Das Herz des Lords - Rexanne Becnel - E-Book
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Das Herz des Lords E-Book

Rexanne Becnel

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Beschreibung

Er brauchte nur einen Kuss, um ihren Widerstand zu brechen: „Das Herz des Lords“ von Romance-Königin Rexanne Becnel jetzt als eBook bei venusbooks. Im Jahr 1818 gehört Olivia Byrde zu Londons vielversprechendsten Partien, doch bisher konnte kein Mann ihr Herz erobern. In ihrem Tagebuch zieht sie zu jedem Bewerber Bilanz – und die fällt selten positiv aus: mal ein Muttersöhnchen, mal ein Spieler oder schlechter Tänzer. Doch das alles sind fast schon Komplimente im Vergleich zu ihrer scharfzüngigen Einschätzung des neuesten Kandidaten, Lord Neville Hawk: „Respektlos und ausgesprochen aufdringlich. Stattlich, anziehendes Äußeres, aber trotzdem ungeschliffen. Der beste Beweis dafür, dass gutes Aussehen täuschen kann. Für die Ehe ungeeignet!“ Dennoch geht der Lord mit dem zweifelhaften Ruf der jungen Schönen nicht mehr aus dem Kopf … und entfacht in ihr ein Verlangen, das alle Vorsätze und Regeln vergessen macht. Doch kann Olivia einen Teufelskerl wie Neville Hawk zum Ehemann zähmen? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Regency-Roman „Das Herz des Lords“ von der Bestsellerautorin historischer Liebesromane, Rexanne Becnel. Lesen ist sexy: venusbooks – der erotische eBook-Verlag. JETZT BILLIGER KAUFEN – überall, wo es gute eBooks gibt!

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Seitenzahl: 544

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Über dieses Buch:

London, 1818. Olivia Byrde gehört zu Londons vielversprechendsten Partien, doch bisher ist es zu ihrem Bedauern keinem Mann gelungen, ihr Herz zu erobern. In ihrem Tagebuch zieht sie zu jedem Bewerber Bilanz – und die fällt selten positiv aus: mal ein Muttersöhnchen, mal ein Spieler oder schlechter Tänzer … Doch das alles sind fast schon Komplimente im Vergleich zu ihrer scharfzüngigen Einschätzung des neuesten Kandidaten, Lord Neville Hawk: »Respektlos und ausgesprochen aufdringlich. Der beste Beweis dafür, dass gutes Aussehen täuschen kann. Für die Ehe ungeeignet!« Dennoch geht der Lord mit dem zweifelhaften Ruf der jungen Schönen nicht mehr aus dem Kopf … und entfacht in ihr ein Verlangen, das alle Vorsätze und Regeln vergessen macht. Doch kann Olivia einen Teufelskerl wie Neville Hawk zum Ehemann zähmen?

Über die Autorin:

Rexanne Becnel ist gefeierte Autorin zahlreicher historischer Liebesromane. Während mehrerer Aufenthalte in Deutschland und England in ihrer Jugend begeisterte sie sich so sehr für mittelalterliche Geschichte, dass sie Architektur studierte und sich für den Denkmalschutz mittelalterlicher Gebäude einsetzt. In ihren Bestseller-Romanen haucht sie der Geschichte auf ganz andere Art neues Leben ein. Sie lebt glücklich verheiratet in New Orleans.

Bei venusbooks erschienen bereits folgende eBooks:

»Die Sehnsucht des Lords«

»Das Verlangen des Ritters«

»Der Pirat und die Lady«

»Das wilde Herz des Ritters«

»Ein ungezähmter Gentleman«

»In den Armen des Edelmanns«

»Rosecliff – Der Ritter und die zarte Lady«

»Rosecliff – Der Ritter und die schöne Rächerin«

»Rosecliff – Der Ritter und die stolze Geisel«

»Gefangen – Die Rosecliff-Saga in einem Band«

***

Aktualisierte eBook-Neuausgabe November 2020

Ein eBook des venusbooks Verlags. venusbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, München.

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 2001 unter dem Originaltitel »The Matchmaker« bei St Martin’s Press, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 2004 unter dem Titel »Verirrungen der Leidenschaft« bei Heyne.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2001 by Rexanne Becnel

Published by Arrangement with Rexanne Becnel

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2004 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der aktualisierten Neuausgabe 2020 venusbooks Verlag. venusbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, München.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/S. Borisov, kiuikson

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-95885-552-6

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Wenn Ihnen dieses eBook gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Das Herz des Lords« an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

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Rexanne Becnel

Das Herz des Lords

Roman

Aus dem Amerikanischen von Beate Darius

venusbooks

Für meine Freundinnen-CliqueDenise, Karen, Caro, Lynette, Carol Sue, Cheryl und Catherine

Kapitel 1

London, 1. August 1818

Lockende Versuchung lag in der Luft: beschwingte Musik, berauschende Parfüms, das Rascheln von Seide, untermalt vom Lichtermeer unzähliger Kerzen. Ja, das romantische Beiwerk der Liebe, oder zumindest das, was die Londoner Gesellschaft damit verband.

Doch Olivia Byrde schwirrte nur der eine Gedanke im Kopf herum: Das kann nicht gut gehen.

Ihr Lächeln festgefroren, tanzte sie einen Wiener Walzer mit William DeLeary. Sie wiegte, wogte, wirbelte im Kreis, heimlich verzweifelt, wie Mr. DeLeary sie nur so anhimmeln konnte. Aus dem Augenwinkel heraus nahm sie die wohlgefällige Miene ihrer Mutter wahr.

Währenddessen brauste es im Takt der schwungvollen Melodie durch Olivias hübsches Köpfchen: Das kann nicht gutgehen. Niemals. Niemals. Den geisttötenden Mr. DeLeary zu ermutigen wäre ein folgenschwerer Fehler, denn wenn er sie nicht mit seinen Komplimenten umbrächte, würde sie ganz bestimmt an Langeweile sterben. Sobald die Tanzfolge endete, dankte sie ihm und flüchtete sich zu Clarissa, der nächstbesten Freundin, die sie im Gemenge erspähte.

»Jetzt müssen sie aber bald die Saaltüren schließen, damit es nicht noch voller wird«, seufzte Clarissa, die sich energisch Luft zufächelte.

»Hoffentlich«, erwiderte Olivia nach einem Blick durch den prunkvollen Ballsaal der Burlingtons, in dem sich ungefähr siebenhundert handverlesene Gäste drängten. Sehen und gesehen werden, es war stets das Gleiche, auf jedem Ball, Bankett, jeder Landpartie. Die jungen Damen putzten sich heraus, weil sie hofften, damit einen ganz bestimmten Verehrer zu bezirzen. Die jungen Herren sprühten vor Charme, immer bestrebt, ihre Herzdame zu beeindrucken. Umschwirrt von ihren Müttern, die alles zu ihrer eigenen Zufriedenheit zu arrangieren suchten.

Olivia wiegte nachdenklich den Kopf. Seit drei Jahren nahm sie nun schon an diesen oberflächlichen Vergnügungen teil. Drei Saisons, und immer wieder das gleiche Possenspiel! Wären da nicht ihre Eheanbahnungs-Projekte, sie hätte längst den Verstand verloren. Jedenfalls ödete sie dieser ganze Hokuspokus mehr und mehr an.

Sie überflog ihre Tanzkarte. Drei Tänze waren noch frei. Sie hatte schon zwei Männern einen Korb gegeben, was ihrer Mama bestimmt nicht recht war. Zum Glück war ihre Mutter, die lebenslustige und elegante Lady Dunmore, soeben mit einem ihrer vielen Bewunderer beschäftigt.

»Hast du schon gehört?«, raunte Olivia ihrer Freundin zu. »Prinny will noch vor dem Frühstück seine Aufwartung machen. Lady Burlington ist völlig aus dem Häuschen. Wirklich schade, aber die arme Anne ist vom Verlauf dieses Abends vermutlich nicht so begeistert wie ihre Mutter.«

»Wieso denn nicht?« Clarissa winkte einer Bekannten. »Anne hat keinen Tanz ausgelassen. Ihre golddurchwirkte Abendrobe von Madame Henri ist einfach umwerfend, und die Familiensaphire passen fantastisch dazu. Sie ist die ungekrönte Königin des Abends. Was will sie mehr?«

»Lord Dexler«, murmelte Olivia so leise, dass es nur für die Ohren ihrer Freundin bestimmt war. »Sie und ihre Mutter sind völlig auf ihn fixiert. Lady Burlington schwebt als Schwiegersohn ein zukünftiger Graf vor. Nun, und bei Anne befürchte ich, dass sie tatsächlich in ihn verliebt ist.«

»Und ich dachte, er fände sie überaus anziehend! Hat er sein Herz an eine andere verloren? Ach bitte, Olivia, nun erzähl schon. Du weißt in solchen Dingen immer am besten Bescheid.«

»Ich vertraue schlicht und einfach meinen Beobachtungen. Die Sache hat nämlich folgenden Haken: Er ist ein notorischer Geizkragen, genau wie sein Vater. Was soll er da von einer Frau halten, die nur so zum Zeitvertreib dermaßen verschwenderische Abendgesellschaften ausrichtet?«

Clarissa verzog das Gesicht. »Oha. Du hättest sie warnen sollen.«

»Das habe ich getan. Aber Anne hört nur auf ihre Mama, und du weißt ja selbst, dass Lady Burlington keine andere Meinung als ihre eigene gelten lässt.«

Clarissa kicherte. »Ts, ts. Du darfst zwar Ratschläge geben, trotzdem kannst du niemanden zu seinem Glück zwingen.«

Daraufhin lachte Olivia, wenn auch ein bisschen gequält. »Meine gelegentlichen Kuppeleien sind mir wohl zu Kopf gestiegen – und du und Robert, ihr seid mein größter Erfolg. Anne vergöttert Lord Dexler. Aber wenn sie die Extravaganzen ihrer Mutter geerbt hat, dann passen die beiden einfach nicht zusammen.«

»Wie heißt es doch so schön, aus Fehlern wird man klug. Aber hör mal«, fuhr Clarissa unbeirrt fort, »du machst dir Notizen von allen passablen Ehekandidaten und gibst deinen Freundinnen wertvolle Tipps. Wann ist denn endlich dein Traummann dabei, Olivia? Die Herren der Schöpfung liegen dir reihenweise zu Füßen, doch das scheint dich kalt zu lassen. Oder kenne ich den Glücklichen bereits?«

Olivia grinste trocken und schwieg. Sie nestelte an der zweireihigen Perlenkette um ihren Hals. Grundsätzlich hatte sie ja gar nichts gegen eine Heirat. Aber selbst nach drei Ballsaisons war ihr der Richtige noch nicht begegnet.

