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In der Pension Bertoldi, einer heruntergekommenen Herberge in der Altmark, führen die Wirtin Oda Prager und das Zimmermädchen Maria Rosa ein strenges Regiment. Diejenigen, die ihrer Einladung gefolgt sind, müssen sich an den zugewiesenen Tischen einfinden und strikt an Regeln halten. Immerhin gibt es ab und zu ein Gläschen Sekt. Kaum eingetroffen, teilt man den Gästen ohne Begründung mit, dass sie zu ihrer Sicherheit nicht nach draußen gehen dürfen. So bleibt ihnen nichts als ein unbehagliches Miteinander und der Blick auf den dunklen Wald Salzruh. Dahinter winkt ein altes Schloss, einst ein beliebtes FDGB-Erholungsheim, und übt bis heute eine magische Anziehungskraft auf die Gäste aus. Wer wagt sich als Erstes hinaus? Der einstige Schuldirektor, dem die Wende zugesetzt hat, die hingebungsvolle Krankenschwester mit ihrem unermüdlich Ball spielenden Kind oder die dem Suff ergebene Kneipenwirtin? Das ältere Ehepaar, das eigentlich seine Goldene Hochzeit feiern wollte? Oder die beiden Verliebten, jung und schön, die bei den anderen Gästen für Irritationen sorgen? In »Salzruh« verdichtet die preisgekrönte Autorin Susan Kreller mit einem ganz eigenen Humor Elemente des Schauerromans zu einem Kammerspiel voller tiefer Gedanken über Eingesperrtsein und Freiheit, Bleiben oder Gehen, Rebellion oder Versöhnung mit dem eigenen Schicksal.
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Seitenzahl: 342
Inhalt
[Cover]
Titel
Zitat
I. Wir tun unser Glücklichstes
II. Kein Leben, kein Tod
III. Lass mich ein, lass mich ein
IV. Eine Frage der Finsternis
V. Ennas Ende
Autor:innenporträt
Kurzbeschreibung
Impressum
Life, although it may only be an accumulation of anguish, is dear to me, and I will defend it.
Mary Shelley, Frankenstein
IWir tun unser Glücklichstes
SIESTEHTAMFENSTER des Frühstücksraums, den Leib gespannt, und nur die trübe Scheibe trennt sie noch vom Wald, der Garten bloß, das braune Bündel Ackerfurchen. Sie weiß, das Mädchen hat die Fenster nicht geputzt, Maria Rosa hat die Fenster nicht geputzt, doch lass: Für heute soll es gut sein, denn draußen liegt der Herbst jetzt licht und klar, hinterm Acker sind die Bäume gut zu sehen, die Kiefern, Eichen, gottverdammten Altmarkbuchen.
Totenland.
Moränenland.
Ganz langsam dreht die Wirtin ihren Kopf zur Seite, hat die Handglocke zwischen den Fingern, eine gut erhaltene Ellis Bell aus Yorkshire-Messing, nur der Rand ist mit den Jahren etwas scharfkantig geworden, was soll’s: Weiter geht der Blick vom Fenster weg nach rechts über den blauen Vorhang, bis sich mit dem Blick die ganze Wirtin dreht, sie wendet sich, doch nicht zum Guten und nur so lang, bis sie die Gäste der Pension Bertoldi sehen kann.
Das Lächeln halten, kurz noch.
Frieden halten.
Höflich sein zu denen an den Tischen.
Und lautlos räuspert sich die Wirtin, Geräusche braucht sie keine, sie räuspert sich, indem sie aufhört zu lächeln. Erst dann läutet sie die Handglocke, um die Anwesenden um ein wenig Aufmerksamkeit zu bitten, und der schwere Klöppel muss ein paarmal gegen den Rand schlagen, bis die Gäste von ihren Tellern und Zeitungen und unnützen Geräten aufblicken und die Wirtin etwas sagen kann, sie sagt: »Bleiben Sie bis zum Mittag in der Pension, gehen Sie nicht vor die Tür, es ist nur zu Ihrer eigenen Sicherheit, eine reine Vorsichtsmaßnahme, also: Bleiben Sie bis zum Mittag im Haus, es liegt eine mittlere Gefahrensituation vor, eine Schutzmittelsituation, die Luft da draußen ist vorübergehend nicht sicher.«
Sie wartet eine Weile auf das, was kommen wird, was immer kommt, sie könnte Geschichten erzählen. Und als sich einige Münder dann tatsächlich zum Nein oder Warum öffnen und Tisch zwei sogar zu einer jämmerlichen Revolution ansetzt, schickt die Wirtin hinterher: »Es hört auf, wenn es aufhört, soll’s sein, um Schlag zwölf, und wir tun unser Glücklichstes, damit Ihnen die Zeit nicht lang wird, das Mädchen serviert Ihnen ein ausreichend großes Freigetränk, frisch und regional, aber sehen Sie, es liegt nicht in unseren Händen.«
Sie hat sich oft daran geweidet, an diesen kleinen Sekunden, nachdem man glücklich gesagt hat, an der Wucht, mit der das zarte Wort an den Gesichtern der anderen rüttelt, weil es sie an etwas erinnert, an etwas Vergebliches oder Augenblickliches oder manchmal, oft genug, an nichts. Es gibt nichts Besseres, als in diesem Moment in die Gesichter zu sehen, nur deshalb sagt sie es ja. Aber die Wirtin schafft immer nur eins auf einmal, bloß ein Gesicht, das sie mit ihren Lidern hält wie mit einer Zuckerzange, und heute ist es das Gesicht der blonden Buchtinger von Tisch vier: die Haut gescheckt, die Augen trüb wie blinde Spiegel, als das Wörtchen glücklich fällt, so als könnte die Frau, als könnte Tisch vier partout nichts damit anfangen. Ein Gläschen Sekt nimmt die Verlebte aber trotzdem, sie reißt es dem Zimmermädchen Maria Rosa, das jetzt seine Runde macht, förmlich vom Tablett und sieht dabei aus, als könnte sie mit Sekt zur Beschwichtigung entschieden etwas anfangen. Der Sekt wird es richten, er ist, wie er ist: lauwarm, klebrig und nicht übertrieben regional.
Es ist ruhig jetzt, an fast allen Tischen jedenfalls, und auch der Aufstand an der Zwei ist stiller geworden, obwohl der Mittag noch stattliche vier Stunden weit weg ist. Aber die Wirtin hat nichts anderes erwartet. Die Buchtinger von Tisch vier zum Beispiel muss ohnehin nicht mehr vor die Tür, denn sie ist in die Pension gekommen, um ihre Toten zu zählen, genauso steht es als Reisegrund im Anmeldeformular, sogar wörtlich und in unbeholfener Schrift: Bin hier, um meine Toten zu zählen, in Klammern: Geschäftsreise.
