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Wenn mitten in der Nacht das Telefon klingelt, ist hundertprozentig Reva dran. Und Marjolein ist wieder einmal hauptsächlich als Echo gefragt. (Fast) alles, was sie zu den Problemen ihrer jüngeren Schwester sagen kann, wird als Bestätigung des Negativen verbucht. Und Probleme hat Reva mehr als genug: mit dem Essen, mit ihrem Verhältnis zu Männern und an der Schauspielschule. Ist sie überhaupt jemand, wenn niemand sie sieht? Wie kann sie ihren Hunger nach Leben befriedigen?
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Seitenzahl: 189
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Erna Sassen
KOMM MIR NICHT ZU NAHE
Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf
Verlag Freies Geistesleben
Cover
Titel
- EINS -
- ZWEI -
- DREI -
- VIER -
- FÜNF -
- SECHS -
- SIEBEN -
- ACHT -
- NEUN -
- ZEHN -
- ELF -
- ZWÖLF -
- DREIZEHN -
- VIERZEHN -
- FÜNFZEHN -
- SECHZEHN -
- SIEBZEHN -
- ACHTZEHN -
- NEUNZEHN -
- ZWANZIG -
- EINUNDZWANZIG -
- ZWEIUNDZWANZIG -
- DREIUNDZWANZIG -
- VIERUNDZWANZIG -
- FÜNFUNDZWANZIG -
- SECHSUNDZWANZIG -
- SIEBENUNDZWANZIG -
- ACHTUNDZWANZIG -
- NEUNUNDZWANZIG -
- DREISSIG -
- EINUNDDREISSIG -
- ZWEIUNDDREISSIG -
- DREIUNDDREISSIG -
- VIERUNDDREISSIG -
- FÜNFUNDDREISSIG -
- SECHSUNDDREISSIG -
- SIEBENUNDDREISSIG -
- ACHTUNDDREISSIG -
- NEUNUNDDREISSIG -
- VIERZIG -
- EINUNDVIERZIG -
- ZWEIUNDVIERZIG -
- DREIUNDVIERZIG -
- VIERUNDVIERZIG - EPILOG
Fussnoten
Impressum
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«Ich brauche ein neues Gebiss!»
«Reef, es ist mitten in der Nacht …»
«Das weiß ich, ich liege ja schon stundenlang wach. ICH HABE NOCH NICHT MAL DEN FÜHRERSCHEIN UND BRAUCHE SCHON EIN GEBISS!»
«Kronen, dachte ich.»
«Das ist genau dasselbe!»
«Aber das weißt du doch schon lange! Warum flippst du denn mit einem Mal so aus?»
Vor zwei Wochen ist ein Dokumentarfilm über junge Theaterschaffende im Fernsehen gelaufen, für den auch meine Schwester interviewt worden war. Sie sah sehr eigenartig aus. Als ob sie oben überhaupt keine Schneidezähne hätte. Selbst ihrer 92-jährigen Nachbarin war das aufgefallen, « … und die ist beinahe blind!»
Dem Zahnarzt zufolge, vor dessen Tür sie gleich nach der Sendung bis zum Morgen im Schlafsack genächtigt hatte, hat Reva ihre Zähne «aufgeknirscht», das heißt, durch Zähneknirschen im Schlaf ist ihr Gebiss an der Innenseite stark abgenutzt. Ihre Schneidezähne sind dadurch so dünn geworden, dass grelles Theater- oder Studiolicht durch sie hindurchleuchtet. Die einzige Möglichkeit, das zu beheben, ist laut Zahnarzt: alle Elemente beschleifen und überkronen.
«Ich bin viel zu jung für ein künstliches Gebiss!»
Da bin ich ganz ihrer Meinung, aber es zu bestätigen macht keinen Sinn, dann hängen wir beide nämlich noch bis zum Morgen jammernd am Telefon.
«Du hättest auch eines der Opfer des Feuers in dieser Volendamer Kneipe sein können», sage ich. Nicht sonderlich brillant, aber etwas anderes fällt mir so schnell nicht ein.
Sie muss kurz nachdenken. «Nein, unmöglich, dazu bin ich zu jung. Und ich gehe nie in Kneipen.»
«Aber du weißt, was ich meine.»