Einer nach dem anderen hatten ihre Freunde zusammengefunden. Rosa und Merrill, Dorothy und Alfred, und jetzt auch Clarissa und Robert. Olivia war mächtig stolz auf sich, dass sie ihnen geholfen hatte, ihr Eheglück zu finden. Gleichwohl fühlte sie sich mit diesen Erfolgen mehr und mehr wie ein spätes Mädchen. Gerade einmal einundzwanzig, kam sie sich mitunter wie eine alte Jungfer vor.

Was nutzte da die atemberaubende aquamarinblaue Ballrobe mit dem goldgestickten Saum und dem tiefen, verschwenderisch mit Spitze eingefassten Dekolleté, die ihre Mutter ihr aufgeschwatzt hatte? Olivia wusste, dass sie fabelhaft aussah, aber wozu sich eigentlich herausputzen? Hier im Saal war niemand, den sie hätte beeindrucken mögen.

Das Fatale war, dass man auf sämtlichen Festen immer wieder denselben Männern begegnete. Olivia kannte die jungen Herren, die gut tanzten, die sich lieber am Spieltisch vergnügten und jene, die aufdringlich oder ausfallend wurden, wenn sie zu tief ins Glas geschaut hatten. Und sie wusste noch vieles mehr, weil sie aufpasste und lauschte und alles in ihrem Tagebuch vermerkte, das ihre Freunde scherzhaft als ihr kleines Partnerbrevier bezeichneten. Sie beobachtete die umschwärmten jungen Männer – natürlich auch die jungen Frauen – und hatte nach drei Saisons ein gutes Gespür dafür, welche Paare zusammenpassten.

Nur für sich selbst hatte sie noch nicht den Richtigen gefunden.

»Also«, bohrte Clarissa hartnäckig weiter, »gibt es da jemanden?«

»Aber nein. Oh, schau mal«, versetzte sie rasch und deutete mit ihrem Fächer auf die Gästeschar. »Sind Judith und Mr. Morrison nicht ein schönes Paar? Er ist kaum weniger schüchtern als sie, trotzdem scheinen sie sich gut zu amüsieren«, meinte Olivia aufgekratzt. Das junge Paar war nämlich die bislang letzte von ihr angestiftete Romanze. Alle anderen hatten geglaubt, dass diese beiden scheuen Mäuschen sich nichts zu sagen hätten. Sie dagegen hatte gleich gewusst, dass die jungen Leute nur ein ruhiges Plätzchen brauchten, wo sie ungestört plaudern könnten. Und so hatten sie schließlich zusammengefunden.

Olivia seufzte, gleichsam überzeugt, dass es für jeden den passenden Partner gebe, auch für sie. Manchmal dauerte es eben etwas länger, bis man seinen Traummann fand.

»Miss Byrde?« Eine zögerliche Männerstimme riss sie aus ihren verzückten Betrachtungen.

Sie drehte sich um, ihr Lächeln gekünstelt. »Lord Hendricks.«

Strahlend beugte sich der junge Mann über ihre Hand. »Ich glaube, Sie haben mir diesen Tanz versprochen.«

»So ist es«, antwortete Olivia, ihre Enttäuschung geschickt überspielend. Derzeit favorisierte ihre Mutter Vicomte Hendricks als Schwiegersohn, und sie hatte Olivia strikte Anweisung zu geben, ihn in seinem Werben zu ermutigen.

»Viel Spaß, ihr beiden«, meinte Clarissa mit einem wissenden Blick zu Olivia. Olivia verdrehte die Augen. Gleichwohl fasste sie Lord Hendricks' Arm und ließ sich aufs Parkett führen. Die Quadrille war ihr Lieblingstanz und Hendricks ein vortrefflicher Tänzer, anders als die meisten Herren, die eher pflichtschuldig ihre Schrittfolgen absolvierten. Überdies hatte er einen Adelstitel, ein ansprechendes Einkommen und einen ausgezeichneten Hochschulabschluss in Cambridge vorzuweisen.

Olivia musste zugeben, dass sie ein fabelhaftes Paar abgegeben hätten, zudem machte er kein Geheimnis aus seiner Bewunderung für sie. Sie hingegen vermochte ihm lediglich freundschaftliche Gefühle entgegenzubringen.

Wirklich verblüffend, denn sie war kein verblendetes kleines Mädchen, das einer großen Leidenschaft nachjagte. All das Herzflattern und Atembeben gab es in Romanen, aber doch nicht im wirklichen Leben! Sie hatte sich hartnäckig einzureden versucht, dass sie mit Lord Hendricks glücklich werden würde, aber vergebens. Sie erwartete mehr von einem Gemahl, als er ihr jemals geben könnte. Was das allerdings sein sollte, war ihr selber ein Rätsel.

Das Streichquartett stimmte die Melodie an, und während sie die kunstvollen Figuren tanzten, erhaschte Olivia das zustimmende Nicken ihrer Mutter.

Olivia straffte die Schultern. Sie würde irgendetwas unternehmen müssen, und zwar bald. In ihrer ersten Saison hatte sie drei Heiratsanträge, in der zweiten fünf und in diesem Jahr schon zwei abgelehnt. Das machte ihr wahrlich keinen Spaß, da sie weder sich noch die ernsthaften Brautwerber in Verlegenheit bringen wollte! Das letzte Mal hatte ihre Mutter ihr wochenlang Vorhaltungen gemacht.

Vielleicht brauchte sie eine räumliche Veränderung, überlegte sie, während sie sich im Kreis drehten. Ihre Röcke bauschten sich anmutig, und Lord Hendricks strahlte sie an. Sie erwiderte sein Lächeln, obgleich sie angestrengt nachdachte. Ganz recht, einen kleinen Ortswechsel – sofern sich ihre Mutter davon überzeugen ließe.

Am nächsten Morgen beugte Olivia sich über ihr Tagebuch und las den letzten Eintrag.

Lord S.: Tanzt gut. Keinerlei Neigung zum Glücksspiel, trinkt nur mäßig. Hängt allerdings sehr an seiner Mutter, die ihn ständig gängelt. Aber er ist nicht geizig.

Sie tippte sich mit dem Federkiel ans Kinn. Ansonsten war Lord Simington so nichts sagend wie ein Laternenmast, und so ähnlich sah er auch aus. Nach ihrer Einschätzung vertrat er keine eigene Meinung, sondern lediglich die seiner autoritären Eltern. Indes war er weder ein Trinker noch ein Schürzenjäger, was wiederum für ihn sprach. Sie konnte sich auf Anhieb drei junge Damen für ihn vorstellen, wobei Charlotte unter dem gestrengen Blick seiner Mutter bestimmt in Ohnmacht fiele.

Natürlich war ihr von Anfang an klar gewesen, dass es nicht einfach werden würde, den richtigen Mann für Charlotte Littleton zu finden. »Mutter«, forschte sie, »ist die Einladung bei den Littletons diesen oder erst nächsten Donnerstag?«

Augusta Lindford Byrde Palmer, Vicomtesse Dunmore, saß an ihrem eigenen Sekretär, eingerahmt von zwei dekorativen Palmenkübeln. Wie schon in den beiden vergangenen Saisons residierten sie im Farley House. Dort saßen sie jetzt im Morgensalon. Lady Augusta überflog die Einladungen, Olivia brachte ihre Eindrücke von der gestrigen Abendgesellschaft zu Papier, und die zwölfjährige Sarah widmete sich ihrer Handarbeit. Olivias älterer Bruder, James Lindford, der junge und blendend aussehende Vicomte Farley, lag noch in den Federn. Zweifellos hatte er wieder einmal eine durchzechte Nacht mit seinen grandiosen Freunden verbracht. Er schien keine Eile zu haben mit dem Heiraten.

Olivia schnippte den Federkiel unter ihrem Kinn hin und her. Dürfte sie sich doch nur einen Bruchteil der Freiheiten herausnehmen, die ihrem Bruder erlaubt waren! »Mutter«, wiederholte sie. »Also, wie steht's mit den Littletons?«

»Ach ja. Die Einladung bei den Littletons.« Lady Augusta ging die Einladungen durch, ihre immer noch jugendlichen Züge konzentriert. »Ich finde keine Einladung, mein Schatz. Bist du sicher …«

»Sie ist nächsten Donnerstag«, erklärte Mrs. McCaffery, die Haushälterin, die ein Tablett neu eingetroffener Visitenkarten hereintrug. »Aber Ihre Frau Mama hat andere Pläne getroffen.« Die Bedienstete bedachte Olivia mit einem wissenden Blick, sagte jedoch nichts mehr.

Lady Augusta funkelte ihre langjährige Hausangestellte kurz an, ein sicheres Anzeichen für heraufziehenden Unmut. Mrs. McCaffery schien mithin ziemlich unbeeindruckt. Sie war bei Lady Augusta seit deren erster Heirat mit dem wesentlich älteren George Lindford, James' Vater, und hatte auch die nächsten beiden Ehen ausgeharrt. Sie hatte einer völlig aufgelösten Augusta bei den Begräbnissen aller drei beigestanden und keinen Hehl daraus gemacht, dass sie den Vater der kleinen Sarah für den besten von der Bande hielt und dass sie Augustas Pläne, sich Ehemann Nummer vier zu angeln, mit Skepsis betrachtete.