Und Tisch eins, was wird Tisch eins heute vorhaben? Nichts, das sieht die Wirtin von hier, das könnte sie mit geschlossenen Augen erkennen. Chemiker in Leuna, einer mit Laborkittel, einer, der Paraffine kennt, dabei wollte sie das gestern gar nicht wissen. Höchstens dreißig ist Tisch eins, schwarzes Haar, die Kleidung der Verborgenen, und was soll der Scheue schon vorhaben? Noch nie hat er etwas vorgehabt, und es hat auch nie einen Reisegrund gegeben, jedenfalls keinen, der in irgendeiner Weise etwas hergemacht hätte.
Aber sicher kann sie sich nicht sein, und das wird lange so bleiben. Über die Gäste weiß sie nicht viel, nur das, was sie gestern mit ihnen erlebt hat. Das, was sie sieht. Denn um die Korrespondenz kümmert sich Maria Rosa, schon immer hat das Mädchen die Post besorgt, die Wirtin und das Mädchen sind ein eingespieltes Team. Alleine könnte sie die Sache auch gar nicht richten, sie ist heilfroh, dass sie das Mädchen hat.
Froh sieht der Chemiker nicht aus. Mit fest verschränkten Armen, die Hände in die Achselhöhlen geklemmt, blickt er durch seine getönte Brille eindeutig in Richtung Tisch drei, Richtung Paar mit sportlicher Neigung, Richtung Doppelzimmer nach vorne raus, Hauptsache ruhig. Die Wirtin weiß, dass er nur das halbe Doppelzimmer meinen kann, ein brünettes, blutarmes Stück Frauenzimmer leider, aber sie fragt ja keiner.
Auch an den Tischen fünf und sechs ist es still, weiß der Henker warum, es interessiert sie ohnehin nicht, Hauptsache ruhig. Eine Mutter mit Sohn sitzt an Tisch sechs und lässt sich nichts anmerken, auch nicht, dass das Kind telefonisch gar nicht angemeldet war. Die Frau ist Krankenschwester und der Junge, das ahnt die Wirtin und das weiß sie, der Junge wird hier alles durcheinanderbringen.
Denn das Kind war nicht geplant.
Das Kind ist ein überzähliges Wesen.
Und ja, auch die Fünf ist still, die Goldene Hochzeit, zwei zielstrebige Alte, die noch mal hierher wollten, nun denn, jetzt sind die Herrschaften ja hier. Die Pension ist ihnen vollkommen gleich, das haben sie gestern nach ihrer Ankunft verlauten lassen, aber nicht der Wald Salzruh mit der Ruine. Der Wald ist ihnen keineswegs egal, da wollen die beiden so schnell wie möglich hin, da will der Ehemann hin, zielstrebig ist nur einer von den beiden.
Der Wald mit dem stillgelegten Erholungsheim erinnert ihn an früher, und was früher war, das muss man abschließend besichtigen, man muss es nachträglich zu etwas Gutem oder wenigstens Besserem erinnern. So ungefähr hat er es gestern mit arthritisch erhobenem Zeigefinger behauptet, und überhaupt hat er viel zu viel geredet in seiner sandfarbenen Multifunktionsweste, obwohl er zwischendurch immer wieder gut hörbar nach Luft schnappen musste und auch sonst gesundheitlich nicht unbedingt auf der Höhe war, aber ach. Ach. Es wird sich alles richten. Es hat sich doch immer alles gerichtet. Salzruh ist ihnen sicher. Den Wald werden die beiden noch besuchen können, er wird auch am Nachmittag noch hinterm Garten stehen, hinter dem alten, aufgewühlten Acker, auf dem schon lange nichts mehr wächst.
Vier Stunden noch.
Vier Stunden bis zum Mittag.
Es ist immer noch halbwegs still, abgesehen von ein bisschen Gemurmel vielleicht und abgesehen von ein bisschen Tisch zwei vielleicht, mit dem die Wirtin noch ihre Freude haben wird. Aber einer wie Tisch zwei ist immer dabei. Sie hat einiges mitgemacht. Sie hat vieles aushalten müssen in all den Jahren. Am Ende haben Leute wie Tisch zwei aber immer den Kürzeren gezogen.
Neun Gäste warten im Frühstücksraum, und das Mädchen geht weiter mit dem Tablett herum und wird seine letzten Gläser nicht los, das gelbe Licht geht weiter im Raum herum und wird die verfluchten Gesichter nicht los, es ist ein kleiner, klarer Frühstücksmorgen: Heizungswärme, das Mahlwerk der Gästezähne, der leise Gestank von Bohnenkaffee und vergorenem Fruchtsaftkonzentrat.
Es hat begonnen.
Angefangen hat es.
Und sie, die Wirtin, steht immer noch am Fenster, sie, die Wirtin, hat immer noch die schwere Messingglocke in der Hand und macht sich auf einiges gefasst, vorbereitet ist sie jedenfalls. Und obwohl kaum jemand von den Gästen zu ihr blickt, streckt sie den Rücken gerade, drückt die Schultern nach hinten, hebt das Kinn und sagt aus ihrem langen Schweigen heraus: »Hören Sie bitte, machen Sie sich auf gar keinen Fall irgendwelche Sorgen. Entspannen Sie sich, atmen Sie ruhig ein wenig ein und aus.«
Die Gäste wirken erstaunt, von Sorgen ist hier nie die Rede gewesen, Sorgen haben mit der Sache nichts zu tun. Es geht nur um ein paar kümmerliche Stunden, eine winzige Verschiebung in den faden Fängen des Tages. Die Blicke zeigen ihr: Sorgen macht sich keiner, wenn überhaupt, dann ist man verärgert, gereizt, um einen kleinen, nichtigen Teil Leben gebracht.
Und die Wirtin presst die Finger ihrer linken Hand um die scharfe Glockenkante, beißt die Zähne zusammen, macht der Haut auf den kleinen Gelenken einen brennenden Strich durch die Rechnung, und der blutgewordene Schmerz tropft auf den Boden
eins,
zwei,
drei,
vier,
fünf,
sie hat Salzruh im Rücken, diesen braunen harschen Wald, spürt den Windbruch und die Wurzelmulden, den fernen Weiher, wo die Segge wächst, fühlt die schmächtigen Baumschatten hinter sich, die als Einzige noch den Boden beschmutzen, und Oda Prager, die Wirtin der Pension Bertoldi, denkt: Ja.
Macht euch bitte keine Sorgen.
