Hannas Regen - Susan Kreller - E-Book

Hannas Regen E-Book

Susan Kreller

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Beschreibung

Vielfach preisgekrönte Autorin – unter anderem mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet! Josefin ist eine von der Sorte Ich verlass mich auf dich. Eine, die angerufen wird, wenn sonst keiner Zeit hat. Die nur aus Versehen mitfotografiert wird. Als Hanna neu in ihre Klasse kommt, hofft Josefin,endlich eine Freundin zu finden. Aber Hanna verhält sich seltsam, ganz so, als sei sie schon fast wieder weg. Sie ist still und abweisend, in sich selbst verborgen. Als sich die beiden Mädchen wider Erwarten doch anfreunden, wird Josefin klar, dass mit Hanna etwas nicht stimmt. Ist sie in Gefahr? Muss sie beschützt werden? Und ist Hanna am Ende gar nicht die, für die sie sich ausgibt? »Susan Kreller ist eine der sprachmächtigsten Jugendbuchautorinnen in Deutschland.«  Augsburger Allgemeine 

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Susan Kreller: Hannas Regen

Josefin ist eine von der Sorte Ich verlass mich auf dich. Eine, die angerufen wird, wenn sonst keiner Zeit hat. Die nur aus Versehen mitfotografiert wird. Als Hanna neu in ihre Klasse kommt, hofft Josefin, endlich eine Freundin zu finden. Aber Hanna verhält sich seltsam, ganz so, als sei sie schon fast wieder weg. Sie ist still und abweisend, in sich selbst verborgen. Als sich die beiden Mädchen wider Erwarten doch anfreunden, wird Josefin klar, dass mit Hanna etwas nicht stimmt. Ist sie in Gefahr? Muss sie beschützt werden? Und ist Hanna am Ende gar nicht die, für die sie sich ausgibt?

»Susan Kreller ist eine der sprachmächtigsten Jugendbuchautorinnen in Deutschland.«

Augsburger Allgemeine

Wohin soll es gehen?

Buch lesen

Viten

 

If I could change

The way that you see yourself

You wouldn’t wonder why you hear:

»They don’t deserve you«

 

Billie Eilish, Everything I wanted

1

Hanna beginnt im Regen. Sie hört auch im Regen wieder auf, später, nicht jetzt, kein Grund zur Eile. Es ist ein nasser Oktobermorgen, als sie zum ersten Mal in meinem Leben auftaucht, aus heiterem Himmel, obwohl der Himmel an diesem Tag bedeckt ist. Grau hängt er über der Stadt und lässt alles noch trostloser als sonst erscheinen, die Bushaltestellen und die Häuser und die Menschen und die alte Mosterei, sogar die protzigen Türme von Future Technology Inc., alles auf meinem Schulweg sieht so verschwommen aus, als wäre es gar nicht dafür gedacht, von irgendwem gesehen zu werden.

Der Regen verwischt alle Spuren.

Alle Menschen verwischt er.

Hanna, aber sie heißt noch gar nicht so, geht ein paar Meter vor mir durch den strömenden Regen, stampft durch die Pfützen und wird von überall verflucht, das kann ich an den Bewegungen der überall Fluchenden sehen. Was sie rufen, weiß ich nicht, denn der Regen ist lauter, fällt auf alle Geräusche, weicht sie auf.

Hanna kann die Flüche bestimmt verstehen, doch sie kümmert sich nicht darum, sondern trampelt weiter über den nassen Bürgersteig und spritzt jeden, der nicht bei drei in der Nachbarstadt ist, genüsslich voll. Vielleicht kommt es mir aber auch nur so vor, als würde sie das mit Absicht tun, denn eigentlich sieht sie eher so aus, als wäre dieser Regen für sie überhaupt nicht vorhanden und als würden wir anderen uns das ganze Wasser bloß einbilden wie eine Krankheit am kleinen Zeh oder einen Einbrecher in der Nacht oder eine ganz gewöhnliche Fata Morgana.

Das ist es.

Sie geht so gleichgültig durch den Regen, als wäre der Morgen in Wirklichkeit nur nicht ganz streifenfrei geputzt worden, sie wischt nicht über die Schlieren, sie lässt sie so. Hanna ist auch die Einzige auf meinem Weg, die keinen Schirm und keine Regenjacke trägt, sie trägt da ja noch nicht mal einen Namen und ist einfach nur ein Mädchen, das ich noch nie zuvor gesehen habe und das sich vor meinen Augen nass regnen lässt, ein fremder, begossener Pudel, der mir Angst macht und der jeden Moment rechts abbiegen und aus meinem Blickfeld stampfen könnte und danach für absolut immer verschwunden wäre.

