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Ein spannender, atmosphärischer Roman über Zusammenhalt, Heilung und die Überwindung von Angst. Alles beginnt mit einem Brief: einem welligen Stück Papier, darauf zwei winzige, unscheinbare Wörter: Zu spät. Die knappe Nachricht führt dazu, dass fünf Jugendliche – alle Cousinen und Cousins – mit ihren Müttern in das unheimliche Haus des alten Großvaters Viktor Melitzky ziehen, irgendwo am Ende der Welt, im verschwiegenen Örtchen Kamp-Cornell. Dort, im Schatten unzähliger Kornelkirschsträucher, klären Edin, Lu, Johnny, Gabriella und Penelope ein Verbrechen auf, das vor ihnen jahrzehntelang niemand ans Licht bringen konnte. Susan Kreller is eine gefeierte und vielfach preisgekrönte Autorin, ausgezeichnet unter anderem mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis. »Susan Kreller ist eine der sprachmächtigsten Jugendbuchautorinnen in Deutschland.« Augsburger Allgemeine
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Susan Kreller
Das Herz von Kamp-Cornell
Alles beginnt mit einem Brief: einem welligen Stück Papier, darauf zwei winzige, unscheinbare Wörter: Zu spät. Die knappe Nachricht führt dazu, dass fünf Jugendliche – alle Cousinen und Cousins – mit ihren Müttern in das unheimliche Haus des alten Großvaters Viktor Melitzky ziehen, irgendwo am Ende der Welt, im verschwiegenen Örtchen Kamp-Cornell. Dort, im Schatten unzähliger Kornelkirschsträucher, klären Edin, Lu, Johnny, Gabriella und Penelope ein Verbrechen auf, das vor ihnen jahrzehntelang niemand ans Licht bringen konnte.
Wohin soll es gehen?
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Vita
Courage, dear heart.
(C. S. Lewis, The Voyage of the Dawn Treader)
~
1
Die Briefmarke war nicht abgestempelt und hatte den Tod zwischen den Zähnen. Man hatte sie in der genau richtigen Umschlagecke und kerzengerade aufgeklebt, aber deutlich verkehrt herum, um hundertachtzig Grad gedreht, Kopfstand für Fortgeschrittene. Die Kornelkirsche, die zu Ehren der Kornelkirsche auf der Marke abgebildet war, und zwar linkerhand gelb blühend und rechts daneben als kleine rote Frucht, bekam dadurch etwas Unheimliches, fast Bedrohliches.
Dabei sahen Frucht und Blüte eigentlich harmlos aus. Aber die Frucht war ja auch nicht das Problem, genauso wenig wie der Blütenzweig, gelb wie Besenginster. Das Problem, das war der helle Raum dazwischen. Und man sah es vielleicht nicht sofort. Aber wenn man den Umschlag etwas weiter von den Augen weghielt und den Blick zwischen die gefräßigen Ränder der Briefmarke zwängte, dann konnte man erkennen, was sich auf den wenigen Millimetern zwischen Blütenzweig und Kirsche abspielte und welche Form sich da präzise in den mittleren Bereich der umgedrehten Marke schnitt, unterhalb des kopfstehenden Wörtchens Kornelkirsche. Um es kurz zu machen: Es war einfach nur ein Totenschädel.
Edin Melitzky, der gerade von der Schule nach Hause gekommen war, vor dem geöffneten Briefkasten stand und den Briefumschlag weit von sich weghielt, kniff die Augen zusammen, öffnete sie wieder, aber der Schädel verschwand nicht. Im Gegenteil, er blieb.
Jetzt erst recht nämlich!
Er bekam sogar noch Augenhöhlen, zwei starrende, nussgeformte Schatten, dazu ein schiefes Stück Nasenkluft und eine Andeutung von Problemgebiss im unteren Schädelabschnitt. Das alles, wie gesagt, auf wenigen Millimetern.
Zum Glück hatte Edin Melitzky mit alledem nichts zu tun, das wurde ihm nach einer kurzen lodernden Bauchangst schlagartig klar. Außerdem war der Brief nicht an ihn, sondern an seine Mutter adressiert, Ann Melitzky.
An Ann Melitzky.
An Ann.
Die Anschrift war mit Bleistift auf den Umschlag gekritzelt, in sehr kleinen, sehr grauen und etwas windschiefen Buchstaben. Allein beim Absender hatte man sich ein bisschen mehr Mühe gegeben und einen Füller, schwarze Tinte und eine andere Schrift benutzt, was trotzdem vergebens war, weil der obere Bereich der Adresse von einem großen Wasserfleck unkenntlich gespült worden war. Nur die Postleitzahl war noch zu erkennen und der lange, mit einem Bindestrich liebevoll zusammengeschraubte Ort dahinter, Kamp-Cornell.
Edin Melitzky knallte den Brief auf den Flurschrank und hätte ihn in aller Ruhe vergessen können, wenn er, ja, wenn er nicht zwei Stunden später einen Schrei gehört hätte. Es war der persönliche Flurschrei von Ann Melitzky, An Ann Melitzky, die gerade nach Hause gekommen sein musste und ihre Stimme energisch in Betrieb genommen hatte, nichts Besonderes, alles wie gehabt.
Aber irgendwas war anders als sonst.
Die Flurschreie von Edins Mutter waren für gewöhnlich sehr hoch und wurden nach hinten hin tiefer, dunkler, erkälteter. Und immer, wirklich jedes einzelne Mal, hatten diese Schreie mit den Briefen auf dem Schränkchen zu tun, Rechnungen, Mahnungen, Anwaltsschreiben. Doch nie, dachte Edin, hatten die Schreie so entsetzt geklungen. Noch nie so verzweifelt. Und es gefiel ihm nicht, was er da hörte, es fühlte sich an, als hätte er schlagartig kein Zuhause mehr. Als wäre es ihm geradewegs unterm Hintern weggeschrien worden. Und es war ihm auch unterm Hintern weggeschrien worden. Das wusste nur noch keiner.