Denn er wird warten, auf fast jeden von euch.
Der Wald wird auf euch warten.
WIESIEIHNANGESEHEN hat! Oda Prager, der Name schon, finster wie die Nacht. Dazu die gequetschte Stimme und der tiefe Graben Zorn auf der Stirn! Von Anfang an ist ihm die Pensionswirtin zuwider gewesen, denn sie tickt nicht ganz richtig. Dieter Wassla kennt sich aus damit, er merkt, wenn jemand neben der Spur läuft.
Die Prager läuft neben der Spur.
Verflixt noch mal, ja: wie sie ihn vorhin aus ihren zusammengekniffenen Augen angesehen hat, als er zum ersten Mal Nein sagen musste, so laut wie kein anderer im Frühstücksraum, keiner, obwohl der Tatbestand der Freiheitsberaubung wahrhaftig nicht zu überhören war, wer einen Menschen einsperrt oder auf andere Weise der Freiheit beraubt, Schutzmittel hin oder her. Und wie ungehobelt die Wirtin schon gestern bei der Anmeldung war, nachdem er die Notfalladressen angegeben und mit einem schlecht funktionierenden Stift hundert Zettel unterschrieben hatte! Er könnte schwören, dass es mehr als acht waren. Dabei hatten sie ihm vor der Anreise schon so viele E-Mails geschickt. Einen der Zettel hat ihm die Wirtin gleich nach dem Vornamen aus der Hand gerissen, kaum, dass er dazu gekommen war, den Text zu lesen, und wer weiß, was er da unterschrieben hat.
Mit Dieter.
In aller Höflichkeit hat er sich gestern bei der Wirtin vorgestellt, das kann das junge Paar von Tisch drei bezeugen, vorausgesetzt natürlich, es hat überhaupt Augen für ihn gehabt oder für sonst irgendetwas im Eingangsbereich der Pension Bertoldi, er mag es nicht, wenn Stifte schlecht schreiben. Später hat er, ebenfalls nicht unhöflich, ein paar Fragen gestellt, vernünftige Kleinigkeiten und weiß Gott nichts Unnötiges. Aber die Wirtin ist auf keines seiner Anliegen eingegangen, hat nur gelangweilt zugehört und zum Schluss mit abschätzig verzogenem Mund gesagt: »Darf ich fragen, ob Sie im Abendleben Fliegenträger sind?«
Und ob, das ist er, aber ja, selbstverständlich, sogar im Nachmittagsleben, und er ist stolz darauf. In ein paar Stunden schon wird Dieter eine Fliege tragen, aus mehr als guten Gründen, in ein paar Stunden wird er sich unsterblich vergnügen. Die Prager geht das aber nichts an, für keinen der beiden Pensionsdrachen ist diese Information bestimmt, nicht für die Wirtin und erst recht nicht für das Mädchen Maria Rosa.
Das Zimmermädchen und die Wirtin sind ein kaltes Gespann: die eine höchstens achtzehn, die andere keine siebzig mehr, und sein Geschmack wären sie nicht, das können sie gerne schriftlich von ihm haben. Er ist zunehmend achtzig und kann immer noch wählen, und wenn er nicht will, dann will er nicht, nein, danke.
»Sekt für den Herrn?«, fragt Maria Rosa jetzt, sie steht vor ihm, vor seinem Tisch zwei, er hat sie nicht kommen sehen.
»Nein, danke.«
Aber das Zimmermädchen geht nicht weiter, Maria Rosa bleibt und versucht es ein zweites Mal.
»Es ist Sekt zur Beschwichtigung, wollen Sie nicht doch ein Portiönchen? Das Getränk ist gut und gratis.«
Sie hat eine tiefe, ausgehöhlte Stimme, ganz anders als die Wirtin, weniger gequetscht, aber zum Fürchten klingen sie beide.
»Nein, danke. Für mich keinen Sekt.«
»Keinen Sekt? Entscheiden Sie sich ruhig noch um.«
»Ich will keinen Sekt, ich will nur eins«, sagt er laut und hoffentlich ruppig genug. Er spürt die vordere Stuhlkante unter seinem Hinterteil und fügt hinzu: »Ich wünsche eine Unterredung mit Ihrer Vorgesetzten.«
Es ist höchstens ein paar Minuten her, da hat die Wirtin von ihm verlangt, er soll sich keine Sorgen machen, niemand hier im Frühstücksraum, machen Sie sich auf gar keinen Fall irgendwelche Sorgen. Sie hat es von ihrem Fensterplatz aus gerufen und dabei ausgesehen wie ein Prügelstock, ernst und steif, die Schultern nach hinten, das Kinn nach oben gereckt. Und er macht sich auch keine Sorgen, so weit kommt es nämlich noch, er will jetzt einfach nur die Wirtin sprechen, über seine Freiheit will er mit ihr reden.
Maria Rosa zuckt mit den Achseln, der Sekt in den verbliebenen drei Gläsern schwappt dadurch über und die Prager quäkt vom Fenster aus, dass von ihrer Seite alles geklärt ist und dass kein Bedarf für unnütze Unterhaltungen besteht, aber halt, halt, nicht mit ihm! Dieter sagt Nein!, so laut es geht, und die Gäste und Pensionsdrachen sehen ihn angenehm erschrocken an, sogar das Kind und auch die aufgedunsene Blondgefärbte mit dem grauen Ansatz, die ihm gestern Abend beim Rauchen vor der Tür erzählt hat, dass sie auch aus der Gastronomie kommt, kaum anders als die Wirtin hier, nur dass sich die Gefärbte mit dem Kneipentresen und den immer gleichen Männern begnügen muss, rein beruflich selbstverständlich, was auch immer das bedeutet. Eine aus dem Westen, Gifhorn irgendwo, Welten von hier, aber das geht ihn alles nichts an. Nachname: Buffinger. Etwas in der Art. Sie ist eine Art Buffinger. Beim Vornamen hat sie sich eine neue Zigarette angezündet, den Vornamen hat er nicht verstanden.
Alle sehen jetzt zu ihm, wie früher. Jeder Einzelne hört ihm zu, als er sagt, dass er am Nachmittag eine Verabredung im Dorf hat, ganz anders als früher, und ach, er ärgert sich kurz über sich selbst, denn jetzt hat er es leider doch gesagt, und wenn schon. Wenn schon. Er kann immer noch wählen, immer noch glücklich sein, das dürfen die anderen ruhig wissen. Er ruft es noch einmal in den Frühstücksraum hinein, nun aber etwas ausführlicher und sogar noch lauter: »Ich habe eine Verabredung mit einer Frau und somit ein Recht auf Informationen. Warum dürfen wir hier nicht raus?«
Die Wirtin steht immer noch am Fenster. Das Licht meint es gut mit ihr und fließt ihr weich über die kantigen Schultern, sie steht da mit ihren zusammengekniffenen Augen, ihrer ganzen Boshaftigkeit, und lauert. Er kann die Form der Pensionswirtin vor der hellen Scheibe besser erkennen, als ihm lieb ist, das halblange Haar, den schmalen Körper, und er könnte jetzt um Himmels willen eine Zigarette gebrauchen, aber er darf ja nicht vor die Tür.