«Du meinst, noch schlimmer geht immer. Ich hätte auch ein Kindersoldat ohne Arme und Beine sein können. Vielen Dank!» Sie legt auf.
Als ich beinahe eingeschlafen bin, ruft sie wieder an. Diesmal weinend.
«Ich schäme mich so!»
«Warum?», frage ich möglichst ruhig. Sich aufzuregen ist zu diesem Zeitpunkt gefährlich. Aufregung, davon bekommt man einen Adrenalinkick. (Könnte ich auch gleich aufstehen und das Haus von oben bis unten sauber machen.) «Du kannst doch nichts dafür, dass du im Schlaf mit den Zähnen knirschst?»
Aber es ist auch nicht das, weswegen sie sich schämt.
Am Nachmittag war Reva bei dem «beratenden Zahnarzt» gewesen, einem, der die Krankenkasse bezüglich der Erstattung oder Nicht-Erstattung zahnärztlicher Leistungen berät. Der Mann hatte sie gefragt: «Haben Sie oft Metallgegenstände im Mund?»
Meine Schwester verstand die Frage nicht.
«Sie haben keinen Zahnschmelz mehr an der Innenseite ihrer oberen Zähne», erläuterte ihr der Arzt, «darum frage ich: Haben Sie oft Metallgegenstände im Mund? Schlüssel oder so?»
Reva musste zunächst lachen. Sie sah sich schon Bierflaschen mit den Backenzähnen öffnen.
«Oder trinken Sie sehr oft saure Getränke?»
Da klingelte es bei ihr. Oder sagen wir ruhig, der Alarm ging ab.
Widerwillig hatte sie erzählt, dass sie sich ziemlich oft übergab.
Der Arzt verzog keine Miene nach diesem Bekenntnis, sondern fragte nur: «Und putzen Sie sich danach sofort die Zähne?»
Ja, natürlich tat sie das immer unmittelbar danach! Dieses Sich-Übergeben war nämlich eine ziemlich eklige Angewohnheit, selbst ihrer Meinung nach.
Trotzdem hätte sie das besser unterlassen, stellte sich jetzt heraus, denn nach dem Genuss von Apfelsinen und nach dem Trinken oder Erbrechen saurer Flüssigkeiten wie Zitronensaft oder Magensäure ist es von großer Wichtigkeit, erst «dem Speichel die Gelegenheit zu geben, seine Reparaturarbeiten zu verrichten», ehe man sich die Zähne putzt. «Sonst putzen Sie die von der Säure bereits aufgeweichten Zähne noch weiter kaputt.»
Also darum ist meine Schwester so aus der Fassung.
Weil ihr klar geworden ist, dass sie dieses neue Gebiss mehr oder weniger sich selbst zu verdanken hat.
«Es ist eine Strafe Gottes», jammert sie.
«Ich habe gar nicht gewusst, dass du an Gott glaubst.»
«Tue ich normalerweise auch nicht. Nur in Fällen wie diesem.»
In den Straffällen also. Revas Gott ist offenbar ein strenger Geselle.
«Wofür hast du die Strafe denn verdient?», frage ich.
«Das sagt er nicht dazu. Aber so fühlt es sich an. Wie eine Strafe.»
«Das heißt, du und dein Schuldgefühl, ihr habt schon eine Ahnung, weswegen?», reite ich noch ein wenig darauf herum.
«Wegen Lug und Betrug.»
«Und wen betrügst du?»
«Dich und Mama.»
Reva ist anderthalb Jahre jünger als ich.
Sie raubt mir schon mein ganzes Leben lang den Schlaf.
Als sie noch klein war, tat sie das, indem sie wirklich alles mit einem Fragezeichen versah und zur Diskussion stellte.
Eine meiner frühesten Erinnerungen ist, dass sie, noch keine drei Jahre alt, lauthals durch ein volles Eisenbahnabteil trompetete: «War das jetzt Papa, der die Pfeffernüsse gestreut hat? Oder der Zwarte Piet?» Ich war schockiert. Hatte selbst die schwarze Hand gesehen. Welcher Idiot zweifelte denn am Nikolaus und seinem Knecht?