Aber es stimmt nicht.

Hanna taucht nicht in meinem Leben auf.

Sie taucht von Anfang an unter.

Es stimmt auch nicht, dass sie so tut, als wäre dieser Regen gar nicht vorhanden. Der Regen, er scheint für sie viel mehr als nur Wasser zu sein, das kann ich sogar von hinten erkennen, dafür muss ich ihr Gesicht gar nicht sehen. Nein, Hanna bewegt sich nicht gleichgültig durch den Regen, das ist ja das Merkwürdige, in Wahrheit beachtet sie ihn mehr als jeder Andere, versteckt sich in ihm, hüllt sich in ihn ein wie in einen Mantel.

Während die Tropfen wie ein knisterndes Scheunenfeuer auf meinen Schirm prasseln und in der Ferne eine Sirene zu hören ist, wird Hanna, die immer noch vor mir geht, eins mit dem Regen, gibt ihre Ränder her und hält den Kopf dabei gerade. Sie duckt sich nicht wie all die Anderen, obwohl die durch ihre Schirme und Regenjacken geschützt sind. Sogar die Autos, die ihr Scheinwerferlicht auf die nasse Straße fließen lassen und an mir vorbeirauschen, sehen irgendwie vornübergebeugt aus.

Nur Hanna nicht.

Und ich meine, es gibt fast dreizehn Millionen Arten, durch den Regen zu gehen, im Pfützenslalom, mit unruhigem Trippeln oder verärgerten Meterschritten. Mit der gefalteten Morgenzeitung überm Kopf. Auf Zehenspitzen. Mit schiefen zerrupften Schirmen aus dem Sonderangebot. Mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze. Mit dünnen Regenmänteln, die wie große Mülltüten aussehen. Mit schwenkenden Armen, hochgezogenen Hosenbeinen.

Es gibt unendlich viele Arten, durch den Regen zu gehen, und fast alle sind sie schnell oder wasserabweisend. Aber Hanna entscheidet sich ausgerechnet für die eine Art, die langsam und nass ist. Sie entscheidet sich dafür unterzutauchen, aufrecht, in einem Mantel aus lauter Regen, und ich merke, wie erleichtert ich darüber bin, dass ich dieses Mädchen, das da vor mir läuft und sich im nassen Bürgersteig spiegelt wie eine traurige alte Königin, nicht kennen muss.

»Das ist Hanna«, flüstert Frau Mattai, sie sagt es, weil sie meine Klassenlehrerin und für die Rettung neuer, tropfender Schülerinnen zuständig ist. Warum sie es flüstert, weiß ich nicht. »Hanna Kiesow ist das«, raunt sie mir zu. »Hat heute ihren ersten Tag bei uns. Josefin, ich verlass mich auf dich.«

In der Klasse ist es laut, Erdkunde hat noch nicht begonnen, trotzdem scheint einer der Jungen etwas mitgekriegt zu haben und brüllt quer durchs Zimmer: »Leute, mal herhören! Josefin hat den Hauptgewinn gezogen!«

Leider ist er der Einzige, der mal herhört. Der sich selber zuhört. Alle Anderen schauen nur verschlafen zu uns herüber, ein paar lachen leise, und ich frage mich, ob Frau Mattai Hanna später noch richtig vorstellen wird oder ob sie das lieber bleiben lässt, um niemanden in der Klasse auf Ideen zu bringen, auch wenn das überhaupt keinen Sinn ergibt, denn sie bringt uns ja nie auf Ideen.

Ganz egal auf welche.

Der Hauptgewinn, der jetzt einen Namen hat, steht vor meinem Tisch und regnet. Hanna muss bis auf die Haut durchnässt sein, das Wasser rinnt ihr von den schweren, dunklen Haaren übers Gesicht und tropft aus ihren Jackenärmeln heraus, sie lässt sich im Regen stehen.

In ihrem eigenen Regen.

Schon jetzt hat sich unter ihr eine Pfütze gebildet, das kann ich sehen, und Frau Mattai sieht es auch, denn sie verschwindet schnell wieder und wischt sich auf dem Weg nach vorn verstohlen ein paar Tropfen vom Rock.