Olivia betupfte die Seite mit Löschpapier, dann schloss sie das in cremefarbenes Leder gebundene Tagebuch. »Du gehst nicht hin? Ich dachte, ihr seid dicke Freundinnen, du und die alte Lady Littleton.«

Augusta strafte Olivia mit einem vernichtenden Blick. »Du hast keinen Grund, derart boshaft zu sein, Olivia. Mildred Littleton ist genauso wenig eine alte Dame wie ich. Ihr jungen Mädchen denkt, dass man ab fünfundzwanzig automatisch eine alte Schachtel ist. Und, sieht deine Mutter aus wie eine alte Schachtel?«

Olivia schmunzelte. »Du mit Sicherheit nicht, das weißt du auch. Aber Mildred Littleton.«

Ein widerwilliges Lächeln umspielte Augustas Mundwinkel. »Mag sein«, räumte sie ein. »Und das nur, weil sie ihre Figur vernachlässigt und sich – einfach grauenvoll! – von dieser entsetzlichen Madame LaNasa zu Braun- und Olivtönen beschwatzen lässt, Farben, die ihren Teint gewiss nicht vorteilhaft unterstreichen.«

»Oder ihre Stimmung heben«, warf die halbwüchsige Sarah ein.

»Sei nicht so vorlaut«, schalt Augusta ihre jüngste Tochter.

»Du hast immer noch nicht gesagt, warum du am nächsten Donnerstag nicht zu den Littletons willst«, hakte Olivia nach.

Augusta musterte Olivia zerstreut und senkte den Blick. »Ich spiele mit dem Gedanken, einen Ausflug nach Yorkshire zu machen.« Eine ihrer makellos manikürten Hände beschrieb eine theatralische Geste. »Ich brauche dringend eine Luftveränderung, und Penelope Cummings hat mich für ein, zwei Wochen eingeladen. Mrs. Mac bleibt mit dir und Sarah in der Stadt.«

Auf eine solche Gelegenheit hatte Olivia nur gewartet. »Offen gestanden, Mutter, wird es mir in London allmählich langweilig. Ich würde eine Landpartie begrüßen, und Sarah bestimmt auch.« Sie ließ nicht locker. »Ich bin sicher, Penny würde nichts dagegen haben. Aber sag mal, was interessiert dich denn so an Yorkshire? Doch sicher nicht bloß die gute Landluft?«

»Nein, aber Archie.« Sarah ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen und verdrehte dabei die Augen.

Augusta versteifte sich und funkelte ihre Jüngste an. »Ich würde mir wünschen, dass ihr Kinder etwas mehr Respekt gegenüber Älteren hättet.«

Sarah ließ ihre Handarbeit in den Schoß sinken. »Er mag zwar älter sein als ich, aber nicht älter als du.«

Olivia zog die Stirn in Falten. Konnte es sein, dass ihre Mutter ein Auge auf Archibald Collins geworfen hatte, den neuen Grafen von Holdsworth, ein Mann, der um die zehn Jahre jünger war als sie?

Augusta erhob sich aufgebracht. »Du überlegst dir besser, was du sagst«, fuhr sie Sarah an, »sonst schicke ich dich zurück nach Nottingham.«

»Das ist mir immer noch lieber, als mit ansehen zu müssen, wie du dich lächerlich machst!« Mit diesen Worten stürmte Sarah aus dem Raum und ließ eine unangenehme Stille zurück.

»Auch gut«, zischte Augusta, die sich verärgert den Rock ihres himmelblau gestreiften Hauskleids zurechtzupfte.

Selbst im Zorn war sie eine schöne Frau, und für Augenblicke starrte Olivia ihre Mutter nur an. Strahlend blaue Augen, ein dichter Blondschopf und nicht ein graues Haar. Ihre Figur war immer noch jugendlich schlank. Kaum zu glauben, dass sie drei Kinder geboren hatte, jedem Gemahl eins.

Seit dem Tod von Sarahs Vater vor zwei Jahren war ihre Mutter jedoch schrecklich einsam. Auch ihre Kinder vermochten diese Lücke nicht auszufüllen, denn Augusta Lindford Byrde Palmer war eine Frau, die sich ohne einen Mann an ihrer Seite hilflos und verloren fühlte. Das konnte Olivia wahrlich nicht nachvollziehen. Zuerst hatte ihre Mutter einen alten Knacker geheiratet, dann einen charmanten Schwerenöter und schließlich einen wahren Gentleman. War das nicht genug? Olivia sah keinen Grund, warum Augusta eine erneute Bindung eingehen sollte. Sie hatte ein geschätztes Einkommen von dreitausend Pfund im Jahr, dazu einen Landsitz in der Umgebung von Nottingham und James' Stadthaus. Hinzu kamen die treuhänderisch verwalteten Ländereien der Byrdes in Schottland, Olivias späteres Erbe von ihrem Vater.

Doch obschon materiell abgesichert und mit Kindern gesegnet, fehlte Augusta der Lebenspartner. Olivia und James sperrten sich beileibe nicht gegen eine erneute Heirat ihrer Mutter. Leider Gottes konnte die kleine Sarah die Vorstellung nicht ertragen, dass jemand ihren geliebten Papa ersetzen sollte.

Olivia schraubte das Tintenfässchen zu, dann gab sie Mrs. McCaffery heimlich ein Zeichen, sie mit ihrer Mutter allein zu lassen. Sobald die Haushälterin die Tür hinter sich geschlossen hatte, hob sie an: »Mutter, du kannst Sarahs Bedenken doch sicher verstehen, oder?«

»Er ist nur wenige Jahre jünger als ich. Kaum der Rede wert. Mir glaubt ohnehin keiner, dass ich auch nur einen Tag älter bin als fünfunddreißig.« Sie betrachtete ihre Erscheinung in dem riesigen Standspiegel, straffte sich und reckte ihr Kinn. »Und du brauchst niemanden von etwas anderem zu überzeugen«, versetzte sie mit einem scharfen Blick.

»Es ist nicht der Altersunterschied, der Sarah zu schaffen macht.«

Augusta strebte durch den Salon, blieb vor dem geöffneten Fenster stehen und ließ den wehenden Spitzenvorhang durch ihre Hand gleiten. »Mein Trauerjahr ist längst vorbei.«

»Ja, aber das kümmert Sarah nicht. Sie hat ihren Vater sehr geliebt. Wie wir alle«, setzte Olivia sanfter hinzu. Humphrey Dunmore war Olivia und James ein ebenso guter Vater gewesen wie Sarah, seinem einzigen Kind.

Augusta senkte den Kopf. »Ich vermisse ihn schrecklich. Aber vergiss nicht, Olivia. James ist jetzt Vicomte Farley und unterhält seinen eigenen Hausstand. Irgendwann wird er heiraten, genau wie du. In wenigen Jahren hat Sarah ihr Debüt, und mit ihrem hübschen Gesicht und ihrem Vermögen ist sie rasch in festen Händen. Was soll ich dann tun? Allein leben oder im Haushalt meines Sohnes? Nein.« Kopfschüttelnd sah sie auf. »Das könnte ich nicht. Deshalb muss ich wieder heiraten, solange ich noch einigermaßen jung bin. Es wird höchste Zeit. Warum will sie das nicht einsehen?«

Olivia seufzte bitter. Zwischen ihrem leichtlebigen Bruder, ihrer naiven Mutter und ihrer sentimentalen Schwester dünkte sie sich häufig die einzig Erwachsene in ihrer ungewöhnlichen Familie. »Es wird ihr schwer fallen, Mutter. Du musst Sarah Zeit lassen. Und du darfst dich nicht so aufregen über ihre Gefühlsausbrüche. Sie wird eine Weile brauchen, bis sie einen neuen Mann im Leben ihrer Mutter akzeptiert. Du vergisst, dass James und ich das bereits durchgemacht haben.«

Augusta schenkte ihrer Tochter ein warmes Lächeln. »Du bist so ein gutes Mädchen, Livvie. Eine wundervolle Tochter. Du wirst einmal eine fabelhafte Ehefrau. Und ich werde dich schrecklich vermissen.«

Lachend erhob sich Olivia, trat zu ihrer Mutter und umarmte sie. »Warum drängst du mich dann so zu einer Heirat und zur Gründung eines eigenen Hausstands?«

Augusta drückte Olivias Arm. »Du hältst mich für unbedacht, und das bin ich vielleicht auch – manchmal. Aber ich weiß um meine Verantwortung als Mutter. Ich möchte, dass du eine gute Partie machst. Dies ist deine dritte Saison, und du bist inzwischen einundzwanzig. Ich dulde es nicht, dass man eines meiner Mädchen als alte Jungfer bezeichnet. Du hast bereits Mr. Prine abgewiesen und diesen anderen Burschen – ich vergesse ständig den Namen. Aber was ist mit Lord Hendricks? Ich habe genau beobachtet, wie du dich gestern Abend verhalten hast. Ein, zwei Tänze und das war es dann. Ein wenig mehr Entgegenkommen von dir, und er wäre Feuer und Flamme.«

»Ich glaube, wir sprachen von deinen Zukunftsplänen, Mama, und nicht von meinen.«

Augusta schlang ihren Arm um Olivias Taille und lächelte befreit. »Dann hast du also nichts gegen Archibald?«

»Das habe ich nicht gesagt. Ich kenne ihn nicht gut genug, um mir ein Urteil zu bilden.«

»Heißt das, du hast dir keine Notizen über ihn gemacht? In diesem widerlichen kleinen Tagebuch, das du ständig mit dir herumträgst?«

Olivia zog eine Grimasse. »Er nimmt erst seit kurzem am gesellschaftlichen Leben Londons teil. Aber jetzt pass ich natürlich auf, wenn ich etwas über ihn erfahren kann.«

