2,99 €
Ägypten – das geheimnisvolle Land der Pharaonen. Als die Archäologin Sonja dort eine Ausgrabung leiten soll, ist sie begeistert. Doch als sie am Ufer des Nil eintrifft, ereignen sich unheimliche Vorfälle. Warum ist ihr Vorgänger spurlos verschwunden, und was hatte er zu verbergen? Stimmt es etwa, was der Physiker Jonas behauptet: dass es mysteriöse Tore gibt, durch die man in die Vergangenheit reisen kann? Bei einem Ausflug in die Wüste gelangen Sonja und Jonas durch ein Portal ins alte Ägypten – 3000 Jahre vor unserer Zeit! Schon bald geraten sie in höchste Gefahr, da man die Fremden des Hochverrats bezichtigt. Nur die Anhänger des verbotenen Isiskults könnten ihnen noch helfen, denn sie wissen mehr über Zeitreisen, als wir uns vorstellen können …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
die eBook-Labels von Piper
Unsere vier Digitallabels bieten Lesestoff für jede Lesestimmung!
Für Leserinnen und Leser, die wissen, was sie wollen.
Mehr unter www.piper.de/piper-digital
ISBN 978-3-492-98125-5
© für diese Ausgabe: Fahrenheitbooks, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2014 © Piper Verlag GmbH, München 2010 Covergestaltung: FAVORITBUERO, München Covermotiv: © Donovan van Staden / Shutterstock.com Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe 1. Auflage 2010
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich Fahrenheitbooks die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Personenverzeichnis
Sonja Morhardt, 35, Archäologin aus Hamburg
Claus Bronnbach, ihr Lebensgefährte, Ägyptologe am
Archäologischen Institut in Hamburg
Ulrich Störcke, Sonjas Freund und ehemaliger Studienkollege,
arbeitet für die Generaldirektion Archäologie in Speyer
Amelie, Sonjas Freundin
Naoko, Archäologiestudentin aus Japan
In Kairo:
Dr. Hazim Mohy el-Din, Generalsekretär des Supreme Council of Antiquities, der ägyptische Altertümerverwaltung in Kairo Ahmed Ghassab, sein Mitarbeiter
Marik Habib, Fahrer des Supreme Council of Antiquities
In Tell el-Amarna:
Paul Lehmann, verschwundener Grabungsleiter
Hans Peters, Ausgrabungsingenieur
Carola Wilke, Grabungszeichnerin
Hassan Mahmud, Schnittleiter
Victoria Moor, Grabungshelferin
Jonas Steffens, 34, Tourist und Physiker, der am Max-Planck-Institut in München arbeitet
In Achetaton:
Nofretete*, die Große Königliche Gemahlin
Echnaton*, Pharao
Kija*, seine Nebenfrau
Meritaton*, älteste Tochter von Noftretete und Echnaton
Maketaton* zweitälteste Tochter von Nofretete und Echnaton
Anchesenpaaton*, drittälteste Tochter des Königspaares
Tutenchaton*, Sohn von Echnaton und Kija
Nachtpaaten*, Wesir
Pentju*, Leibarzt des Pharaos
Karem, 15, Gehilfe des Leibarztes
Mahu*, Polizeichef
Huya*, Aufseher des Harems
Inet, eine junge Ägypterin
Inarus, ihr Gatte, arbeitet in der Bildhauerwerkstatt von
Thutmosis*
Mayati, beider Tochter
Bakt, beider Sohn
Djedi, beider Sohn
Die Sieben Skorpione
Setep, 18, ehemaliger Priester des Iun-Mutef
Ankhu, alter Osiris-Priester
Haremsat
Nebamun, Amun-Priester aus Waset
Paser, Anführer der Verschwörer
Bata
Rahotep
Die mit * bezeichneten Personen sind historisch belegt.