Edin Melitzky wartete, bis sich auch das letzte nachhallende Stäubchen Schrei in Luft aufgelöst hatte, dann rannte er in Socken die Treppe runter und sah seine Mutter auf den ungemütlichen Bodenfliesen sitzen. Dabei saß sie gar nicht. Sie kauerte. Hatte sich zu etwas Rundem, schlecht Verstecktem geknüllt und presste den Briefumschlag mit beiden Händen zu einer kantig weißen Kugel zusammen.
Annahme verweigert!
Unentwegt flüsterte sie: »Verflucht sei die Kornelkirsche«, fünf-, sieben-, siebzehnmal wisperte sie diese Worte wie einen mühsam erinnerten Zauberspruch, über dessen Wirkung sie sich nicht mehr ganz sicher war.
»Seit wann verfluchst ausgerechnet du Obst?«, fragte Edin nach einer Weile, um die Endlosschleife anzuhalten und weil sich das Bauchlodern von vorhin wieder meldete. »Sieht dir irgendwie gar nicht ähnlich.«
»Die Kornelkirsche ist überhaupt kein Obst«, antwortete Ann Melitzky schwach und trotzig, während sie ihren Oberkörper ganz leicht wieder aufrichtete. »Glaub mir, die Kornelkirsche ist das blanke Grauen. Und hat noch nicht mal Vitamine. Mit der Kornelkirsche bin ich fertig. Ein für alle Mal. Die hat hier nichts zu suchen!«
Edin hielt seine Mutter an den Schultern fest und sagte leise: »Es ist bloß ein Brief. Altmodisches Zeug. Vergiss ihn. So was braucht kein Mensch. Es ist bloß ein Brief mit einer kleinen, beschissenen Obstbriefmarke, die irgend so ein Betrunkener verkehrt herum draufgeklebt hat.«
Ann Melitzky antwortete nicht darauf. Sie sah jetzt selbst wie betrunken aus, machte die Augen zu und hielt sie unter ihren leicht wogenden Lidern versteckt, saß da, kauerte und hielt sich geheim. Lange, maßlos lange blieb sie so, und Edin hätte schwören können, dass sie längst eingeschlafen und in düsteren Kirschträumen versunken war. Aber als er sie irgendwann wecken wollte, sagte sie mit erstaunlich kräftiger, den Eingangsbereich des Hauses sauber ausfüllender Stimme ein einziges, ein winziges Wort: »Und.«
»Und?«, flüsterte Edin. »Und was?«
»Und anrufen müssen wir. Wir müssen … alle anrufen. Jeden Einzelnen. Alle müssen sie herkommen. Schleunigst. Es ist Gefahr im Verzug.«
Die Stimme von Ann Melitzky war, als sie das sagte, anfangs immer noch kräftig gewesen, aber ungefähr ab »Gefahr« wieder leicht ins Wanken geraten, um nach »Verzug« mit einem kleinen, dramatischen Seufzer zum Halten zu kommen.
»Alle? Wie viele alle kennen wir? Wie viele kennst du? Seit Papa weg ist, sind nicht mehr viele übrig.«
»Ich … ach. Na, ich weiß ja. Ich hätte es dir längst sagen sollen. Und jetzt sag ich’s dir, ich weiß nicht, ich weiß nicht recht, aber jetzt sage ich es ja, siehst du, du kannst nicht behaupten, dass ich es nicht sage, und bestimmt gewittert es gleich da draußen, im Grunde denk ich das schon den ganzen Tag, stell dir mal vor, ein Gewitter im Februar, und eine Cousine hast du. Es würde mir noch nicht mal was ausmachen, wenn ein Gewitter käme. Freuen würde ich mich!«
»Stopp!«, rief Edin ein bisschen zu laut für seine Verhältnisse. »Hast du gerade Cousine gesagt? Ich hab doch gar keine Verwandtschaft. Nur Oma und Opa. Von Papa. Und die habe ich seit Ewigkeiten nicht gesehen. Ich glaube, du verwechselst da was.«
Ann Melitzky, die die Augen die ganze Zeit fest geschlossen gehalten hatte, öffnete sie jetzt einen unerheblichen Spaltbreit und nickte leicht. »Lu, sie heißt irgendwas mit Lu, Lucy, Luisa, such dir was aus. Ich hab das mal gewusst, vor vielen Jahren hab ich das wirklich mal gewusst. Eine Mutter gibt es selbstverständlich auch, die wäre dann deine Tante. Und gleichzeitig meine … Schwester. Bernadette. So. Da hast du’s.«
Edin stöhnte. Vierzehn Jahre hätte seine Mutter Zeit gehabt, ihm von seiner Cousine und seiner Tante zu erzählen, in gemütlichen Zimmern auf bequemen Stühlen, und nun tat sie es ausgerechnet hier, zwischen Tür und schwedischem Flurschränkchen, zusammengekauert auf den alten Turnschuhspuren des Fliesenbodens. »Irgendwas mit Lu, ja?«, fragte Edin. »Und irgendwas mit Tante? Was kommt da noch? Hab ich vielleicht auch einen Cousin?«
»Johnny«, sagte Ann Melitzky und öffnete die Augen jetzt ganz, sie sahen aber trüb genug aus, um immer noch als geschlossen durchzugehen. »Ja, Johnny. Glaube ich jedenfalls. Oder lass es Jimmy sein. Oder Ricky. Die Mutter dazu ist ganz klar Rosalie. Meine Schwester, deine Tante, du weißt schon. Und alle müssen wir anrufen. Wieso redest du eigentlich so viel? So viel hast du noch nie gesagt. Und so laut warst du auch noch nie. Du bist ein leiser Sohn!«
»Stopp jetzt mal und halt!
