei, nicht allzu sehr in düsteren Stimmungen zu versinken. Diesmal war es Amelie ernst.

»Er hasst, was aus unserer Familie geworden ist«, beharrte sie auf ihrer Einschätzung.

Ihr Vater war immer derjenige gewesen, der darauf achtete, dass sich die vier Mädchen nach Auseinandersetzungen versöhnten.

»Nie im Streit auseinandergehen«, dozierte er gerne. »Und abends immer aufräumen.«

Rest in peace? Wie denn? Sie hatte das Gefühl, dass ihr Vater als Untoter durch ihrer aller Leben wanderte. Die Recherchen ihrer Schwestern hatten ihn aus seiner Totenruhe geweckt. Der Schmerz über den Verlust fühlte sich wieder neu und roh an. Wie ein dunkler Schleier hatte sich die Trauer ein zweites Mal über die ganze Familie gelegt. Kein Wunder, dass es keinen Weg gab, zueinanderzufinden. Trauer führt dazu, dass alle nur mit sich selbst beschäftigt sind. Amelie konnte einfach nicht verstehen, warum ihre Schwestern zuließen, dass das Gestern das Heute überschattete.

Wie sagte Philomena immer: »Jeder hat seine Aufgabe in dieser Welt. Meine ist, Witze zu reißen und viel zu laut und an der falschen Stelle zu lachen.«

Welche Rolle hatte sie zu spielen? Amelie betrachtete nachdenklich das unheimliche Reel. Sie ahnte, was ihr Vater von ihr erwartete. Johannes Thalberg konnte nicht mehr aufräumen und für Familienfrieden sorgen. Er gab einen unsichtbaren Stab an sie weiter. Es war an ihr, in seine Fußstapfen zu treten. Sie würde alles daransetzen, die zerstrittenen Parteien zusammenzubringen.

2.Blauer Montag

»Wo willst du anfangen?«, fragte Philomena. »In deiner Familie ist jeder auf jeden sauer.«

Doro und Yella redeten kein Wort mehr miteinander, Helen hatte final mit ihrer Mutter gebrochen. Amelie selbst rotierte wie ein Dolmetscher, der versuchte, zwischen Menschen mit unterschiedlichen Sprachen zu vermitteln.

Amelies Vorschlag, gemeinsam Weihnachten in Holland zu feiern, stieß auf wenig Gegenliebe.

»Zu aufwendig«, sagte Yella.

»Zu viel Familie«, antwortete Helen.

»Zu besinnlich«, meinte Doro. »Stille Nacht und Glühwein machen mich nervös.«

»Macht euch bloß keine Umstände«, sagte ihre Mutter.

Dabei wollte Amelie sich gern so viele Umstände wie möglich machen, wenn es half, die Familie zu vereinen.

»Ich bin in einem Alter, in dem ich Prioritäten setzen muss«, erklärte Henriette. »Es gibt so viele Dinge, die ich noch erleben möchte.«

Weihnachten mit der Familie stand offenbar nicht mehr auf ihrer Bucketlist. Sie war mit ihrem holländischen Ehemann Thijs und Camper unterwegs Richtung Lofoten.

»Ich wollte schon immer mal das Polarlicht sehen«, sagte sie. Statt auf Amelies Wunsch einzugehen, sendete sie Bilder von ihrer Skandinavien-Tour: von eisigen Straßen, schneebedeckten Tannenwäldern, gemütlichen Restaurants und verwunschenen Nachthimmeln in allen Schattierungen von Neonblau und Smaragdgrün. Fragen blieben unbeantwortet. Zumeist waren sie viel zu weit von Glasfasernetzen und Internetverbindungen entfernt. Und somit auch von Ärzten, dachte Amelie. Doch sie weigerte sich, sich über die schwelende Krankheit ihrer Mutter weiterführende Gedanken zu machen.

»Mama wird wissen, was ihr guttut«, meinte sie versöhnlich.

»Ihre Familie ist es jedenfalls nicht«, sagte Philomena und erntete einen bösen Blick von Amelie.

Die Vorweihnachtszeit mit ihren Aufregungen tröstete sie über den Kummer hinweg. Amelie und Philomena pflegten gemeinsam ihre unterschiedlichen Traditionen. Am 5. Dezember feierten sie Sinterklaas Die niederländische Variante des Nikolauses kommt mit dem Dampfboot aus Spanien, begleitet von zahllosen Helfern, die allesamt Piet heißen. Er bedenkt Kinder und Erwachsene nicht nur mit Geschenken, sondern auch mit liebevoll plagenden Gedichten, Schokoladenbuchstaben und pepernoten eine Art Minipfeffernüsse. Am Tag danach füllte Amelie Philomenas Gummistiefel mit Lebkuchen und Dominosteinen.