Prolog
Der Falke beobachtete ihn seit Tagen. Jeden Morgen saß er auf seinem Stammplatz, dem Zeltpfosten, und schien auf Lehmann zu warten. Der Wüstenwind zauste sein rostrotes Nackengefieder, ruckartig bewegte er den Kopf, und die schwarzen Augen folgten dem Mann, wenn dieser aus seinem Zelt schlüpfte und zum Container ging, um zu duschen. Wenn Lehmann zurückkam, war der Vogel verschwunden, und er sah ihn den ganzen Tag nicht mehr.
Lehmann hatte recherchiert und herausgefunden, dass es sich um einen Rothalsfalken handelte, eine Falkenart, die in der Dämmerung zu jagen pflegte. Hatte der Vogel schon im Morgengrauen seinen Hunger gestillt und saß jetzt satt auf seinem Pfosten, um die Beute zu verdauen? Oder wartete er aus einem anderen Grund jeden Morgen an dieser Stelle auf Lehmann?
Lehmann fing an, ihn als Freund zu betrachten. Wenn er an ihm vorüberging, pfiff er ihm zu oder begrüßte ihn mit einem kurzen Ruf. Vor einer Woche hatte er ihm einen Namen gegeben – Horus.
Der Falke antwortete nie. Aber er flog auch nicht weg. Mit stoischer Ruhe saß er auf seinem Pfosten, so als sei es seine Pflicht zu warten, bis der Ausgrabungsleiter an ihm vorbeigegangen war.
Lehmann fragte sich, ob es sich vielleicht um einen zahmen Vogel handelte, der irgendwo entflogen war. Oder war es ein wilder Falke, der hoffte, dass hier im Camp etwas für ihn abfiel? Ein paar Mal versuchte er, ihn mit einem Fleischstück anzulocken. Doch der Vogel blieb auf seinem Pfosten sitzen und blinzelte in die Sonne.
Horus, dachte Lehmann am letzten Morgen. Der Sohn von Isis und Osiris. Immer wieder stieß er auf den Namen Isis. Es war fast wie ein Fluch. Er wollte nichts mehr von diesem alten Götterglauben wissen. Es ärgerte ihn, dass er schon so viel Zeit damit verbracht hatte, anstatt sich auf seine eigentliche Aufgabe zu konzentrieren – auf die Suche nach dem Grab der Nofretete, die zusammen mit ihrem Gatten Echnaton die alten Götter Ägyptens gestürzt hatte.
Hatte sich Isis vielleicht gar nicht stürzen lassen?
Wenn er nachts auf seinem Feldbett lag, raunten die Zeltbahnen ihren Namen. Der Wüstenwind flüsterte ihn leise und beständig.
Isis … Isis …
Er glaubte nicht an die Gerüchte. Aber je mehr er sie verdrängte, desto hartnäckiger erschienen sie in seinen Träumen.
Jeden Morgen wachte er schweißgebadet auf.
Er würde erst Ruhe finden, wenn er das Tor entdeckt und sich überzeugt hätte, dass an der Sache nichts dran war.
An diesem Tag verhielt sich der Falke anders als sonst. Als Lehmann an ihm vorbeiging, stieß sich der Vogel von seinem Pfosten ab und flatterte kreischend über seinem Kopf. Dann flog er weiter, nach Osten, der Sonne entgegen, bis er nur noch als winziger Punkt am Himmel zu sehen war.
Nach Osten. Dort sollte es sein, das Isis-Tor.
Lehmann sah dem Falken nach und war entschlossen, sich endlich auf den Weg zu machen.
Sonja spürte sofort, dass es diesmal die richtige Wohnung war, hell, freundlich und großzügig geschnitten.
»Erstbezug nach Renovierung«, erklärte die Maklerin, die Sonja durch die Räume führte. »Echtholzparkett, kein Laminat. Ahorn.«
Der Balkon war ein Traum. Ebenso der Blick. Man sah bis zur Elbe. Fast wie im Urlaub.
