Ein ungezähmter Gentleman - Rexanne Becnel - E-Book
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Ein ungezähmter Gentleman E-Book

Rexanne Becnel

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Beschreibung

Eine Frau, ein waghalsiger Plan – und ein Mann, der alles will, und noch mehr: „Ein ungezähmter Gentleman“ von Rexanne Becnel als eBook bei venusbooks. Louisiana, 1872: Nach dem unerwarteten Tod von Frederick Kimbell ist es an der jungen Lacie, dessen Mädchenpensionat zu leiten, in dem sie selbst vor vielen Jahren als mittellose Waise untergekommen ist. Dafür muss sie sich jedoch als dessen Witwe und Erbin ausgeben. Als kurz darauf Fredericks undurchsichtiger Halbbruder Dillon auftaucht, weiß Lacie sofort, dass er ihren riskanten Plan zunichtemachen könnte. Nur wenn sie vorsichtig und klug ist, wird sie ihm Paroli bieten können. Wären da nur nicht seine verführerisch dunklen Augen, sein provokantes Lächeln und das Herzklopfen, das sie jedes Mal überfällt, wenn sie ihm begegnet … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Romance-Bestseller „Ein ungezähmter Gentleman“ von der Erfolgsautorin historischer Liebesromane, Rexanne Becnel. Lesen ist sexy: venusbooks – der erotische eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 484

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Über dieses Buch:

Louisiana, 1872: Nach dem unerwarteten Tod von Frederick Kimbell ist es an der jungen Lacie, dessen Mädchenpensionat zu leiten, in dem sie selbst vor vielen Jahren als mittellose Waise untergekommen ist. Dafür muss sie sich jedoch als dessen Witwe und Erbin ausgeben. Als kurz darauf Fredericks undurchsichtiger Halbbruder Dillon auftaucht, weiß Lacie sofort, dass er ihren riskanten Plan zunichtemachen könnte. Nur wenn sie vorsichtig und klug ist, wird sie ihm Paroli bieten können. Wären da nur nicht seine verführerisch dunklen Augen, sein provokantes Lächeln und das Herzklopfen, das sie jedes Mal überfällt, wenn sie ihm begegnet …

Über die Autorin:

Rexanne Becnel ist gefeierte Autorin zahlreicher historischer Liebesromane. Während mehrerer Aufenthalte in Deutschland und England in ihrer Jugend begeisterte sie sich so sehr für mittelalterliche Geschichte, dass sie Architektur studierte und sich für den Denkmalschutz mittelalterlicher Gebäude einsetzt. In ihren Bestseller-Romanen haucht sie der Geschichte auf ganz andere Art neues Leben ein. Sie lebt glücklich verheiratet in New Orleans.

Bei venusbooks erscheinen auch:

Das Herz des Lords

Das Verlangen des Ritters

Der Pirat und die Lady

Das wilde Herz des Ritters

Die Sehnsucht des Lords

In den Armen des Edelmanns

Rosecliff – Die Braut

Rosecliff – Der Ritter

Rosecliff – Die Herrin

***

eBook-Neuausgabe Oktober 2017

Ein eBook des venusbooks Verlags. venusbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, München.

Dieses Buch erschien bereits 1997 unter dem Titel Dieb meins Herzens bei Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1991 by Rexanne Becnel

Die amerikanische Originalausgabe erschien 1991 unter dem Titel Thief of my heart bei Dell Publishing.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1997 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2017 dotbooks GmbH, München

Copyright © der Lizenzausgabe 2017 venusbooks GmbH, München

Copyright © der aktuellen eBook-Neuausgabe 2020 venusbooks Verlag. venusbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, München.

Published by Arrangement with Rexanne Becnel

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: HildenDesign unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock.com; Motiv oben: hotdamnstock; Motiv unten: shutterstock.com

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (sh)

ISBN 978-3-95885-599-1

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des venusbooks-Verlags

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Ein ungezähmter Gentleman« an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

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Rexanne Becnel

Ein ungezähmter Gentleman

Roman

Aus dem Amerikanischen von Traudi Perlinger

venusbooks

Für David ... ... für alles Liebe.

Prolog

Denver, Colorado Territory, Mai 1872

Der Brief lag auf dem überhäuften Schreibtisch. Feinstes Bütten mit gezackten Rändern.

Dillon Lockwood hatte das Briefpapier seines Bruders sofort erkannt, die zierliche, gestochen scharfe Schrift aber war ihm fremd. Das war nicht Fredericks kühn geschwungenes Schriftbild. Der sachliche Inhalt beantwortete seine Frage in einem einzigen, niederschmetternden Satz:

... und daher bleibt mir als Fredericks Witwe nur die traurige Pflicht, Ihnen die Nachricht vom allzu frühen Ableben Ihres Bruders mitzuteilen.

Der Brief lag dort, wo er ihn hingeworfen hatte. Selbst wenn er die fremde Schrift vergessen würde, die Botschaft war für immer in Dillon Lockwoods Seele eingeprägt.

Frederick war tot.

Es hatte eine Zeit gegeben, da Dillon seinen älteren Halbbruder gehaßt hatte. Frederick hatte eine behütete, unbeschwerte Kindheit genossen, während Dillon mit seiner Mutter in ärmlichen Verhältnissen, von der Gesellschaft geächtet, dahindämmerte. Frederick hatte eine ausgezeichnete Schulbildung erhalten, wie sie dem Sproß der alteingesessenen, reichen Familien der Kimbells und Allens gebührte. Dillon hingegen war nur der Bastard von Miles Dillon Kimbell.

Haß und Eifersucht waren längst vergessen. Es hatte Jahre gedauert, ehe Dillon akzeptieren konnte, daß Frederick nicht für sein Schicksal verantwortlich war. Der Halbbruder diente ihm lediglich als geeignete Zielscheibe für seine Wut über die elenden Jahre, die er in der Stadt Kimbell zugebracht hatte.

Dillon stand am Fenster seines mahagonigetäfelten Büros und blickte sinnend auf die verkehrsreiche Straße hinunter. Ohne es zu wissen, war Frederick die treibende Kraft hinter Dillons Erfolgsstreben gewesen. Verbissen und zielstrebig hatte er daran gearbeitet, aller Welt zu beweisen, daß er es schaffte, Vermögen und Grundbesitz anzuhäufen und eine angesehene Stellung in der Gesellschaft zu erreichen; Dinge, die für Frederick selbstverständlich waren. Die Kimbells waren durch Holzgeschäfte reich geworden. Die Familie Allen hatte ihr Vermögen im Schiffsbau erworben. Lockwood Enterprises hatte in beiden Industriezweigen Erfolg, dazu kam ein Bauunternehmen in der aufblühenden Stadt Denver.

Dillon fuhr sich mit der schwieligen Hand durch das dichte, schwarze Haar. Seinen Reichtum hatte er nur angehäuft, um Frederick etwas zu beweisen. Und Frederick war seltsamerweise stolz auf die Geschäftserfolge seines unehelichen Halbbruders. Als das traditionsreiche Familienunternehmen während des Bürgerkriegs in Schwierigkeiten geriet und der alte Kimbell starb, hatte Frederick sich an Dillon um Hilfe gewandt.

Es war zu einem eigenartigen Bündnis gekommen. Fredericks Geschäftsverbindungen, Dillons unermüdlicher Eifer, dazu die Macht des gemeinsamen Vermögens hatten sich gelohnt.

Anfangs hatten die Brüder getrennte Geschäftsführungen. Doch mit dem raschen Aufblühen der Unternehmen erwies sich diese Vereinbarung als Hemmschuh. Nun war fast alles in Gemeinschaftsbesitz übergegangen. Bis auf Lockwood Lumber und Fredericks kleiner Schule.

Ein Klopfen holte Dillon aus seinen Grübeleien. Neal Camden streckte den Kopf zur Tür herein, und Dillon winkte ihn näher, trat an die Marmorkonsole und goß zwei Gläser Whiskey ein.

»Schlechte Nachrichten?«

Dillon verzog das Gesicht und kippte die bernsteinfarbene Flüssigkeit in einem Schluck hinunter. »Frederick ist tot.«

»Was! Wann ist das denn passiert?«

»Vor drei Wochen, schreibt seine Witwe.« Er nahm den Brief erneut zur Hand.

Neal nippte an seinem Glas. »Das tut mir leid, Dillon. Ich wußte gar nicht, daß Frederick verheiratet war.«

»War er auch nicht. Wenigstens bis vor kurzem.«

Neal zog die blonden Augenbrauen hoch. Sein Mienenspiel wechselte von dem des teilnahmsvollen Freundes in das des hellhörigen Rechtsanwalts. »Zeig mir den Brief.«

Nachdem er die Zeilen in der zierlichen Handschrift überflogen hatte, hob er den Blick.

»Wenn sie seine Witwe ist, so ist sie jetzt deine Geschäftspartnerin.«

»Falls sie seine Witwe ist.«

»Zweifelst du daran?«

»Und ob ich daran zweifle!« entgegnete Dillon schneidend. Er nahm den Brief und zerknüllte ihn.