Augusta löste sich aus der Umarmung und überprüfte den Sitz ihrer makellosen Frisur. »Tu das. Wenn du irgendwas hörst … du weißt schon … irgendetwas, das ich wissen sollte …«

»Wie beispielsweise Flirts mit anderen Frauen?«

Augusta schenkte ihr ein dankbares Lächeln. »Du bist nicht nur hübsch, sondern auch klug und furchtbar nett zu deiner armen Mutter.« Daraufhin wurde sie ernst. »Ich weiß, er ist viel jünger als ich, Olivia. Und obwohl er Erben aus erster Ehe hat, hätte er vermutlich nichts gegen weitere Kinder einzuwenden – die ich ihm niemals schenken werde. Aber ich mag ihn so sehr. Er ist charmant und geistreich – und ich wollte immer schon Gräfin werden. Du verstehst mich doch, oder, Schätzchen?«

»Ja, Mama. Ich verstehe dich. Aber du musst auch Sarahs Empfindungen verstehen. Sie braucht dich jetzt. Sie hat den Vater verloren. Sie darf unter gar keinen Umständen den Eindruck gewinnen, dass sie auch noch die Mutter verliert.«

»Puh. Wie kann sie denn so was von mir denken?«

Wieder seufzte Olivia. Ihre Mutter war ein herzensguter Mensch, aber auch eine gnadenlose Egozentrikerin. »Erzähl mir von dieser Reise nach Yorkshire«, bat sie. »Ich weiß jetzt, warum du hinfahren willst. Aber wieso ist Archie, Earl of Holdsworth, dort? Liegt sein Besitz nicht in Suffolk?«

»Das schon, aber in Doncaster findet nächsten Mittwoch ein Pferderennen statt, mit einer ziemlich hohen Siegesprämie und einer Pferdeauktion. Sämtliche Pferdenarren sind dort, weil es die Attraktion schlechthin ist, und Lord Holdsworth soll eine hervorragende Zucht besitzen.«

Abwesend spielte Olivia mit einer vorwitzigen Locke. Auch sie würde zu gern die Stadt verlassen, denn sie hatte genug von den gesellschaftlichen Höhepunkten – der gestrige Ball war die absolute Krönung gewesen. Aber nicht nur für eine Woche. Sie sehnte sich nach einer Rückkehr auf ihren Landsitz, doch das würde Augusta nie erlauben, schon gar nicht, wenn der Earl of Holdsworth London den Vorzug gäbe.

Unvermittelt kam ihr eine Idee. »Mutter«, hob sie an. »Beginnt in Schottland nicht demnächst die Moorhuhnjagd?«

»In Schottland? Ich glaube schon. Und danach die Rebhuhnsaison. Weshalb fragst du – aber ja!« Augusta fixierte sie, und Olivia meinte fast, die Rädchen in ihrem hübschen Kopf schnurren zu sehen. »Die Jagdsaison in Schottland«, wiederholte Augusta. Dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Männer lieben die Jagd und Ausritte im Wald. Du denkst an Byrde Manor, stimmt's? Wir könnten dort eine Landpartie geben. Die ganzen letzten Jahre wolltest du doch schon dorthin, oder?«

»Und du hast immer wieder einen Grund gefunden, mich daran zu hindern.«

»Gute Güte, das Landleben ist aber auch zu eintönig. Zudem … ach, lassen wir das. Meinst du, dass Archie – Lord Holdsworth – unsere Einladung annehmen würde?«

»Wieso nicht? Es sei denn, er hat zu einer eigenen Jagdgesellschaft gebeten. Wir könnten einige Freunde einladen. Mit Sicherheit übernimmt James die Rolle des Gastgebers. Also, was sagst du dazu, Mutter? Sollen wir eine Gästeliste für eine Landpartie zusammenstellen? Es wäre genauso in deinem Interesse wie in meinem.«

»Und wo liegen deine Interessen?«

»Ich habe deine ständigen Verkupplungsversuche satt, Mama. Ein paar Monate auf dem Land würden mir wirklich gut tun.«

»Du musst einen Mann finden, Olivia. Das weißt du doch selbst am besten!«

»Ich bemühe mich ja. Aber ich habe dieses Jahr noch nicht einen kennen gelernt, der mich interessieren könnte, und es sieht auch nicht danach aus. Übrigens, wenn du Zeit mit deinem Archie verbringen und Sarah auf ihn einstimmen möchtest, ist das eine ausgezeichnete Gelegenheit.«

Olivia beobachtete, wie ihre Mutter mit sich rang. Wiewohl Augusta eine Eheschließung ihrer ältesten Tochter am Herzen lag, ihre eigene schien sie weit mehr zu beschäftigen. Augusta spitzte die Lippen. »Ich weiß genau, was du vorhast, Olivia. Du versuchst, von deinen Heiratsproblemen abzulenken.« Dann lachte sie, ausgelassen und schelmisch wie ein Kind. »Also gut. Wir laden Archie ein und wen er sonst so mag. Wir können Picknicks und lange Spaziergänge machen und uns abends mit Musik, Kartenspiel und Geschichtenerzählen vergnügen. Und vielleicht finden wir einen wilden Schotten für dich, nachdem dir die englischen Gentlemen offenbar nicht zusagen.«

Olivia maß ihre Mutter durchdringend. »Jemanden wie meinen Vater?«

Augusta schluckte ertappt und flocht ihre Finger zusammen. »Dein Vater mag seine Fehler gehabt haben, Olivia. Aber er war kein schlechter Mensch, welche Lügenmärchen Mrs. McCaffery dir auch immer auftischt.«

Olivia zog es vor, das Thema nicht zu vertiefen. »Offen gestanden erinnere ich mich kaum an ihn.« Das Wenige, woran sie sich erinnerte, entsprach freilich dem, was Mrs. McCaffery gelegentlich andeutete. Die Erinnerung an ihren Vater war ihr kein Trost, einzig der Gedanke an die Heimat ihrer Kindheit versöhnte sie mit ihm. Allein die Vorstellung, den Herbst in den zerklüfteten Cheviot-Bergen rings um Byrde Manor zu verbringen, erfüllte sie mit unbändiger Sehnsucht.

Seit dem Tod ihres Vaters war sie erst ein einziges Mal dort gewesen. Vor fünf Jahren hatte sich ihr fürsorglicher Stiefvater, Humphrey, über Augustas Einwände hinweggesetzt und entschieden, dass Olivia zu den Leuten Kontakt aufnehmen müsse, die auf den treuhänderisch verwalteten Liegenschaften ihres Vaters lebten. Seither schrieb sie regelmäßig dem Verwalter, dem greisen Mr. Hamilton. Das Landgut erwirtschaftete wenig, gerade so viel, um das Haus und eine kleine Dienerschar zu unterhalten. Es eignete sich gewiss nicht zur prachtvollen Residenz, doch der Boden war ertragreich, und nach ihrer Heirat würde Olivia die gesamte Verwaltung zufallen. Aus praktischen Erwägungen war dies bereits geschehen.

Sie schloss die Augen, versuchte sich zu erinnern: ein grausteinernes Gutshaus, mit jahrhundertealten Flechten und Moosen bedeckt; steile Berge, sattgrüne Täler und glasklare, rauschende Bäche. Glaubte man Augusta, so war ihr Vater ein anständiger Kerl gewesen und ihr Leben in Schottland glücklich. Dagegen war Mrs. McCafferys Version eine gänzlich andere: Alkohol. Glücksspiel. Frauen. Schienen diese Laster in London noch verstärkt, dann deshalb, weil er sie in Schottland besser zu verbergen gewusst hatte.

Als Kind hatte Olivia nur gesehen, dass ihre Eltern ausnehmend attraktiv waren. Und im Laufe der Zeit hatte sie schließlich begriffen: Ihr Vater taugte nicht zum Ehemann. Vielleicht prüfte sie die jungen Männer darum so peinlich genau auf Herz und Nieren. Sie wollte sich davor schützen, den Fehler ihrer Mutter zu wiederholen.

Vater hin oder her, in Byrde Manor hatte sie den schönsten Teil ihrer Kindheit verlebt, und es gehörte ihr. Bei dem Gedanken an eine Rückkehr überkam Olivia das Fernweh. Es wäre eine Ironie des Schicksals, wenn sie in ihrer früheren Heimat Schottland tatsächlich einen Gemahl fände. Sie unterdrückte ein leises Glucksen. Ihre auf gesellschaftliche Etikette bedachte Mutter hatte nur gescherzt, es geschähe ihr ganz recht, wenn dieser Fall einträte.

Sie wandte sich zu Augusta. »Also sind wir beide uns einig. Sarah mag auch nicht mehr in der Stadt bleiben. Ich möchte zurück nach Byrde Manor, und du wirst deinen Archie ganz allein für dich haben. Selbst James muss dieser Plan überzeugen.«

»Also wirklich, Olivia. Du redest, als könnte ich Archie nur für mich gewinnen, wenn keine andere Frau in der Nähe ist. Trotzdem, dein Vorschlag klingt großartig. Eine Landpartie ist genau das Richtige. Du wirst allerdings vorausreisen müssen, um das Haus für die Gäste vorzubereiten.«

»Ja, und ich kann Sarah mitnehmen.«

»Du wirst zusätzliches Personal benötigen.«

»Hm, ich weiß.«

»Und lüfte die Schlafzimmer. Und wasch und bleiche das Leinen.«

»Ich kann einen Haushalt führen, Mutter.«

Augusta tätschelte Olivias Wange und lächelte warm. »Das kannst du, mein Schatz. Das kannst du. Ich werde dein Geschick in Haushaltsdingen vermissen, wenn du erst verheiratet bist. Irgendein angesehener Lord wird überglücklich sein, dass du sein Werben erhört hast.«

Kapitel 2

Neville Hawke schreckte aus dem Schlaf hoch. Sein Herz dröhnte wie das scharfe Stakkato einer Gewehrsalve. Seine Lider zuckten nervös ob des entfernten Kanonendonners.