Er darf ja keine Zigarette gebrauchen.
Dabei hätte er noch genau zwei in der Schachtel.
»Die Maßnahmen sind dem Schutzmittel geschuldet, das muss vorerst als Information genügen, für alle hier, ob es Ihnen passt oder nicht«, ruft die Prager vom Fenster aus und verdreht dabei so langsam die Augen, dass sie eher entrückt als genervt aussieht, eher der Ohnmacht als dem Kämpfen nah.
»Schutzmittel reicht mir nicht, Schutzmittel glaub ich nicht, behaupten Sie doch nicht so einen Unsinn« ruft Dieter zurück, er brüllt es fast, er hat sich doch früher besser im Griff gehabt. »Wir haben Herbst«, sagt er etwas leiser, »die Felder sind abgeerntet, kommen Sie mir also nicht mit Ihrem Schutzmittel. Ich bin Schuldirektor außer Dienst.«
Maria Rosa, die das Tablett auf einem leeren Tisch abgestellt hat, nimmt jetzt einen tüchtigen Schluck Sekt und schlürft dabei wie ein Kind, trinkt dann noch einen Schluck, zertrinkt die kurze Stille. Den Rest vom Sekt kippt sie in den großen Blumentopf mit der künstlichen Palme, der gleich neben Dieters Tisch steht.
Dann ist Oda Prager wieder an der Reihe, und die Prager klatscht wie ein sehr kleines Kind in die Hände und sagt dann fest und freundlich: »Schutzmittel, und Schluss. Schutzmittel muss genügen. Halten Sie die Klappe jetzt. Sie stören.«
Sie hat es tatsächlich gesagt, halten Sie die Klappe, zu einem wie ihm, Schuldirektor, seit achtundzwanzig Jahren außer Dienst, aber trotzdem Schuldirektor, das bleibt für immer. Halten Sie die Klappe, das hat sie wirklich gesagt. Nicht einmal Elisabeth hätte das gewagt, und er fühlt ein Stechen, fühlt es genau dort, wo ein beredtes Klopfen sein sollte, etwas Lebendiges, Jugendliches jedenfalls, und er schnappt nach Luft und keucht so streng und unverletzt, wie es ihm jetzt noch möglich ist: »Nein, es genügt mir keineswegs. Ich verlange eine Erklärung, es geht nicht, was Sie hier veranstalten. Ich war einmal Schuldirektor. Sie wissen, wo Sie mich finden.« Und als Oda Prager antwortet: »Nun, mit Sicherheit nicht draußen«, steht er so heftig auf, dass sein Stuhl krachend umfällt, er hat es nicht beabsichtigt, es kommt ihm gerade recht. Mit seinen guten Schuhen aus Glattleder, die er auch am Nachmittag tragen wird und die am großen Zeh drücken, stampft er aufrecht aus dem Frühstücksraum, schließt kurz die Augen, um nicht in den Spiegel gegenüber der Frühstückstür sehen zu müssen, trampelt durch den Eingangsbereich der Pension, der nach den Umkleideräumlichkeiten seiner Turnhalle riecht, feucht und sauer, geht die Treppenstufen nach oben in den ersten und einzigen Stock direkt unterm Dach und hinein in den Gang mit den Zimmertüren, er könnte wieder einmal Sport machen, Zirkeltraining. Nächste Woche wird er sich darum kümmern, vielleicht übernächste.
Er sieht es sofort.
An seiner Türklinke hängt ein Schild, er weiß, dass er noch nie einen dieser Pappstreifen benutzt hat, in keiner seiner Unterkünfte hat er das je für nötig gehalten. Ein Wort hätte genügt, um das Reinigungspersonal wieder nach draußen zu schicken. Andererseits, gerade in der Pension Bertoldi würde er es gern vermeiden, das Mädchen im Zimmer zu haben, es wäre ihm unangenehm und regelrecht zuwider, auch die Wirtin Prager hat hier nichts zu suchen. Denn die Frauen sind ein kaltes Gespann, die Wirtin höchstens achtzehn, das Mädchen keine siebzig mehr, nein, Dieter hat das Schild nicht an die Klinke gehängt. Es ist restlos vergilbt und bewegt sich so leicht wie die Wedel des Spargelkrauts, ganz so, als hätte es gerade erst jemand dort hingehängt, nur: wer denn? Alle anderen sind im Frühstücksraum, die Gäste und die Wirtin und das Zimmermädchen, auch wenn er den Pensionsdrachen natürlich so einiges zutraut. Aber wer denn? Das Schild bewegt sich weiter nach links, rechts, links, aber er kann trotzdem genau lesen, was auf der hellen Pappe steht, er weiß, dass der kleine rote Text allein für ihn auf dieses Stück Karton gedruckt wurde, vor hundert Jahren oder gerade eben erst, zwei Wörter, die friedlich im Takt seines alten Herzens hin und her schaukeln:
Sie stören.
SIEWURDEUNTERMILDERNDEN Umständen geboren, der Vater war schon weg gewesen, über alle Berge fast, obwohl der Landkreis flachbrüstig ist, nichts für die Männer daheim in ihrer Kneipe, die es vorne eher üppig mögen. Dann war der Vater zurückgekommen drei Tage vor ihrer Geburt und er war, weil er den weiten Weg nun schon mal auf sich genommen hatte, gleich noch ein bisschen geblieben, nämlich zwölf ganze Jahre lang.
Sie hat es auch dem Vater zu verdanken, dass sie, Enna Buchtinger, genauso heißt, wie sie heißt, nicht Erna wie ihre Großmutter aus dem Ostpreußischen, für die sie eigentlich als Denkmal gedacht war. Der Vater war nicht mehr ganz nüchtern gewesen, als er den Namen der Geborenen leicht wankend aufs Amt trug, und auch der Standesbeamte soll eine Fahne gehabt haben, wahrscheinlich von einem behördlichen Geburtstag ein paar Türen weiter, ein Gläschen in Ehren hat schließlich noch keinem geschadet. Aber ihrem Namen hat es geschadet, oder eben nicht, wie man’s nimmt: Der eine Mann schrieb Enna und der andere merkte es nicht und die Großmutter, die schon lange keine Gläschen mehr trank, die tote Großmutter konnte sehen, wo sie ihr Denkmal herbekam.