»Mrs. Leatrice Eugenia Montgomery Kimbell behauptet, Fredericks Witwe zu sein, aber ich wette bei meinem Leben, die Person ist nichts weiter als eine habgierige Erbschleicherin. Bei Fredericks Tod hat sie ihre Chance gewittert und versucht nun, sich an uns zu bereichern.«

»Es wird schwierig sein, das zu beweisen. Woher willst du wissen, daß sie ihn nicht geheiratet hat? Sie müßte eine komplette Närrin sein, eine Heirat vorzutäuschen.«

Dillon fixierte Neal. »Manch ein Narr hat um weit geringere Werte zu hoch gepokert.« Er senkte den Blick. »Es gab eine Zeit, in der ich mit meinem Halbbruder Streit hatte. Und auch später waren wir uns weiß Gott nicht in allem einig. Doch allmählich verstanden wir uns immer besser und brachten einander Respekt entgegen. Er hat nie geheiratet, weil ... weil ihm nichts an Frauen lag. Zumindest nicht in dieser Hinsicht.« Er räusperte sich. »Doch er haßte seine Veranlagung. Er haßte und bekämpfte sie. Ich glaube, das war der Grund, warum er aus dem großen, alten Haus mitten auf dem Land ein Internat für verwöhnte höhere Töchter machte. Es war seine Art, allen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen.«

Dillons Kiefermuskulatur spannte sich. Sein älterer Bruder würde ihm fehlen. Ob Frederick je gewußt hatte, wie viel er ihm bedeutete? Er blinzelte das Brennen in seinen Augen fort. Seine Finger trommelten nervös auf die Tischplatte.

»Plötzlich taucht eine Frau auf und behauptet, seine Witwe zu sein. Aber ich denke nicht daran, wegen einer dreisten Behauptung alles aufzugeben, was Frederick und ich gemeinsam aufgebaut haben. Nein.« Er schleuderte das zerknüllte Papier in den kalten Kamin. »Sie ist eine Betrügerin, die es nur auf Fredericks Vermögen abgesehen hat. Aber sie bekommt nicht einen Heller von ihm – und von mir schon gar nicht.«

1. Kapitel

Kimbell, Louisiana, Mai 1872

Lacie Montgomery brachte nur mit Mühe ein dünnes Lächeln zustande.

»Ja, Mrs. Mooring, die Schule hat einen großen Verlust erlitten. Ich weiß nicht, wie wir ohne Frederick zurechtkommen sollen. Aber wir werden uns bemühen, so gut es geht.«

»Aber ja. Und ich bin sicher, Sie schaffen es. Es ist doch auch ein so schmerzlicher Verlust für Sie persönlich.« Mrs. Mooring reckte neugierig den Hals, so daß die winzigen Löckchen erbebten, die ihre feisten Wangen umrahmten.

Lacie wandte den Blick zu einem Schaukasten aus Glas, in dem eine Kollektion Spitzenkragen ausgestellt war. Sie hatte befürchtet, daß so etwas auf sie zukommen würde und hatte sich auf neugierige Blicke und bohrende Fragen gefaßt gemacht. Wie oft mußte sie dieses Spießrutenlaufen wohl noch durchstehen?

»Ich bin untröstlich über Fredericks Tod«, murmelte sie. Das war wenigstens nicht gelogen. Er war Lehrer, Vater, Bruder und Freund in einer Person für sie. Nur ihr Ehemann war er nicht, und das war das Problem.

So oft sie sich auch einredete, ihr Täuschungsmanöver sei gerechtfertigt, ja sogar eine dringende Notwendigkeit, wenn sie die Sparrow Hill Schule für junge Damen retten wollte, ihre Schuldgefühle wurde sie damit nicht los.

»Gerade frisch vermählt?«, bohrte Mrs. Mooring hartnäckig weiter, und die Augen der Klatschbase funkelten in unverhohlener Neugier.

Lacie hob den Kopf und lächelte die dralle Gattin des Ladenbesitzers tapfer an. »Kaum eine Woche, bevor er ...« Sie hielt sich ein weißes Taschentuch an den Mund. »Bitte verzeihen Sie, ich möchte nicht darüber sprechen.«

Auch das war nicht gelogen. Und mit diesem Gedanken verließ Lacie den Kurzwarenladen der Moorings. Nein, sie wollte nicht über Fredericks Tod sprechen, denn mit jedem Wort fürchtete sie, eine tiefere Grube zu schaufeln, in die sie selbst bald stürzen würde.

Seit Fredericks Tod waren vier Wochen vergangen, und der böse Klatsch würde sich hoffentlich bald gelegt haben. Wenn sie den Sommer über in stiller Trauer verbringen konnte, würden bis zum Herbst, wenn die Schülerinnen aus den Ferien zurückkehrten, alle Wogen geglättet sein. Das Schlimmste stand ihr allerdings mit der Abschlußfeier noch bevor.

Beherzt ging Lacie mit sittsam gesenktem Blick die Hauptstraße der Kleinstadt Kimbell entlang und nickte einigen Passanten einen gemurmelten Gruß zu. Sie hielt die Schultern gestrafft und überquerte die Straße, wo Leland bei der Kutsche wartete.

»Ich habe die Rechnung bei Mrs. Mooring bezahlt. Ist alles im Wagen?«

»Ja, Madam. Ich hab' alles verstaut.« Leland schwang sich auf den hohen Kutschbock und nahm die Zügel in die Hand. Erst als er Lacies durchdringenden Blick auf sich spürte, die abwartend auf den Holzplanken des Bürgersteigs stehengeblieben war, erschrak er. Wenn jemand zugleich verlegen und mürrisch aussehen konnte, so der alte, schwarze Diener. Er brummte in sich hinein, schlurfte um das Pferdegespann herum und stellte sich an Lacies Seite.

»Ich bin es nicht gewohnt, Damen zu kutschieren.«

»Ich weiß, Leland.«

»Mr. Frederick mußte ich nie beim Aufsteigen helfen.«

»Das kann ich mir denken.« Mit Lelands Hilfe erklomm Lacie das hohe Trittbrett, glättete sorgfältig die Röcke, ehe sie auf der schmalen Bank Platz nahm, und wartete, bis Leland das Gespann erneut umrundet und neben ihr Platz genommen hatte. »Es werden sich viele Dinge ändern, jetzt da Mr. Frederick nicht mehr unter uns ist«, begann sie. »Wir alle müssen damit fertig werden.«

Leland hielt schweigend den Blick auf die Straße gerichtet und lenkte die Kutsche durch die Stadt. Sein Schweigen lastete auf Lacie. Sie hatte Mühe, ihre Gefühle nicht zu zeigen. Nur die strikte Ermahnung, eine Dame habe aufrecht zu sitzen, mit erhobenem Haupt und geradem Rücken, hinderte sie daran, wie ein Häufchen Elend in sich zusammenzusacken. Es war nicht allzu schwer, Mrs. Mooring und den Bürgern der Kleinstadt gegenüber eine Fassade aufrechtzuerhalten. Leland aber gehörte zur Sparrow Hill Schule für junge Damen. Wenn er nicht ihre Partei ergriff – wenn die anderen in Sparrow Hill nicht zu ihr hielten – wie sollte sie das gefährliche Spiel gewinnen?

Ihre steife Haltung, die sittsam gefalteten Hände in schwarzen Baumwollhandschuhen täuschten darüber hinweg, daß Lacie nur mühsam die Tränen zurückzuhalten vermochte, während der Wagen sich dem Stadtrand näherte. Versunken in trübe Gedanken, bemerkte sie kaum, wie Leland anhielt.

Lacie betupfte die feuchte Stirn. Als sie sprach, war ihr Ton schärfer als beabsichtigt.

»Fahren Sie weiter, Leland! Es gibt keinen Grund anzuhalten, noch dazu an einem so anstößigen Ort.«

Lelands Augen blieben stur nach vorn gerichtet; seine Unterlippe schob sich schmollend vor.

»Mr. Frederick hat auf dem Heimweg immer vor dem Half Moon Saloon angehalten. Und er hat mir jedesmal einen Whiskey spendiert.«

Lacie blieb der Mund vor Staunen offen. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß Frederick Allen Kimbell je einen Fuß in einen Saloon gesetzt und obendrein noch einen Bediensteten zum Trinken verführt hätte. Doch da Leland keine Anstalten machte weiterzufahren, mußte sie es wohl oder übel glauben.

»Sie erwarten doch nicht, daß ... daß ich in ... in ...« Lacie zerknüllte das Taschentuch in ihrer Hand und blinzelte ihre Tränen zurück. Der alte Mann zog den Kopf zwischen die Schultern, sein Kinn bebte.

»Aber Mr. Frederick ...« Er schluckte und wischte sich die Augen mit einer seiner riesigen Pranken. »Er hat sich immer um mich gekümmert. Wer soll sich jetzt um den armen, alten Leland kümmern?«

Das war der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Ihr Taschentuch reichte nicht, um den Tränenfluß zu dämmen. Es war nur ein kleiner Trost, als der Wagen sich endlich wieder in Bewegung setzte. Die einmal geöffneten Tränenschleusen ließen sich so leicht nicht wieder schließen. Es war schlimm genug, daß sie den lieben Frederick verloren hatte. Sie wußte wirklich nicht, wie die Schule ohne ihn zurechtkommen sollte. Seine Verantwortung lastete nun auf ihren Schultern – die Schule, die Schülerinnen und ihre Eltern, die Lehrer und zu allem Überfluß noch Leland mit seinen Nöten ...

Lacie biß sich auf die Lippen, um dem Aufruhr ihrer Gefühle Einhalt zu gebieten. Sie hatte diese Aufgabe freiwillig übernommen. Sie hatte sämtliche Möglichkeiten in Erwägung gezogen und ganz allein die Entscheidung getroffen, die Verantwortung für die Schule zu tragen. Tränen halfen ihr keinen Schritt weiter.