Später drehten sich ihre Fragen um Gott, den Tod und um andere schwere Themen, über die ich als Kind aus eigenem Antrieb nie nachdachte.
Heutzutage kommt sie in der Hauptsache telefonisch damit an, und vorzugsweise mitten in der Nacht.
Wenn meine Schwester müde ist, geht sie wie die meisten Menschen ins Bett, um zu schlafen. Nur schläft sie dann nicht. Denn wenn es dunkel ist und ruhig im Haus, wird Reva erst richtig wach. Dann fragt ihr Gehirn: «He, was soll das? Gibt es jetzt nichts mehr zu erleben?!», und dann denkt sie sich selbst etwas aus. Das heißt, dann entstehen in ihr die besten, aber oft auch die allerschlechtesten Ideen.
Mit den allerschlechtesten Ideen meine ich keine unbrauchbaren Theatertexte oder albernen Witze, über die man schon am nächsten Morgen nicht mehr lachen kann; wäre es nur so.
Mit allerschlechtest meine ich destruktiv. Negative, deprimierende Gedanken darüber, was sie alles falsch gemacht und Verkehrtes gesagt hat, was an ihrem Äußeren nicht stimmt und wer sie alles auf den Tod nicht ausstehen kann, und immer bringt sie sich damit selbst im Handumdrehen an den Rand des Abgrunds.
Und dann ruft sie mich an.
Oder vielleicht erst einen guten Freund oder eine gute Freundin, der oder die so vernünftig ist, nachts das Telefon auszuschalten, und anschließend mich.
Ich könnte mein Telefon nachts ja auch ausschalten.
Darüber habe ich oft nachgedacht.
Aber ich tue es nicht.
Es ist erst sieben Monate her, dass Reva aus der psychiatrischen Klinik entlassen wurde, wo man sie wegen einer akuten Psychose behandelt hat.
Ich glaube, sie hat mir jedes Mal, wenn ich sie dort besuchte, an den Kopf geworfen: «Du bist schuld, dass ich hier sitze!»
Zum Teil hatte sie damit recht.
Ich war seinerzeit dafür verantwortlich, dass die Krisennummer des sozialpsychiatrischen Diensts angerufen wurde, woraufhin jemand kam und ihr eine Spritze gab und man sie mit der Ambulanz weggefahren hat.
Allerdings war nicht ich daran schuld, dass das nötig war.
Lange Zeit habe ich gedacht, der DJ sei schuld gewesen.
Das «D» und das «J» in «DJ» sind zwar keine englischen Initialen, sie sollten aber so ausgesprochen werden, weil das nun mal besser klingt. Sie bedeuten aber nicht «Discjockey».
Der DJ war einer von Revas Dozenten während ihrer Ausbildung an der Schauspielschule. Er wurde eingestellt, als sie ihr zweites Jahr anfing. Er war ungefähr fünfzehn Jahre älter als Reva, hatte an derselben Schule die gleiche Ausbildung zum Bühnenkünstler und Theatermacher durchlaufen, danach eine Weile als Pianist gearbeitet und in Grundschulen unterrichtet.
Der DJ besitzt auch einen Namen, aber mir wird ganz schlecht, wenn ich den aussprechen oder aufschreiben soll.
Ich begegnete ihm das erste Mal bei einer Etüde1 meiner Schwester, und er war mir sofort zuwider. Auch durch die Geschichten, die ich mittlerweile über ihn gehört hatte.
«Warum nennst du ihn eigentlich immer den DJ?», fragte sie mich, nachdem ich das schon einige Monate tat.
«Weil er mir so zuwider ist», antwortete ich wahrheitsgemäß.
«Ist das nicht ein bisschen diskriminierend?»
«Absolut nicht. Wäre er ein Deutscher, dann hieße er der DD, und wäre er ein Türke, dann der DT.»
«Und wenn er Niederländer wäre?»
«DF für einen Friesen, DA für einen Amsterdamer, DS für einen aus Seeland, und so weiter.»
«Du hast also nichts gegen Juden im Allgemeinen?»
«Nein, nur gegen diesen speziellen.»
«Warum?», fragte sie, als ob sie die Antwort nicht wüsste.
«Deinetwegen.»
«Aber ich liebe ihn», sagte sie und guckte mich dabei an wie ein neugeborenes Rehkitz.