Edin, der die ganze Zeit in ungesunder Haltung vor seiner Mutter gestanden und nach unten gesprochen und zugehört hatte, hockte sich hin und wurde wieder leiser. Das bedeutete aber nicht, dass er weniger redete. »Versteh ich das richtig?«, fragte er. »Ist das dein Ernst? Nur fürs Protokoll: Ich habe jetzt also zwei Tanten und eine Cousine und einen Cousin? Einfach so? Ohne Vorwarnung?«
»Ja«, sagte seine Mutter, ihre Stimme war jetzt wieder ein flirrendes Stück Meer, sie flirrte in trauriger Entschlossenheit. »Ja, Edin. Du hast zwei Tanten und eine Cousine und einen Cousin und zwei Cousinen und eine Tante und einen angeheirateten Onkel.«
Edin ließ sich auf den Boden sinken, die Fliesen waren kalt und hart, wie konnte es seine Mutter hier so lange aushalten? »Du hast dich verzählt«, sagte er. »Das waren jetzt drei Tanten. Und drei Cousinen. Plus ein Cousin und ein angeheirateter Onkel. Zähl am besten noch mal nach.«
»Meine Schwester Kalinka und ihren Mann hatte ich vorhin vergessen, dazu die zwei Töchter, frag mich nicht, wie die heißen oder ob es sogar noch eine dritte gibt, und wenn du schon mal dabei bist, dann frag mich bitte auch nicht, ob du so was wie einen Opa in Kamp-Cornell hast, einen, der neuerdings Briefe verschickt, frag mich am besten überhaupt nichts, ich würde ja doch nicht antworten.«
Und da, auf einmal, sprang Ann Melitzky mit drei energischen Bewegungen aus ihrer zusammengekauerten Trübseligkeit auf, schnappte sich das Telefon und atmete noch einmal laut durch. Dann ging sie mit großen Schritten davon und war kurz darauf in der Küche verschwunden.
Edin folgte ihr nicht.
Er blieb auf dem kalten Boden sitzen, schloss jetzt selbst die Augen, wusste von nichts und hatte keine weiteren Fragen.
Seine Mutter würde ja doch nicht antworten.
Der Abendhimmel ächzte so leise, dass man schon sehr gut hinhören musste, um es später polizeilich bezeugen zu können. Der Himmel hatte zu tun, er fuhr eine alte Fracht, schüttelte sie ab und ab, vergebens. Das Gewitter, das sich irgendwo in ihm versteckt hatte, wurde er doch nicht los. Ganz unten, im Erdgeschoss dieses rätselhaften Abends, wühlten Igel in den Halmen. Alle paar Minuten rauschte ein Auto vorbei, und zart roch es nach Erde und nach kalten Zwiebeln, die in Bratpfannen vergessen worden waren.
Aus den meisten Fenstern der Straße leuchtete es großzügig heraus, im allerletzten Reihenhaus brannte aber nur wenig Licht. Streng genommen gab es bloß zwei helle Fenster, und die waren mit nachdenklichen Orangetönen gefüllt, besonders viel Fröhlichkeit war da nicht zu vermuten.
Seit zwei Stunden war im Haus kein anderes Licht angegangen, und es war auch keines gelöscht worden, nicht rechts unten und auch nicht im ersten Stock links, wo ein seitlich hängendes Stück Vorhang in Schwarz das orangefarbene Licht noch nachdenklicher wirken ließ und wo fünf abgezählte Personen unter fünfzehn Jahren versuchten, nicht nachzudenken.
Verbissen.
Ohne Erfolg.
Und hier in diesem Zimmer konnte Lu Winnefeld sehen, dass dessen Bewohner Edin auf ihren Hut und auf ihre Lederjacke starrte, dass er mit seinem Blick die Ärmelfransen einzeln glatt strich und immer wieder auf dem Kunstleder ausrutschte, er starrte, obwohl sein Blick bewegt war. Nein, dieser Edin war keiner, der so etwas tragen würde, obwohl er nicht viel älter war als sie, und wer weiß, vielleicht waren sie sogar gleich alt. Dieser Edin war ganz klar ein anderes Kaliber.
Er war aus der Abteilung Wollpullover mit Muster.
Er war einer, der sich lautlos kleidete.
Bis vor Kurzem hatte Lu Winnefeld noch nicht einmal gewusst, dass es so etwas wie lautlose Kleidung überhaupt gab. Sie hatte auch nicht gewusst, dass es so jemanden wie Edin überhaupt gab. Dass sie einen Cousin hatte, sogar zwei davon, einer so merkwürdig wie der andere, und dann noch zwei Cousinen, die sie noch nicht recht einschätzen konnte.
Es war ihr auch neu gewesen, dass ihre Mutter drei Schwestern hatte, die alle Melitzky hießen, anders als Lus Mutter, die weit von Melitzky entfernt hieß, früher aber ebenfalls diesen Namen getragen hatte. Alles in allem bedeutete das, dass Lu Winnefeld seit ungefähr vier Stunden die rechtmäßige Besitzerin von drei Tanten, zwei merkwürdigen Cousins und zwei unbegreiflichen Cousinen war. Für Lu, die ihr Leben lang keinerlei Verwandtschaft gehabt hatte, war das ein beachtlicher Erfolg.
Die Frage war nur, was man mit so einer Verwandtschaft anfangen sollte. Vermutlich nichts. Und nichts war nicht viel. Die neu erworbenen Tanten kannte Lu nur der Nase nach, die von ihnen in den letzten Minuten immer wieder in Edins Zimmer gesteckt worden war, nämlich eine Nase pro Person, um anschließend schnell wieder mitgenommen und unten im Wohnzimmer in Sicherheit gebracht zu werden.