Dass es kein Gefechtsfeuer war, begriff er, sobald sich die Nebel in seinem Kopf lichteten. Er vernahm drei gedämpfte Gongschläge. Die hohe Standuhr unten in der Halle neben dem Treppenaufgang läutete die frühe Morgenstunde ein.

Er schauderte, nahm einen langen, zerrissenen Atemzug. Alles war wie immer. Nichts Ungewöhnliches.

Er schälte sich aus dem tiefen Ledersessel und wankte zum Barschrank. Das Feuer im Kamin war längst erloschen, nur die beiden Öllampen brannten noch und hüllten sein holzvertäfeltes Arbeitszimmer in angenehmes Halbdunkel.

Fahrig fuhr er sich durch das wirre Haar. Zum Glück hatte die verfluchte Dunkelheit bald ein Ende. Zum Glück war Sommer und die Tage waren so lang. Nur noch zwei Stunden, und wieder war eine unversöhnliche Nacht besiegt.

Er schenkte sich einen kleinen Whisky ein und stürzte ihn in einem Zug hinunter. Der Alkohol brannte ihm auf der Zunge, in der Kehle, bis hinunter in den Magen, und wieder musste er sich schütteln. Vom feinsten Scotch über den Fusel der Duncan-Brüder bis hin zu dem Whisky, der in Fergus' Schuppen gebrannt wurde, er hatte alles probiert und war auf der Suche nach dem Vergessen letztlich von den weichen zu den harten Getränken übergegangen.

Aber nichts war wirkungsvoll genug, um seine Erinnerungen zu tilgen oder diese Albträume abzuwenden. Er konnte arbeiten bis zum Umfallen, seinen Verstand mit Alkohol betäuben, diesem nächtlichen Spuk entkam er trotzdem nicht.

Er griff nach dem irdenen Krug, völlig deplatziert zwischen den leeren Kristallkaraffen auf dem Silbertablett. Seine Mutter hatte die schmucken Flakons vor Urzeiten in Edinburgh gekauft, er wusste nicht mehr genau wann. Bei seinem Vater waren sie stets mit den feinsten schottischen, irischen und englischen Spirituosen gefüllt, der Weinkeller mit den besten französischen Tropfen bestückt gewesen. Neville indes hatte die exklusiven Vorräte in Woodford Court schon vor Jahren geleert.

Er goss sich einen weiteren Schluck von dem Teufelszeug ein, trank und knallte den Krug zurück auf das Tablett. Eine der Karaffen schwankte, trudelte wie trunken und zerbrach in tausend Scherben auf dem Schieferboden. Er zuckte zusammen bei dem Geräusch, das die nächtliche Stille zerriss wie das Krachen eines Flintenschusses durch eine Bleiglasscheibe. Aber es war kein Schuss. Es war nur ein törichtes Glasbehältnis, zersplittert auf den Dielen des väterlichen Arbeitszimmers.

Neville starrte auf die anderen Flakons und den Whiskykrug mit den beiden Henkeln und dem dicken Korkstöpsel. Wie passend, den derben Krug neben diesen edlen Tand zu stellen, hatte er doch einiges mit diesem Tongefäß gemein. Seine Familie war so edelmütig und aufrecht gewesen – und so gebrechlich. Einen nach dem anderen hatte der Tod sie dahingerafft, bis auf ihn, den Feigling, verschlagen und willensschwach – und unverwüstlich, wie er fürchtete.

Er schwankte, hielt sich den Kopf. Er war unsäglich müde, wollte nur noch schlafen. Aber erst, wenn das Sonnenlicht das Grauen der nächtlichen Angstträume ausblendete. Er riss den Blick von dem Whiskykrug los und rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. Er schämte sich. Ein widerwärtiger Trunkenbold bei Nacht, der am Tag seinen Rausch ausschlief.

Seltsamerweise suchten ihn jene quälenden Träume ausschließlich nachts heim. Könnte er doch nur bis zum Morgenanbruch ausharren! Nur noch zwei Stunden, und er wäre erlöst. Aber er war so müde, zermürbt – seelisch ausgezehrt.

Er sah sich um, blinzelte ob der heimtückischen Schläfrigkeit, richtete den Blick auf eine der Öllampen. Er durchquerte den Raum, wie gebannt die gleichmäßig brennende Flamme betrachtend. Der Glaszylinder war heiß, als er diesen umschloss, bis seine Handflächen den Schmerz kaum mehr ertragen konnten. Dennoch harrte er aus.

»Teufel noch!«, fluchte er, als er schließlich losließ. Stöhnend betrachtete er seine geröteten Handballen. Verdammt, tat das weh! Mithin würde der Schmerz ihn wach halten, bis die Sonne am östlichen Horizont erstrahlte, und genau darum ging es ihm. Körperlichen Schmerz konnte er ertragen. Aber die Erinnerungen, die Albträume …

Er riss die burgunderroten Portieren vor den nach Osten gelegenen Fenstern auseinander, das Scheuern des dicken Samtstoffs an seinen wunden Handflächen ignorierend. Dann schob er seinen Sessel vor das Fenster und ließ sich ächzend hineinsinken.

Noch zwei Stunden, sagte er sich. Nur noch zwei Stunden. Unermüdlich glitten seine Hände über die abgeschabten Lederlehnen, denn dieser Schmerz würde ihn wach halten. Ihn in Sicherheit wiegen.

Doch die Zeiger der hohen Standuhr bewegten sich nur langsam. Zu langsam. Er hörte das Läuten um vier und das rhythmische Klacken im Viertelstundentakt. Endlich ein Streifen Licht am Horizont, darauf wartete er nun jeden Morgen, seit seiner Rückkehr aus diesem verheerenden Krieg.

Seine Lider wurden schwer. Er schloss die Augen, sein Kopf sank zur Seite, und wie ein unsichtbarer Feind übermannte ihn dumpfe Schläfrigkeit. Liebkoste ihn wie eine wohlige Decke, eine zärtliche Hand. Weich. Verführerisch. Vernichtend.

Dann begann der Schusswechsel – der stechende Schmerz einer Kugel in seinem Bein, die ohrenbetäubenden Schreie der Angreifer und der Sterbenden.

»Nein! Neeiin!« Er fuhr aus dem Sessel hoch, sein Herz raste, sein Hirn rotierte. »Nein!«

Neville wusste, dass er träumte, verfolgt von jenem entsetzlichen Albdrücken, das ihn nicht mehr losließ. Einerlei, es war nur ein Traum. In dieser und in den vielen Nächten zuvor.

Aber irgendwann war es Realität gewesen.

Mit zitternden Fingern fuhr er sich durch die Haare, rieb mit den malträtierten Handflächen über sein stoppliges Kinn. Indes war dieser Schmerz nichts, verglichen mit seiner tiefen Seelenqual. Er hatte genug. Er konnte nicht mehr. Wenn der Alkohol ihm schon keine Labsal mehr brachte, was blieb ihm dann noch?

Er schlurfte zu seinem Sekretär und riss die unterste Schublade auf. Dort, zwischen Orden und Belobigungen, lagen seine beiden Pistolen und die holzgeschnitzte Munitionskiste. Fahrig fingerte er nach dem Kästchen und einer der Waffen. Er würde diese Marter ein für alle Mal beenden.

Nachdem er die Pistole geladen hatte, schaute er sich in dem anheimelnd erleuchteten Raum um. Nein, nicht hier. Nicht im Arbeitszimmer seines Vaters. Das würde das Andenken an seine geliebten Eltern mit Füßen treten, und sie hatten es wahrlich besser verdient.

Entschlossen schob er die riesigen Glastüren auf und trat auf die Ostterrasse. Er umklammerte die Waffe. Seine Hand zitterte entsetzlich. Den Blick in eine ungewisse Ferne gerichtet, sammelte er sich – bis der rosige Schimmer des Sonnenaufgangs auf seine durchwachten Augen traf. Bis die vertraute Silhouette des lang gestreckten Stallgebäudes sichtbar wurde und, gleich dahinter, die Dächer der anderen Bauernhäuser.

Rings um ihn herum nahmen die Gebäude, Bäume und Koppeln Gestalt an – ein Anblick, der ihm seit Kindheit vertraut war. Sein Zuhause, das er nicht aufgeben durfte. Verstört blinzelnd gelangte er zu einer weiteren Erkenntnis.

Der Morgen war angebrochen.

Er hatte die Nacht besiegt.

Schwer atmend sank er auf die Knie, die Pistole fiel achtlos in einen Rhododendronkübel. Er hatte die Nacht besiegt.

Wie lange er so dahockte, mit gesenktem Kopf, von trockenem Schluchzen geschüttelt, hätte er nicht zu sagen vermocht. Als er sich schließlich aufrappelte, stand die Sonne bereits über den Hügelkämmen. Ihre wärmenden Strahlen glitten über sein Gesicht. Jetzt durfte er endlich sein Bett aufsuchen und im Schlaf Vergessen finden.

Er schwankte zurück in das Arbeitszimmer, vergaß die Pistole, vergaß das geöffnete Fenster. Er goss sich einen ordentlichen Whisky ein, riss die Tür auf und taumelte in den Flur. Oben in seinem Schlafgemach öffnete er schwungvoll die Portieren und betrachtete fasziniert den Sonnenaufgang. Ein Hahn krähte. Bald würde das Dorf zu neuem Leben erwachen. Die Weber und Färber würden ihrem Tagwerk nachgehen, die Schäfer ihre Herden auf die Weiden treiben, die Kinder die Dorfschule aufsuchen – unter ihnen auch der kleine Adrian.

Er sah Otis, den Stallmeister, über den Kiesweg zu den Ställen stapfen. Seit über vierzig Jahren arbeitete Otis in Woodford, wie so viele andere.

Neville beschattete mit unsicherer Hand seine Augen.