«Ja, aber du bist ja auch rückständig, wie wir wissen.»
Letzteres ist ein Scherz zwischen uns, seit Reva bei einer Beurteilungssitzung am Ende des ersten Jahres vom Direktor zu hören bekam, sie sei emotional rückständig. Ich weiß noch genau, wie und wann sie mir das erzählt hat und wie laut wir darüber gelacht haben.
«Und was bedeutet der Begriff ‹emotional rückständig› aus dem Mund eures Direktors?», fragte ich sie, als ich wieder reden konnte. DirektorV. war ein schweigsamer, in sich gekehrter Mann um die sechzig, ursprünglich Balletttänzer, dessen Unterrichtsfach das «gesungene Repertoire» war. Auf mich wirkte er wie ein ungehobelter Klotz, aber seine Studentinnen und Studenten waren vernarrt in ihn.
«Ich denke, er meint, dass ich keine Gefühle bei den Songs von Barbra Streisand rüberbringen kann, die er mich singen lässt.»
«Hast du überhaupt ein Gefühl bei Barbra Streisand?»
«Ja, und zwar Abneigung. Vielleicht bringe ich das rüber.»
Das erschien mir durchaus glaubhaft.
Schon seit ihrer frühesten Jugend kann niemand Reva dazu bringen, etwas zu tun, was ihr nicht passt. Verlangt man etwas von ihr, was sie nicht mit ihrem Charakter oder mit den Anforderungen vereinbaren kann, die sie an sich stellt, kommt nichts dabei heraus. Reva kann nicht singen, wenn ihr ein Lied nicht gefällt, und sie kann auch nicht reden, wenn ein Text ihrer Meinung nach nichts taugt.
Die Sprachdozentin hatte es während der Sitzung nochmals im Beisein aller Dozenten und Studierenden vorgemacht: das Gesicht, das meine Schwester zieht, wenn sie eine Übung nicht machen oder einen Text nicht sprechen will. Und wie unbeugsam sie ihren Kiefer verkrampft! Das war ziemlich unklug von der Dozentin. Nach den großen Ferien bat Reva unter Angabe einiger sehr guter Gründe um Versetzung zu einem anderen Sprachdozenten, und die ganze Klasse sprang bei ihr «mit auf», wie das im Gruppentherapie-Jargon heißt. (Alle profitieren gratis und anonym von der Tatsache mit, dass eine Person sich aus dem Fenster hängt und Farbe bekennt.) Abgang der Sprachdozentin.
Reva wurde auf Probe ins zweite Jahr versetzt. Das hatte sie dem DJ zu verdanken, der vielversprechenden neuen Lehrkraft an der Schule. Er würde sich auf die emotionale Rückständigkeit stürzen.
Im Gegensatz zu mir fuhr meine Schwester gleich in dem Moment, als sie ihm zum ersten Mal die Hand gab und in die Augen blickte, voll auf den DJ ab.
«Aber Reef, worauf denn nur?», fragte ich sie erstaunt. «Auf seine dicke Wampe?»
Nein, sondern auf den DJ «als Ganzes».
Sie fuhr ab auf seine Augen, seine Stimme, seine Hände, sein jungenhaftes, schelmisches Lächeln und vor allem auf seinen Humor. «Man kann ja so mit ihm lachen!», gurrte sie.
«Und er hat schon eine Freundin, nehme ich an?», fragte ich boshaft.
Ja. Er war verheiratet. Aber für meine Schwester war das nie ein Hindernis, sondern im Gegenteil eher eine Empfehlung, sich in jemanden zu verlieben.
Der DJ dozierte das Fach «gesprochenes Repertoire». Er nahm seine Aufgabe sehr ernst.
Aufgrund ihrer Rückständigkeit brauchte meine Schwester natürlich Privatstunden, die er ihr vorzugsweise abends gab, von halb elf bis halb zwölf, wenn in dem Schulgebäude weit und breit keine Menschenseele mehr war.
Ich bekam kein sehr genaues Bild davon, was sie von ihm lernte, obwohl sie mir alles bis ins Detail erzählte.