Hanna setzt sich polternd neben mich, wühlt in ihrem Rucksack und zieht dann mit einem einzigen wütenden Ruck ein Buch heraus, ein zerfleddertes Taschenbuch, das sie vor sich auf den Tisch wirft, aber offenbar nicht lesen will, Gotische Kirchen bei Lichte besehen. Die Kirchen scheinen bequem zu sein, denn das Buch ist ein Kissen, auf das Hanna jetzt ihren triefend nassen Kopf legt, ihr Rücken schläft grau und krumm, das Regenwasser deckt sie zu.

Kein einziges Mal hat sie mich angesehen, und das ist besser als nichts, das ist fast, als wäre sie gar nicht da. Beinahe das, was ich mir vorhin auf meinem ungemütlichen Schulweg gewünscht habe. Wie wenig sie nicht da ist, merke ich aber erst, als der Unterricht begonnen hat und Frau Mattai uns in die Wüste schickt, ein Fünftel der Erde besteht aus Wüste, leider auch ein viel zu langes Fünftel des Erdkunde-Schuljahrs.

Denn während da vorn von Steinwüsten die Rede ist und von Felswüsten, von Salzwüsten und von Sandwüsten der trockensten Art, bewegt sich von rechts eine Wasserlache auf mich und meine Sachen zu. Wie eine kleine Sturmflut arbeitet sie sich unter Hanna hervor, fließt bedrohlich über den Tisch auf meinen Hefter und mein Erdkunde-Buch zu und zieht eine wässrige Grenze zwischen mir und diesem sonderbaren Mädchen, das jetzt nur noch ein großer grauer Stein ist, ihre Oberfläche besteht aus Felsen und Gesteinstrümmern.

Wir sitzen ganz hinten in der Ecke, gleich am Fenster, und ich schiebe mich und meine Sachen so weit von Hanna weg, dass ich fast an der Scheibe klebe, gegen die von außen weiterhin der Regen prasselt, ich weiß jetzt, was der Radiomoderator heute Morgen mit Starkregen gemeint hat. Draußen sind nur Wasser und Lichtflecken und Schattengestalten zu sehen, ein Wind, der mir vorhin noch nicht aufgefallen ist, wühlt sich in die schwarzen Bäume, die gesprenkelte Welt hinterm Fenster hat sich in ein großes Rauschen verwandelt, auf den Gesteinen kann man oft Wüstenlack erkennen.

Auf dem Tisch ist Hannas Starkregen zum Halten gekommen, nur manchmal, wenn sie sich leicht bewegt, löst sich ein gefräßiges Rinnsal aus der Wasserlache, fließt zu mir herüber und hält Ausschau nach meinen Sachen aus Papier. Ich sehe noch etwas anderes: Hannas Hand, die aus diesem ganzen zusammengeknüllten Menschen herausguckt und fünf unterschiedlich lange Fingernägel hat.

Trotzdem glaube ich nicht, dass sich Hanna verfeilt oder verschnitten hat. Denn trotz der kleinen weißen Flecken und der unterschiedlichen Länge sehen diese Nägel perfekt aus, ohne Nagellack, aber rosa und mit abgerundeten Enden. Die Fingernägel sehen aus, als wüsste ihre Besitzerin ganz genau, was sie will, oder schlimmer, als wäre ihre Besitzerin eine, die sich nie, in keiner einzigen Sekunde, wünscht, ein anderes Leben zu haben als das eigene. Die sich nie danach sehnt, ein völlig anderer Mensch zu sein, oder auch nur ein annähernd anderer Mensch. Hauptsache, nicht sie selber.

Als ich das begreife, fange ich an, mich vor Hanna zu schämen, vor einer Fremden, die ich beinahe nicht wiedergesehen hätte, wenn sie, ja: wenn sie vorhin nicht an der falschen Stelle rechts abgebogen wäre, nämlich genau dort, wo irgendwer zufällig mal unsere Schule hingebaut hat. Ich schäme mich, weil Hanna neben mir sitzen muss, dem langweiligsten Mädchen der ganzen Klasse, das es noch nicht mal zu einem Spitznamen gebracht hat.

Bei meinem Namen ist das besonders tragisch, einem Namen, der eigentlich nur dafür erfunden wurde, damit ihn Andere behutsam in Spitznamen zerhacken, in Josi oder Finchen oder sonst irgendwas Liebevolles. Aber nicht mal meine Eltern nennen mich anders als Josefin, weil sie kurz vor meiner Geburt in einem Buch gelesen haben, dass Spitznamen ein Kind nur kleiner machen, nicht größer.

Bei meinem jüngeren Bruder Carlo, der eigentlich Carl heißt, haben sie das Buch vermutlich schon wieder vergessen, aus der Josefin-Nummer bin ich dann aber trotzdem nicht mehr rausgekommen, zu Hause und überall.