»Das ist das Gute, wenn man zwischen den Kulturen aufwächst«, sagte Philomena, deren Familie aus der ehemaligen niederländischen Kolonie Surinam stammt, »man hat viel mehr Grund zu feiern.«

Heiligabend, in den Niederlanden ein gewöhnlicher Arbeitstag, verbrachten sie zu zweit in der Jurte. Sie aßen Kerstbrood eine Art Stollen nach dem Rezept von Philomenas Oma, Vanillekipferl und Zimtsterne.

Zu Silvester gab es dann oliebollen Diese in Öl ausgebackenen Teigkugeln aus Mehl, Hefe, Eiern und einem Schuss Milch wurden seit Mitte November an speziellen Ständen verkauft und mit einer dicken Schicht Puderzucker serviert. Im Hintergrund dudelten die Top 2000, die jedes Jahr von den Niederländern gewählt werden. Philomena regte sich furchtbar auf, dass »Bohemian Rhapsody« von Queen es schon wieder auf Platz eins geschafft hatte.

Danach musste Philomena viermal Dinner for one anschauen, Amelie versuchte im Gegenzug, der Oudejaarsconference zu folgen, in der ein berühmter Kabarettist am Silvesterabend das vergangene Jahr im Fernsehen Revue passieren ließ. Philomena war begeistert, als Amelie an den richtigen Stellen lachte. Als um Mitternacht über ihnen das Feuerwerk explodierte, schickte Amelie einen einzigen Wunsch für das kommende Jahr in den Himmel. Sie wollte, dass ihre Familie den Zwist endlich begrub. Nachts hörte sie regelmäßig rund um die Jurte unheimliche Geräusche.

»Das sind Mäuse. Die lassen sich unsere Isolierung schmecken«, meinte Philomena.

Amelie wusste es besser. Sie spürte die unmissverständliche Präsenz ihres Vaters. Es gab einen guten Grund, warum man Tote beerdigte und sich versprach, nichts Schlechtes über Verstorbene zu sagen. Die Seele ihres Vaters irrte ruhelos umher.

Der Januar wurde zu einer echten Herausforderung. Amelie fror bitterlich. Während draußen Regen die Wiese im Cultuurdorp in eine endlose Modderlandschaft verwandelte, herrschte in ihrer Jurte zunehmend dicke Luft. Kein Wunder. Laut eines britischen Forschers war der dritte Montag im Jahr der deprimierendste Tag des ganzen Jahres. Deprimaandag hieß das auf Niederländisch. Die Weihnachtszeit war vorbei, sämtliche guten Vorsätze fürs neue Jahr gebrochen. Der Winter schleppte sich endlos dahin. Bei sieben Grad und Nieselregen sank ihr Bedürfnis, aktiv zu sein, auf einen neuen Tiefpunkt.

»Solche Theorien machen mich nur noch deprimierter«, sagte Philomena.

Stattdessen entführte sie Amelie zu einem Fest ihrer Familie, wo Berge von Essen für zahllose Gäste bereitstanden. Das Durcheinander von Schwestern, Brüdern, Tanten und Onkeln, Cousins und Cousinen, Freunden, Nachbarn, Kindern und Kindeskindern überforderte Amelie. Philomenas Papa zog sie zu sich heran und erläuterte ihr liebevoll die Zusammenhänge. Er ließ es sich nicht nehmen, beim Stammvater zu beginnen. Vor hundertfünfzig Jahren! Die Familie hatte indische, hindustanische, surinamische und längst auch niederländische Wurzeln. Wie schafften die das bloß? In Philomenas Familie herrschte trotz aller Unterschiede und lautstarker Auseinandersetzungen das Bewusstsein einer tiefen Zusammengehörigkeit. Amelie, überwältigt von Dutzenden Namen und ebenso vielen freundlichen Gesichtern, flüchtete aufs Klo. Das fröhliche Treiben stand im scharfen Kontrast zur Stimmung in ihrer eigenen Familie. Sie öffnete die gemeinsame Nachrichtengruppe der Schwestern, in der seit Monaten eisiges Schweigen herrschte. Unglücklicherweise fehlte ihr die zündende Idee, wie man die Spannung schlagartig hätte auflösen können.