Er hatte ihre Treue nicht verdient, die Loyalität und Bewunderung, mit der sie ihm ergeben waren. Seine Leute wollten wohl gar nicht wahrhaben, was für ein verkommener Nichtsnutz er war. Und er war zu feige, ihnen reinen Wein einzuschenken.

Achselzuckend fixierte er das gleißende Sonnenrund. Dann schloss er die Augen, leerte sein Glas und sann über seinen Tagesablauf nach. Er würde mit Otis und dessen Sohn Bart, dem Pferdetrainer, über die Zuchtstuten reden müssen und über die Pferde, die bei den Herbstrennen starten sollten. Und wegen der Schafställe würde er sich mit dem Zimmermann treffen müssen. Außerdem sollte er endlich dem alten Hamilton mitteilen, dass er vorhatte, dessen fruchtbare Felder und Weiden auf der anderen Seite des Flusses zu pachten.

Aber nicht jetzt. Noch nicht.

Jetzt brauchte er seinen Schlaf. Er hatte jene Augenblicke des Grauens durchlebt und erneut gesiegt. Nun konnte er seinen Verstand mit Whisky betäuben und dann endlich in tiefen, traumlosen Schlummer sinken.

***

Olivia verstaute ihr Tagebuch in einem Handkoffer und trat zurück, da einer der Hausdiener ihr Gepäck abholte. Sie hatten zwei hektische Tage in Nottingham verbracht und sich auf ihre Reisen nach Doncaster und Schottland vorbereitet. Sie streifte ein Paar graue Glacéhandschuhe über und musterte ihre Schwester.

»Ich wünschte, du würdest es dir noch einmal überlegen, Sarah, und Mutter und mich begleiten.«

»Pah! Und zusehen, wie Mutter sich abgrundtief lächerlich macht vor diesem Archie? Lord Holdsworth«, setzte Sarah in dem hochnäsigen Tonfall ihrer Mutter hinzu. »Nein danke.«

Olivia betrachtete ihre jüngere Schwester. »Ich frage mich nur, ob es ausgerechnet an Lord Holdsworth liegt? Oder lehnst du jeden Mann ab, den Mama sympathisch findet?«

Sarah legte den Kopf schief und tippte mit einem Finger an ihre Schläfe. »Lass mich mal überlegen.« Ihre Stimme troff vor Sarkasmus. »Was soll ich darauf antworten? Dass ich denke, er ist bei weitem zu jung für Mutter – dass ich es besser fände, wenn du ihn dir angeln würdest? Oder soll ich unter Tränen gestehen, dass ich keinen neuen Papa haben will? Nie und nimmer.« Darauf schob sie schmollend ihr Kinn vor – ganz der unverstandene kleine Trotzkopf.

Aber Olivia gewahrte auch die Verletztheit in Sarahs Augen. Sie durchquerte die Schlafkammer und umschlang ihre Schwester. Zunächst sträubte sich das Mädchen, doch dann sank sie seufzend in ihre Arme.

Olivia streichelte ihren Rücken. »Arme Sarah. Ich weiß, wie sehr du deinen Vater vermisst. Ich vermisse ihn auch.«

»Aber sie vermisst ihn kein bisschen, oder? Sie kann es kaum erwarten, wieder unter die Haube zu kommen. Dann vergisst sie Vater und mich sowieso.«

»Nein, Sarah, niemals. Du verkennst, dass James und ich in einer ähnlichen Situation waren wie du. Sie hat uns nicht vergessen, als sie deinen Vater geheiratet hat. Im Gegenteil, er war sehr gut zu uns.«

»Gewiss, aber James war auch noch zu jung, um sich an seinen Vater erinnern zu können. Und dein Vater war ein unverbesserlicher Aufschneider. Das sagen alle.«

Olivia zog an einer von Sarahs Flechten. »Man redet nicht schlecht über die Toten.« Selbst wenn es der Wahrheit entspricht. »Tatsache ist, dass Mutter eine Heirat überglücklich machen würde und dass ihre Kinder mit Vater weitaus besser zurechtkommen als ohne. Komm, gib dir einen Ruck, vielleicht findest du den Burschen sogar ganz passabel.«

Sarah löste sich aus Olivias Umarmung. »Vermutlich sucht er ohnehin was Jüngeres als Mutter.«

»Möglich. Trotzdem, dieser Ausflug nach Doncaster ist die Gelegenheit für uns, ihm auf den Zahn zu fühlen. Bitte, komm doch mit.«

Sarah schüttelte den Kopf. »Ich würde lieber hier bei James bleiben. Du begleitest Mutter, Olivia, und ich komme nächste Woche mit Mrs. McCaffery nach Doncaster. Dann bleibt uns noch jede Menge Zeit auf dem Ritt nach Schottland.«

Olivia maß ihre zwölfjährige Schwester, noch so jung und in manchen Dingen doch sehr reif für ihr Alter. »Ja, wir werden einen anstrengenden Ritt vor uns haben, mit einem langen Gespräch, schließlich muss ich dir alles erzählen, was in Doncaster passiert ist.« Sie fasste Sarahs Hand. »Wir werden eine herrliche Zeit in Byrde Manor verbringen, also bitte, Sarah, nicht schmollen! Mutter liebt dich, das weißt du, und sie möchte dich fröhlich sehen.«

Sarah seufzte und grinste halbherzig. »Ich weiß. Du musst mir aber versprechen, dass sie nicht Gott und alle Welt einladen darf. Ich habe es satt, ständig von Leuten umgeben zu sein, die ich nicht kenne. Außerdem ist Byrde Manor dein Besitz und nicht ihrer.«

»Mach dir deswegen keine Sorgen. Ich möchte die Gästeliste auf zwölf Teilnehmer begrenzen, einschließlich wir vier. Das Haus ist nicht sonderlich groß.«

Schritte im Gang unterbrachen ihre Unterhaltung. »Olivia! Beeil dich, mein Kind.« Augusta rauschte durch den Flur, gefolgt von Mrs. McCaffery.

Sarah küsste ihre Mutter pflichtschuldig, worauf Augusta ihre jüngste Tochter prüfend maß. »Mach in meiner Abwesenheit ja keinen Unfug, Sarah. Ich habe Mrs. McCaffery strikte Anweisungen gegeben. Kein Ausritt ohne Begleitung. Du gehst mir weder mit den Stallburschen angeln, noch spielst du mit den Gesindekindern. Dafür bist du inzwischen zu alt. Und jeden Tag üben. Jeden Tag. Hörst du mich? In Byrde Manor erwarte ich, dass du hervorragend Klavier spielst. Oh, da fällt mir etwas ein, Olivia«, sagte sie, als sie die Vortreppe des beeindruckenden Haupthauses passierten und der Kutscher ihr beim Einsteigen in die Kalesche half. »Sobald du in Byrde Manor eintriffst, musst du das Pianoforte im zweiten Salon stimmen lassen.«

Mit einer letzten Umarmung verabschiedete Olivia sich von ihrer Schwester. Dann fuhren sie los, untermalt von Augustas unbekümmertem Geschnatter über die Teilnehmer der Pferderennen, während Olivia mit offenen Augen von einem langen, friedvollen Herbst in Schottland träumte.

Nach zweitägiger Reise erreichten sie den weitläufigen Familiensitz der Cummings, eine knappe Meile außerhalb von Doncaster. Über eine sonnendurchflutete Lindenallee rollte die Kutsche zu dem dreigeschossigen, roten Backsteingebäude, das in seiner Frühzeit eine Festung gewesen war. Im Laufe der Jahrhunderte um zwei Seitenflügel und einen mächtigen Wohnturm erweitert, wirkte es geschmacklos protzig, ohne einen Hauch von Anmut.

Fünf Tage, redete Olivia sich insgeheim zu, als die Haushälterin sie nach oben zu den Gemächern führte, die ihr und ihrer Mutter zugedacht waren. Sie musste dies alles nur fünf Tage lang ertragen. Dann ging es weiter nach Byrde Manor, in das ersehnte schottische Landleben. Sie konnte es kaum erwarten.

Die anderen Gäste hatten bereits ein leichtes Sommerdiner eingenommen, so dass Olivia und ihre Mutter in ihren Zimmern speisten, während eine Dienerin für sie auspackte. Olivia hätte sich am liebsten gleich zurückgezogen, mit Emma, dem neuen Roman, den sie mitgebracht hatte, nachdem sie auch die früheren Bücher der Autorin verschlungen hatte. Doch ihre Mutter wollte nichts verpassen. Nach Auskunft des Zimmermädchens war Lord Holdsworth bereits eingetroffen, zusammen mit einigen anderen Gästen.

»Man kann nie wissen, auf wen man so alles trifft«, erklärte Augusta ihrer Tochter, während sie sich für einen goldenen Ohrschmuck mit Aquamarinen entschied, die hervorragend mit ihrer Augenfarbe harmonierten. »Eine Pferdenärrin wie du muss sich doch hier wie zu Hause fühlen.« Sie tupfte sich Rosenöl hinters Ohrläppchen. »Dir hat man wahrlich genügend Heiratsanträge gemacht. Von Rechts wegen müsstest du längst Ehefrau und Mutter sein.«

»Seit wann drängt es dich danach, Großmutter zu werden?«

Augusta ging darüber hinweg. »Lass uns nach unten gehen, ja? Der Butler hat gesagt, dass sich alle im hinteren Salon einfinden werden.«

Als sie den Salon betraten, fiel Olivia als Erstes auf, dass sie die einzigen weiblichen Gäste waren. Mit affektierter Gestik und dramatischem Augenaufschlag machte Penny Cummings die Herrschaften miteinander bekannt. Mr. Cummings hing schläfrig in seinem Sessel, gleichwohl gelang ihm eine artige Verbeugung. Die anderen drei Herren erhoben sich beim Eintreten der beiden attraktiven Damen. Mr. Clive Garret war wegen der Rennen aus Devon angereist, und der Ehrenwerte Mr. Harry Harrington war aus Bury St. Edmonds in Suffolk gekommen, um seinen Reitstall aufzustocken.