Ich bin eine von der Sorte Ich verlass mich auf dich.

Ich bin die, die man anruft, wenn sonst keiner Zeit hat.

Ich gehöre zu den seitlichen Menschen, die aus Versehen mitfotografiert werden.

Frau Mattai ruft jetzt von vorn: »Leute, Beeilung, bitte los jetzt, ich will das Wort hören! Es gibt nur ein einziges Wort für diesen Stein, und das will ich hören.« Etwas Besseres hätte sie gar nicht sagen können, denn es bedeutet, dass es nicht mehr lange dauert, bis die Stunde vorbei ist.

Es ist jedes Mal das Gleiche: Kurz vor Unterrichtsende müssen wir einen Stein bestimmen, egal, wie steinig oder unsteinig das Thema ist, das wir gerade behandeln. Wenn sich jemand beschwert, behauptet sie, dass sie uns damit auf das Leben vorbereiten will. Mit Steinen. Mit toten, farblosen Brocken!

Jemand ruft jetzt »Feldspat«, ein Anderer »Granit«, nichts davon scheint das Wort zu sein, das für diesen Stein erfunden wurde, das kann man an Frau Mattais leicht entsetztem Gesichtsausdruck erkennen. Und während noch andere Wörter gerufen werden, die immer genau die falschen sind, kommt der lebendige, farblose Brocken neben mir wieder zu sich, gibt kleine Laute von sich und richtet sich auf. Ich schaue den erwachten Stein nicht an, aber in meinem Augenwinkel ist Platz genug, Platz für dieses eigenartige Mädchen. Und dort kann ich erkennen, dass Hanna ganz langsam ihren Kopf zu mir dreht und mich für einen Stein ungewöhnlich lange ansieht.

Als ich irgendwann zurückstarre, lande ich im finstersten Blick der Klasse. Ich halte ihn eine Weile aus, schaue aber so abweisend wie möglich zurück, wasserabweisend, steinabweisend, lass mich in Ruhe. Dann nehme ich meinen Hefter und das Erdkunde-Buch vom Tisch hoch, in Zeitlupe und triumphierend, denn die trocken gebliebenen Sachen sind mein kleiner Sieg, ich habe sie vor Hannas Regen gerettet.

Sie versteht es sofort.

Und bevor ich meinen kleinen Sieg aus Papier in den Rucksack packen kann, steht sie auf und fängt an, sich zu schütteln, aber nicht wie ein mickriger begossener Pudel, sondern eher wie ein triefender, ausgewachsener Bernhardiner kurz vor der Rente. Sie schüttelt erst nur den Kopf und nimmt dann den Oberkörper mit dazu, schüttelt sich, schüttelt sich, und alles wird nass, meine Erdkunde-Sachen, meine Seite vom Tisch, ich selbst, sogar Hannas Gotische Kirchen, die aber auch vorher schon wellig und fleckig waren, Hanna schüttelt sich so heftig und so lange, bis ihr ganzer Regen gefallen ist.

Dann, ganz plötzlich, hört sie auf.

Sieht mich wieder an.

Und lächelt ein winziges, schief gezogenes Lächeln.

2

»Jajajajaja« kommt es aus ihrem Mund wie eine lange Girlande, meine Mutter sagt es, weil sich wieder jemand über ihr Essen beschwert hat. Carlo. Er musste dafür noch nicht mal den Mund aufmachen, wie immer hat er einfach nur den Pizza-Notruf-Flyer vom Kühlschrank abgemacht und neben seinen Teller gelegt, damit er jetzt beim Kauen so tun kann, als würde er in Wirklichkeit Pizza Marinara essen, und damit meine Mutter sehen kann, dass auf dem Pizza-Notruf-Flyer in roten Buchstaben Schmecke den Unterschied steht.

Wir befinden uns mitten in der slowenischen Woche, was gut ist, weil wir schon drei Abendessen hinter uns haben, und schlecht, weil uns noch vier bevorstehen. Die ersten slowenischen Happen des heutigen Abendessens habe ich immerhin schon geschafft, einen Hauch Sarma-Kohlroulade, ein wenig Kartoffelbrei, etwas Tomatensauce, und es war nicht besonders schwer, den Unterschied zu Pizza Marinara zu schmecken. Ich bin mir sicher, dass das nicht an Slowenien liegt, zumal wir Sarma auch schon in der serbischen, der mazedonischen und der ungarischen Woche gegessen haben.