Als sie seufzend vom Telefon aufsah, fiel ihr Blick auf ihren eigenen Namen. Gerührt stellte sie fest, dass sie bei Philomenas Eltern einen Platz im Geburtstagskalender erobert hatte, der in so vielen holländischen Haushalten die Toilettentür zierte. Amelie drehte gerne kleine Filme über die charmanten Eigenheiten der Niederländer: über Stuhlkreise an Geburtstagen, Dosen mit Gebäck, die, nachdem sich jeder Gast genau einen Keks genommen hatte, wieder in der Küche verschwanden, über Käse- und Leberwurstwürfel, die standardmäßig bei offiziellen Zusammenkünften gereicht wurden, die Zubereitung von klassischem holländischen stamppot (einem dicken Püree aus Grünkohl und Kartoffeln, serviert mit rookworst Rauchwurst) oder die richtige Art, Hering zu essen: zunächst in gewürfelte Zwiebeln tunken, dann am Schwanz hoch über den Kopf heben und abbeißen. Und eben über die Geburtstagskalender im Badezimmer. Hier verewigt zu sein, bedeutete, dass man endgültig in die Familie aufgenommen worden war. In ihre Rührung mischte sich ein brennender Schmerz. Es fühlte sich ganz und gar falsch an, dass da nur ein einziger Name stand. Sie war ein Zwilling. Ihre Schwester Helen gehörte zu ihr, was auch immer gerade zwischen ihnen stand. Und auf einmal wusste sie, wo ihre Friedensmission beginnen musste.

3.Herzlichen Glückwunsch

»Wetter ist was für Feiglinge«, erklärte Amelie entschlossen. »Und Geburtstag hat man nur einmal im Jahr.«

Helen beäugte kritisch die dunklen Wolken, die sich über der Nordsee zusammenbrauten, dann ihre Zwillingsschwester. Eineinhalb Jahre in Holland hatten ihre ehemals so zarte und durchscheinende Schwester in eine unerschrockene Küstenbewohnerin verwandelt. Und in jemanden, die genau wusste, was sie wollte. Amelie hatte dieses Jahr geradezu darauf bestanden, den gemeinsamen Geburtstag auch gemeinsam zu feiern.

»Wer behauptet, dass man für ein Picknick am Strand Sonne braucht?«, sagte sie. »Und zum Feiern schon gleich gar nicht.«

»Das zieht vorbei«, bestätigte Philomena.

Die Freundin ihrer Schwester ließ die schweren Taschen mit Proviant und Strandausrüstung fallen und rollte, unbeeindruckt von drohender Wetterunbill, eine Wolldecke im Sand aus. Eine bunte Wimpelkette spannte sie zwischen zwei Stöcken.

»Mijn liefje is jarig«, klärte Philomena ein Urlauberpaar auf, das mit düsteren Mienen hektisch vor dem aufziehenden Regen floh. »Meine Liebste hat Geburtstag. Sie ist ein Zwilling«, ergänzte sie.

Sie wies mit dem Zeigefinger zwischen Helen und Amelie hin und her. Philomena sorgte dafür, dass jeder einzelne Strandbesucher, der an ihrer Picknickstelle vorbeikam, von dem freudigen Ereignis erfuhr.

»Gefeliciteerd«, klang es amüsiert aus vielerlei fremden Kehlen. »Herzlichen Glückwunsch.«

Helen verstand sofort, warum ihre Schwester sich in die temperamentvolle Holländerin verliebt hatte. Philomena schaffte es immer wieder, ein Lächeln auf ihre Gesichter zu zaubern. Ihr Enthusiasmus, den Tag trotz Widrigkeiten zu zelebrieren, war ansteckend. Den Dreißigsten hatte Helen ohne Familie nur mit Paul gefeiert. Nun empfand sie es als das pure Glück, den Einunddreißigsten bei ihrer Schwester in Bergen zu verbringen, dem legendären Ferienort ihrer Kindheit. Sie war überglücklich, dass Paul mitgekommen war, auch wenn sie heimlich über seinen Look lächeln musste. Mit seiner schmal geschnittenen Stoffhose und dem trendigen Sakko, das er lässig über einem weißen T-Shirt trug, sah er ein kleines bisschen aus, als hätte er sich für ein Lifestyleblatt als hipper Nordseeurlauber verkleidet. Vermutlich war Paul der einzige Mensch, der noch in Funktionskleidung urbanen Chic versprühen würde.