Lord Holdsworth war zwar charmant wie stets, dennoch fand Olivia, dass er derzeit mehr an Pferden interessiert schien als an einer Heirat. Nachdem er Augusta keinen Deut herzlicher begrüßt hatte als Olivia, wandte er sich wieder seinem Gastgeber zu.

»Kennen Sie die Stammbäume der Pferde, die Hawke ins Rennen schickt?«

Mr. Cummings hielt einem Diener sein leeres Glas zum Nachschenken hin. »Ich kenne nur einen. Den von einem kräftigen schottischen Tier, wie mir gesagt wurde. Ein Nachkomme von diesem prachtvollen Rappen und der Stute, die auch die Mutter von Chieftain ist. Erinnern Sie sich an Chieftain? Das war mal ein Pferd. Vor fünf Jahren. Hat haushoch gesiegt in Ascot, soweit ich mich entsinne.«

»Wie ich gehört habe, hat er auch ein erfolgversprechendes Fohlen«, warf Mr. Harrington ein.

»Wann rechnen Sie denn mit Hawke?«, erkundigte sich Holdsworth. »Kann's kaum erwarten, seine Zucht zu begutachten.«

»Müsste eigentlich längst hier sein«, erwiderte Mr. Cummings. »Keine Ahnung, was den aufgehalten hat.«

»Über wen sprechen sie denn da?«, wollte Augusta von Penny wissen.

»Über Neville Hawke. Er ist der letzte noch fehlende Gast.«

»Hawke. Der Name kommt mir bekannt vor«, überlegte Augusta.

Wieder rang Penny überschwänglich die Hände. »Vermutlich hast du von seinen militärischen Siegen gehört. Er soll ein Kriegsheld gewesen sein. Jetzt züchtet er Pferde – mit einigem Erfolg. Ich habe ihn bislang noch nicht kennen gelernt, aber die Männer sind alle voller Bewunderung für ihn.« Sie wandte sich zu ihrem Gatten. »Mr. Cummings, bringt er seine Gemahlin mit?«

Er zuckte die Schultern. »Weiß gar nicht, ob er eine hat.«

Penny warf Olivia einen vielsagenden Blick zu und beugte sich näher zu ihr. »Na, hast du das gehört?«, raunte sie. »Vielleicht erweist sich dieser Besuch als lohnend für deine Mutter und für dich.«

Darauf lächelte Olivia nur unverbindlich.

Zum Glück währte ihre abendliche Zusammenkunft nicht allzu lange. Da die meisten Rennpferde bereits in Doncaster eingetroffen waren, wollten die Gentlemen früh aufstehen und die Testläufe mitverfolgen. Auf den Favoriten würden hohe Wetten abgeschlossen, aber natürlich auch auf die Außenseiter. Alle hofften auf einen Gewinn, daher beabsichtigten die Männer, Augen und Ohren offen zu halten und sich gegenseitig mit guten Tipps zu unterstützen.

Folglich ging man zeitig zu Bett. Obschon körperlich erschöpft von der anstrengenden Reise, stand Olivia der Sinn nicht nach Schlaf. In der Kutsche war sie mehrfach eingedöst und ihr Geist von daher jetzt hellwach. Aber nicht wegen der Rennen und der gesellschaftlichen Glanzlichter in Doncaster, auch wenn sie Pferde liebte und sich eine begnadete Reiterin rühmte. Es war der Gedanke an Byrde Manor. Mit einem Rassepferd über einen abgesteckten Parcours zu reiten war ja gut und schön. Aber ein langer Ritt auf einem temperamentvollen Ross durch die atemberaubenden Cheviot-Berge sagte ihr weit mehr zu.

Als sie schließlich einschlief, träumte sie von würziger Morgenluft und berauschenden Landschaften, von Weißdorn und Bergahorn, dem eindringlichen Ruf der Seeschwalben, Falken und Adler.

Indes währte ihr Schlummer nicht lange. Hufgetrappel und Männerstimmen weckten Olivia noch vor Sonnenaufgang. Verschlafen gähnend rieb sie sich die Augen. Wettleidenschaft hin oder her, sie hätte nicht damit gerechnet, dass die Männer dermaßen früh aufbrechen würden.

Sie stand auf und spähte aus dem Fenster in den Innenhof, doch der war menschenleer. Verwirrt schaute sie sich um, dann lauschte sie an der Verbindungstür zum Gemach ihrer Mutter. Augusta lag in einem gewaltigen Himmelbett, ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig. Sie schwor auf ihren Schönheitsschlaf, wohl nicht zu Unrecht. Sie sollte ihrem Beispiel folgen, überlegte Olivia. Aber vermutlich würde sie ohnehin nicht mehr einschlafen können.

Irgendwo im Haus schlug es zur vollen Stunde. Fünf Uhr. Seufzend reckte sie die Arme. Sie war auf, also konnte sie sich ebenso gut ankleiden. Vielleicht sollte sie eine Runde durch den kleinen Park drehen, den sie auf der Ostseite des Hauses entdeckt hatte. Während ihres Londonaufenthalts war sie nie so zeitig aufgestanden. Den Sonnenaufgang zu betrachten wäre bestimmt eine angenehme Zerstreuung.

Olivia entschied sich für ein schlichtes blassgrünes Musselinkleid mit cremefarbenen Rüschen am Halsausschnitt und kleidete sich im Dunkeln an. Einige rasche Bürstenstriche durchs Haar und eine Katzenwäsche vervollständigten ihre Morgentoilette. Dann streifte sie bequemes Schuhwerk und einen leichten Schal über und griff, einer plötzlichen Eingebung folgend, nach ihrem Tagebuch. Vielleicht fand sich eine Gelegenheit, ihre Beobachtungen über Lord Holdsworth und die beiden anderen Gentlemen, die sie gestern Abend kennen gelernt hatte, einzutragen.

Die Treppe nach unten war leicht zu finden, eine Tür ins Freie mithin schwieriger. Das weitläufige Haus wirkte im Innern noch verschachtelter als von außen. Als sie hinter einer angelehnten Tür einen Lichtstreifen ausmachte, strebte sie kurz entschlossen dorthin. Irgendjemand war bereits auf den Beinen, vermutlich ein Diener. Vielleicht würde er sie zum Ausgang geleiten.

Die reichverzierte Tür glitt geräuschlos auf und enthüllte eine weitläufige Bibliothek, worauf Olivias Augen sich entzückt weiteten. Mitten im Raum, auf einem großen Tisch, stapelten sich Bücher – zumeist Bände über Pferdezucht und -rennen, wie sie feststellte. Ein leeres Glas stand neben einem Kerzenleuchter, der die deckenhohen Bücherregale mit den ledergebundenen Folianten in ein warmes, bernsteinfarbenes Licht tauchte. Die geöffneten Vorhänge gaben den Blick auf die Dunkelheit frei, der Raum war leer. Offenbar lag sie mit ihrer Einschätzung richtig. Die Männer waren nach Doncaster aufgebrochen, nachdem sie sich in Sachen Rennpferde kundig gemacht hatten.

Zögernd betrat sie den Raum, vergaß ihren Spaziergang. Sie hätte gar nicht vermutet, hier auf eine umfangreiche Bibliothek zu treffen. Offen gestanden hatte sie Penny Cummings insgeheim für eine Analphabetin gehalten. Das war wirklich nicht nett, schalt sie sich rasch. Und völlig unangebracht.

Sie studierte die Titel, ihre Finger glitten beinahe zärtlich über die Regale. Eine Reise zu den schottischen Inseln von Samuel Johnson, Reisebericht über Korsika von James Boswell, Voltaires Schriften zur religiösen Toleranz. Alles ernste, seriöse Werke. Jeder renommierte Buchhändler wäre beeindruckt von dieser Auswahl.

»Aber kein bisschen Poesie«, sann sie laut. Sie legte ihr Tagebuch auf einen Beistelltisch. »Hmm. Debretts Adelskalender für England, Schottland und Irland. Auch keine Dramen oder Schauspiele.«

»Gibt es denn nicht genug Dramen innerhalb des Adels?«

Aufgrund dieser unerwarteten Äußerung wirbelte Olivia herum. Ihr Blick schoss zum Fenster. Sie gewahrte den breiten Rücken eines Polstersessels und jemand, der, über die Lehne gebeugt, zu ihr spähte. »Mir scheint«, fuhr der Mann unbeirrt fort, »dass der Adel ein einziges Drama ist. Nichts als ein Drama.«

Einen Augenblick war Olivia sprachlos vor Schreck, denn sie hatte sich allein gewähnt. Außerdem erkannte sie in diesem Mann keinen der Gäste vom Vorabend. Sein Gesicht wurde vom Dämmerschein, Wangen und Kinn von einem dunklen Bartansatz überschattet, so als hätte er in jenem Polstermöbel vor dem Fenster genächtigt.

Sie schluckte und räusperte sich. Bevor sie Worte fand, glitten seine Augen bereits lasziv über sie, von Kopf bis Fuß – über jeden Zoll ihres Körpers. Seine prüfende Begutachtung, eine bodenlose Dreistigkeit, wie Olivia sie nie zuvor erlebt hatte, verunsicherte sie zutiefst. Dann sagte er mit tiefer, wohlklingender Stimme und wie zur Bekräftigung:

»Wenn es dieser Bibliothek bislang an Poesie fehlte, so hat sich das mit einem Schlag geändert.«

Kapitel 3

Neville mochte seinen Augen nicht trauen, welch ungeheures Glück ihm da beschieden war. Wenn das ein Traum war, dann war er verdammt noch mal besser als die Visionen, die ihn für gewöhnlich heimsuchten. Sie war ein Engel, eine strahlende Lichtgestalt im Kerzenschein, ihre Schultern von einer kastanienbraunen Haarfülle umschmeichelt. Die ausdrucksvollen, von einem tiefbraunen Wimpernkranz umrahmten Augen schimmerten wie Uferschilf im Sonnenlicht. Ihr Teint war makellos, porzellangleich und samten. Sie trug ein schlichtes, weich fallendes Musselinkleid mit einem zarten Schal um ihre Schultern und hielt den Blick auf ihn geheftet.