Nein.

Es liegt allein an den Kochkünsten meiner Mutter.

Die internationalen Wochen hat sie vor ein paar Jahren eingeführt, damit wir die Welt kennenlernen, oder wenigstens einen kleinen Teil davon, den, den man schmecken kann. Niemand außer unserer Mutter weiß, wann wieder eine internationale Woche losgeht. Sie kommt jedes Mal ohne Vorankündigung, dafür aber mit einem länglichen Einführungsvortrag, der immer dann erweitert wird, wenn einer von uns nicht interessiert genug kaut. Auch jetzt müsste uns meine Mutter eigentlich etwas über die Wickeltechniken und die Sauerkrautsäure moderner slowenischer Kohlrouladen erzählen, über das Reis-Möhren-Hackfleisch-Gemisch im Inneren, aber stattdessen fragt sie mich kauend: »Sag mal, Josefin, kennst du eine … eine Kiesow? Den Vornamen weiß ich nicht. Sie soll in deine Schule gehen.«

Ich wische mir schnell ein paar Regentropfen von meinem Ärmel, obwohl da gar keine sind, und sage betont gelangweilt: »Kann sein. Schon mal gehört. Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor. Eine Kiesow sitzt in ein paar Fächern neben mir.«

Meine Mutter lässt ihr Besteck so laut fallen, dass sich mein Vater an sein schreckhaftes Herz fassen muss und Carlo sich die Ohren zuhält, dann ruft sie: »Sieh an! Was für ein Zufall«, und ich denke: Was für ein Reinfall, sage aber: »Ja, vielleicht, kann sein, weiß nicht.«

Meine Mutter nimmt ihr Besteck wieder auf, überlegt eine Weile und legt es auf den Tisch zurück. Mit einem kleinen Rest Kartoffelbrei im Mundwinkel erzählt sie, dass die Mutter der Kiesow, wie heißt die eigentlich vorn?, ihre neue Kollegin ist und dass sie aus ihr nicht schlau wird.

»Weißt du«, sagt sie zu mir, »die will nichts mit uns zu tun haben. Mit keinem aus der Abteilung. Die meiste Zeit arbeitet sie stumm vor sich hin, nur manchmal, da sagt sie was, aber bloß dann, wenn keiner damit rechnet. Dann macht sie eine kleine Bemerkung. Und die ist wohl lustig gemeint. Aber ihr Humor ist sehr … na, sagen wir mal … trocken. Wie ist die Tochter?«

»Nass.«

Carlo muss lachen, verliert dabei ein paar kostbare Brocken slowenisches Abendessen, und ich sage schnell: »Also, tja, zumindest war das am Anfang so. Klar, so kanns gehen, wenn man seinen Schirm vergessen hat. Ansonsten, na ja, ansonsten hat sie die ersten Tage viel geschlafen. Anstrengendes Leben oder so. Aber jetzt ist sie meistens wach. Das macht aber auch keinen Unterschied.«

Meiner Mutter scheint das fürs Erste zu genügen. Sie schneidet übertrieben lange an einer angebrannten Kohlroulade herum, isst ein kleines Stückchen und lobt kurz die gelungenen Röstaromen. Schon wieder ärgere ich mich darüber, dass sie unbedingt bei Future Technology Inc. arbeiten muss und den ganzen Tag mit Halbleitern zu tun hat. Sie kann nichts dafür, jeder Zweite arbeitet schließlich dort, nur: In einem anderen Leben wäre der Hauptarbeitgeber der Stadt mindestens eine weltberühmte Schokoladenfabrik gewesen, eine, die ihre Angestellten ab und zu in Naturalien bezahlt.

Das Ärgerliche an der Arbeit meiner Mutter ist also, dass sie abends nicht nach Hause kommen und fröhlich rufen kann: »Josefin, Carlo, kommt schnell nach unten, ich hab euch eine schöne Tüte Microchips mitgebracht, lasst es euch schmecken.«

Und dass sie in der Buchhaltung jetzt eine neue Kollegin hat.

Meine Mutter kaut nachdenklich und murmelt dann: »Schön, dass wenigstens ihr euch gut versteht«, und mein Vater fügt hoffnungsvoll hinzu: »Vielleicht ruft sie ja mal bei uns an.« Was er damit meint, ist, dass sie hoffentlich mal auf dem Festnetztelefon anruft, wer sie ist, ist ihm egal. Er arbeitet als Lehrer, könnte also irgendwann mitgekriegt haben, dass in meinem Alter niemand auf dem Festnetztelefon angerufen wird. Keiner. Dass ich in meinem Alter auch sonst kaum Anrufe kriege, braucht er nicht zu wissen.