Sie würde die Wohnung nehmen. Claus hatte gemeint, sie solle sofort zusagen; er verlasse sich völlig auf ihr Urteil.
Sie wusste, dass er allmählich ungeduldig wurde. Sie suchten jetzt schon ein Vierteljahr nach einer größeren Wohnung.
Sonja lächelte und sah in Gedanken, wie ein Baby über den Fußboden krabbelte. Louis. Oder Marielle. Die Namen standen bereits fest.
»Gefällt Ihnen die Wohnung?«, fragte die Maklerin.
»Sie ist wunderbar«, antwortete Sonja. In diesem Moment klingelte ihr Handy. »Entschuldigung.« Sie holte es aus ihrer Handtasche.
»Kein Problem.«
Sonja trat auf den Balkon, um zu telefonieren. Auf dem Display sah sie, dass Uli anrief. Sie kannte Ulrich Störcke seit dem ersten Semester. Er war ihr bester Freund und arbeitete mittlerweile für die Generaldirektion Archäologie in Speyer. Sonja bedauerte, dass sie sich so selten sahen, aber sie telefonierten oft und schickten sich Mails.
»Hallo, Uli! Du, es ist jetzt leider ziemlich ungünstig.«
»Ich wollte dich auch nicht stören.« Seine Stimme klang munter wie immer. »Aber ich finde, du solltest es unbedingt wissen. Lehmann ist verschwunden, keiner weiß, wo er steckt.«
»Paul Lehmann?«, fragte Sonja verdutzt.
»Genau der.«
Paul Lehmann hatte mit ihnen studiert, einen glänzenden Abschluss gemacht und war nach dem Studium ziemlich rasch die Karriereleiter hinaufgestiegen. Er hatte einige bedeutende Ausgrabungen erst in Deutschland, dann in verschiedenen europäischen Ländern geleitet und war zuletzt bei internationalen Projekten in Syrien und China tätig gewesen. Im Frühjahr hatte unter seiner Leitung eine neue Ausgrabung in Ägypten begonnen. Der Presse gegenüber hatte Lehmann behauptet, es bestünden gute Aussichten, noch in diesem Jahr das Grab der Nofretete zu finden. Sonja wusste es aus der Antiken Welt, die sie noch immer abonniert hatte, obwohl in ihrer Wohnung allmählich kein Platz mehr für alle diese archäologischen Zeitschriften war.
»Jedenfalls ist er seit vierzehn Tagen spurlos verschwunden, und es ist sehr wahrscheinlich, dass er einen Unfall hatte«, fuhr Ulrich fort. »Jetzt suchen die Leute von der Ägyptischen Altertümerverwaltung in Kairo händeringend nach einem Ersatz. Die Sekretärin hat bei mir angerufen, und ich habe ihr deine Festnetznummer gegeben. Ich schätze, sie wird sich heute noch bei dir melden. Nofretete – das ist doch dein Spezialgebiet.«
»Aber …« Sonja fühlte einen kleinen Stich in der Brust. Aber ich bin doch völlig raus, wollte sie sagen. Vor fünf Jahren hätte sie eine Grabung in der Felsenstadt Perperikon in Bulgarien leiten sollen, doch dann war unerwartet ihre Mutter gestorben. Sonja hatte sich um die Beerdigung und den Nachlass kümmern müssen und hatte die Stelle nicht antreten können. Seither hatte sie kein einziges Angebot mehr bekommen. Sie hatte sich eine Zeit lang mit Taxifahren über Wasser gehalten. Seit zwei Jahren jobbte sie als Aufsicht im Museum für Kunst und Gewerbe und hielt neugierige Besucher davon ab, die Exponate anzufassen.
»Aber was?«, hakte Ulrich nach. »Du hast doch über Nofretete promoviert. Sag nicht, dass dich die Sache nicht interessiert. Ich habe dich wärmstens empfohlen.«
Ich traue es mir nicht zu. Doch sie biss sich auf die Unterlippe. Damit konnte sie Uli nicht kommen. Aber ihr Selbstbewusstsein war nicht mehr so groß wie zu ihrer Studienzeit, sie war inzwischen eine arbeitslose Akademikerin, schwer vermittelbar. Das hatte man ihr bei der Arbeitsagentur oft genug klargemacht.