So musste sie beispielsweise den Text von La chanson des vieux amants von Jacques Brel aufsagen, und dann gab er ihr Anweisungen wie: «Sag es einfach zu mir!»
Ich versuchte, es mir vorzustellen.
Mais mon amour
Mon doux mon tendre mon merveilleux amour
De l‘aube claire jusqu‘à la fin du jour
Je t‘aime encore, tu sais, je t‘aime
Um elf Uhr abends in einem verlassenen Schulgebäude zu einem Dozenten, in den du verliebt bist.
Während sie ein Gedicht von Simon Carmiggelt vortrug, legte er sich rücklings auf den Boden und forderte sie auf: «Du darfst alles mit mir machen!»
Später werden wir als Paar
spazieren hier durch Amsterdam,
trinken süße Milch mit Rahm,
streichen uns durchs graue Haar.
Siehst du uns zusammen gehen,
ganz gemächlich, so als Paar,
ich ein altes Weib fürwahr,
du noch rüstig, das wär schön.
«Du musst es schon ernst meinen!», rief er in all seiner Weisheit ab und zu dazwischen.
Ja, genauso wird das gehn,
und wir sterben ganz gemach
im März, an einem Donnerstag,
und zugleich, das wäre schön.
Ein Gedicht, das kein Mensch laut aufsagen kann, ohne davon tagelang außer Fassung zu geraten. Selbst wenn er nicht einsam und fürchterlich unsicher ist.
Um elf Uhr abends.
Und ernst meinen sollte sie es auch noch.
«Aber Reef, was machst du dann, wenn er dir so bescheuerte Aufträge gibt?», fragte ich sie.
«Ja … nichts. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich schäme mich tot. Ich wage nicht, ihn anzusehen, und schäme mich tot. Eigentlich schon, wenn ich in die Stunde gehe.»
«Also, er legt sich auf den Rücken. Und dann?»
«Nichts! Na ja, ich setze mich so hin, dass er mich nicht sehen kann, mit dem Rücken zu ihm. Und dann spreche ich den Text, aber ich finde es fürchterlich und es klappt auch überhaupt nicht, am liebsten würde ich im Erdboden versinken. Und einmal habe ich sein Haar berührt. Er hat sehr schönes, weiches, schwarzes Haar.»
«Und dann?»
«Ja … nichts. Ich weiß nichts mehr zu sagen, und dann ist es eine Weile still. Und dann werde ich ganz trübsinnig.»
«Und weiter?»
«Na … wenn es wirklich zu peinlich wird, steht er wieder auf und erzählt irgendwas. Eine lustige Geschichte über seine eigene Zeit hier an der Schule und was er alles nicht gekonnt hat, und damit bringt er mich immer zum Lachen. Oder er spielt etwas auf dem Klavier.»
Das erinnert mich an den unheimlichen Pädophilen, der in letzter Zeit ausführlich in den Nachrichten war. Der hat seine Opfer hinterher auch immer getröstet.
Und jetzt weiß ich plötzlich, was sie von ihm gelernt hat.
Sie hat gelernt, sich ihm zu unterwerfen.
Der DJ erteilte Lektionen in Demut.
Reva schien das «Urteil» des Direktors (die emotionale Rückständigkeit) zwar nicht ganz ernst zu nehmen, aber zu ihrem ohnehin schon geringen Selbstwertgefühl trug es auch nicht gerade bei; im Gegenteil.
Ihre Klassenkameraden hatten keinen Rückstand. Sie verglich sich fortwährend mit ihnen, oder wahrscheinlich muss ich sagen: mit dem Bild, das sie von ihnen hatte.
«K. besucht alle Lehrveranstaltungen, die man nur besuchen kann!», meldete sie mir weinend, als sie gerade mit ihrem zweiten Jahr angefangen hatte.
«Ja …?»
«Das bedeutet, dass sie fünf Tage die Woche von neun Uhr morgens bis zehn Uhr abends in der Schule ist. Und dann hat sie auch noch Zeit, zu Hause ihre Texte zu lernen und Songs zu schreiben.»
«Ja …?»
«Ich gehe nur in die Veranstaltungen, die vorgeschrieben sind. Wenn ich nach Hause komme, bin ich kaputt. Dann falle ich erst mal für eine Stunde aufs Sofa und starre vor mich hin, und hinterher gehe ich ins Bett. Ich habe nie Zeit, Songs zu schreiben. Ich bin ein Loser!»