Dabei geht es ihm sowieso nicht darum, dass ich endlich ein paar Freunde finde, jedenfalls kann ich mir das nicht vorstellen. Nein. Er fragt nach den Anrufen, weil er das Festnetztelefon so liebt. Und vor allem fragt er danach, weil er sich immer, jedes einzelne Mal, nach dem Klingeln mit einem völlig falschen Namen meldet und sich diebisch darüber freut. Er sagt dann zum Beispiel Metzgerei »Schinken macht Freude«, was kann ich für Sie tun? oder Schrebergartenverein Knallroda-Süd oder Selbsthilfeseminar »Erfolgreich hoffen«, und einmal hat er sich sogar mit Finanzamt Innenstadt gemeldet, was von all seinen Festnetzideen höchstens die zweitbeste war, denn die Frau am anderen Ende der Leitung war überraschend auch vom Finanzamt Innenstadt. Mein Vater konnte sie gerade noch so besänftigen, indem er sagte, dass er sich schon den ganzen Tag auf ihren Anruf gefreut hat und jetzt ganz durcheinander ist.

Carlo steht jetzt auf, obwohl die Hälfte seines Tellers noch voll ist. Er sagt, dass er Hausaufgaben machen muss, und Hausaufgaben sind hier erlaubt, mit Hausaufgaben oder einem dringenden Kegelabendtermin darf man sich in meiner Familie sogar frühzeitig aus einem internationalen Abend herausschleichen.

Dabei weiß ich, dass Carlo gleich in die Küche gehen und sich ein Brot machen oder ein dickes Stück Käse abschneiden wird. Und als ich höre, dass er sich drüben ein Messer aus der Schublade nimmt, versuche ich meine Mutter abzulenken und sage: »Ich weiß nicht, irgendwas ist komisch an Hanna.«

»An wem?«

»Na, Hanna Kiesow. Ich meine, diese ganze Hanna Kiesow ist seltsam, alles an ihr, aber da ist noch etwas Anderes, und das ist viel merkwürdiger, nur, ich komm nicht drauf.«

Obwohl ich meine Mutter mit dem, was ich ihr erzähle, nur ablenken will, ist es trotzdem die reine Wahrheit. Irgendwas an Hanna hat mich jeden Tag unruhig gemacht. Da war etwas, das nicht gestimmt hat, ein winziger Fehler in der Konstruktion, und wahrscheinlich hätte jeder Andere sofort gewusst, was für ein Fehler das ist, Kupplung, Lenkrad, Bremssystem. Doch obwohl ich die ganze Zeit darüber nachgedacht habe, irgendwo im hintersten Hinterkopf, im wilden Gerümpel hinter all den anderen Gedanken, bin ich weiterhin ratlos.

»Mama?«

Aber meine Mutter sagt nichts dazu. Sie wirkt abwesend, vielleicht, weil sie Carlo in der Küche hören kann, denn sie legt die Stirn in hauchdünne Falten und kommt mir jetzt selbst ein wenig ratlos vor. Wie sie da mit hängenden Armen neben meinem Vater am Tisch sitzt, sieht sie verloren aus. Seit Jahren frage ich mich, ob sie die feinen Brot- und Käsegeräusche, die aus internationalen Anlässen aus der Küche kommen, richtig versteht oder ob sie sich einredet, dass sie nichts zu bedeuten haben und bloß irgendwelche Geräusche sind, die ein bisschen nach Brot und ein bisschen nach Käse klingen.

Gesagt hat sie noch nie etwas. Aber als ich sie jetzt so zusammengesunken sehe, den Blick müde auf den Teller gerichtet, tut sie mir leid, und ich esse fünf Gabeln Kartoffelbrei und schiebe ein großes Stück slowenische Kohlroulade mit gelungenen Röstaromen hinterher.

»Josefin«, sagt meine Mutter und lächelt so leicht, wie der Kartoffelbrei gewürzt ist. Da weiß ich es. Da begreife ich mit einem kleinen, eingeatmeten Schreck, was an Hanna die ganze Zeit am seltsamsten war. Und als ich es meiner Mutter sage, kann ich noch nicht ahnen, was ich damit anrichte und wie sehr ihre detektivischen Augen in ein paar Sekunden funkeln werden, na ja, zumindest behauptet sie, dass sie detektivisch sind, denn eigentlich finden sie nie etwas heraus. Nie. In Wirklichkeit hat meine Mutter nur die Angewohnheit, sich die Leben anderer Menschen vorsichtshalber selber auszudenken.