Lacie trocknete sich mit dem durchweichten Taschentuch die nassen Wangen, drückte den Rücken durch und legte ihre kleine Hand auf Lelands Arm.

»Ich weiß, es ist schwer«, murmelte sie.

Der alte Mann ließ die Zügel über die Pferderücken schnalzen. »Es wird nie mehr so sein wie früher. Nie mehr.«

Lacie ließ sich mit einem Seufzer voll Kummer und Niedergeschlagenheit auf ihr schmales Bett fallen, zog die lange Nadel aus dem schwarzen Hut, streifte die Handschuhe ab und löste die Haken der steifen, schwarzen Jacke ihres Trauerkostüms. Sie sehnte sich nach einem erfrischenden Bad.

Mißmutig verzog sie das Gesicht, stand wieder auf und goß lauwarmes Wasser in die rosa geblümte Porzellanschüssel. Ob sie sich nur Gesicht und Hände wusch oder in der großen Wanne saß, die nagenden Schuldgefühle konnte sie nicht wegwaschen.

Lacie trocknete sich das Gesicht, als es klopfte und der Blondschopf von Ada Pierce im Türspalt erschien.

»Ada«, rief sie der Kollegin zu. »Komm rein.«

»Wie ist es dir in der Stadt ergangen?« fragte Ada teilnehmend.

Lacie ließ die Schultern hängen und setzte sich aufs Bett, das feuchte Handtuch zwischen den Fingern. »Grauenhaft. Keiner sagte etwas Konkretes, aber ich spürte genau, daß alle sich mißtrauisch fragten, wieso sie vor Fredericks Tod nichts von der Hochzeit erfahren hatten.«

»Keiner kann dir etwas nachsagen. Du hast den Trauschein.«

»Ja.« Lacie biß sich auf die Unterlippe. »Den Trauschein haben wir. Aber ich würde tausend Tode sterben, wenn jemand das Dokument überprüfen würde.«

Ada nahm Lacie das feuchte Tuch aus der Hand und begann, den vollen Haarknoten der Freundin zu lösen. »Du zweifelst zu sehr an deinen Fähigkeiten, Lacie. Die Unterschrift von Reverend Hainkel ist so perfekt gefälscht, daß sie selbst den guten Mann in Erstaunen versetzen würde.«

»Trotzdem bin ich froh, daß er sie nicht überprüfen kann. Ich hoffe nur, daß er sich in seiner neuen Gemeinde wohl fühlt und nie, nie wieder nach Kimbell zurückkommt.« Sie entspannte sich, als Ada ihr Haar geduldig zu einem dicken Zopf flocht. »Er soll bloß in St. Louis bleiben! Und alle anderen sollen den Mund halten!«

»Niemand wird eine Silbe verlauten lassen«, versicherte Ada nachdrücklich. »Ich bewundere dich für deinen kühnen Plan, die Schule zu retten, Lacie. Es ist verständlich, daß du ein schlechtes Gewissen hast, aber du tust damit ein gutes Werk. Denk nur an den Brief, den Mr. Frederick schreiben wollte. Daraus geht klar hervor, daß sein Bruder ihm vorschlug, die Schule zu schließen. Kurz vor seinem Tod wollte Mr. Frederick ihm mitteilen, daß er Sparrow Hill niemals verkaufen wolle. Auch wenn er den Brief nicht mehr abschicken konnte, ist seine Absicht doch eindeutig klar. Es wäre eine Katastrophe, wenn Mr. Fredericks Bruder die Schule erben würde. Er würde sie sofort schließen. Was würde dann aus unseren Mädchen werden? Seit dem Krieg gibt es kaum noch gute Mädchenschulen. Wohin sollten sie gehen?«

Lacie ergriff dankbar Adas Hand. »Die Kinder brauchen sich darüber keine Sorgen zu machen. Wir bleiben hier und der Schulbetrieb geht weiter, wie Frederick es beabsichtigt hatte. Und wenn Fredericks Bruder – sein Halbbruder – Anspruch auf die Schule erheben will, hat er nichts in der Hand. Frederick sprach selten von ihm. Aber soviel ich weiß, ist er ein erfolgreicher Geschäftsmann und lebt in Denver. Wahrscheinlich ist er glücklich verheiratet und hat einen Stall voller Kinder. Was sollte ein Mann wie er mit einer Mädchenschule anfangen, die so gut wie keinen Gewinn abwirft? Und Haus und Grundbesitz sind seit dem Krieg nicht mehr viel wert.«

»Aber er lebt in Denver und weiß möglicherweise nichts davon. Und außerdem sind manche Leute eigen, wenn es um Erbschaften geht. Selbst wenn sie alles haben, wollen sie noch mehr.«

»Ich bin Fredericks Witwe. Ich habe die Dokumente, um es zu beweisen. Sollte er jemand schicken, um hier herumzuschnüffeln, wird er nichts finden.« Lacie stand auf. »Wir müssen nur so weitermachen wie bisher. Wir unterrichten unsere Mädchen, wie wir es bisher getan haben, halten das Schulgebäude instand, kümmern uns um die Pferde und achten darauf, daß Sparrow Hill unserem lieben Frederick zur Ehre gereicht.«

Hehre und mutige Worte, die Lacie halfen, ihre Sorgen vorübergehend zu vergessen. Erst nach dem Abendessen, als Ada die Schülerinnen beim Abendgebet beaufsichtigte, hatte Lacie Muße, erneut über die Umstände nachzudenken, die sie veranlaßt hatten, sich als Ehefrau eines Verstorbenen auszugeben.

Vergib mir, Vater, flehte sie inständig. Bitte vergib mir meine Lüge. Aber es gab keine andere Möglichkeit, die Schule zu retten, die Frederick mit so viel Liebe und Mühe aufgebaut hat.

Fredericks letzte verständliche Worte hatten sie in ihrem Entschluß bestärkt. »Meine Schule«, hatte er mit ersterbender Stimme geflüstert. »Hilf mir, meine Schule zu erhalten.«

Danach war er ins Koma gefallen. Eine Woche später hatte er sein Leben ausgehaucht. Dr. Cromwell hatte gemeint, es sei sein schwaches Herz gewesen, und den Totenschein ausgestellt. Er hatte Lacie lediglich angesehen und die buschigen Augenbrauen hochgezogen, als sie ihm eröffnete, sie und Frederick hätten zwei Tage vor seiner Erkrankung geheiratet. Die Papiere hatte sie bereits gefälscht, und nun trug sie den Witwenschleier. Sollte der Arzt Zweifel an ihrer etwas gehemmt vorgebrachten Erklärung haben, so hatte er diese jedenfalls niemand in Kimbell gegenüber geäußert. Auch vom Personal hatte niemand eine Bemerkung gemacht, obwohl Lacie wußte, daß Zweifel bestanden. Lehrer und Bedienstete wußten aber auch, daß ihre Stellung und damit ihr Lebensunterhalt auf dem Spiel standen. Jedenfalls gab es kein Zurück, nicht seit sie den Brief an Fredericks Halbbruder in Denver abgeschickt hatte.

Ihre Hand hatte stark gezittert, als sie sich hinsetzte, um den verhaßten Brief zu schreiben. Es war schlimm genug, einen Mann vom Tod seines Bruders unterrichten zu müssen; ihn zu belügen und ihn und seine Familie des Erbes zu berauben war wohl das Abscheulichste, was ein Mensch tun konnte.

Andererseits brauchte dieser Mann die Schule nicht. Wenn Sparrow Hill geschlossen wurde, waren Ada und Lacie Lehrerinnen ohne Anstellung. Leland würde fortgejagt werden, und die Köchin Mrs. Gunter, die beiden Hausmädchen, der Stallbursche und der Gärtner würden gleichermaßen auf der Straße stehen. Und Monsieur Fontenot, der Französisch und Gesellschaftstanz unterrichtete, wäre ebenfalls brotlos.

Und die Schülerinnen. Wo sollten sie im Süden eine Ausbildungsstätte finden, die mehr war als eine Grundschule für Mädchen? Fredericks Schülerinnen konnten eine fundierte Bildung vorweisen, wenn sie ihr Abschlußzeugnis in Händen hielten. Und das war heutzutage wichtiger denn je bei all den Veränderungen, die der unselige Krieg gebracht hatte.

Lacie schüttelte ihre Zweifel ab und bekreuzigte sich. Gott würde ihr beistehen. Er würde verstehen, daß hinter ihrer sündigen Tat einzig und allein ihr Wunsch stand, die Schule zu retten. Lacie straffte die Schultern und widmete ihre Aufmerksamkeit den unruhig auf ihren Stühlen hin und her rutschenden Mädchen.

»Liebe Schülerinnen«, begann sie mit ernster Stimme. »Ihr seid heute abend verständlicherweise etwas übermütig und aufgekratzt, da das Schuljahr morgen zu Ende geht. Doch als wohlerzogene junge Damen wißt ihr euch zu benehmen. Morgen erwarten wir eure Eltern zur großen Abschlußfeier. Und alle Blicke werden auf jede einzelne unserer Schülerinnen gerichtet sein.« Sie lächelte in die aufmerksamen jungen Gesichter. »Jede von euch repräsentiert den guten Ruf der Sparrow Hill Schule. Und ich erwarte, daß ihr euch an diesem bedeutenden morgigen Tag tadellos benehmt und die Schule stolz auf euch sein kann.«

Lacie stand an der hohen Flügeltür des großen Salons, als die vierunddreißig Mädchen paarweise den Raum verließen. Jede war etwas Besonderes, und alle hatte sie ins Herz geschlossen. Plötzlich schlangen sich zwei rundliche Arme um ihre Mitte.