»Mann, Sonja!«, sagte Uli, weil sie schwieg. »Das schaffst du. Bestimmt. Überleg mal – Nofretete! Und lass dir die Sache bloß nicht von Claus ausreden.«
»Nein«, sagte sie. Ihr Mund war trocken. Wie gut er sie kannte. »Danke. Du bist wirklich ein Schatz. Ich halte dich auf dem Laufenden. Ich sage dir Bescheid, wenn es geklappt hat.«
»Es klappt, Sonja. Du bist die Richtige dafür.«
Uli war schon immer ein Optimist gewesen. Es tat ihr gut.
»Danke«, flüsterte sie. »Ciao, bis später.« Sie drückte auf den roten Knopf, wie benommen von der Nachricht, von den Möglichkeiten, die sich auf einmal eröffneten. Jetzt erst wurde ihr bewusst, wie sehr sie ihre Träume verdrängt hatte. Unter sengender Sonne auf einen sensationellen Fund stoßen … Etwas entdecken, das der Forschung neue Impulse gäbe. Warum war Nofretete so plötzlich aus der Geschichte verschwunden? Warum hatten ihre Nachfahren versucht, ihren Namen auszulöschen? Was war mit ihr passiert, und wo hatte man sie begraben?
Nachdenklich kehrte Sonja in die Wohnung zurück, wo die Maklerin auf sie wartete und geschäftsmäßig lächelte.
»Und was meinen Sie?«
»Die Wohnung ist sehr schön«, sagte Sonja, aber sie spürte, dass sich an der Atmosphäre etwas verändert hatte. Die Räume waren noch immer licht und geräumig, doch sie kam sich plötzlich wie gefangen darin vor.
Claus und sie wollten eine größere Wohnung, damit sie ein Kind bekommen und eine Familie gründen konnten. Claus Bronnbach arbeitete als Ägyptologe am Archäologischen Institut und verdiente gut. Er wünschte sich ein Kind, und auch Sonja wollte mit einer Schwangerschaft nicht noch ewig warten; schließlich war sie bereits fünfunddreißig. Ihr war klar, dass ein kleines Kind sie – zumindest in den ersten Jahren – ziemlich einschränken würde und dass Expeditionen in dieser Zeit undenkbar wären. Sie war bereit gewesen, sich darauf einzulassen. Doch jetzt hatten sich die Vorzeichen geändert. Ihr Herz pochte schneller. Sie war entschlossen, diese Chance unbedingt zu nutzen. Alle anderen Pläne mussten eben um ein halbes Jahr oder ein Jahr verschoben werden.
»Ich muss erst mit meinem Lebensgefährten reden«, sagte Sonja, weil die Maklerin sie erwartungsvoll ansah. Wenn sie tatsächlich nach Ägypten ging, dann brauchten sie noch nicht umzuziehen.
»Ich kann Ihnen die Wohnung höchstens für vierundzwanzig Stunden reservieren«, sagte die Maklerin. »Es gibt noch andere Interessenten.«
Sonja sah statt der weißen Wände den gelben Wüstensand vor sich, die flatternden Leinwände der Zelte. Als sie sich zum Balkon umwandte, wurde die Elbe zum Nil, auf dem Feluken segelten.
»Wunderbare Aussicht«, meinte die Maklerin.
»Wunderbar«, bestätigte Sonja und spürte den Impuls, dieser Frau von der plötzlichen Wende in ihrem Leben zu erzählen, von dem Wiederaufleben alter Träume, die jetzt vielleicht Wirklichkeit würden. Doch sie schwieg. Die Maklerin interessierte sich wahrscheinlich nicht für Ägypten, sondern nur dafür, die Wohnung zu vermieten und ihre Provision zu kassieren. Und es war gar nicht sicher, dass Sonja den Job tatsächlich bekommen würde.