 

Donnernd brachen sich hohe Wellen am Strand und hinterließen weiße Schaumkronen auf dem Sand. Der Geruch von Salzwasser und Tang mischte sich mit dem Duft von würzigem Curry und frisch gebackenem, noch warmem Brot. Helen kuschelte sich an Paul. Sie hatten ganze vierzehn Tage für den Aufenthalt in Holland reserviert. Sie freute sich, ihre Schwester diesmal ganz für sich zu haben. Größere Menschenansammlungen überforderten Helen, vor allem dann, wenn es sich um ihre eigene Familie handelte. Bei vier Schwestern und einer egozentrischen Mutter wurden Treffen sehr schnell unübersichtlich. Wenn dann noch der Anhang dabei war, hatte Helen immer das Gefühl, als lauschte sie einem Radio, bei dem der Sender nicht richtig eingestellt war und sämtliche Programme sich überlagerten. Helen mochte Menschen am liebsten dosiert und einzeln.

In den vergangenen Monaten hatte Helen einen regelmäßigen Austausch mit ihrer Zwillingsschwester gepflegt, telefonierte gerne und ausführlich mit Yella und ihren Neffen und so gut wie nie mit ihrer ältesten Schwester Doro. Den Kontakt zu ihrer Mutter hatte sie nach ihrer großen Auseinandersetzung abgebrochen.

»Ich wünsche mir so sehr, dass du mit Mama einen gemeinsamen Weg findest«, sagte Amelie, die ahnte, was Helen bewegte. »Ich glaube, sie wartet nur darauf, dass du dich meldest.«

»Ich?«, wunderte sich Helen.

War es nicht ihre Mutter, die ihr eine Antwort schuldete? Ihr und ihren Schwestern? Wissenschaftliche Studien behaupten, dass jeder Mensch 13 Geheimnisse mit sich herumtrage. Fünf davon, so die Statistik, nimmt man mit ins Grab. Henriette hatte ganz offensichtlich entschieden, dass sie alles, was ihren ersten Mann betraf, den Vater von Doro, Yella, Amelie und Helen, für sich behalten würde. Vor allem die Wahrheit über seinen Unfalltod und seine mysteriöse Affäre. Helen war sich bewusst, dass Amelie der Frage nach der Identität der Frau, die in der verhängnisvollen Sturmnacht in den Armen ihres Vaters gelegen hatte, keine wirkliche Bedeutung beimaß. Ihre Schwester konnte sehr gut nachempfinden, warum ihre Mutter dieses Thema wegschob.

»Jeder hat sein eigenes Tempo, in dem er traumatische Erlebnisse verarbeitet«, warb Amelie um Verständnis. »Mama tut sich immer noch schwer, über Papa zu sprechen.«

»Mir wäre schon geholfen, sie würde uns an ihrem Trauerprozess teilhaben lassen«, sagte Helen ungehalten. War der Geburtstag am Ende nur ein Vorwand für Amelie gewesen, sie zum Einlenken zu bewegen?

»Ich habe es doch gleich gesagt: Das Unwetter zieht an uns vorbei«, bemühte sich Philomena, das Thema zu wechseln.

Ein erster Sonnenstrahl zwängte sich vorwitzig durch die Wolken und öffnete den Blick auf ein Stück blauen Himmel.

Amelie gab noch nicht auf. »Mama hat furchtbare Angst, dir zu nahe zu treten«, verteidigte sie ihre Mutter.

»Der Ball liegt in ihrer Ecke.«

Helen redete sich Tag für Tag aufs Neue ein, dass es ihr viel besser ging, seit sie sich eingestanden hatte, wie sehr sie das toxische Verhalten ihrer Mutter, ihre Geheimniskrämerei und Lieblosigkeit verletzt hatten. Sie war dabei, das innere Kind zu heilen. Und ihre komplizierte Beziehung zu ihrer Zwillingsschwester zu vertiefen, die in vielem so ganz anders dachte als sie selbst.

»Und wann soll es mit unserer Planung losgehen?«, sprang Paul Helen zur Seite, um zu verhindern, dass das Gespräch über die Mutter die schöne Stimmung ruinierte.

»Gestern«, mischte Philomena sich ein.

»Nach dem nassen Winter werde ich überhaupt nicht mehr warm«, bestätigte Amelie.