Es handelte sich um die Nasen von Ann und Kalinka und Rosalie Melitzky, Tanten!, dachte Lu, lauter Tanten. Ihre Tanten. Fremd, nie da gewesen, verschollen und mühsam wieder ausgegraben, alle irgendwie besorgt, durcheinander, mit Nasen, die so gepudert oder so ungepudert waren, wie Gott sie vor Ewigkeiten geschaffen hatte. Und dann waren da ja auch noch die jüngeren Exemplare: durch die Bank ungepudert, alle hier im Zimmer. Keiner von ihnen kam ihr bekannt vor, geschweige denn verwandt.
Und jetzt saßen sie also im milden Schweißgeruch des Jungenzimmers und hatten sich nichts zu sagen. Lu, deren Hut an einem ihrer Füße wie an einem Haken hing, hatte trotzdem ein paar Worte in die Runde geworfen, hatte »Na dann« gesagt und »Irgendwie auch ein starkes Stück, oder?« und später »Ihr könnt mich Lu nennen, seit heute sind wir ja eh alle verwandt« und »Alles in Ordnung bei euch?« und sehr viel später »Weiß hier einer, wo das Klo ist?«, aber eine Reaktion bekam sie einzig auf ihre Klofrage, auf die ihr neuer Cousin Edin kaum hörbar, und ohne sie anzusehen, antwortete: »Wäre irgendwie komisch, wenn ich das nicht wüsste, oder?« Auf Cousins wie Edin, hatte Lu nach dieser Bemerkung gedacht, konnte sie getrost verzichten. Sie war die letzten vierzehn Jahre auch ohne sie klargekommen.
Dieser Edin saß als Einziger auf einem Stuhl, während sie selbst und die anderen in unterschiedlichen Sitzhaltungen den Teppich eingenommen hatten, wobei Haltung im Falle von Johnny Melitzky natürlich maßlos übertrieben war. In seinem Fall war es eher eine sorgfältig ausgeführte Ganzkörpererstarrung.
Wie er so dasaß, erinnerte er Lu an eine altmodische Puppe, bei der Arme und Beine nur im Ganzen zu bewegen waren und die auch ansonsten nicht unnötig viele Gelenke aufwies, und auf keinen Fall saß er da wie der Dreizehnjährige, als der er Lu verkauft worden war. Sein Rumpf war schnurgerade nach oben ausgerichtet und seine Beine hatte er im exakt bemessenen rechten Winkel dazu ausgestreckt, während seine Arme starr nach unten hingen und senkrecht in den Teppich flossen, Lus neuer Verwandter saß in geometrischer Vollkommenheit da und schaute sie unverwandt an.
Bevor er sich vorhin auf den Teppich gesetzt hatte, war er durchs Zimmer gegangen und hatte alles Mögliche mehrmals hintereinander berührt: einzelne Zettel und Turnschuhe und jeden Fensterrahmen, ein Bettlaken, einen Lichtschalter, einen Abreißkalender, ein Regal, ein paar Kartons, drei Marshmallows, eine Glühbirne, ein Mauspad, einen kleinen Teppich und sogar eine zusammengeknüllte Socke mit ungeahntem Geruch, und mehr, ahnte Lu Winnefeld, brauchte man über diesen Jungen nicht zu wissen.
Gegen Johnny waren Gabriella und Penelope, Lus fremde Cousinen, eine Wohltat, und das nicht nur weil sie im lockeren Schneidersitz auf dem Teppich saßen, einen Großteil ihrer Gelenke in Benutzung hatten und trotz der zarten Finsternis in ihren Augen lächelten. Aber richtig schlau wurde Lu Winnefeld aus den beiden Mädchen trotzdem nicht, die ein, zwei Jahre jünger als sie waren, eine menschbreite Lücke zwischen sich sitzen hatten, fast gleich aussahen und sich auch gleich gekleidet hatten; einzig an der Farbe ihrer Haare konnte man die beiden unterscheiden.
Gabriellas Haar war schwarz, das von Penelope leuchtete künstlich türkis und war das Einzige an ihr, das über die Stränge schlug. Und auch wenn man es nicht auf den ersten Blick sah: Gabriella und Penelope waren Drillinge. Wenigstens hatte ihre Mutter, Lus Tante Kalinka, das behauptet und sich gar nicht erst auf Einwände, Diskussionen oder Nachzählungen eingelassen. Aber behaupten konnte man bekanntlich viel, wenn der Tag lang war und selbst am Abend nicht enden wollte, und glauben musste man zum Glück wenig.
Insgesamt waren sie also alle ein eher sonderbarer Haufen, wenn man natürlich von ihr selbst absah, Lu Winnefeld, Lu wie Ludovica, aber das ging hier niemanden etwas an. Es reichte ja schon, dass sie selbst mit diesem Namen leben musste, vielleicht für lang, möglicherweise für immer. Inständig hoffte sie, dass nicht nur ihre Tanten, sondern auch ihre Mutter die Nase in Edins Zimmer stecken würde, Bernadette Winnefeld, Senior Consultant, Fachfrau für Situationsanalysen, immer auf dem Sprung.
Lu wartete darauf, dass ihre Mutter sie von ihrer doppelt verschwiegenen Verwandtschaft befreien und dann mit ihr nach Hause fahren würde, um am nächsten Morgen bei diesem Meeting zu sein, denn dieses Meeting gab es immer, das ganze Leben von Lus Mutter war dieses Meeting, man konnte sich darauf verlassen. Man hatte etwas, das immer wiederkehrte, und das war besser als nichts. Dabei konnte sich Lu Winnefeld nur auf eines verlassen: dass das Leben ihrer Mutter in Wahrheit etwas vollkommen anderes war.
Und nicht nur dieses Leben.
Ann Melitzky stand draußen vor der Haustür und hielt das Gesicht in die gewellte Luft. Die Zukunft ruhen lassen, hatte ihr alter Vater in Kamp-Cornell immer gesagt. Mittlerweile musste er uralt sein. Sie lächelte. Es machte sie sanft, wenn sie daran dachte, trotz allem. Lass sie ruhen, die Zukunft, hatte der Vater gesagt. Sie kommt noch früh genug. Aber jetzt, wo sie direkt vor ihr lag, ausgebreitet wie ein schläfriges, aber unerbittliches Raubtier, da kam es Ann so vor, als wäre diese Zukunft spät dran, als wäre sie Jahre und Jahrtausende im Verzug und mittlerweile längst aus der Mode gekommen.
