Das hier ist kein Tagebuch - Erna Sassen - E-Book

Das hier ist kein Tagebuch E-Book

Erna Sassen

4,8

Beschreibung

Gleich zweimal nominiert für den Jugendliteraturpreis 2016 in der Kategorien Preis der Jugendjury und Kritikerjury Jugenbuch. Er tut es widerwillig, aber doch. Tag für Tag zeichnet Boudewijn auf, was mit ihm los (bzw. nicht los) ist, was er fühlt (oder nicht fühlen kann), weil das passiert ist: Seine Mutter hat sich umgebracht. Schreibend, denkend und erinnernd löst er sich allmählich aus der Starre einer tiefen Depression. Und die Wut auf diese "dumme egoistische Kuh!" weicht echter Trauer.

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Seitenzahl: 129

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Sammlungen



ERNA SASSEN

DAS HIER IST KEIN TAGEBUCH

AUS DEM NIEDERLÄNDISCHEN

VON ROLF ERDORF

VERLAG FREIES GEISTESLEBEN

Inhalt

Cover

Titel

7. Februar

8. Februar

9. Februar

10. Februar

11. Februar

12. Februar

13. Februar

14. Februar

15. Februar

16. Februar

17. Februar

18. Februar

19. Februar

20. Februar

21. Februar

22. Februar

23. Februar

24. Februar

25. Februar

26. Februar

27. Februar

28. Februar

1. März

2. März

3. März

4. März

5. März

6. März

7. März

8. März

9. März

10. März

11. März

12. März

13. März

14. März

15. März

16. März

17. März

18. März

19. März

20. März

21. März

22. März

23. März

24. März

25. März

26. März

27. März

28. März

29. März

30. März

31. März

1. April

2. April

3. April

4. April

5. April

6. April

7. April

8. April

9. April

10. April

11. April

12. April

13. April

14. April

15., 16., 17., 18. und 19. April

20. April

21. April

22. April

23. April

24. April

25. April

Über die Autorin

Impressum

7. FEBRUAR

Das hier ist kein Tagebuch.

Ich sage es bloß der Deutlichkeit halber dazu.

Mal angenommen, jemand gräbt es in hundert Jahren zufällig aus und denkt:

„Nein, wie erbärmlich! Ein Sechzehnjähriger, der Tagebuch geführt hat!“

Ich bin weder erbärmlich, noch führe ich Tagebuch. Das hier ist ein Heft.

Und ich schmiere es voll, weil mein Vater mir ein Ultimatum gestellt hat.

Ein Ultimatum ist (soviel ich weiß) eine allerletzte Forderung, die man bei Verhandlungen mit Kriminellen wie Flugzeugentführern oder sonst wie gearteten Terroristen stellt. Und wenn dieser Forderung nicht entsprochen wird, gibt es KRIEG.

Ich bin kein Verbrecher, auch wenn ich viele Dinge falsch mache.

In letzter Zeit mache ich die Dinge in erster Linie nicht. Wenn man etwas nicht tut, kann man es auch nicht falsch machen, könnte man vielleicht meinen. Aber da täuscht man sich. Etwas nicht zu tun ist manchmal schon ein Verbrechen an sich.

Deinem Vertrauenslehrer nicht zu erzählen, dass dein Freund zu Hause zusammengeschlagen wird, ist ein Verbrechen. Logischerweise. Aber: Nicht zur Schule gehen, nicht essen, nicht schlafen, nicht reden, nicht wollen, nichts wollen, einfach überhaupt NICHTS, das ist auch falsch.

Dann bekommt man ein Ultimatum aufgetischt. Von einem besorgten Elternteil, der das Beste für einen will. „Ist mir piepegal, wie du deine Tage verbringst!“, brüllte besagter besorgter Papa, „aber ab jetzt schreibst du jeden Tag etwas in dieses Heft. Egal, ob du Lust hast oder nicht. Darüber, was du getan hast, oder gefühlt oder gedacht. Und du hörst dir jeden Tag mindestens eine von diesen CDs an. Falls nicht, dann lasse ich dich in eine psychiatrische Anstalt einweisen!“ Er knallte das Heft auf mein Bett und einen Stapel CDs auf meinen Schreibtisch. Eher ödes Zeugs, sagen wir mal. (Er hat auch nicht-öde: Judas Priest, Iron Maiden, Einstürzende Neubauten.) (Spielt er übrigens nie.) (Nur im Auto, wenn er wach bleiben muss. Oder wenn er so richtig sauer ist.) Nicht dass ich im Augenblick Lust auf derlei Lärm um die Ohren hätte, aber trotzdem. In meinem Alter sehnt man sich nicht unbedingt nach Vivaldis Vier Jahreszeiten oder Bruchs Violinkonzert. Obwohl das Letzte ziemlich schön ist; ich kenne es zufällig.

Das mit der psychiatrischen Anstalt nahm ich natürlich nicht ernst.

Bis zum nächsten Tag, als mein Vater kam und meine „Hausaufgaben“ kontrollierte. Er war wütend. (Ich hatte sie nicht gemacht.)