Dass K. einen ganz anderen Charakter besaß und viel mehr Energie und dass sie in ihrem Eifer vielleicht etwas zu weit ging, wäre Reva nie eingefallen. Wenn man an der Schauspielschule war und sich irgendwann einen Platz als Schauspielerin erobern wollte, dann musste man in ihren Augen mindestens so fanatisch sein wie K.
«Und einen Freund hat sie außerdem!»
«Du meinst: Dafür findet sie auch noch Zeit?»
Ja. Das meinte sie. Und außerdem, dass K. nicht nur die beste und ambitionierteste Schülerin der Klasse war, sondern auch noch bildschön und ein ganzes Stück attraktiver als sie selbst.
Seit ihrer Pubertät hat meine Schwester eine fixe Idee, was ihr Äußeres angeht. Obwohl sie sehr normal aussieht, nicht übertrieben hübsch, aber auch keineswegs hässlich, und eine gute Figur hat, schämt sie sich für fast jeden Teil ihres Körpers: Gesicht, Brüste, Beine, Füße. Wenn es Sommer wird, macht sie sich nächtelang mit ihrer «Bikini-Angst» verrückt. Seit Jahren schon versteckt sie sich hinter einem viel zu langen Pony, was ihr von den Dozenten der Schauspielschule immer den gleichen Kommentar einbrachte: «Das Haar muss weg, wir können deine Augen nicht sehen.»
Aber genau darum ging es ja. Dass niemand in ihren Augen diese alles beherrschende Scham sehen konnte. Scham wegen viel mehr als nur ihrem Äußeren.
Kein Wunder also, dass der DJ von meiner Schwester mit offenen Armen empfangen wurde. Der rechte Mann im rechten Augenblick.
Er spielte Klavier für sie und sang dazu witzige, selbst geschriebene Kinderlieder. Er hatte wunderbare Augen, Sinn für Humor und ein sehr anziehendes, herausforderndes Lachen.
Und er «sorgte» für sie, auch nicht unwichtig. Sorgen im Sinne von: wissen, was für den anderen gut ist. Der DJ erwies sich als Experte an allen Fronten. Er sagte Reva, welches Repertoire sie singen und mit welchen Dozenten sie arbeiten sollte, welche Filme und Vorstellungen sich lohnten, wie sie sich kleiden und dass sie mehr Make-up verwenden sollte; er suchte selbst die Geschäfte aus, in denen sie ihre frische (!) Pasta und die beste italienische Wurst von Amsterdam kaufen konnte.
Und sie befolgte alles, ausgenommen das mit dem Makeup.
Ich warnte sie: «Er taugt nichts», aber das war ein Euphemismus. Ich dachte: Er ist ein Sadist. Der DJ hatte zu Hause eine wunderbare, erfolgreiche Frau. Was wollte so ein Mann mit meiner Schwester?
Nicht dass ich nicht an Reva geglaubt hätte. Sie war ein gescheites Mädchen und hatte auch wirklich was zu bieten, aber von außen sah man ihr das nicht an. Und diese Schule kitzelte es offenbar nicht aus ihr heraus.
Lektionen in Demut.
Sie war eine so leichte Beute.
Es stimmt nicht ganz, dass Reva an der Schauspielschule nie zeigte, was in ihr steckte. Irgendwann im zweiten Jahr gab sie eine selbst kreierte halbstündige Vorstellung, mit der sie «Freund und Feind» überraschte.
Nach dem «Urteil» hatte sie sich vorgenommen, nie mehr eine Bühne zu betreten, außer sie selbst durfte entscheiden, wie und mit welchem Material. Aus diesem Vorsatz heraus war die Idee für ihre erste «Etüde» entstanden.
Sie baute sich auf der Bühne eine Art Bunker aus Pappkartons, in den sie sich zurückziehen konnte, wenn es ihr «nicht gefiel». Womit sie meinte: Wenn ich Angst vor dem Publikum bekomme, kann ich einfach von meinem Unterschlupf aus weiterspielen.
«Hast du oft Angst vor deinem Publikum?», fragte ich sie.