Helens Zwillingsschwester hatte ihren ersten Sommer im Wohnwagencamp des Cultuurdorps als hochgradig romantisch empfunden und die Zeiten strengen Frosts geradezu zelebriert. Das Tauwetter, das dem Schlittschuhvergnügen bereits nach wenigen Tagen den Garaus machte, dämpfte Amelies Begeisterung deutlich, bevor ihr Enthusiasmus für ein Leben in und mit der Natur im Januarregen endgültig unterging. Auf dem Instagram-Account ihrer Schwester hatte Helen mitverfolgt, wie die große Wiese, im Sommer der zentrale Platz für Kultur, Begegnung und Austausch, sich in eine matschige Kraterlandschaft verwandelt hatte. Amelie hatte Videos gepostet, die zeigten, wie sie bei jedem Gang über das winterlich verwaiste Gelände bis zum Knöchel im Schlamm versank.

Während das Wetter auf Amelies Gemüt schlug, gab Philomena sich unerschütterlich.

»Sie kommt ganz nach Pippi Langstrumpf«, erklärte Amelie. »Sie glaubt, Pfützen sind vor allem dafür da, um reinzuhüpfen.«

Sie selbst sah das anders: »Noch einen Winter im Modder überlebe ich nicht«, gestand Amelie. »Die Jurte roch monatelang nach Socken, nasser Kleidung und Blumenkohl. Und die Temperatur? Die schwankte zwischen Sauna und Gefrierschrank. Ohne Abstufung!«

Helen nahm das Klagelied als Stichwort, ihrer Schwester ihr Geburtstagsgeschenk zu überreichen. Gerührt packte Amelie eine warme, wasserfeste Daunenjacke aus.

»Secondhand«, log Helen blitzschnell. »War echt günstig.«

Ihre Schwester hätte sich ein so teures Kleidungsstück nie leisten können und wollen. Helen war unendlich schlecht im Lügen, aber Amelie beschloss offenbar, es ihr ob der Kälte, die sich dauerhaft in ihren Gliedern festgesetzt hatte, nachzusehen. Überglücklich schlüpfte sie in ihre neue Jacke.

Das eindrucksvollste Geschenk jedoch kam von Paul. Der Architekt hatte seiner Schwägerin und ihrer Freundin seine tatkräftige Unterstützung angeboten. Mit Hartnäckigkeit und einer Prise kreativer Rechtsauslegung war es Philomena gelungen, bei der Gemeinde Bergen eine Genehmigung zu erstreiten, ihr Zelt bis zum nächsten Winter durch ein Tiny House zu ersetzen.

»Sie sind schon froh, wenn ich nie wieder persönlich auf dem Amt vorspreche«, sagte sie strahlend. »Sie behaupten, mein Humor wäre sehr anstrengend.«

Paul hatte zwei Wochen Urlaub dafür reserviert, gemeinsam mit Amelie und Philomena einen Entwurf für ein Minihaus zu erarbeiten. Nicht ganz uneigennützig. Müde von der unbefriedigenden und unterbezahlten Juniorrolle in dem renommierten, hoch dekorierten Architektenbüro, wo immer andere mit seinen Ideen glänzten, hatte er sich vorgenommen, ein eigenes Portfolio aufzubauen.

»Ich kann es selbst nicht glauben, dass ich Wurzeln schlagen will«, sagte Amelie. »Ich war bisher nur gut darin, etwas zu werden, und sehr schlecht darin, etwas zu sein.«

Während Helen ein starkes Bedürfnis nach Stabilität, Sicherheit und einem beruhigenden Puffer auf dem Konto hatte, war Amelie geflüchtet, wann immer in einer Beziehung oder einem Arbeitsverhältnis feste Routinen drohten. Mit Philomena an ihrer Seite konnte sie sich zum ersten Mal ein Leben vorstellen, das auf Dauer angelegt war.

»Festes Haus – feste Beziehung – fester Boden unter den Füßen«, umriss sie ihre neue Vorstellung von Glück. Das quirlige Energiebündel mit dem anarchischen Humor avancierte zum zentralen Pfeiler in ihrem Leben.

»Ich war ständig verliebt«, gab Amelie zu. »Aber die große Liebe ist auch großer Stress. Jetzt träume ich von einem langweiligen Spießerleben.«

»Der Spießer, das bin ich«, ergänzte Philomena und blitzte Amelie verliebt an. Nichts war weniger wahr.

Philomena schenkte großzügig Wein nach. Helen, die selten Alkohol trank, fühlte ihren Kopf bereits leichter werden, als sie ihrerseits ihr Geschenk öffnete.

»Ein Gutschein?«, fragte sie, als sie das Papier entrollte.

Neugierig wendete sie den Flyer in ihren Händen.