»Nina, was ist denn in dich gefahren?« fragte sie und löste sich behutsam aus der stürmischen Umarmung. »Nun komm schon. Sieh mich an.«

»Ich will nicht fort«, jammerte Nina und barg das Gesicht an Lacies Brust. »Ich will bei Ihnen bleiben.«

»Aber Kind, deine Eltern freuen sich doch auf dich.«

Lacie führte das weinende Mädchen zu einem Sofa und nahm es in die Arme. »Du hast ihnen gefehlt. Hast du nicht auch Heimweh nach deinen Eltern?«

Das pausbäckige, traurige Gesicht hellte sich auf. Nina nickte und wischte sich eine Träne von der rosigen Wange. »Aber wenn Sie auch fortgehen wie Mr. Frederick? Wenn alle fortgehen? Was wird dann aus mir?«

Lacie wurde warm ums Herz. Sie hatte sich immer besonders zu Nina hingezogen gefühlt. Vielleicht, weil auch Nina ihre Mutter im zarten Alter von neun Jahren verloren hatte. Ein Jahr später war sie nach Sparrow Hill gekommen und hatte sich nie so recht mit ihrer Stiefmutter anfreunden können. Statt dessen hatte sie all ihre kindliche Liebe auf Lacie gerichtet, die ihr nicht widerstehen konnte.

»Ich werde hier sein«, versprach Lacie ernsthaft und blickte dem unglücklichen Kind in die feuchten, blauen Augen. »Du verbringst den Sommer mit deinem neuen, kleinen Brüderchen und deinen Eltern, und wenn du im September zurückkommst, wird alles genauso sein, wie es jetzt ist.« Sie drückte Nina herzhaft an sich. »Ich bin da und werde alle meine Mädchen begrüßen.«

Nachdem Nina getröstet die breite Mahagonitreppe hinaufgehüpft war, schlenderte Lacie durch die leeren Räume, klopfte gelegentlich ein Kissen auf, sammelte Zeitschriften ein, glättete verschobene Polsterschoner und löschte die Lampen in den beiden großen Salons.

Das Schulgebäude war selten so still. Erst wenn die Mädchen im Dachgeschoß in ihren Betten lagen, kehrte Ruhe in das große, alte Haus ein. Die beiden Salons und der Speisesaal lagen still. Die Klassenzimmer schienen auf den nächsten Schultag zu warten, wenn Lacie ihren abendlichen Rundgang machte. Und jedesmal begab sie sich mit einem Gefühl der Zufriedenheit in ihr kleines Zimmer im zweiten Stock.

An diesem Abend aber war Lacie bang ums Herz.

Sie hatte sich auf ein gefährliches Unternehmen eingelassen. Ungeachtet der Zuversicht, die sie Ada gegenüber zur Schau gestellt hatte, lastete die Verantwortung schwer auf ihren Schultern, Sparrow Hill zu erhalten und zu leiten.

Lacies Hand glitt liebevoll über die glatte Brüstung der schönen Treppe. Das Mahagoni muß poliert werden, dachte sie. Sie wollte den Hausmädchen gleich morgen früh Bescheid geben. Es war nun an ihr, die Einrichtung instand zu halten. Wer sonst sollte es tun? Ja, es war in Fredericks Sinn – dessen war sie sicher. Sparrow Hill war sein Zuhause gewesen, so wie es nun ihr Zuhause war.

Natchez war längst nicht mehr ihr Zuhause. Das Stadthaus war durch die Unionstruppen schwer beschädigt, und das alte Herrenhaus auf der Plantage war niedergebrannt worden. Später wurde der Besitz von der Last der Steuerschulden erdrückt und mußte verkauft werden.

Lacie seufzte in der Erinnerung an die großen Verluste, die sie in ihrem jungen Leben bereits erlitten hatte. Sie konnte sich kaum an früher erinnern. Selbst das Gesicht ihres Vaters begann zu verblassen. Ihr war nur das Medaillon ihrer Mutter geblieben mit den Bildern der Eltern als junges Paar, die wenig Ähnlichkeit mit ihnen in späteren Jahren hatten. Das Medaillon – und diese Schule.

Ihre Finger griffen nach dem Schmuckstück an ihrem Busen, und ihr Entschluß festigte sich. Sie hatte das Medaillon stets in Ehren gehalten. Genauso sorgsam würde sie Sparrow Hill behüten.

2. Kapitel

Die Aufregung im Haus war beinahe greifbar.

Lacies Hand zitterte, als sie die Schildpattkämme feststeckte und das lange, sandfarbene Haar unter einem schwarzen Häkelnetz bändigte. Heute war der wichtigste Tag in ihrem bisherigen Leben. So wie dieser Tag verlief, würde ihre Zukunft in Sparrow Hill aussehen. Wenn sie die Eltern ›ihrer‹ Mädchen davon überzeugen konnte, daß sie fähig war, die Schule zu leiten, obgleich Frederick nicht mehr da war, würde alles weitere sich finden.

Selbst wenn einige Bürger von Kimbell an ihrer Eheschließung mit Frederick zweifelten, irgendwann würden die Gerüchte verstummen. Wenn aber die Eltern ihrer Schülerinnen nicht genügend Vertrauen in sie setzten und ihre Töchter von der Schule nahmen, würde ihr gewagter Plan fehlschlagen.

Lacie prüfte ihr Gesicht eingehend in dem kleinen viereckigen Spiegel. Wenn sie nur etwas älter aussehen würde! Sie hatte das Haar streng nach hinten gekämmt; kein einziges Löckchen umschmeichelte ihre Wangen. Die Anstrengung der vergangenen Wochen hatten gottlob Spuren hinterlassen. Sie war sehr bleich, wirkte beinahe abgezehrt. Unter ihren großen, grauen Augen lagen dunkle Schatten.

Ja, sie sah aus wie eine trauernde Witwe. Frederick war zwar nicht ihr Gemahl, aber sein Verlust schmerzte sie zutiefst. Nur ihre Jugend konnte ihr einen Streich spielen. Frederick war sechsundvierzig Jahre alt und sie vierundzwanzig. Der Altersunterschied spielte kaum eine Rolle bei einem Ehepaar, doch nur wenige Menschen würden einer so jungen Frau zutrauen, ein Institut wie die Sparrow Hill Schule zu leiten.

Lacie betrachtete sich noch eine Weile im Spiegel. Plötzlich kam ihr eine Idee. Eilig stand sie auf und begab sich in Fredericks Büro. Als sie den großen, mit Büchern und Akten angefüllten Raum betrat, meinte sie beinahe, ihn in seinem hohen Ledersessel hinter dem Schreibtisch sitzen zu sehen, gedankenvoll Pfeife schmauchend, über einen Schriftsatz gebeugt. Der Tabakgeruch hing noch in dem hohen Raum.

Nein, es gab ihn nicht mehr – nur sein leerer Stuhl und der verwaiste Schreibtisch waren geblieben. Seine Pfeifen standen fein säuberlich aufgereiht im Pfeifenständer, als warteten sie auf die Hand, die nie wieder nach ihnen greifen würde.

Lacie durchsuchte die oberste Schublade des Schreibtischs nach der Lesebrille, die Frederick trug, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Sie fand die Brille und eilte zurück in ihr kleines, karg möbliertes Zimmer.

Schon besser, dachte sie und studierte eingehend ihr leicht verschwommenes Spiegelbild. Damit sah sie strenger aus, fast wie eine vertrocknete, schrullige Lehrerin. Dieses Bild kam der Wahrheit näher, als ihr lieb war, doch das sollte im Moment wahrlich nicht ihre Sorge sein. Jetzt war wichtig, daß sie ihre Rolle perfekt spielte. Sie mußte die anwesenden Eltern davon überzeugen, daß sie ihre Lebensaufgabe darin sah, sich dem Wohlergehen ihrer Schülerinnen und der Leitung der Schule zu widmen.

Das dürfte nicht allzu schwer sein, überlegte sie und schloß die Zimmertür. Schließlich entsprach es der Wahrheit.

In der Eingangshalle herrschte großer Aufruhr. Die älteren Mädchen beaufsichtigten die Kleinen und sorgten dafür, daß das Gepäck in einem Nebenraum abgestellt wurde, bis eine Schülerin nach der anderen abreiste. Die Mädchen schwirrten freudig erregt durcheinander.

Beim Durchqueren der Halle warf Lacie einen Blick in den Saal. Alles war vorbereitet. Die Stühle aus den Klassenzimmern standen ordentlich aufgereiht und warteten auf die Teilnehmer der Abschlußfeier. Die Schülerinnen der unteren Klassen hatten Blumen gepflückt, die nun in großen Vasen ihren frischen Duft verbreiteten. Vor dem hohen Marmorkamin war das Rednerpult aufgebaut, an dem Lacie die Abschiedsrede halten würde.

»Miß Lacie, Miß Lacie!« Fragen und Rufe stürmten auf sie ein, und Lacie bemühte sich, die Aufregung der Mädchen mit ihrer ruhigen Art zu dämpfen.

»Betsy, hilf Sarah bitte! Ihre Haarschleife hat sich gelöst. Lydia, fang nicht wieder an, Fingernägel zu kauen. Kann sich jemand um Julia kümmern? Der Koffer ist zu schwer für sie.«

Eine Welle der Zuneigung durchflutete Lacie. Die Mädchen waren alle liebenswert, hilfsbereit und artig. Die Kleinen, die Ada unterrichtete, waren voll kindlicher Wißbegier. Einige der älteren, die unter Lacies Obhut standen, würden heute die Schule endgültig verlassen; für sie begann ein neuer Lebensabschnitt. Lacie konnte nur hoffen, daß der gute Einfluß ihrer Erziehung bei ihren Schützlingen Früchte trug.