Enna sitzt auf der linken Seite des Doppelbetts und blickt zum Fenster, erkennt den Wald dahinter und ein Streifchen Oktoberhimmel. Hart drückt die Bettkante gegen ihre Kniekehlen, aber Enna bewegt sich nicht, bleibt sitzen, wie sie sitzt, und der Vater hat ihr früher alle Bäume erklärt, auch die, die sie drüben im Wald sieht, Stieleichen, Hainbuchen, er hat ihr gesagt: Zweifle nicht das Leben an, diesen Pfundskameraden, und dass das Leben schon die zweite Chance ist, die letzte, die wir kriegen, also ranhalten, Mädchen, ranhalten!, und dann war er weg und hat seine eigene zweite Chance genutzt, immer noch jung an Jahren, immer noch jung genug, um seine Familie nie gehabt zu haben.
Er ist jetzt einer ihrer Toten.
Sie zählt ihn nicht mit.
Das Fenster ist genauso verschmiert wie das Fenster unten im Frühstücksraum, herrje, es interessiert sie einen feuchten Dreck, viel wichtiger ist doch, wie klar der Nachmittag hinter der Scheibe ist, kein Wölkchen am Himmel, kein Nebel auf den Bäumen, nach Schutzmittel sieht es hier jedenfalls nicht aus. Trotzdem, aus der Pension dürfen sie immer noch nicht raus, nicht mal die Fenster kippen, damit ein bisschen Luft reinkommt, obwohl die Wirtin das nicht direkt gesagt hat, aber kein Schutzmittel der Welt macht vor einem gekippten Fenster Halt.
Gestern war der Tag noch nicht so klar, eher grau und bedeckt, überhaupt: die ganze letzte Woche schon, und könnte jemand endlich dieses Geräusch abstellen? Draußen im Flur spielt einer Ball, seit Stunden geht das so, bestimmt ist es das Kind, der Junge, wie alt wird er sein? Zehn wird er sein, und Ennas Füße wippen zu den dumpfen Prellgeräuschen des Balls, hoch, runter, hoch, runter, sie wollte nie Kinder haben, ob man ihr das glaubt oder nicht. Nie wollte sie so einen wie den Ballspieler haben.
Die Sache in der Pension Bertoldi dauert also noch ein wenig länger, das hat die Wirtin vorhin gesagt, tja nun, dann dauert sie eben länger, denn Verpflegung hat Enna dabei. Es wäre nur gut, wenn ihr ab und zu jemand etwas zu essen brächte. Rauchen ist hier verboten, aber sie steckt sich trotzdem eine Zigarette an, mitten im Zimmer, das darf sie, denn die Lage ist ärgerlich, das dürfte jedem in der Pension klar sein. Sie hat vier Schachteln dabei, damit kann man über die Runden kommen.
Vor ein paar Stunden hat das Zimmermädchen zum ersten Mal etwas serviert, zwei Schnitten mit Ölsardinen auf einer Serviette mit Fettfilm, ekelhaft! Gleich danach ist das dumpfe alte Mädchen im Flur mit dem Paar von nebenan und dem giftigen Schuldirektor von schräg gegenüber aneinandergeraten, Stulle, sie haben alle Stulle gesagt, Stulle mit Ölsardinen, der eine laut und die anderen leiser, aber Nein heißt Nein, das haben sie alle gesagt, und dass sie keine Sardinen wollen, sondern einfach bloß ihre Freiheit, und seine angebliche Verabredung kann der feine Herr Direktor außer Dienst jetzt jedenfalls knicken. Er ist sowieso viel zu alt dafür, und wahrscheinlich schämt er sich noch nicht mal.
Enna fürchtet sich ein bisschen.
Sie sitzt immer noch auf dem Bett, versteckt im Zigarettenqualm, ist einundsechzig Jahre alt und fürchtet sich vor Maria Rosa, deren Name auf einem Schürzenschild steht und sich um ihre rechte Brust wölbt. Der Busen des Mädchens wäre selbst für ihre Männer zu einschüchternd, obwohl es die hellblaue Schürze wieder rausreißen würde, man weiß ja, was sich Männer zusammenreimen, so eine Schürze ist vorne schnell geöffnet.
Vorhin, als es draußen um Ölsardinen und um Petersilie ging, hat die üble Mamsell mit ihrer tiefen Stimme gerufen: Herrschaften, bitte,wir sind hier nicht auf der Fritz Heckert!, und wo sie recht hat, hat sie recht, was auch immer die Fritz Heckert bedeutet.
Trotzdem.
Da gab es diesen Vorfall heute beim Frühstück, auch wenn das Frühstück natürlich ein einziger langer Vorfall war, in ihrer Kneipe würde es so was nicht geben. Aber am schlimmsten war der Moment, als Maria Rosa an ihren Tisch gekommen ist, sich die Vase mit den verstaubten Kunstblumen geschnappt und die Blüten dann mit Altweiberparfüm eingesprüht hat, Tosca, die alte Flasche von anno dazumal, frühe Neunziger ungefähr, Enna hat den Geruch schon damals gehasst.
Bertoldi, denkt sie.
Pension Bertoldi.
Und wieso?
Ennas Kneipe hieß früher, als die Großmutter sie noch führte, Ernas Krug, und der Name blieb auch dann noch, als Ennas Mutter die dunklen Räume der schon toten Großmutter übernahm, ach Gottchen, alt sind sie alle nicht geworden. Erst seit zweiundzwanzig Jahren heißt die Wirtschaft, in der es immer nach Qualm und Urin und traurigen Vortagen riecht, Ennas Ende, weil sie am Ende der Brandenburger liegt, dort, wo eigentlich schon gar keiner mehr hingeht, weit ab vom Schuss, aber komisch, trotzdem ist die Bude immer voll.
Zweiundzwanzig Jahre, und die Gäste sind wie die Fliegen weggestorben, die meisten hatten Leber oder Trauer oder einfach nur Tod, und die meisten waren überhaupt nur in Ennas Ende gekommen, um ihr eigenes Ende Glas für Glas herbeizutrinken. Es sind mehr geworden mit den Jahren, immer mehr Tote sind es geworden, verdammt noch mal. Früher, als sie noch Lebende waren, da hat Enna ihnen zugehört mit hingestreckten Unterarmen, die klebrig waren von den Bierpfützen auf dem Tresen, Unterarme wie direkt aus der Brauerei. Und oft, wenn sie tröstend nach einer Hand gegriffen hatte, wurde die Männerwärme durch die kalte Glätte eines Eherings unterbrochen, fünf elende Millimeter Metall, die Enna immer wieder in die Schranken wiesen.