»Masterclass Wolkenzeichnen mit Remco«, las sie belustigt. »Für mich?«

»Der Mann hat bereits unserem Vater Unterricht gegeben. Er kommt immer mal nach Bergen zurück.«

Amelie strahlte sie an. »Da lernst du unseren Vater noch einmal auf eine andere, spirituelle Art kennen.«

Helen besaß keinerlei künstlerische Begabungen. Das kreative Talent, das in der Familie lag, war ganz offensichtlich aufgebraucht gewesen, als sie, siebzehn Minuten später als Amelie und somit als jüngster und letzter Thalberg-Spross, auf die Welt kam.

»Es ist ein Gutschein«, sagte Philomena, die die Skepsis in ihrem Gesicht sah. »Du kannst ihn gefahrlos weitergeben.«

»So was macht man doch nicht«, rief Amelie empört.

»Weiterverschenken ist gut für die Umwelt«, sagte Philomena. »Es gibt Champagnerflaschen und Großpackungen Mon Chéri, die seit Jahren kreisen. Das ist wahre Nachhaltigkeit.«

»Unser Vater wird immer auf diese eine Nacht reduziert«, erklärte Amelie ehrlich. »Ich dachte, du freust dich, ihm noch mal auf andere Weise nahezukommen«, schob sie leise hinterher.

Helen begriff, dass Amelie ihr Interesse umlenken wollte. Im Gegensatz zu ihrer Zwillingsschwester tat Helen sich schwer, mit den offenen Fragen, die sich um den Tod ihres Vaters rankten, zu leben. Die Sturmnacht, in der ihr Vater sein Leben verloren hatte, hatte sich, frei nach Winston Churchill, als ein Rätsel entpuppt, umgeben von einem Mysterium, das in einem Geheimnis steckte.

Mit Yellas Hilfe war es Helen bei ihrem letzten Aufenthalt bereits gelungen, ein paar Schichten freizulegen. Tief unten im Gepäck ihres Koffers wartete das Material, das Yella über ihre gemeinsamen Recherchen zusammengestellt hatte. Während Paul sich um das Tiny House und die Zukunft kümmerte, wollte Helen ein allerletztes Mal in die Vergangenheit eintauchen und die Gelegenheit nutzen, sich noch einmal nach der mysteriösen Freundin des Vaters umzuhören. Auch wenn Amelie es nicht hören wollte: Sie hoffte, dass es ihr vor Ort gelang, die Identität der rothaarigen Frau zu enträtseln.

»Die Frau hat genug gelitten«, hatte ihre Mutter gesagt. Sie weigerte sich bis auf den heutigen Tag, den Namen preiszugeben.

Amelie verteidigte Henriette: »Das Techtelmechtel hat nichts mit unserem heutigen Leben zu tun«, sagte sie.

Helen sah das anders. Seit Monaten rätselte sie über die Motive ihrer Mutter. Warum sperrte sie sich so hartnäckig dagegen, über den Seitensprung ihres Mannes zu sprechen? Warum ging sie dafür das Risiko ein, sich mit ihren Töchtern zu überwerfen? Helen ahnte, dass sie ihre Mutter erst dann richtig verstehen würde, wenn sie begriff, warum sie die mysteriöse Geliebte um jeden Preis geheim halten wollte. Amelie hatte in einem Punkt recht: Es ging nicht um die Frau. Es interessierte sie mittlerweile weniger, warum und mit wem ihr Vater eine Affäre gehabt hatte, viel interessanter war die Frage, warum Henriette diese Frau schützte. Warum stellte sie das Wohlergehen einer Fremden über die mentale Gesundheit ihrer Töchter? Warum siegte hier die Empathie, die sie ihren Kindern nur selten angedeihen ließ? Der Name war nur die Spitze des Eisbergs. In ihren dunkelsten Momenten hatte Helen ihre Mutter im Verdacht, den Namen zu verschweigen, weil das Geheimwissen ein Garant war, weiterhin im Mittelpunkt des Interesses zu stehen.

Die Ungewissheit schwelte wie eine offene Wunde. Es war an der Zeit, das Kapitel ein für alle Mal abzuschließen.

»Mal sehen, ob ich es zeitlich hinbekomme«, sagte Helen mit Blick auf den Gutschein.

Sie war sich darüber bewusst, dass das Aufwühlen der Vergangenheit neue Gefühlsstürme hervorrufen würde. Umso wichtiger war es, den heutigen Tag mit ihrer Zwillingsschwester zu feiern und einfach nur das Meer zu genießen.

4.Am falschen Ort