Und plötzlich war keine Zeit mehr für wehmütige Erinnerungen. Die Eltern strömten herbei, von nah und fern angereist. Manche waren mit dem Morgenzug aus Shreveport gekommen, andere hatten in einem Hotel in der Stadt übernachtet. Nun bevölkerten sie das große alte Haus, spazierten mit ihren Töchtern durch die weitläufigen Gartenanlagen oder saßen auf der breiten Veranda rund um das Haus in Schaukelstühlen und Korbsesseln.

Limonade und Punch wurden auf der vorderen Veranda gereicht, dazu hübsch angerichtete Appetithäppchen, Kuchen und Teegebäck. Mrs. Gunter hatte sich wieder einmal selbst übertroffen.

Ada schlenderte durch die Schar der Besucher, schenkte jedem ein freundliches Lächeln und wechselte hie und da ein paar Worte. Mr. Fontenot zeigte sich von seiner charmantesten Seite, und sämtliche Bediensteten strahlten Wärme und Fürsorglichkeit aus.

Von Lacie begann die Spannung zu weichen, während sie die vielen Beileidsbekundungen über ihren tragischen Verlust entgegennahm. Alles schien reibungslos zu verlaufen. Ihr blieb nur noch, die Rede für die Absolventinnen zu halten, in der sie auf die neue Situation zu sprechen kommen wollte, die sich durch Fredericks unerwarteten Tod ergeben hatte.

Sie gab Ada das vereinbarte Zeichen, und dann ertönte die Glocke, von der die Kinder sonst zu den Mahlzeiten gerufen wurden. Unter Kichern und Drängeln um die besten Plätze stürmten die Mädchen in den Saal, gefolgt von Eltern und Verwandten. Lacie atmete tief durch, um ihre bebenden Nerven zu beruhigen. Alles wird gut, sagte sie sich. Alles kommt ins Lot.

Im Begriff, das Haus zu betreten, nahm sie eine Bewegung in der Ferne wahr. Ein seltsamer Schauer kroch ihr über den Rücken. Sie warf einen Blick über die Schulter. Es bot sich ihr das gewohnt friedliche Bild der gepflegten Gartenanlagen und Rasenflächen; die mit Azaleen gesäumte Auffahrt, an deren Einmündung in die Straße zwei mächtige Eichen standen.

Dann erst bemerkte sie den Reiter, und ihr Herzschlag beschleunigte sich. Er trug ein schwarzes Jackett. Ein breitkrempiger Hut beschattete sein Gesicht. Der Mann bringt Unheil, raunte eine dunkle Ahnung ihr zu. Er saß locker im Sattel eines temperamentvollen Rappen, hielt die breiten Schultern gerade und ritt auf das Haus zu. Roß und Reiter, beide schwarz wie die Nacht im gleißenden Licht der Mittagssonne, wirkten wie eine unheilvolle Bedrohung.

Lacie blinzelte und versuchte durch Fredericks Brille das verschwommene Bild scharf zu sehen. Ihre Fantasie spielte ihr vermutlich einen Streich, versuchte sie sich zu beruhigen. Sie kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen. Der Reiter war niemand, den sie kannte.

Es bestand kein Grund zur Sorge – vermutlich nur ein verspäteter Verwandter eines der Kinder. Doch dann bog der Reiter von der Kiesauffahrt ab und ritt den Hügel hinauf, wo der Friedhof der Familie Kimbell lag.

Lacies Herzschlag setzte aus. Mit wachsender Unruhe beobachtete sie, wie er das Pferd zügelte, abstieg und den Hut abnahm.

Nun wußte sie mit Bestimmtheit, daß dieser Mann kein verspäteter Teilnehmer der Abschlußfeier war. Dieser Mann kam wegen Fredericks Tod. Und wegen ihr.

Sie fuhr erschrocken herum, als Ada sie kurz am Ärmel zupfte.

»Da bist du ja«, flüsterte die Freundin. »Wir müssen anfangen. Richter Landry hat nicht viel Zeit.«

Lacie nestelte nervös am hohen Kragen ihrer schwarzen Bluse. Es kostete sie Mühe, die Augen von der dunklen Silhouette auf der Hügelkuppe zu wenden.

»Ach, dieser verflixte Richter Landry!« schimpfte sie. »Immer ist er in Eile. Kein Wunder, daß Jessica so fahrig ist.«

»Du solltest ihn nicht vor den Kopf stoßen. Er hat noch drei Töchter zu Hause.«

Lacie verzog das Gesicht. Richter Landrys Töchter waren im Augenblick ihre geringste Sorge. Doch sie mußte praktisch denken. Es gab ein paar Dinge, die sie an der Leitung der Schule nicht mochte – schwierigen Eltern Honig um den Bart zu streichen war eins davon.

Sie rückte die ungewohnte Brille zurecht und trat ans Rednerpult.

»Herzlich willkommen, liebe Eltern«, begann sie und bemühte sich, mit ruhiger, lauter Stimme zu sprechen, wie sie es ihren Schülerinnen immer wieder eingeschärft hatte. »Wie Sie alle wissen, beenden wir dieses Schuljahr nicht in der üblichen Freude, sondern in tiefer Trauer um den Verlust von Frederick Allen Kimbell, den Gründer der Sparrow Hill Internatsschule für höhere Töchter. Frederick Kimbell, der diese Schule achtzehn Jahre erfolgreich leitete, wurde plötzlich und unerwartet im Mai dieses Jahres aus unserer Mitte gerissen ...« Lacie stockte. Sie hatte Fredericks Worte anläßlich der Abschlußfeiern vergangener Jahre im Ohr, auch die ihrer eigenen Absolventenfeier vor acht Jahren.

»Sparrow Hill wird stets mit dem ehrenden Gedenken an Frederick Kimbell verbunden sein. Er war uns Lehrer, Freund und Vater zugleich.« Sie zerknüllte das Taschentuch in ihrer Hand.

Ihr Blick streifte Ada, die still vor sich hinweinte. Auch in Lacies Augen brannten Tränen, und in ihrem Hals hatte sich ein Kloß gebildet. Sie konnte nur mit Mühe fortfahren.

»Wir, die verwaisten Hinterbliebenen, sind fest entschlossen, die Schule weiterzuführen, die er so sehr liebte. Ich hoffe sehr, daß Sie alle das Vertrauen, das Sie Mr. Kimbell entgegengebracht haben, nun auf meine Mitarbeiter und mich, die künftige Leiterin unserer Schule, übertragen, und es ist uns allen ein großes Anliegen, Sie nicht zu enttäuschen.«

Sie hatte mehr sagen wollen, hatte vorgehabt, darauf hinzuweisen, daß die fundierte Ausbildung der Schülerinnen auch in Zukunft gewährleistet sei, daß auch in Zukunft Geschichte, Mathematik und Literatur unterrichtet werden sollten. Doch Lacie fürchtete, in Tränen auszubrechen und sich vor den versammelten Eltern bloßzustellen.

Ada eilte ihr zu Hilfe, die mit den Diplomen auf einem Silbertablett und einem zuversichtlichen Lächeln auf den Lippen ans Pult trat.

»Und nun erteile ich der Absolventin das Wort, die in diesem Jahr die Abschiedsrede hält. Im Anschluß daran werden die Diplome an die sechs Schülerinnen überreicht, die ihre Prüfungen bestanden haben und Sparrow Hill heute verlassen werden.«

Erleichtert trat sie zurück, und Jessica, die älteste Tochter von Richter Landry, hielt ihre wohlvorbereitete Rede. Lacie hatte dem nervösen Mädchen geholfen, ihre Gedanken zu Papier zu bringen. Es war tröstlich zu hören, mit welcher Begeisterung das junge Mädchen den Gemeinschaftsgeist lobte, der unter den Schülerinnen herrschte und von dem allgemein guten Einvernehmen zwischen Menschen, die sich durch eine fundierte Bildung auszeichneten.

Lacie ließ den Blick über die Zuhörer schweifen. Die vierunddreißig Schülerinnen in schlichten, weißen Kleidern saßen in den vorderen drei Reihen, dahinter ihre festlich gekleideten Mütter und Väter.

Im Hintergrund, lässig gegen den Türrahmen gelehnt, stand eine Männergestalt. Der Unbekannte vom Friedhof. Er betrachtete sie unverwandt.

Unwillkürlich hob Lacie das Taschentuch an den Mund und senkte den Blick. Es bedurfte ihrer ganzen Willenskraft, um das Entsetzen, das in ihr hochstieg, zu unterdrücken. Ihr Herz schlug hart. Er wird nichts finden, sagte sie sich. Niemand würde etwas finden. Sie hatte alles zu geschickt eingefädelt. Und außerdem hatte sie etwas Derartiges erwartet. Hatte sie nicht damit gerechnet, daß Fredericks Bruder jemand schicken würde, um sich nach den näheren Umständen des Todes zu erkundigen? Einen, der Fragen stellen würde? Sie atmete stockend durch und zwang sich zur Ruhe. Ich reagiere übertrieben, redete sie sich ein, weil ich ein schlechtes Gewissen habe. Wahrscheinlich ist der Mann völlig harmlos.