Verdammt!
Sie steht auf und spürt den Ruck und die Bettkante in ihren Kniekehlen, bestimmt hat sie rote Streifen auf der Haut, mal wieder rote Haut, immer woanders. Drüben auf dem Fernsehtisch steht noch ein bisschen Russian Standard, gleich neben der Serviette mit den Ölsardinenresten. Sie geht zum Tisch und trinkt den Zahnputzbecher in einem Zug aus, riecht beim Trinken das muffige Glas, sogar das Scharfprozentige kann den fahlen kleinen Gestank im Becher nicht überdecken, noch nicht mal der widerwärtige Fischgeruch im Zimmer. Sie hat noch fünf Flaschen dabei, alle zum Einkaufspreis, fünf Flaschen lang kann sie noch bleiben.
Und die Kneipe?
Sie pfeift auf die Kneipe, und die Männer können sich ruhig wundern, wenn Ennas Ende am Montag zubleibt, sogar noch am Dienstag. Die Männer können sich ruhig auch mal wundern. Wenn sie damit aufgehört haben, wird sie sowieso wieder zurück sein und die Männer können so lange ihre halben Liter trinken, bis dass der Tod entscheidet.
Der Ball fliegt gegen die Tür, der Knall schlägt ihr die Männer weg. Draußen auf dem Gang ist was los. Sie hört die Stimme des Möchtegern-Direktors, es geht ums Internet, um den Handyempfang, aber da ist nicht viel zu holen, das hat sie längst begriffen, kein Internet, kein Empfang, nichts. Angeblich funktioniert das Festnetz, zumindest hat das die Wirtin vorhin behauptet. Aber Enna ist nicht hier, um anzurufen, kein Stück. Von denen, die sie erreichen will, würde sowieso keiner ans Telefon gehen.
Der Ball.
Dieser Ball, immer wieder.
Ab, ab, ab.
Stimmen hört sie, einer brüllt: »Pack deinen elenden Ball weg, hör endlich auf, das hält ja kein Mensch aus.« Es könnte der junge Sportliche sein, denn den anderen Kerl, der altersmäßig zu der Stimme passen würde, kann man schließlich nicht für voll nehmen, am Ende weiß er noch nicht mal, wie Sprechen geht. Schüchterner Kerl! Wie auch immer, es war eine einigermaßen junge Stimme, die da draußen geschrien hat, und ein bisschen mehr Geduld könnte wirklich nicht schaden.
Ruhe bitte, denkt sie.
Und dass sie frei ist, denkt sie.
Man ist frei, wenn es einen nicht kratzt, dass man in einer Spelunke festsitzt, an einem hell erleuchteten Schutzmittelnachmittag, Ruhe bitte! Ruhe. Aber wenigstens ist es billig hier. Sie wäre nie im Leben in die Pension Bertoldi gefahren, wenn sie nicht diese Broschüre im Briefkasten gehabt hätte, ein schlechter Druck, erstaunlich altmodisch. Copyshop. Im Netz hat sie nicht viel gefunden, nur eine Seite, die schon länger nicht mehr erneuert worden war. Alle Fotos waren alt und die Pension auf den Bildern schien noch gut in Schuss zu sein, frühe Neunziger, alles nicht mehr wahr.
Aber warum soll sie sich aufregen? Es war der Preis, der gestimmt hat. Dafür, dass man ihr so viele E-Mails an ihre Kneipenadresse geschickt hat, ist der Service natürlich mehr als dürftig, zehn E-Mails sind es mindestens gewesen. Sie hat auch gar nicht gewusst, was man auf so viele Nachfragen antworten soll, Handtuchfragen, Frühstücksfragen, Parkplatzfragen, und mehr als zwei Sätze hat sie nie zustande gebracht.
An der Wand hängen zwei Plastikrahmen, einer mit gepressten Schlüsselblumen und einer mit einem vergilbten Wasserfarbenbild, ein Schloss im Wald, Bleistifttitel: FDGB- Erholungsheim Rudolf Breitscheid, Salzruh. Enna hat das Schloss gesehen, gleich nach ihrer Ankunft, es steht drüben im Wald, zumindest die Türme kann man von hier aus erkennen. Jemand hat gesagt, dass es leer steht, aber auf dem Bild kann sie sehen, dass es früher gut besucht war, vor dem Schloss laufen lauter kleine Figuren herum, wuselnde Insekten.
Sie steht immer noch da, so ein Tag kann lang sein, alles kann so entsetzlich lang sein, das ganze Leben. Ihr Leben. Sie weiß nicht, womit sie das füllen soll. In ihrer Kneipe wäre das kein Problem, aber hier? Noch mal nachschenken, noch mal trinken in kleinen, schnellen Zügen, mit dem fast leeren Becher die zwei Schritte bis zum Fenster gehen, im Qualm stehen und nach draußen ins Klare sehen, sich selber füllen, damit auch der Tag gefüllt ist, Herbertchen, sag, was ist das bloß für ein Leben?
Ihr Blick fällt auf die rostige Schaukel, die früher mal blau gewesen sein muss, wahrscheinlich ist sie so alt wie der Wohnwagen, der ein paar Meter weiter rechts steht, sie tippt auf die Siebziger, reinste DDR. Später, nach den Siebzigern, wird das aussortierte alte Ding dann einfach im Garten geblieben sein, wer weiß, wie teuer es auf den Schrottplätzen in der Altmark zugeht.
Bei ihr am Heiderand hat es so etwas nicht gegeben, das wüsste sie aber. Wollweiß ist der Wohnwagen und mit einem breiten dunklen Streifen und verschroben klein, einer zum Anhängen ist dieser Wohnwagen, an der Seite ganz rundlich und vorne eine helle Tür und ein kleines Fenster mit einer Gardine aus hornalten Zeiten. Und genau hinter der vergilbten Gardine, genau hinter dem Fenster des Wohnwagens kann sie plötzlich noch etwas anderes erkennen, nur kurz zwar und verschwommen, aber dann wieder so deutlich, dass sie einen kleinen unnötigen Schrei ausstößt, der hinten herunterfällt, zusammen mit dem ganzen herrlichen Zahnputzbecher, und Enna Buchtinger, für die jeder Milliliter eine Festung ist, Enna Buchtinger verliert zwei Schluck ihrer kostbaren, kostbaren Ration.