Hier draußen war alles still. Ruhig war es nicht. Das Gewitter hatte Ann versetzt und war trotzdem nicht vorbeigezogen, die Luft hatte immer noch etwas blütenzart Elektrisches. Am Himmel rangen zwei Sorten Dunkelheit miteinander, die Dunkelheit der Nacht und die des ausbleibenden Gewitters.
Keine ließ die andere gewinnen.
In ihren Händen hielt Ann Melitzky die dritte Sorte Dunkelheit, ein wollweißes, liniertes Blatt, das heftig zerknüllt und dann wieder, ebenfalls heftig, glatt gestrichen worden war. Es war der wortkarge Brief ihres Vaters. In vielen flachen Wogen lag das Papier da und wusste etwas, das die Kinder im Haus noch nicht wussten: dass sie alle so schnell wie möglich nach Kamp-Cornell ziehen würden, koste es, was es wolle. Koste es ihr ganzes vorheriges Leben, koste es all die Jahre, in denen Ann und ihre Schwestern allmählich wieder auf die Beine gekommen waren. Manchmal, da fanden alle Niederlagen des Monats an einem einzigen Tag statt.
Sie waren sich lange nicht einig gewesen, hatten hin und her überlegt und her und hin und doch die ganze Zeit gewusst, dass ein flüchtiger Besuch in Kamp-Cornell gar nichts gebracht hätte: einmal kurz nach dem Rechten gesehen, einmal kurz das Unheil betreten, vor dem sie damals alle geflohen waren, dann Abmarsch. Rückfahrt. Wieder rein in die gute Stube. Lächerlich! Nichts hätten sie auf diese Weise ausrichten können, nur noch mehr anrichten, das ja, und zwar mit Leichtigkeit.
Kamp-Cornell war das blanke Grauen.
Der Ort, an dem Ann Melitzky ihre Angst gelassen hatte.
Ihre alten, scheppernden Geister.
Sie sah auf das vergebens glatt gestrichene Papier und fuhr mit dem Blick die Linien entlang nach rechts und links und wieder nach rechts und immer so weiter und mit rastlosem Herzen, lange, so lange, bis sie rechts unten angekommen war, bei den zwei kleinen Vaterworten, aus denen dieser ganze vermaledeite Brief bestand und die sie gut hundertmal gelesen hatte, und immer waren sie neu und von Mal zu Mal noch ein wenig vergeblicher gewesen, ganz unten, in der rechten Ecke des Papierbogens, stand in zittriger und trotzdem vornehmer Altherrenschrift:
Zu spät.
2
Schwacher Wind, meist von Nord. März am ganzen Himmel. Das war es dann aber auch an Blau. Wenn man ins Dorf kam, ob nun freiwillig, gezwungenermaßen oder aus Versehen, waren die Schilder gelb, erst das triste Stück Blech, das einem verriet, welcher Ort hier vorlag, dann, ein paar Meter weiter, das noch tristere, dafür aber auch größere Stück Blech, auf dem zwei Sträucher abgebildet waren und außerdem ein paar Worte standen, Im Zweifel schnell / nach Kamp-Cornell, ein Motto, in dem einzig der Zweifel seine Richtigkeit hatte und höchstens noch die äußerst präzise Ortsangabe.
Denn von schnell konnte hier keine Rede sein, es sei denn, man meinte damit den Wunsch, dieses Dorf schnellstens wieder zu verlassen, wenn man erst einmal begriffen hatte, wo man hier gelandet war.
Im Zweifel schnell wieder weg!
Viel mehr Schnelligkeiten hatte Kamp-Cornell aber nicht zu bieten. Schon der von dürftigen Randbäumen gestützte Kilometer unmittelbar vor Ortsbeginn war eine Tempo-20-Zone, und das änderte sich auch im Örtchen nicht. Ganz Kamp-Cornell war ein verkehrsberuhigter Geschäftsbereich, was bei den wenigen Läden, die das kleine Dorf vorzuweisen hatte, zugegeben etwas größenwahnsinnig war.
Es gab weiter nichts als eine respektable Landfleischerei, eine Apotheke, eine Bäckerei mit selten besetztem Postschalter, einen Zeitungsladen, in dem man auch Eis kaufen konnte, einen kleinen Supermarkt und schließlich noch Inge’s Nagelstudio mit halb abgekratztem Apostroph. Wenn man Glück hatte, bekam man in der Dorfwirtschaft Holzhofklause eine Bockwurst auf die Hand, eine Bockwurst, die so verschrumpelt war wie ein Finger nach übermäßigem Badewassergebrauch und die mit Senf und antiquarischem Toastbrot gereicht wurde, mehr Mehrkorn als normaler Toast, und das war dann auch wirklich die allerletzte Einkaufsmöglichkeit in der kleinen Ortschaft.
Aber es kam ja sowieso kein Mensch nach Kamp-Cornell, um dort einzukaufen, vor allem jetzt im März nicht. Denn da wurde das Dorf vom leuchtenden Gelb der Kornelkirsche überblüht, und das war ein tausendmal besserer Besuchsgrund. Wohin man auch blickte, wuchsen gelb blühende Kornelkirschsträucher: am Straßenrand und in den Vorgärten, an den Parkplätzen und vorm Supermarkt, am kleinen Bach Esta und im Dorfpark und um die alte Backsteinkirche und beinahe auch um jeden einzelnen Einwohner herum. Letzteres war zwar gelogen, hätte aber einigen Leuten im Ort sicherlich nicht geschadet.