Vorsichtig hob sie wieder den Blick in seine Richtung. Wenn sie nur die lästige Brille abnehmen könnte, doch das wagte sie nicht. Also war sie gezwungen, über den Rand des Metallgestells zu schielen, um den unheimlichen Fremden zu mustern.

Er hatte zwar schlechte Manieren, war aber anständig gekleidet. Sein Gehrock war aus feinem schwarzen Tuch. Darunter trug er ein weißes Leinenhemd mit Stehkragen und eine schwarze Seidenbinde. Den schwarzen Hut hielt er in der Hand. Seine modische Erscheinung vermochte Lacie allerdings nicht über die Bedrohung hinwegzutäuschen, die von ihm ausging. Er hatte etwas von einem einsamen Wolf an sich, der sich den Anschein gab, harmlos zu sein. Doch wehe, wenn der Hunger ihn packte!

Der Fremde verzog die Mundwinkel zu einem dünnen Lächeln. Er hatte ihre Musterung bemerkt.

Rasch wandte sie den Blick, verwirrt über seine Unverfrorenheit. Ihre Fußspitze klopfte nervös auf das Parkett. Jessica kam zum Ende ihrer Rede. Als der höfliche Applaus verklang, drängte Lacie den unverschämten Fremden aus ihren Gedanken und trat erneut ans Rednerpult.

»Nun werden wir die Diplome verteilen. Miß Pierce, helfen Sie mir bitte?«

»Jessica Landry ... Evangeline St. Pierre ... Catherine Simoneaux ... Marta Simpson ... Regan Galliano ... Regina Marsden.«

Als die Mädchen einzeln vortraten, um ihr Abschlußzeugnis mit einem artigen Knicks in Empfang zu nehmen, wurde Lacie das Herz schwer. So sehr sie sich auf diesen Tag gefreut und die unterrichtsfreien heißen Sommermonate herbeigesehnt hatte, befielen sie nun Trauer und Wehmut. Es galt wieder einmal Abschied zu nehmen. Die sechs Absolventinnen waren ihr im Lauf der Jahre ans Herz gewachsen. Vermutlich würde sie keine von ihnen je wiedersehen. Frederick hatte sie verlassen, und nun galt es, auch von einigen ihrer Schülerinnen Abschied zu nehmen.

Nach dem Festakt umarmten die Kinder ihre Eltern. Es gab tränenreiche Abschiedsszenen unter den Schülerinnen und herzliche Glückwünsche der Eltern. Allmählich leerte sich der Saal.

»Es ist alles gut verlaufen«, flüsterte Ada, nachdem die beiden Lehrerinnen eine der letzten Familien verabschiedet hatten.

»Ich denke schon. Aber ich habe Kopfschmerzen.«

»Entspanne dich, meine Liebe. Es besteht kein Grund mehr zur Sorge.«

»Ich habe ein scheußliches Gefühl in der Magengegend ...«

Lacie drehte sich um. »Ist dir der Fremde aufgefallen? Ein großer, dunkler Mann im schwarzen Gehrock?«

»Es waren so viele Menschen da. Wessen Vater?«

Lacie schüttelte den Kopf, nahm die Brille ab und hastete wortlos ins Freie. Die Schatten waren länger geworden, und die Nachmittagssonne tauchte die Landschaft in einen goldenen Schimmer.

Dann sah sie ihn. Er stand neben einer offenen Kutsche, aus der Richter Landry gestikulierend auf ihn einredete. Beide Männer wandten die Köpfe zum Haus. Der Fremde nickte, tippte an seinen Hut und trat von dem eleganten Einspänner zurück.

Lacie wurde von einer lähmenden Hilflosigkeit übermannt, als die Kutsche sich entfernte. Sie war nun allein mit dem Fremden. Der Mann bringt Unheil, schoß es ihr erneut durch den Kopf. Doch wer er auch sein mochte, mit welchen Absichten er gekommen war, sie durfte ihm nicht länger aus dem Weg gehen.

Auf dem Rondell vor dem Portal stand nun keine Kutsche mehr, kein Bediensteter machte sich auf der Veranda zu schaffen. Der Mann schlenderte auf sie zu. Er schien keine Eile zu haben, als er mit langen Schritten den Rasen überquerte. Wieder mußte sie an einen einsamen Wolf denken und zwang sich, nicht überstürzt ins Haus zu fliehen.

Sein Gesicht war undurchdringlich, seine Augen fixierten sie. Er war größer, als sie angenommen hatte, seine Schultern reckten sich breit unter dem maßgeschneiderten Gehrock.

Doch seine Körpergröße flößte Lacie keine Angst ein. Es war das wachsame Funkeln seiner erstaunlich grünen Augen. Sekundenlang klammerte sie sich an die Hoffnung, er habe vielleicht nichts mit Fredericks Bruder zu tun – er sei vielleicht nur ein Freund von Frederick, der sich mit dem Gedanken trug, seine Tochter für das nächste Schuljahr anzumelden. Doch diese Hoffnung schwand schnell. Nein, dieser Mann war kein fürsorglicher Vater. Er war auch kein freundlich gesinnter Freund Fredericks.

Sie blickte ihm unverwandt entgegen. Er blieb zwei Schritte vor ihr stehen. Sie war sich bewußt, wie unhöflich und abweisend sie auf ihn wirken mußte, und nahm all ihren Mut zusammen.

»Kann ich Ihnen helfen, Mr ...?«

Er ließ ihre Frage unbeantwortet und musterte sie von oben bis unten. Lacie schluckte ihre Entrüstung über die dreiste Musterung hinunter.

Dann breitete sich ein seltsam wissendes Lächeln auf seinem Gesicht aus, und Lacies Entrüstung verwandelte sich in Unsicherheit.

»Sind Sie Mrs. Kimbell?« fragte er und zog eine Braue hoch. »Mrs. Frederick Kimbell?«

Lacie nickte befangen.

Mit einer leichten Verbeugung schwenkte der Fremde seinen Hut. Seine grünen Augen blitzten. »Gestatten Sie, daß mich vorstelle. Ich bin Fredericks Bruder, besser gesagt sein Halbbruder, Dillon Lockwood.«

Lacie verschlug es die Sprache. Sie hatte befürchtet, daß er etwas mit Frederick zu tun hatte. Aber sein Bruder? Irgendwie hatte sie sich seinen Bruder als älteren Herrn mit graumeliertem Haar vorgestellt und zur Fülle neigend wie Frederick.

Dieser Mann hatte weder graue Schläfen noch neigte er zur Fülle. Rabenschwarze Locken fielen ihm in die Stirn, dunkle Brauen schwangen sich über tiefliegenden leuchtendgrünen Augen. Sie bemühte sich, eine Ähnlichkeit mit Frederick in dem kantigen, gebräunten Gesicht zu finden. Weder die hohen Wangenknochen noch der sinnlich geschwungene Mund wiesen ihn als Fredericks Bruder aus.

»Sie sehen Frederick gar nicht ähnlich«, platzte sie in ihrer Verlegenheit heraus.

»Nein.« Sein Lächeln entblößte weiße, ebenmäßige Zähne. »Wir beide hatten nur eine Sache gemeinsam.«

Lacie, der sein ätzender Tonfall nicht entging, wußte, was er damit andeutete. Sie hatte lange genug in der Nähe von Kimbell gelebt, um Klatsch und Gerüchte über die reichste Familie der Stadt gehört zu haben. Die ganze Stadt wußte, daß Fredericks Vater ein Frauenheld war und eine seiner Geliebten ihm einen Sohn geboren hatte. Nach dem Tod der Mutter hatte der Halbwüchsige die Stadt verlassen. Seither hatte man nie wieder etwas von ihm gehört. Lacie hatte lediglich dem unvollendeten Brief Fredericks Hinweise auf diesen Bruder und seine geschäftlichen Erfolge entnommen. Und seine Adresse in Denver.

Nun wurde sie allem Anschein nach für ihre höfliche Geste bestraft, ihn von Fredericks Tod unterrichtet zu haben.

Als verfolge er ihre Gedanken, wurde sein Gesicht ernst, sein Blick verhärtete sich. »Sie wußten also von mir. Hat Frederick Ihnen mehr über unsere Beziehung erzählt?«

Lacie errötete verlegen. Wie konnte der Fremde nur so taktlos über dieses heikle Thema reden? »Ich weiß ... ähm, daß Sie einen gemeinsamen Vater haben und daß Sie in Colorado florierende Geschäfte betreiben.«

Er studierte sie eingehend. »Ja, florierend. Sagen Sie, wo haben Sie eigentlich Ihre Brille gelassen?«

Sie erschrak über den unvermuteten Gedankensprung. »Ich ... ich muß sie wohl verlegt haben«, stammelte sie. Dann richtete sie sich kerzengerade auf. Er hatte sie verwirrt, erst mit seinem unangemeldeten Auftauchen, dann mit seiner Vorstellung und jetzt mit dieser unverblümten Frage. Wenn er vorhatte, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen, so war ihm das bisher gelungen.

Damit ist jetzt Schluß, entschied Lacie. Sie bekämpfte ihren aufsteigenden Ärger und setzte eine strenge Miene auf.

»Darf ich Ihnen mein aufrichtiges Beileid zum Verlust Ihres Bruders aussprechen, Mr. Lockwood? Sicher trauern Sie ebenso sehr um ihn wie wir alle hier in Sparrow Hill.«

Er blickte sie versonnen an. Dann trat er einen Schritt näher. Lacie wich erschrocken zurück.