Was ich meiner Mutter zu sagen habe, ist mir tatsächlich gerade erst klar geworden, so wie einem manchmal, in den unpassendsten Momenten, einfällt, wie der Junge hieß, der einen vor zweihundert Jahren von der Schaukel geschubst hat. Mit dem kleinen Unterschied, dass es jetzt ein sehr passender Moment ist. Und ich sage: »Es ist irgendwie verrückt, aber ich weiß jetzt, was an Hanna so komisch ist. Was die ganze Zeit nicht gestimmt hat. Sie reagiert einfach nie auf ihren Namen.«

3

»Josefin!«

Jemand ruft meinen Namen, und ich weiß auch wer. Langsamer als nötig drehe ich mich zu der knarzigen Stimme um, und auf dem Weg dorthin halte ich meine Augen gerade noch so davon ab, sich mit mir mit zu verdrehen. Denn wenn man beim Einkaufen vom Marktleiter persönlich gerufen wird, braucht man einen freundlichen Blick und dann auch noch eine halbwegs originelle Antwort. »Ach, Herr Pollmann, was für ein Zufall, hallo!«, sage ich so leise wie möglich und ziehe schnell mein Handy aus der Hosentasche, um zu beweisen, dass ich schon seit Minuten schwer beschäftigt bin und jetzt leider keine Zeit für Supermarktgespräche habe.

Natürlich gibt es im Leben größere Zufälle als den, einen Marktleiter an seinem Arbeitsplatz zu treffen, irgendwo zwischen der Sportsalami und den wurstfreien Wurstprodukten, und natürlich würde sich Herr Pollmann lieber seinen Kittel zerschneiden, als sich freiwillig Marktleiter zu nennen. Denn er ist hier der Marktmanager, so viel Zeit muss sein!, und er nutzt jede Gelegenheit, um dieses Wort laut und deutlich auszusprechen.

Zu laut.

Zu deutlich.

Das Dumme ist nur, dass sein weiß-grüner Marktleiterkittel manchmal, wenn er Marktmanager oder etwas anderes Lebenswichtiges sagt, eine durcheinandergeratene Knopfleiste zeigt, wodurch alles lächerlich wirkt. Auch heute ist es Herrn Pollmann nicht hundertprozentig gelungen, seinen Kittel ordentlich zuzumachen, was aber gut zu seinem unordentlichen Gesicht passt, denn er hat lauter kleine Schweißtropfen auf der Stirn und rote Flecken auf den Wangen.

Managerstress.

»Josefin, hör zu, ich würde wirklich furchtbar gerne mit dir plaudern«, sagt er zu mir und sieht mich ernst an. »Aber ich muss schnell zurück ins Büro, ist ja leider nicht jeder so vernünftig wie du. Grüß die Eltern von mir. Grüß den Bruder von mir. Die Großmutter.« Dann geht er weiter, sicher ahnt er, dass ich niemanden von ihm grüßen werde, vor allem nicht den Bruder, und ich frage mich, wo die Millionen von nicht ausgerichteten Grüßen, die sich jeden Tag auf der Welt ansammeln, eigentlich bleiben und ob sie für immer in der Luft herumschweben und ob man manchmal, an besonders grauen Tagen, ganz leicht mit der Nase dagegen stößt und das Gefühl hat, für ein paar Sekunden nicht allein zu sein.

Herr Pollmann, der einen merkwürdig leichten, federnden Gang hat, ist mittlerweile hinter den Regalen seines Königreichs verschwunden und ich hoffe inständig, dass uns niemand aus meiner Schule zusammen gesehen hat. Die Schüler kennen Herrn Pollmann von ihren großen Pausen, die sie hier verbringen, und für die meisten ist er eine Witzfigur, ein zerstreuter Mann, der mit ihnen schimpft, wenn sie schon vor dem Bezahlen in ihre Schokoriegel beißen oder die Glastüren der Kühlregale offen lassen. Es gibt kaum jemanden, der ihn ernst nimmt, und die meisten in meiner Schule achten darauf, ihn nicht persönlich zu kennen und auch keinen Vater zu haben, der mit ihm befreundet ist und ständig seine Festnetzanrufe entgegennimmt.