Neville schluckte hörbar. Sie bot ein Bild der Anmut und Schönheit, indes gepaart mit einer gewissen Ungezähmtheit, wie ein scheues Reh, bezaubernd und doch leicht zu verschrecken. Aber er wollte sie nicht verschrecken. Sie sollte bleiben, damit er sie weiterhin anschauen könnte.

Er verzehrte sie mit Blicken, voller Bewunderung für das, was er soeben in Augenschein nahm, und er wollte mehr sehen. Die verheißungsvollen Rundungen unter dem engen Mieder, die wohlgeformten Schenkel unter dem weich fließenden Gewand. War sie eine Dienerin? Sie trug zwar keine Bedienstetentracht, gleichwohl musste sie zum Gesinde gehören, warum sollte sie ansonsten schon vor Sonnenaufgang auf den Beinen sein? Einer seiner Mundwinkel zuckte verräterisch. Hätte er gewusst, dass Cummings derart reizende Dienstmägde unter seinem Dach beherbergte, wäre er bereits am frühen Abend eingetroffen, statt diese lange, zermürbende Nacht in völliger Einsamkeit zuzubringen.

Er war bewusst spät angereist, denn er tat sich schwer auf gesellschaftlichem Parkett. Da er aber mit Cummings und dessen Freunden Geschäfte machen wollte, hatte er kommen müssen. Allerdings hatte er sich für eine Ankunft nach Mitternacht entschieden. Nachdem er die Pferde und seine Stallburschen versorgt wusste, schliefen die anderen schon, und ihm blieben nur noch wenige Stunden, die er durchwachen musste. Die Bibliothek mit ihren Fenstern nach Osten schien ihm dafür am geeignetsten. Und jetzt bescherte sie ihm diese hübsche junge Dienstmagd oder Gouvernante oder was immer sie sein mochte.

Er schenkte ihr ein anerkennendes Lächeln. »Es ist noch keine Ode an die Schönheit verfasst worden, die dem Liebreiz vor meinen Augen gerecht werden könnte«, murmelte er, und das meinte er ehrlich. Als Olivia daraufhin errötete, verstärkte sich sein Grinsen. Er war beschwipster, als er geglaubt hatte, überlegte er im Stillen, dabei hatte er die Flasche Brandy, die er auf einem Tablett auf einer geschnitzten Kommode entdeckt hatte, kaum angerührt. Er musste sturzbetrunken sein oder verdammtes Glück haben, dass ein so süßer kleiner Fratz um diese frühe Stunde seinen Weg kreuzte.

»Darf ich nun Ihren werten Namen erfahren?«, fragte er und erhob sich. Er schwankte nicht, sein Kopf fuhr nicht Karussell – ein gutes Zeichen. Denn wenn er nicht so betrunken war, dass er Halluzinationen hatte, dann musste sie echt sein. Wenn er es sich recht überlegte, dann gab es nur einen Grund, warum eine so bildhübsche Frau um diese unchristliche Uhrzeit auf Zehenspitzen durch den Gang huschte. Selbst für die Dienerschaft wäre es noch zu früh, mit den täglichen Aktivitäten zu beginnen. Indes, die nächtlichen Aktivitäten …

Er betrachtete ihre rosig überhauchten Wangen, die prallroten Lippen, und zog den einzig möglichen Schluss. War sie heute Nacht in Cummings' Bett gewesen, sann er, oder vielleicht in einem der anderen Gäste?

Wieder musterte er sie, und trotz der Wirkung des Alkohols verspürte er ein ungewohnt prickelndes Verlangen. Er war wochenlang mit keiner Frau zusammen gewesen. Eigentlich hatte es ihn schon seit Monaten nicht mehr danach gelüstet. Unerklärlich, aber diese hier gefiel ihm. Bis zum Morgengrauen war es noch eine gute Stunde. Die würde er bei weitem lieber mit einer anschmiegsamen jungen Dame verbringen als mit einer Flasche Whisky.

»Na, meine kleine Mitternachtsmuse. Ganz offensichtlich treibt Sie um diese nächtliche Stunde nicht der Hausputz um. Also bleiben Sie doch ein Weilchen hier und wecken Sie den Dichter in mir«, scherzte Neville mit einem schmeichelnden Lächeln. »Wahrlich, ein bisschen Inspiration kann ich dringend brauchen.«

Olivia quittierte sein Lächeln mit einem Stirnrunzeln und zog den Schal fester um ihre Schultern. »Ich fürchte, Sie müssen mich verwechseln.«

Er schüttelte den Kopf. »Unwahrscheinlich. Und«, drängte er, »verraten Sie mir jetzt Ihren Namen?«

Ihre Augen wurden schmal, und er fühlte den bohrenden Blick, mit dem sie eine genaue Bestandsaufnahme seiner Person machte. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Gefiel ihr, was sie dort sah? Seine Weste stand nachlässig offen, er war schmutzig von der Reise und musste sich dringend rasieren. Nun, vielleicht kümmerte sie das gar nicht. Manche Frauen mochten Männer mit Ecken und Kanten.

»Ihre nächtlichen Geheimnisse sind bei mir so sicher wie in einem Grab«, beschwor er sie. »Na kommen Sie schon. Seien Sie doch nicht so zugeknöpft. Einer hübschen Maid wie Ihnen macht man gewiss ständig Komplimente.«

»Gelegentlich«, hauchte sie, obschon ihr nicht wohl dabei war. Kein Gekicher, kein grässlicher Dialekt. Das wurde ja immer besser.

Ihren Blick mit dem seinen fesselnd, trat er langsam näher. »Augen von der Farbe des Herbstes«, murmelte er. »Grün und Gold.«

»Genau genommen sind sie haselnussbraun.«

Er grinste über ihre knappe Entgegnung, spürte das aufwallende Begehren. »Aber Haselnussbraun ist bei weitem nicht poetisch genug, um sie zu beschreiben. Und Sie wünschten sich doch ein wenig Poesie, nicht wahr?« Er würde sogar Shakespeare oder Marlowe oder Blake zitieren. Alles, um sie in sein Bett zu locken.

Als ahnte sie sein Ansinnen bereits, wandte sie jene faszinierenden Augen ab, senkte die samtenen, geschwungenen Wimpern. »Ich glaube, ich gehe jetzt besser.«

Aber Neville ließ nicht locker. Als Olivia sich abwandte, folgte er ihr, und sobald sie die Tür erreichte, hielt er diese mit seinem ausgestreckten Arm zu.

Sie wirbelte herum und fauchte ihn entrüstet an; »Was fällt Ihnen ein?«

»Sie haben mir Ihren Namen noch nicht verraten«, bemerkte er. Er baute sich im Türrahmen auf und versperrte ihr den Ausgang.

»Das habe ich auch nicht vor«, versetzte sie. Ihre eben noch sanfte Stimme überschlug sich beinahe vor Zorn.

»Ihre Augen schimmern grün, wenn Sie wütend sind«, grinste er und spähte in ihre hypnotisierenden Tiefen. Dann umschloss er, sehr zu seiner eigenen Verblüffung, ihr Kinn und beugte sich vor, bis beider Gesichter nur mehr ein Atemhauch trennte. »Wer sind Sie, meine Mitternachtsschöne? Und was muss ich tun, damit Sie ein Glas Brandy mit mir trinken?«

»Ein Glas Brandy? Offenbar haben Sie bereits einige Gläser zu viel intus.« Sie schlug seine Hand fort, duckte sich unter seinem Arm hindurch und wich zurück in den Raum, hinter den Sessel, in dem er gesessen hatte. »Wenn Sie mich nicht auf der Stelle gehen lassen, schreie ich das ganze Haus zusammen«, drohte sie.

Neville war bewusst, dass er sich entsetzlich aufführte. Dem Personal des Gastgebers nachzustellen war eigentlich nicht seine Art. Andererseits hatte er seit Jahren keine Einladung mehr wahrgenommen, was war somit schon normal für ihn? Allein die Tatsache, dass seine verhärteten Empfindungen so heftig auf diese junge Frau reagierten, war Grund genug, sein Werben fortzusetzen.

»Dazu besteht wirklich kein Anlass, ich will Ihnen doch nichts Böses. Ich möchte lediglich Ihren Namen wissen«, sagte er, als sie wieder auftauchte. »Aber ich bin unhöflich. Gestatten Sie, dass ich mich Ihnen vorstelle. Ich bin …«

»Ein aufdringlicher, unverschämter Lackaffe«, zischte sie. Flugs ertastete sie den Riegel der Terrassentür, und bevor er sie aufhalten konnte, flüchtete sie in die nächtliche Dunkelheit.

Olivia konnte es kaum fassen, was ihr da gerade passiert war. In der Bibliothek von irgendeinem Trunkenbold angepöbelt zu werden! Schwer atmend blieb sie am Ende der lang gestreckten Terrasse, hinter einem knorrigen alten Apfelbaum, stehen. Ihr Herz hämmerte, indes eher vor Ärger als vor Angst. Gott sei Dank verfolgte er sie nicht auch noch. Keine Ahnung, was sie dann gemacht hätte.

Sie spähte um den Stamm zum Haus. Verflixt! Er stand noch immer da, seine Konturen zeichneten sich in der geöffneten Tür vor der hell erleuchteten Bibliothek ab, mit angewinkelten Armen stemmte er sich gegen den Türrahmen. Olivias Herz schlug schneller. Eine stattliche Erscheinung, groß, gestählt, mit einer dynamischen, draufgängerischen Ausstrahlung. Wer war er?