»Nennen Sie mich doch einfach Dillon, da wir ja allem Anschein nach verschwägert sind. Wollen Sie mich nicht ins Haus bitten?«

Lacies Magen krampfte sich bei seinem vertraulichen Ton zusammen. Sie wich einen weiteren Schritt zurück. Wollte er sie verhöhnen? Was hatte er vor? Dieser Mann war nicht ohne Grund gekommen.

»Wieso sind Sie hier?«

Nun war die Reihe an ihm, verblüfft zu reagieren. Er hatte sich aber schnell wieder in der Hand.

»Eine direkte Frau. Wie angenehm.« Er zog eine dunkle Braue hoch. »Ich komme, um einen Besuch abzustatten.«

»Sie haben ihn nie besucht, als er noch lebte. Warum kommen Sie jetzt, da er tot ist?« fragte sie herausfordernd.

Ein Anflug von Wehmut schien seine Augen zu umwölken.

»Sagen wir, Kimbell ist kein Ort, an dem ich mich gern aufhalte.« Er straffte die Schultern. »Wie lange wollen Sie mich eigentlich noch vor der Tür stehen lassen?«

Erneut aus dem Konzept gebracht, bat Lacie ihn einzutreten. In der Halle zögerte sie, wußte nicht recht, was sie mit ihm anfangen sollte. Irgendwie schien es ihr befremdlich, diesem Mann Limonade und Kekse im Salon anzubieten. Wie bewirtete man einen Gast in einer solchen Situation? Wie machte man höfliche Konversation?

Er ließ sie nicht lange im unklaren über seine Absichten.

»Ich möchte Fredericks Büro sehen«, forderte er unverblümt. »Und seine Geschäftsbücher.«

»Wie bitte?« Lacie erschrak über seine Direktheit. Sie hatte noch keine Gelegenheit gehabt, Fredericks Papiere zu sichten. Es gab so viel zu erledigen, und sie hatte nicht gewußt, wo sie anfangen sollte. Wenn sie diesem mißtrauischen Kerl Einblick in die Unterlagen der Schule gewährte, würde er möglicherweise feststellen, daß sie für Frederick nur eine Schülerin war und später Lehrerin an seiner Schule. Frederick hatte kein Testament hinterlassen. Lediglich ihre Behauptung, mit Frederick verheiratet zu sein, konnte verhindern, daß dieser Dillon Lockwood Sparrow Hill erbte. Der Trauschein wirkte zwar verblüffend echt, sie hätte dennoch Todesängste ausgestanden, ihn von einer amtlichen Stelle überprüfen lassen zu müssen.

»Gibt es einen Grund, warum ich die Unterlagen nicht sehen sollte?« Wieder fixierte er sie mit diesem seltsam forschenden Blick.

»N... nein, natürlich nicht«, stammelte Lacie und suchte verzweifelt nach einem Grund, ihm genau diesen Einblick zu verwehren. »Ich dachte nur ... vielleicht wollen Sie vorher etwas essen?«

Ihre Einladung verblüffte sie nicht weniger als ihn. Seine tiefschwarzen Brauen zogen sich erstaunt zur Stirnmitte. Lacie fragte sich panisch, wie sie den Fremden beim Essen unterhalten sollte, wenn sie schon nicht in der Lage war, diese Aufgabe bei einer Erfrischung zu bewältigen.

Doch der Schaden war bereits angerichtet. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, seine grünen Augen blitzten. »Vielen Dank für die Einladung. Ich bleibe gerne eine Weile. In den Ferien ist im Haus ja genügend Platz. Während Sie sich um das Abendessen kümmern, sehe ich nach meinem Pferd. Es ist noch unruhig von der langen Bahnfahrt.«

Nach diesen anmaßenden Worten machte er mit einer angedeuteten Verneigung auf dem Absatz kehrt und war mit drei langen Schritten aus dem Haus.

In einer Mischung aus Ärger und Bestürzung blickte Lacie dem breiten Rücken des dreisten Eindringlings hinterher. Sie hatte nicht im Traum daran gedacht, daß Fredericks Bruder persönlich in Sparrow Hill auftauchen könnte. Sie hatte gehofft, sein Mißtrauen über die Eheschließung würde sich irgendwann legen. Eigentlich ein abwegiger Gedanke, ein wohlhabender Geschäftsmann aus Denver würde Zeit und Geld vergeuden für eine Mädchenschule, die keinen Gewinn abwarf.

Dieser Dillon Lockwood war aber kein gewöhnlicher, wohlhabender Geschäftsmann. Weder die große Entfernung noch der Zeitverlust hatten ihn davon abgehalten, hier aufzutauchen. Die Schule bedeutete ihm etwas. Lacie ahnte, daß ihr ein erbitterter Kampf bevorstand.

Dieser Dillon Lockwood glich immer mehr einem hungrigen Wolf.

3. Kapitel

Die Dinge verliefen günstiger, als Dillon gehofft hatte. Wie geplant würde er in dem Herrschaftshaus der Familie Allen-Kimbell wohnen – dem Haus, das rechtmäßig ihm gehörte.

Er verlangsamte seine Schritte und blickte auf das prächtige Anwesen zurück. Er hatte nie hier gewohnt. Aber das Haus hatte seine Kindheit in Kimbell überschattet. In den neunzehn Jahren seiner Abwesenheit hatte sich nichts verändert. Die Eichen waren größer geworden, und die Obstbäume, damals dünne Schößlinge, hatten sich zu stattlichen, ertragreichen Bäumen entwickelt. Eine der vier Kiefern, die den Weg zum Teich säumten, gab es nicht mehr, sie war wohl vom Sturm entwurzelt worden. Mit dem erfahrenen Blick des Holzfachmanns begutachtete er den restlichen Baumbestand.

Doch das waren Nebensächlichkeiten. Das Haus war immer noch wie früher: prächtig und eindrucksvoll. Zehn hohe, kannelierte Säulen an jeder Seite trugen eine breite Galerie, die das gesamte Gebäude umgab. Das strahlende Weiß der Mauern bildete einen starken Gegensatz zum tiefen Rot des Schieferdaches. Die Dachkonstruktion wurde an jeder Seite von fünf elegant geschwungenen Gaubenfenstern unterbrochen. Diese Gauben hatten ihn als Junge fasziniert.

Seine Mutter hatte nie über das Haus seines Vaters gesprochen, auch nicht über dessen Ehefrau oder dessen Sohn und Schwiegermutter, die ebenfalls in dem Haus lebten. Die Leute in der Stadt waren allerdings weniger zurückhaltend und erzählten ihm geradezu lüstern von seinem Vater, der ihn nie anerkannt hatte.

Miles Dillon Kimbell war ein hitziger Mann, der für seine Großzügigkeit ebenso berühmt, wie für seine Rachsucht berüchtigt war. Durch seine Ehe mit Amelia Allen, Alleinerbin eines stattlichen Familienvermögens, gelangte Sparrow Hill in seinen Besitz. Seine Schwiegermutter war eine harte Frau, die dem Schwiegersohn gegenüber äußerst kritisch eingestellt war. Seine hübsche Frau stand zwischen ihrer nörgelnden Mutter und ihrem taktlosen, grobschlächtigen Ehemann auf verlorenem Posten. Amelias Trost und Lebensinhalt war ihr Sohn Frederick, den sie vor dem väterlichen Jähzorn in Schutz nahm und völlig für sich beanspruchte. Dillon fragte sich bis heute, ob Amelia je etwas von dem außerehelichen Sohn ihres Gemahls gewußt hatte.

Er zwang sich, den Blick vom Haus zu wenden, und wünschte, die schmerzlichen Erinnerungen vergessen zu können. Vor ihm lagen die Stallungen, die Frederick kurz nach dem Krieg errichtet hatte. Der alte Stall war von betrunkenen Yankee-Soldaten in Brand gesteckt worden. Dillon war gegen die Kosten einer großen Stallanlage gewesen. Wozu brauchte ein Mädcheninternat so viele Pferde? Seiner Meinung nach hätte Frederick das Geld gewinnbringender in Eisenbahnlinien investieren müssen, die bald den gesamten Westen durchzogen. Doch Frederick hatte sich nicht davon abbringen lassen, die Stallungen zu bauen.

Dillon ging den halbdunklen Mittelgang des weiß getünchten Gebäudes entlang und erinnerte sich deutlich an die Zeit, als er sich im alten Stall, der einst an dieser Stelle gestanden hatte, herumgetrieben hatte.

Einmal war er beim Stehlen von Pecannüssen im Obstgarten hinter dem Haus erwischt worden. Seine Freunde hatten sich schleunigst aus dem Staub gemacht aus Angst, von Mr. Kimbell gezüchtigt zu werden. Dillon aber war trotzig stehengeblieben. Der zwölfjährige Junge, hoch aufgeschossen, knochig und linkisch, hatte sich dem Zugriff des Knechts entwunden und war tapfer in den Stall gestapft, wo sein Vater wartete, um den Missetäter zu bestrafen. Was hatte er sich damals von dieser Begegnung eigentlich erwartet? Dillon führte seinen edlen Hengst in eine leere Box. War er wirklich so töricht gewesen zu denken, sein Vater würde ihn, den unehelichen Sohn, doch noch anerkennen?