Die Sträucher waren alle zu Ehren von Cornell Cornell gepflanzt worden, der vor Hunderten von Jahren in einem Sumpfgebiet das Dorf gegründet hatte, bloß warum, das wusste keiner mehr, und einen Sumpf hatte hier auch noch niemand zu Gesicht bekommen. Vielleicht war er aber auch längst ausgetrocknet oder woandershin gezogen oder hatte mit dem Bach Esta gemeinsame Sache gemacht, wer konnte das wissen?
Nämlich keiner.
Für das, was es zu erzählen gibt, spielt der Sumpf aber ohnehin keine Rolle, ganz anders als der Dorfgründer, auch wenn dieser gleichermaßen längst ausgetrocknet oder bekannt verzogen, zweifellos aber verstorben war. Der Dorfgründer hieß mit Vor- und mit Nachnamen Cornell, deshalb war man sich bis heute nicht einig, nach welchem Namen der Ort eigentlich benannt worden war, nach Cornell vorne oder Cornell hinten. Sicher war man sich nur darüber, dass zuerst Cornell Cornell und dann die Kornelkirsche dagewesen war, und die Kornelkirsche auch nur, weil sie namentlich so gut zum Dorfgründer passte. Denn in dieser Gegend sprach man sie Kornell-Kirsche aus und nicht Koornel oder Korneel wie in gewissen anderen Breiten. In dieser Gegend sprach man sie so aus, wie ihre Früchte waren: säuerlich, etwas schroff und am Ende erstaunlich lieblich.
Durch die Sträucher hatte man sich das Geld für ein ordentliches Marmordenkmal sparen können, und erst später, sehr viel später, als die Marmorpreise womöglich gerade im Keller waren, baute man dem verblichenen Gründer im Dorfpark sicherheitshalber trotzdem noch ein Ehrenmal: eine stattliche Skulptur mit Faltenwurf und sympathisch geschwungener Nase. Diese war mittlerweile aber zur Hälfte abgebrochen und, ähnlich wie der restliche Dorfgründer, nicht mehr ganz marmorfarben.
Die Kornelkirschsträucher wurden dann immer weiter gepflanzt, unermüdlich und wirklich jedes einzelne Mal für Cornell Cornell, der davon aber nicht mehr viel mitbekam oder höchstens in Form des Strauchschattens, der ab und zu auf seine verwitterte Ehrengruft auf dem Waldfriedhof schwappte. Sogar die übliche Dorflinde war in Kamp-Cornell eine Dorfkornelkirsche, in der Bäckerei wurden saure Marmeladen aus den winzigen roten Früchten verkauft und in der Weihnachtszeit hängte jeder, der etwas auf sich hielt, Lichterketten in die kahlen Zweige und brachte sie dadurch elektrisch zum Blühen.
Zwischen die Sträucher hatte irgendein Witzbold vor langer Zeit Berberitzen gesetzt, die jetzt, im März, ebenfalls zitronengelb blühten, und an manchen Stellen wuchs ortsfremd der Weißdorn. Aber schön sah es trotzdem aus, wunderschön. Gelb und lind und verheißungsvoll. Mit weißen Sprenkeln. Paradiesisch eben. Das Dorf leuchtete, als wäre es das absolut Gute, und zwar in Person. Wer dachte da noch ans Einkaufen, wenn er etwas so Zauberhaftes zu Gesicht bekommen konnte? Wer wollte sich da noch über verschrumpelte Bockwürste mit ungetoastetem Mehrkorntoastbrot aufregen? Und wer dachte da noch an all das, was sich hinter diesen gelben Sträuchern abspielen mochte?
Johnny Melitzky dachte an das, was sich vorn auf dem Armaturenbrett des Umzugswagens abspielte, während dieser im Schritttempo in Kamp-Cornell einfuhr. Auf dem dunklen Armaturenbrett spielte sich ein weißes Papiertaschentuch ab, eines, das zwar weitgehend unbenutzt schien, aber schwer zu erreichen war und zu allem Unglück auch noch dem ungezählten Exfreund von Johnnys Mutter Rosalie gehörte, der den Umzugswagen fuhr.
Dass er das tat, war eine handfeste Win-win-Situation, wie er vorhin selbst behauptet hatte. Durch eine einzige Autofahrt wurde er Johnnys Mutter und den Sohn von Johnnys Mutter los, und sie wurden ihn endlich los und konnten außerdem noch umziehen, und was wollte man mehr?
Aber der Sohn von Johnnys Mutter wollte noch mehr, er wollte das Papiertaschentuch. Denn wenn er es siebenmal angefasst hatte, waren alle weißen Dinge in der Fahrerkabine von ihm berührt worden, und dann konnte ihm und seiner Mutter nichts Schlimmes passieren. Krankheit, Tod, Katastrophe. Wenn er alles Weiße angefasst hatte, wenn er jedes weiße Teil siebenmal berührt hatte, waren sie in Sicherheit, wenn alles Weiße hier endgültig und oft genug berührt worden war, würden sie die nächsten Minuten überleben, den ganzen Tag vielleicht.
Und nur dann.
Dann.
Johnny Melitzky schnappte nach Luft und reckte seinen Arm immer wieder nach links in Richtung Taschentuch, wurde von seiner Mutter aber jedes Mal aufs Neue darauf hingewiesen, dass er dem Fahrer die Sicht versperrte oder ihm womöglich noch ins Lenkrad greifen könnte, nur: Johnny musste zum Donnerwetter endlich das Taschentuch berühren!, er musste, und draußen zog mit zwanzig Stundenkilometern das ganze prächtige Gelb vorbei, Häuser zogen vorbei und ein Laden mit einem Mann davor, der nach Ansicht von Johnny Melitzky Marco Hebestedt heißen musste, denn er stand unter dem Schild Landfleischerei Marco Hebestedt.