»DENWOHNWAGENHATTENWIR auch«, hört Veronika Trommer ihren Mann sagen, er erklärt es dem, über den er längst eine Meinung hat. Sie kennt ihren Mann, nach fünfzig Jahren Ehe weiß sie, was er über jemanden wie den jungen Kerl denkt: hölzern wie eine alte Schaluppe, und ihr Mann fügt hinzu, »ein Prachtexemplar, Qek Junior, mittlere DDR, damals wie heute ein starkes Modell.«
Es ist schon dunkel.
Es ist Abend geworden in der Pension Bertoldi.
Zu dritt sitzen sie im Frühstücksraum, Veronika, ihr Gatte und der junge Mann mit dem sorgfältig an der Mode vorbeigekleideten Körper, dabei ist er höchstens dreißig. Ach komm. Noch nicht mal. Lass ihn achtundzwanzig sein. Trotzdem trägt er eine bräunlich getönte Brille, sie versteht diese Brille nicht, auch nicht die schwarzen Haare, die er zu etwas Schüchternem zurechtgekämmt hat, es ist wahr, der junge Mann hat eine schüchterne Frisur.
Sie hat ihn sofort gemocht.
Als er vorhin in den Frühstücksraum kam, hat er sich von Tisch zu Tisch gezögert, bis er sich schließlich zu ihnen gesellt und dann im Sitzen weitergezaudert hat. Wahrscheinlich, weil sie alle nicht hierhergehören. Tisch eins und Tisch fünf sind jetzt Tisch drei, und so etwas ist in der Pension Bertoldi streng verboten. Komische Sitten sind das hier, fast wie früher. Tatsächlich ist das Zimmermädchen Maria Rosa gleich auf ihre kleine Gesellschaft zugesteuert, hat die Arme direkt unter dem schürzenblauen Busen verschränkt, der dadurch gefährlich weit nach oben gedrückt wurde, und dann triumphierend gesagt: »Aber morgen Früh werden Sie wieder platziert, Sie freche Bande!«
Der junge Mann ist mit erhobenen Händen von seinem Stuhl aufgesprungen, aber gleich darauf von Veronikas Mann am Oberarm festgehalten und wieder nach unten gezogen worden.
Nicht, wie das ein Freund täte.
So, wie das Veronikas Mann tut.
Und jetzt sitzen sie schon seit einer halben Stunde hier und teilen mit dem jungen Mann den Proviant, den sie eigentlich für den Ausflug zum Erholungsheim mitgenommen hatten. Vor dem ersten Leberwurstbrot war der junge Mann noch namenlos, seit dem zweiten heißt er Robert Pawellek, er heißt so, seit ihr Mann ein wenig zu plötzlich und viel zu förmlich gesagt hat: »Trommer, ich bin übrigens Gerhard Trommer. Aus Ladeburg. Jerichower Land.« Der junge Mann heißt so, seit er mit einer Stimme, die eher ein Stimmchen war, geantwortet hat: »Robert Pawellek. Ich bin Chemiker. Ich komme nicht aus Leuna.«
Auf dem Tisch liegen Servietten und auf den Servietten hartgekochte Eier und kleine Würstchen, sogar ein paar Partytomaten, das hätte es früher nicht gegeben. Vorhin hat das Zimmermädchen Maria Rosa noch einen Pappteller mit neuen Ölsardinenbroten dazugestellt, wobei neu wahrscheinlich maßlos übertrieben ist, aber einen Teufel wird Veronika tun, ihr rumort es immer noch im Magen von der ranzigen Mittagsportion. Nicht zu glauben, wie viel Geld sie dafür früher im Delikat ausgegeben hat. Aber da waren sie auch noch halbwegs frisch, die guten Sardinen, die überhaupt nur für runde und halbrunde Geburtstage geangelt wurden. Jugendweihe vielleicht noch. Langsam bekommt sie Angst, dass das Bollchenwasser nicht reichen wird, sechs kleine Flaschen sind wenig, außerdem gehen die Stullen allmählich zur Neige, und ihr Mann hat Veronika auch diesmal nicht vorgestellt.
Die Pension Bertoldi ist zur Ruhe gekommen, nachdem es in den letzten Stunden tüchtig Theater gegeben hat. Veronika selbst hat aber nur dabeigestanden, ganz für sich. Ganz ohne Gerhard. Drüben am Empfang war es zu einem kleineren Aufstand ohne nennenswerte Verletzte gekommen. Das adrette junge Paar, der alte Unruhestifter, die Mutter ohne den kleinen Ballspieler, alle haben sie auf die Pensionswirtin eingeredet, fast eingeschrien, bis diese kalt und schulterzuckend gesagt hat: »Bitte, na los, gehen Sie, gehen Sie ruhig nach draußen. Ich verspreche Ihnen, Sie werden nicht weit kommen. Wer sich außerhalb der Pension aufhält, befindet sich in Lebensgefahr. Schreiben Sie doch eine Eingabe, wenn es Ihnen nicht passt!«
Dann hat die Wirtin noch etwas anderes, für ihr Alter viel zu Hochtrabendes gesagt, und Veronika weiß, dass sie ein paar dieser Worte schon einmal gehört hat, früher, in einer fernen, trüben Zeit. »Wenn Sie gehen«, hat die Wirtin gerufen und dabei drohend den jugendlichen Zeigefinger erhoben, »dann tun Sie das frei und aus eigenem Entschluss. Es muss Ihre Entscheidung sein. Ihre Überwindung. Wer nichts riskiert, kommt nicht in den Wald rein. So, jetzt wissen Sie alles. Hören Sie auf, mich zu nerven. Hören Sie auf, hier alles durcheinanderzubringen.«
Seitdem hat keiner das Gebäude verlassen, zumindest vermutet Veronika die übrigen Gäste in ihren Zimmern, nur das Kind ist jetzt irgendwo im Haus unterwegs und knallt seine Ballgeräusche vor sich her. Der Junge kommt ihr zu alt für diese Störungen vor, aber seine Mutter hat ihr auf dem Gang erzählt, dass er Basketballer bei den Junioren ist, und vielleicht ist das so und man muss es einfach akzeptieren. Wahrscheinlich sind zehnjährige Basketballer einfach immer im Dienst.
Veronika hat die Leberwurstbrote satt.
Die alten Schnittlauchkrümel darauf.
Den kleinen, lästigen Ballspieler.
Sie weiß, dass sie nicht die Einzige ist, denn immer, wenn in der Ferne das Ballgeräusch zu hören ist, zuckt etwas in Robert Pawelleks Gesicht. Der junge Mann kaut und hält den Mund dabei streng verschlossen, nur manchmal, wenn Gerhard wieder einen Redeabschnitt erfolgreich zu Ende gebracht hat, nickt er kurz, räuspert sich manchmal sogar, schafft es aber nicht, einem der Tischgesichter in den Blick zu sehen.