Als der Marktleiter weg ist, kann ich mich wieder um den Einkauf kümmern, um ein paar Sachen, die mein Vater mir aufgeschrieben hat und die ich gerne besorge. Denn diese Einkäufe bedeuten, dass wir zurzeit keine internationale Woche haben und dass mein Vater der Koch im Haus ist. Immer, wenn meine Mutter international kochen will, fährt sie in komplizierte Läden in der Nachbarstadt und wühlt so lange in den Regalen, bis sie auch die letzte Zutat gefunden hat, irgendein abgelaufenes Gewürzpulver, das schon seit vier Jahren keiner gekauft hat. Immer, wenn mein Vater kocht, reicht Herrn Pollmanns unkompliziertes Revier völlig aus.

Dabei ist sein Managerparadies gar nicht so harmlos, wie es tut, in Wirklichkeit ist es riesig und hat Regale, die man in normalen Supermärkten gar nicht findet, Regale mit Herrenunterhosen oder Damenoberbekleidung oder Lippenstiften. Meistens finde ich mich hier gut zurecht, aber dann gibt es diese Momente wie jetzt, in denen ich mich so verloren fühle wie in einer zu großen und zu fremden Stadt, die Regale werden zu Hochhäusern und die Gänge dazwischen zu Straßenschluchten mit Kartoffelaroma, immer steht irgendwas im Weg, Paletten oder Einkaufswagen, Kasse zwei bitte!, Kasse zwei bitte!, und aus allen Kühlregalen brummt es und –

Die Frau, die mich angerempelt hat, macht sich gar nicht erst die Mühe, sich zu mir umzudrehen, geschweige denn, sich bei mir zu entschuldigen. Oder nachzusehen, ob ich ganz knapp überlebt habe. Was ja immerhin sein könnte. Sie rennt einem Mann hinterher, bleibt an einer Holzpalette hängen, befreit sich und rennt weiter, nimmt den gleichen Weg wie vorhin der Marktleiter, sieht aber viel gehetzter als er aus, sogar von hinten.

Ich sehe ihr nach und kann die angerempelte Stelle auf meinem Arm noch spüren. Die Frau trägt einen hellen dünnen Mantel und einen roten Schal, der hinter ihr herweht wie eine flatternde Blutspur. Vielleicht ist sie auf der Suche nach besonders frischem Brot und beeilt sich nur deshalb, weil so ein Brot schließlich jeden Augenblick verschimmeln kann. Aber irgendetwas in mir sagt mir, dass es einen ganz anderen Grund gibt, einen, der nicht verschimmeln kann, und dass die Frau in die Richtung von Herrn Pollmanns Büro rennt.

Es ist reiner Zufall, dass ich ein paar Minuten später auch in der Nähe des Marktleiterbüros lande, es liegt nun mal auf meinem Weg, außerdem bin ich schon von Natur aus nicht neugierig. Die Tür zum Mitarbeiterbereich steht weit offen, auch die Tür vom Büro vorne rechts im Gang ist einen Spaltbreit geöffnet.

Weit genug.

Ich kann Stimmen hören, mehrere durcheinander und am lautesten die von Herrn Pollmann, der gerade »zehn Flaschen Nagellack« brüllt, sehr streng, sehr zerhackt, Fla-schen, und sofort habe ich Mitleid mit der Person, die von allen Dingen, die man hier im Supermarkt klauen kann, ausgerechnet Nagellack einstecken musste, und dann gleich zehn Flaschen. Denn der Nagellack, der hier im Supermarkt im Regal steht, wird vermutlich vom Marktleiter-Manager persönlich ausgesucht, zumindest sieht er so aus, und nicht mal meine Großmutter würde diese Marke und die Farben freiwillig kaufen.

Dann sehe ich sie, in einem türspaltschmalen Rahmen.

Die Person, die den Nagellack freiwillig geklaut hat.

Hanna.

Doch kaum, dass ich sie durch den Türspalt erkannt habe, höre ich den vorwurfsvollen Handyklingelton des Marktleiters, Du hast mich tausendmal belogen!, es ist eine Zeile aus einem Lied von Herrn Pollmanns Lieblingsschlagersängerin, das hat mir mein Vater mal mit leicht gequältem Blick verraten. Und so schwungvoll die tausendmal belogene Frau gerade aus dem Handy gesungen hat, so energisch stößt Herr Pollmann jetzt seine Bürotür auf und geht federnd und dabei laut telefonierend den Gang des Mitarbeiterbereichs entlang nach hinten. Er hat mich nicht gesehen, und wenn, würde er es sowieso nicht glauben, weil ich so wahnsinnig vernünftig bin und nie im Leben Gespräche belauschen würde.

Ende der Leseprobe