Der Mann, der wirklich und wahrhaftig Marco Hebestedt war, hatte ein nicht ganz blutfreies Beil in der einen und den noch gefiederten Kopf eines überrascht wirkenden Landhühnchens in der anderen Hand, der Rest vom Huhn hatte anderswo zu tun.
Der Fleischer guckte sonderbar freundlich, vor allem für jemanden mit Beil und abgetrenntem Hühnerkopf, und es schien, als hätte er beides nur rein zufällig in den blutigen Händen. Es sah sogar so aus, als würde er Johnny in den zwei, drei Sekunden, in denen er stehend an ihnen vorbeizog, kurz zunicken, so als wäre dieser ein alter Bekannter aus dem Schützenverein oder sogar der Kunde des Monats.
Doch was draußen war, hatte nichts zu bedeuten. Was gingen ihn freundliche, blutige Landfleischer an? Johnny Melitzky musste sofort das Taschentuch berühren, damit hier niemandem etwas passierte. Aber Johnny kam nicht weiter, weil seine Mutter immer wieder genervt schnaufend seinen ausgestreckten Arm zurückschob, und draußen war der Tag immer noch gelb, drinnen war das Taschentuch immer noch weiß und in Johnny atmete es schneller und schneller, sogar in seinen Armen atmete, zitterte, flehte es.
Johnny sah durch die schmutzige Heckscheibe und wurde lange nicht ruhig. Unerträglich lange. Er beruhigte sich erst, als der Umzugswagen an seinem Ziel angekommen war und seine Mutter, die zwischen ihm und dem jetzt schon vergangenen Fahrer saß, endlich Johnnys Hand nahm und er in der Hand seiner Mutter das Taschentuch spüren konnte.
Er fühlte, wie weiß es war.
Fühlte, wie sie es zusammen festhielten.
Fühlte die schöne, lauwarme Erleichterung.
Und er wusste, dass die Welt für die nächsten Minuten gut bleiben würde, wenigstens gut genug, und dass er die Schuld an rein gar nichts tragen würde und dass ihnen das Ziel, an dem sie nun angekommen waren, dieses riesige, uralte, ungewaschene Haus, schon bald nicht mehr wehtun konnte, wenigstens für kurz – jetzt, da er das letzte weiße Ding in der Fahrerkabine erreicht hatte und nur noch sechsmal berühren musste.
»Die sind die Einzigen mit Umzugswagen«, sagte Penelope Melitzky zu den anderen, die mit ihr vor dem alten Haus warteten. Ihr Türkis war schon einen schwarzen Zentimeter aus den Haaren herausgewachsen, und sie hatte, so wie ihre Schwester übrigens auch, eine etwas piepsige Stimme, die die beiden noch jünger klingen ließ, als sie eigentlich waren, und gleichzeitig älter, so wie kleine, schimpfende Waschweiber.
»Die Einzigen, die ihre ganzen Möbel mitgenommen haben«, piepste Gabriella Melitzky, deren ganze Möbel, genau wie ihr ganzer Vater, zu Hause geblieben und nicht mit umgezogen waren. Ihr Vater war schon erwachsen und deshalb alt genug, um zurückzubleiben für wer weiß wie lang und aus wer weiß wie vielen Gründen. Gabriella und Penelope waren das nicht, weder erwachsen genug noch alt genug.
Nicht mal für Drillinge waren sie genug Leute.
»Ich glaube, die wollten sowieso gerade umziehen, das hab ich jedenfalls gehört«, sagte Edin Melitzky so leise, dass sich nur seine Mutter nach ihm umdrehte, weil sie ein Geräusch gehört hatte, das ihr von irgendwoher bekannt vorkam.
Edin war keiner von hier, keiner aus der leuchtend gelben Welt von Kamp-Cornell. Er gehörte zu denen, die nicht umziehen wollten. Aber anders als die beiden Schwestern konnte er nicht zurück, denn seine Mutter hatte das Haus untervermietet an wildfremde Leute, die vielleicht auch irgendwann einen Totenschädel im untergemieteten Briefkasten finden und dann wieder weiterziehen würden, in einen Ort mit Bindestrich.
Doch auch Lu Winnefeld hatte etwas zu sagen an diesem fremden und etwas bedrohlichen Nachmittag. »Kann mir mal bitte jemand verraten, wo hier das Klo ist?«, wollte sie wissen und zog dabei nervös an den Fransen ihrer Lederjacke. Sie trat auf der Stelle, trug ihre Haare und Schnürsenkel offen und hatte sich längst einen mehrteiligen Fluchtplan überlegt. Und falls tatsächlich jemand wusste, wo hier das Klo war, dann wollte er sein kostbares Wissen in diesem Moment mit niemandem teilen.
Überhaupt waren die, die es hätten wissen können, jetzt auffallend still: Ann, Bernadette, Kalinka und dann noch Rosalie, die sich soeben, mit Johnny an der Hand, zu ihren Schwestern gesellt hatte.
Sie standen vorm Haus und strahlten etwas ähnlich Unschlüssiges aus wie die Möbel, zerkratzte Stücke, die jetzt nach und nach aus dem Umzugswagen geholt wurden, viel zu neumodisch für das graugelbe Haus, für das sie gedacht waren, aber wenigstens ähnlich schäbig.
In der Ferne bellten Hunde, gurrten Tauben, ratterte ein Motorrad. In der Nähe, direkt vor den vier erwachsenen Schwestern, wuchs ihre große, schmutzig gelbe Vergangenheit. Alte rote Dachschindeln, abgeblätterte Fensterrahmen in immer noch blendend weißem Weiß, ein halbrunder Erker mit Sprossenfenstern, darauf ein Balkon mit kunstvoll geschwungener Eisenbrüstung. Eine eckige Säule mit Ornamenten, die das kleine Dach über der Eingangstür trug, ganz rechts am Haus.
Und es wäre eine stattliche Vergangenheit gewesen, die eine Menge hergemacht hätte, wenn sie, ja, wenn sie nicht so entsetzlich baufällig gewesen wäre.