Er konnte sich nicht mehr an seine damaligen Beweggründe erinnern. Aber die Schmerzen und die Demütigung, die er an jenem Nachmittag erlitten hatte, würde er nie in seinem Leben vergessen. Miles Kimbell hatte getrunken und war schlechter Laune. Und als er seinen Bastardsohn sah, geriet er in Wut. Er würde dem Bürschchen eine Lektion erteilen, hatte der Alte sich vorgenommen. Der Flegel würde es kein zweites Mal wagen, seinen Grund und Boden zu betreten, um reiche Leute zu bestehlen. Mit einem dicken Jutestrick hatte er den Burschen geschlagen, bis ihm das Hemd in blutigen Striemen vom Rücken hing.

Dillon zog die Schultern hoch. An jenem Tag hatte er seine kindlichen Träume endgültig begraben. An jenem Tag hatte seine Sehnsucht sich in Haß gegen die Kimbells und die Allens und alles, was sie verkörperten, verwandelt. An jenem Tag hatte er Vergeltung geschworen.

Die Vergeltung war ihm bislang verwehrt geblieben, überlegte er, während er dem Hengst Sattel und Zaumzeug abnahm. Frederick, der letzte Nachkomme der Kimbells und Allens, hatte nichts getan, was die Rache des jüngeren Bruders gerechtfertigt hätte. Frederick war ein guter Mensch gewesen. Er hatte nur einen Makel: seine abartige Neigung. Im Grunde genommen war Frederick zu gut, zu vertrauensselig für diese Welt gewesen.

Und zu leicht auszunutzen. Dillons Gedanken kehrten zu der Frau zurück, die behauptete, Fredericks Witwe zu sein.

Sie hat ihre Rolle gut einstudiert, dachte er und rieb das Pferd ab. Von Kopf bis Fuß in schlichte; schwarze Seide gehüllt. Ihr Gesicht war sehr bleich, beinahe durchsichtig. Das mittelblonde Haar trug sie streng nach hinten gekämmt, so daß die Haut über den Wangenknochen spannte. Nur ihre Augen, dunkel und groß, hatten das Gesicht belebt. Und dennoch war etwas Besonderes an ihr. Die unscheinbare und sittsame Lehrerin war nur eine Rolle, die sie spielte. In ihren Augen sprühte ein gewisser Funke. Hinter der Fassade der trauernden Witwe verbarg sich eine habgierige Diebin. Wenn sie mit Frederick verheiratet war, hatte sie die Eheschließung mit Sicherheit nur eingefädelt, um das große Haus und die umliegenden Ländereien zu erben. Daran hatte Dillon nicht den geringsten Zweifel.

Als er das dämmrige Stallgebäude verließ, fuhr ein Wagen vor mit einem alten, schwarzen Kutscher auf dem Bock. Der Mann nickte ihm zu, doch dann fixierte er Dillon eingehender und brachte das Gespann zum Stehen. Mit großen, runden Augen gaffte er Dillon an, sagte aber immer noch kein Wort.

»Kenne ich Sie?« fragte Dillon.

»N... nein, Sir. Den alten Leland kennen Sie nicht.«

»Aber Sie scheinen mich zu kennen.«

Leland nickte bedächtig. »Sie sind Mr. Fredericks ... der andere Junge seines Daddys.«

»Woher wissen Sie das?«

Der alte Mann zog die Schultern hoch, doch seine finstere Miene begann sich aufzuhellen. »Weiß ich auch nicht. Sie sehen eben aus wie ein Kimbell.«

Dillon wippte auf den Fersen. »Das bilden Sie sich nur ein, guter Mann.«

»Nicht, daß Sie wie Mr. Frederick aussehen«, beeilte Leland sich hinzuzufügen. »Auch nicht wie Ihr Daddy, Mr. Miles. Aber an den alten Mr. Miles, Ihren Großvater, erinnern Sie mich.« Er lächelte unsicher und zeigte lange, gelbe Zähne.

Nun musterte Dillon den alten Diener genauer. Das hatte er noch nie gehört, und irgendwie beunruhigte ihn das. »So lange sind Sie schon hier? Ich erinnere mich nicht an meinen Großvater.«

»Nein, Sir. Das können Sie auch nicht. Damals waren Sie noch zu klein. Ungefähr zu der Zeit, als Sie zur Welt kamen, ist er krank geworden. Und er hat jahrelang das Haus nicht verlassen, bis zu seinem Tod.«

Dillon verengte die Augen. »Wenn Sie so lange hier leben, dann wissen Sie alles, was in diesem Haus vorgeht, nehme ich an.«

»Ja, Sir. Das will ich meinen. Ich habe Mr. Frederick bei allem geholfen, solange er lebte.« Das Lächeln wich aus dem alten Gesicht. »Mr. Frederick fehlt mir sehr. Seit er weg ist, ist nichts mehr so, wie es früher war.«

»Das kann ich mir gut vorstellen«, nickte Dillon bedächtig. »Sie können mich ja rumführen und mir alles zeigen.«

Mit einem tauben Gefühl drohenden Unheils beobachtete Lacie, wie Dillon Lockwood sich dem Haus näherte. Vor geraumer Zeit war Leland an der Seite des Fremden hinter den Stallungen verschwunden. Was hatten die beiden in den endlos sich hinziehenden Minuten miteinander zu reden gehabt?

Mit einem Ruck zog sie die schweren Brokatvorhänge zu und wandte sich vom Fenster. Das Bild des Fremden konnte sie damit aber nicht verdrängen, ebensowenig wie das unangenehme Gefühl ihrer Hilflosigkeit.

Fredericks Halbbruder war zweifellos ein gefährlicher Mann. Scharfsinn, Ausdauer und Härte machten ihn zu einem bedrohlichen Gegner. Um die Sache noch zu verschlimmern, setzte er vermutlich seinen männlichen Charme ein. Gutaussehende Männer verfügten über diese Gabe, dachte Lacie und erinnerte sich an sein Lächeln. Ein unaufrichtiges Lächeln, und sein gutes Aussehen war zu verwegen, um ihr zu gefallen. Bei all seinen geschäftlichen Erfolgen war er zweifellos ein hartherziger Grobian. Sie hatte wilde Geschichten über Denver und das Colorado Territory gehört. In einer so unzivilisierten und gesetzlosen Gegend konnten sich nur rauhe Gesellen durchsetzen.

Seine schweren Schritte auf der breiten Veranda rissen sie aus ihren sorgenvollen Gedanken. Sie gab sich einen Ruck, durchschritt den Salon und ging ihm in der Halle entgegen. Sie war vorbereitet, fühlte sich ihm durchaus gewachsen und würde dieses Spiel gewinnen. Die schwierigste Aufgabe sah sie darin, ihr Temperament zu zügeln, wenn er weiterhin versuchte, sie zu provozieren.

»Bitte treten Sie ein, Mr. Lockwood. Kommen Sie!« begrüßte sie ihn mit einer höflichen Geste. Sie hatte die Brille weggelassen und durch einen Fächer ersetzt, den sie nun mit erzwungener Trägheit bewegte. »Sie müssen mir meine Unhöflichkeit von vorhin verzeihen. Ich gestehe, Sie haben mich völlig überrascht. Frederick hat nie davon gesprochen, daß Sie Kimbell einmal besuchen würden.«

»Ach wirklich?« Dillon schlenderte in den Salon und blickte sich bedächtig um, ehe er sich ihr mit einem spöttischen Lächeln zuwandte. »Er kannte mich gut, denn ich bin nicht gekommen, um Kimbell zu besuchen.«

Lacie senkte die Augen, um seinem scharfen Blick auszuweichen. Es wäre angebracht, ihn nach dem Grund seines Kommens zu fragen, doch sie fürchtete seine Antwort. In dem peinlichen Schweigen wuchs ihre Irritation. Schließlich klappte sie den Fächer hörbar zu. Er wollte Katz und Maus mit ihr spielen. Doch dieses Spiel funktionierte nur, wenn sie es zuließ, und sie hatte nicht die Absicht, die Maus für ihn zu sein.

In majestätischer Haltung durchquerte sie den Raum und wandte sich vor dem hohen Kamin aus schwarzem Marmor um. »Mr. Lockwood, wir sollten ehrlich zueinander sein«, begann sie.

Er schwieg, und dennoch wußte sie, daß er ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte.

»Obwohl Sie mir bislang den Grund Ihres Besuches verschwiegen haben, widerstrebt es mir, so zu tun, als wisse ich nicht, daß Sie vor meiner Heirat mit Frederick der rechtmäßige Erbe Ihres Bruders waren.«

Er nahm ihre Worte stumm entgegen, nur seine Augen schienen einen Hauch dunkler zu werden. Unverwandt blickte er sie an.

Dieser Blick genügte, um sie in Verlegenheit zu bringen, seine Augen schienen sich bis auf den Grund ihrer Seele zu bohren.

»Vielleicht«, – sie schluckte –, »vielleicht hatten Sie vor, Fredericks Schule zu veräußern, um den Erlös in ein anderes Unternehmen zu investieren. Es muß eine Enttäuschung für Sie sein, festzustellen, daß Ihre Pläne durchkreuzt wurden. Ich versichere Ihnen, daß es Fredericks ausdrücklicher Wunsch war, seine Schule zu erhalten. Und ich habe die feste Absicht, seinem Wunsch nachzukommen.«

Nachdem sie ihre Rede beendet hatte, holte sie stockend Atem. Wie würde er reagieren? Konnte sie mit dem Anschneiden des heiklen Themas das Problem aus der Welt schaffen, oder hatte sie seinen Argwohn nur verschärft?

Immer noch schweigend nahm er eine kleine Porzellanfigur in die Hand, eine Schäferin mit ihrer kleinen Herde, und drehte sie nachdenklich zwischen den Fingern.