«Hier in der Schule schon, ja.»
«Warum?»
«Weil du die ganze Zeit beurteilt wirst. Niemand kommt einfach zum Spaß und schaut dir zu.»
Für den Titel des Projekts verwendete sie einen Männernamen, Giovanni, das italienische Äquivalent des Vornamens unseres Vaters, der verrückterweise in der ganzen Geschichte weiter nicht vorkam. (Oder mir ist irgendwas entgangen.) Es handelte von allem Möglichen: einer verlorenen Liebe, dem Tod eines Nachbarmädchens und davon, nicht zu wissen, wie man sich seinen Platz in der Welt erobert. Aber vor allem handelte es von den Dingen, die ungenannt blieben. Wie sie selbst immer sagte: «Wenn du jemanden kennenlernen willst, dann höre nicht auf das, was er sagt, sondern schau, was er tut.»
Es war das erste Mal, seit Reva diese Schule besuchte, dass ich mir eine ihrer Vorstellungen anschaute und endlich meine Schwester zu sehen bekam. Die Schwester, die ich von früher kannte. Mit ihren komplizierten Fragen, auf die keine Antwort möglich ist, und ihrer beißenden Kritik an allem und jedem. Die ganzen Male davor hatte ich einer leblosen Marionette zugeschaut, aber jetzt sah ich Reva: eine junge Frau, die es nötig hatte, sich zu verstecken.
Und ich sah ihre Trauer. Zum ersten Mal. Verpackt in wütende Texte und unverständliche italienische Lieder.
Ich verstand zu dem Zeitpunkt nicht so recht, woher diese Trauer kam.
Aber als ich später darüber nachdachte, wurde mir klar, dass sie eigentlich schon immer dagewesen ist. Unter der Oberfläche. Sicher seit der weiterführenden Schule.
Ich erinnere mich, dass einer ihrer Mitschüler, der kleine Bruder einer meiner Freundinnen, mich einmal gefragt hat, ob meine Schwester ADHS hätte. Oder eigentlich war es keine Frage, sondern eine Mitteilung. «Deine Schwester, die hat doch ADHS im Quadrat, oder?!» Er erzählte von den Scherzen und fröhlichen Streichen, die Reva auf Lager hatte. Und dass sie mit großer Regelmäßigkeit aus der Klasse geschickt werde, weil sie immer das große Wort führe und dadurch ein gigantischer Störenfried sei.
Ich dachte, er hätte sich getäuscht.
Hätte eine andere gemeint.
Zu Hause hatte Reva kein ADHS. Im Gegenteil. Zu Hause saß sie stundenlang in einem Sessel und starrte vor sich hin. Oder las faustdicke Romane von Louis Couperus und Gerard Reve. Oder spielte allein in ihrem Dachbodenzimmer Gitarre und sang dazu schauderhaft deprimierende Songs. (Leonard Cohen u. dgl.) (Das sagt wohl genug.)
Von ADHS konnte allenfalls am Dienstagabend die Rede sein, dem festen Tennisabend unseres Vaters.
Sobald er sich aus dem Staub gemacht hatte, rastete die ganze Familie aus. Unsere Brüder hoben uns an den Füßen hoch und kitzelten uns bis zum Abwinken, und wir kreischten und lachten und machten Lärm für die ganze Woche. Wir wurden erst wieder ruhig, wenn er ein paar Stunden später nach Hause kam und «GEHT ES AUCH ETWAS LEISER?!» brüllte, um anschließend den Fernseher auf volle Lautstärke zu drehen. Selbst unsere Mutter hatte am Dienstagabend ADHS, also das besagt nichts.
Offenbar benahm sich meine Schwester in der Öffentlichkeit anders als zu Hause.
Das tut sie übrigens immer noch. Sie ist ein gern gesehener Gast auf Festen und Partys; etwas, worauf man wirklich nicht käme, wenn man sie in ihrem Pyjama auf meiner Couch herumhängen sieht.
Wenn mich jetzt jemand fragt, ob Reva ADHS hat, dann antworte ich: «Nur, wenn sie fröhlich ist.» Um gleich in Gedanken hinzuzufügen: Aber das ist sie nie.
Ich zumindest erlebe es nicht.