Er zeigte mir seinen Kalender, in den er einen Termin für ein Kennenlerngespräch mit einem Freund ein getragen hatte, einem Psychiater beim Psychiatrischen Gesundheitsdienst in Amsterdam. Er sagte: „Ich habe dein Verhalten jetzt lange genug toleriert!“

Und: „Wenn du weiter hier wohnen willst, musst du selbst die Verantwortung für deine Gesundung übernehmen. Jeden Tag schreiben und dir eine CD anhören. Sonst lasse ich dich einweisen.“

Gesundung.

Als ob ich krank wäre.

Ich dachte rasend schnell nach und schrieb dann mit Riesenbuchstaben auf die erste Seite:

und zeigte das meinem Vater.

Er schwieg eine Weile und sagte dann: „Ich muss es nicht wirklich lesen. Ich meine einfach nur, dass du ab und zu jemandem zeigen musst, dass du etwas hineinschreibst. Marjan oder Fussel zum Beispiel.“ Ich nickte kaum merklich. Um zu zeigen, dass ich tun würde, was er von mir verlangte, allerdings unter Protest und mit mächtigem Widerwillen.

Na denn. Mir bleibt wohl nichts anderes übrig.

Nichts gemacht heute.

Gestern auch nichts gemacht.

Und vorgestern auch nicht.

Ach ja. Pergolesi gehört. Stabat Mater. (D.h., die halbe CD.)

Ich dachte, ich fange gleich mit dem Allerschlimmsten an, dann haben wir das schon mal hinter uns.

Außerdem lag sie obenauf.

Ganz übler Titel, Stabat Mater.

Aber gut. Musik ging sogar.

Hat mich an ausländische Thermalbäder erinnert: so prunkvolle Kurorte mit Säulengalerien und Marmorfußböden, wohin die Leute kommen, um von diesem oder jenem geheilt zu werden. (Und nicht, um untereinander Socializing zu betreiben.)

(Ist verboten in den Terminalbädern von Pergolesi, Socializing.)

Und vorgestern ein Ei für meine kleine Schwester gebraten.

8. FEBRUAR

Die kleinen Schwestern, sie leben hoch.

Alle kleinen Schwestern auf der ganzen Welt sollen hochleben,

aber besonders meine.

Sie ist sieben Jahre alt und wir nennen sie Fussel, aber sie heißt Doris; offiziell Dolores, denn das wollte meine Mutter gern. Bloß war es völlig daneben. Dolores, das ist ein Name für eine dicke fünfzigjährige spanische Hure mit schwarzblauem Haar und Doppel-D.

Meine Schwester hatte bei ihrer Geburt kaum Haare, aber das bisschen, was sie hatte, war strahlend weiß und fusselig. Daher ihr Spitzname.

Nichts gemacht heute.

Nichts gedacht, nichts gefühlt.

Und der Tag ist auch einfach vorbeigegangen, Gott sei Lob und Dank.

Jeder Tag geht von selbst zu Ende, das hat er gut geregelt.

Keine Musik gehört.

Zu müde.

9. FEBRUAR

Die Bedeutung einer Mutter wird m. E. schwer überschätzt.

Meines Erachtens: ein angenehmer Begriff, finde ich. Hat etwas Ruhiges und Gelassenes.

Das passt zu mir. Ruhig und gelassen wie ein alter Sack. Ein alter Sack war ich schon mit drei. Vielleicht wurde ich ja so geboren. Bis weit in mein drittes Lebensjahr hinein habe ich nicht ein Wort gesagt und nicht einen Schritt gemacht, sagt meine Oma. Nicht dass ich es nicht gekonnt hätte, reden und laufen: Ich mochte nur einfach nicht. Scheint für ein fast vierjähriges Kind sehr außergewöhnlich zu sein. Daher die Vermutung in Richtung alter Sack.

Gut, eine nette Mutter, an der hat man was.

Aber wo findet man die heutzutage noch?

(Auch so ein Ausdruck, der beruhigt.)

Heutzutage finden sich fast keine Mütter mehr, die einen nachmittags mit einer Tasse Tee erwarten, wenn man aus der Schule kommt.

Die gemütliche Mutter gehört zu einer aussterbenden Art.

Derzeit gibt es:

die ehrgeizige, hochgebildete Mutter mit einer 40 stündigen Arbeitswoche

die geschiedene Mutter mit einer 40-stündigen Arbeitswoche

die reiche Mutter mit einer 60-stündigen Fitness- und Beauty-Woche.

Und die Hartz-IV-Mutter gibt es auch noch. Aber auch die ist den ganzen Tag auf Achse, sich irgendwo bewerben.

Vielleicht sollten wir sie in einem Reservat züchten, nette Mütter.

Und sie anschließend im Wattenmeer aussetzen.

Fühle mich: müde.

Müde ist kein Gefühl, sagt mein Vater. Er hat unrecht.

Müde ist ein alles beherrschendes Mistgefühl.

Pergolesi gehört. Stabat Mater, nur die Intros.

Klassische Musik an sich ginge ja, aber dass sie dazu auch noch singen, müsste verboten werden. Gilt besonders für Frauen. Die muss man ganz leise drehen, damit man sie ertragen kann. (Je höher, desto leiser.) War ne Menge Arbeit, so von Intro zu Intro zappen. Hat mich sehr müde gemacht.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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