Frei und aus eigenem Entschluss.
»In die Altmark sind wir gekommen«, sagt ihr Mann jetzt, so als hätte hier irgendjemand gefragt, warum sie in die Altmark gekommen sind, »weil wir nächste Woche Goldene Hochzeit feiern. Das ist auch unser Reisegrund im Formular. Es wird ein großes Fest geben, in so einer Ehe sammeln sich ja, wenn man alles richtig macht, viele Leute an. Wir haben sogar eine Sängerin aus der Region gebucht.«
Robert Pawellek versucht eine lichtlose Sorte Lächeln, eine Sorte ohne Augen, aber es sieht trotzdem gut aus, er kann diese kleinen Lächeln tragen.
»Wir haben es immer recht gut gehabt miteinander«, macht ihr Mann, der sich in eine milde Rage geredet hat, weiter. »Wir haben eine gute Ehe gehabt.«
Er sagt es fast streng und klopft sich dann, einen Mundwinkelzug freundlicher schon, mit der rechten Hand anerkennend auf die eigene linke Schulter, denn fünfzig Jahre sind fünfzig Jahre und nicht zu verachten.
Wie gelenkig er für solche Anlässe noch sein kann.
Lächerlich.
Veronika sieht zum Fenster und in den Garten, der Abend ist dunkel und klar und von einem halben Mond beschienen. Von den Tischblumen her riecht es nach dem Parfüm alter Frauen, das bildet sie sich sicher nur ein, es ergibt einfach keinen Sinn. Sie ist jetzt selbst eine alte Frau, auf ihrem Leben liegen Schnittlauchkrümel. Parfüm benutzt sie nie.
Draußen der alte Wohnwagen wirkt so friedlich, wie es ihre eigenen Reisen im Qek Junior niemals waren, da kann ihr Mann behaupten, was er will. Sie haben es auch insgesamt höchstens bis in die Altmark geschafft, ein Witz, verglichen mit der ganzen großen Welt, mit dem ganzen großen Leben da draußen, letzte Ausfahrt Arendsee. Jedes Mal sind sie nur auf diesem flachen Fleckchen Erde gewesen, nie am Strand bei Burgas, haben nie eine echte Palme gesehen, immer nur so künstliches Zeug wie die Palme hier im Frühstücksraum. Dabei waren auch die Urlaube im Wohnwagen schwer zu beschaffen und nur möglich, wenn sie vorgebucht hatten, also rechtzeitig einen Antrag auf einen Stellplatz verschickt hatten, Antrag auf Campinggenehmigung, spätestens Anfang Dezember, Zeiten waren das!
Erichs Zeiten.
Hinterm Fenster rührt sich nichts, die Dunkelheit bewegt sich keinen Millimeter, der Mond bleibt hängen. Keine Wolken in Sicht. Und plötzlich sieht sie, plötzlich fühlt sie etwas, sie fühlt, dass da ein altes, heißes Herz in ihr schlägt und dass das alte, heiße Herz kurz aussetzt, sie weiß nicht, was eher da war: das, was sie da draußen sieht, oder das, was ihr Herz ihr zumutet. Und sie will etwas sagen und schafft nur ein einziges Wort: »Gerhard!«
Zu leise.
Sie sagt es nicht, sie atmet es.
Ein vergebens geatmeter Name.
Zeitgleich mit ihrer ersten Silbe fängt ihr Mann einen neuen Beitrag an und erzählt dem jungen Robert Pawellek, dass sie hierhergekommen sind, um nach drüben ins FDGB-Erholungsheim Rudolf Breitscheid zu wandern. Es heißt nicht mehr so, natürlich nicht, und es steht seit Jahrzehnten leer, vor allem aber steht es noch, unsprengbar, kein Lärm nach allen drei Zündungen, nichts. Das hat er in der Zeitung gelesen, das hat er alles ausgeschnitten.
»Wenn es draußen nicht so dunkel wäre, könnte man die Türme hinten rechts noch deutlicher sehen«, sagt Gerhard. »Das Mondlicht ist zu schwach.«
»Ich weiß, wie das Heim aussieht«, sagt der junge Mann. »Es sieht … also, na ja, es sieht wie ein Schloss aus, eigentlich zum Fürchten. In meinem Zimmer hängt ein Bild davon, es ist nicht weiter schön. Was heißt das noch gleich: FDGB? Ich wusste das mal. Ich wusste das alles mal.«
»Freier …«, sagt Veronika, ihr Herz schlägt wieder, es hat nur wenige Hiebe ausgesetzt, in den Beinen kann sie die Angst noch fühlen.
»… Deutscher Gewerkschaftsbund«, fällt ihr Mann ihr ins Wort, »kennen Sie nicht mehr, brauchen Sie auch nicht zu kennen, Sie sind zu jung dafür, seien Sie froh. Vielleicht sagt Ihnen der FDGB-Feriendienst etwas. Wer in der DDR verreisen wollte, musste einen Antrag stellen, ärgerlicher Mist, und wenn er Glück hatte, gab’s dann einen Ferienscheck, aber wir haben bei so was sowieso nie mitgemacht.«
»Ich, also, na ja. Ich weiß eigentlich, wie das war«, sagt der junge Pawellek. »Meine Tante hat früher in so einem Heim gearbeitet. In Gernrode. Ich habe nur nicht mehr gewusst, was die Abkürzung bedeutet.«
Gerhard lächelt den jungen Mann und dann Veronika an, an seinen Zähnen kleben kleine Bröckchen von Ei und Wurst, sie ekelt sich vor der Speisekammer seines Mundes. Dann fragt er: »Also, wo war ich stehen geblieben?« »Ah, ich weiß. FDGB. Wir haben bei so was nicht mitgemacht. Sind auf den Campingplatz gefahren oder woandershin, und was soll ich sagen, den Kindern und der Frau hat’s gefallen.«
»Gerhard«, hört sich Veronika sagen, sie ist die Frau, und die Frau sagt etwas.
»Aber einmal, 1970«, macht Gerhard Trommer weiter, »waren wir hier in dieser Pension und wurden prompt nach drüben ins Breitscheid-Heim geschickt, fragen Sie mich nicht, keine Ahnung, es war wohl ein Geschenk des Hauses. Dabei war es immer genau umgekehrt. Eigentlich hatten diese Heime immer zu wenig Zimmer und die Leute mussten sich mit Außenbetten begnügen und wurden in den Dörfern untergebracht, na, ein Dach hatten sie wahrscheinlich schon, oben über den Außenbetten, aber wir haben bei so was ja sowieso nicht mitgemacht.«