So entsetzlich vergangen.
Vier Frauen standen davor und waren am Ziel. Vier Tanten. Vier Schwestern. Unter ihren Sohlen wisperte die Erde, das war die Angst, die aus den Frauen in die Erde oder aus der Erde in die Frauen rieselte. Und sie hätten noch flüchten können, genau jetzt. Sie hätten in ihre Autos steigen und auf direktem Wege zurück in ihre Gegenwart fahren können. Sie war immer noch gültig. Es war genug von ihr übrig.
Aber es war zu spät.
In dem alten Gebäude hatte etwas begonnen. Sie, die vier Schwestern, hatten es all die Jahre kommen sehen, obwohl sie weit weg waren, in vier verstreuten Leben. Anderswo. Das alte Gebäude hatte sie wieder zusammengeführt, hatte sie wieder miteinander bekannt gemacht nach langer, einzelner Zeit. Und ob sie wollten oder nicht: Sie mussten das, was begonnen hatte, mit ihrer ganzen wenigen Kraft am Weitermachen hindern.
Dann war auch Edin Melitzky endlich im Haus.
Und das Erste, was ihm im muffigen Eingangsbereich des alten Gemäuers auffiel, was ihm trotz des Geflüsters seines Cousins und seiner Tanten und Cousinen in die Ohren schoss, war die tiefe, glasklare Stille. Es war die Stille, nach der sich Edin als Kind oft gesehnt hatte, weil er frühmorgens endlich und ein einziges Mal hören wollte, wie die Insekten in seinem Zimmer erwachten. Aber jedes Mal waren Autos durch die Stille gefahren, hatten Amseln das kleine Erwachen der Fliegen und der Spinnen zersungen, und nun?
Nun wusste er immer noch nicht, wie das klang.
Aber hier, in der Eingangshalle des gewaltigen alten Hauses, hätte er es hören können. Und es wäre sogar zu sehen gewesen. Denn obwohl es hier bloß ein einziges großes Fenster und ansonsten ausschließlich Türen, nämlich exakt vier, und eine hölzerne Treppe nach oben gab, war es so hell wie auf einer streng empfohlenen Sonnenterasse.
Beruhigend hell.
Das Licht hatte sich seinen Weg gesucht, und es hatte ihn gefunden. Es war ein lauwarmes Licht, in dem der Samstagnachmittag seine leichten Bahnen schwamm. Staubkörner wirbelten umher, Wellen von Gold zogen über die holzvertäfelten Wände und erklärten mit ihrem Glanz die Baufälligkeit des Gemäuers und den Geruch nach Kirche und feuchten Gartensitzkissen für null und nichtig.
Ein gutes Licht war das, dachte Edin Melitzky und merkte, wie sein Herz jetzt angenehmer zu tragen war, leichter beinahe. Freundlich war dieses Licht, bestens erzogen, überhaupt nicht hinterhältig. Nirgends war etwas von dem Grauen zu erkennen, von dem Edins Mutter erzählt hatte, und auch das geheimnisvolle Zuspät, von dem in dem Brief aus Kamp-Cornell die Rede gewesen war und das an dem überstürzten Umzug mehrerer Melitzkys und weniger Winnefelds die Hauptschuld trug, suchte Edin hier vergebens.
Der geheimnisvolle Brief war damals achtlos im Wohnzimmer liegen gelassen worden, nachdem er zuvor für so viel Aufregung gesorgt hatte, und Edin hatte nicht verstanden, wieso jemand ein so großes Blatt Papier für so wenige Worte gebraucht hatte.
Aber Edin hatte vieles nicht verstanden.
Im Grunde war ihm alles an dieser ganzen elenden Aktion, die sein Leben wie eine Obstbriefmarke auf den Kopf gestellt hatte, bis heute ein Rätsel geblieben, und seinen Cousinen und seinem sonderbaren Cousin, so kam es Edin vor, schien es nicht viel anders zu gehen.
Aber ganz gleich wie es ihnen gehen mochte, sie wurden jetzt auf alle Fälle lauter. Einige von ihnen. Eine von ihnen. Das Licht blieb, nur die Stille erlosch. Edins Cousine Lu drückte eine der Türklinken herunter und sagte, nachdem alle Mütter ein angsterfülltes Stöhnen angefangen und schnell wieder beendet hatten: »So, Freunde, also ich finde, wir könnten uns jetzt endlich mal das Haus anschauen. Wenn wir schon mal hier sind. Was haltet ihr zum Beispiel von dieser Tür hier? Ich bin gespannt, was da dahinter … wie es da drin … also, das ist doch, äh, Moment mal, also, Leute, das …« Dann verstummte sie, und als auch Edin nach einer etwas unhöflichen Überholung seines zögerlichen Cousins Johnny im Zimmer stand, da wusste er auch, warum.
Der Raum war gewaltig.
Er sah wie ein Festsaal aus, nahezu majestätisch, mit einer hohen Decke und strumpfhosenfeinen Spinnweben in den Ecken. Eine der Wände war nach außen gewölbt und hatte drei große Fenster, die in viele Vierecke unterteilt waren. Man hätte hier, dachte Edin, einen amtierenden König empfangen können oder eine halbwegs berühmte Opernsängerin. Wenn es sein musste, sogar einen vollständigen Kinderchor.
Aber genau das konnte man eben nicht.
Obwohl es sich bei dem Raum um das Wohnzimmer handelte, war er nicht auf Besucher eingerichtet. Weiß Gott nicht! Keine halbwegs berühmte Opernsängerin hätte sich und ihre Stimme hier ausruhen wollen. Von amtierenden Königen ganz zu schweigen. Und für den vollständigen Kinderchor hätte es gar nicht genügend Sitzmöglichkeiten gegeben. Für alle anderen aber auch nicht.
Denn das Zimmer, nun ja.
Das Zimmer war so gut wie leer.