»Rufen Sie mich an, wenn Sie mit Ihrem Freund gesprochen haben. Meine Nummer haben Sie ja.«
Sonja nickte. »Ich gebe Ihnen so bald wie möglich Bescheid.«
Wenig später wartete Sonja in der kühlen Hamburger Septembersonne auf den Bus. Sie war voller Unruhe, dass sie den wichtigen Anruf vielleicht schon verpasst haben könnte. Hoffentlich hinterließ man wenigstens eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter.
Vor Nervosität hatte sie feuchte Hände bekommen. In die erste Euphorie mischten sich inzwischen Zweifel. Wie würde Claus die Sache sehen? Sie war sich nicht sicher, ob er sich für sie freuen würde. In der Vergangenheit hatte sie oft mit ihrem Schicksal gehadert. Er hatte sie getröstet und ihr immer wieder versichert, dass sie durch ihn über alles, was sich in der Szene abspielte, auf dem Laufenden bliebe. Und es sei ja nicht so schlimm, wenn sie keine Ausgrabung leiten könne, dann müsse sie auch keine Verantwortung tragen, und es werde sowieso immer schwieriger, das Budget werde knapper und die Bürokratie größer. Schließlich hatte sie ihm geglaubt.
Der Bus kam. Zischend öffneten sich die Türen. Sonja sah zu, wie sich der Einstieg absenkte, damit eine Frau mit Kinderwagen aussteigen konnte. Sonja setzte sich auf einen Fensterplatz. Die Wohnung lag wirklich günstig, ruhig mit viel Grün ringsum, und trotzdem war man per Bus schnell in der Innenstadt. Es war falsch, dass sie nicht gleich zugesagt hatte. Die Wohnung entsprach in jeder Hinsicht ihren Wünschen.
Sonja starrte aus dem Fenster, ohne etwas wahrzunehmen. Sie musste immer wieder an das Gespräch mit Uli denken und grübelte darüber nach, was wohl mit Lehmann geschehen war. Er war alles andere als ein Abenteurertyp. Im Studium hatte er die Angewohnheit gehabt, geradezu pedantisch den Dingen auf den Grund zu gehen. Ein richtiger Korinthenkacker. Sonderlich beliebt war er bei seinen Kommilitonen nicht gewesen; sie fanden, dass er sich bei den Professoren allzu sehr einschleimte. Paul war fleißig, zielstrebig, ein Einzelgänger, der abends selten auf ein Glas Bier in die Studentenkneipe mitkam. Bereits mit Mitte zwanzig hatte er eine Stirnglatze entwickelt, und Sonja konnte sich nicht erinnern, ihn je mit einer Freundin gesehen zu haben. Ein paar Studenten hatten gemunkelt, Paul Lehmann sei schwul, aber auch dafür gab es keinen Beweis. Sonja hatte ihn eher für einen Stubenhocker gehalten, angetrieben von unersättlicher wissenschaftlicher Neugier; er war jemand, der sich lieber mit Büchern umgab anstatt mit Menschen. Inzwischen musste er wohl Führungsqualitäten entwickelt haben, sonst hätte er nicht so viele Ausgrabungen geleitet. Sonja konnte sich Lehmann auf dem Ausgrabungsgelände gut als kleinen Diktator vorstellen, der exakte Anweisungen gab und darüber wachte, dass sie minutiös erfüllt wurden. Wahrscheinlich duldete er weder Fehler noch Schlampereien, er würde die Betroffenen zur Verantwortung ziehen. Vermutlich hatte er jetzt noch weniger Freunde als im Studium.
Das waren nicht gerade freundliche Gedanken, und Sonja fragte sich, ob in ihrer Einschätzung nicht unterschwellig Neid mitschwang. Schließlich hatte Lehmann das erreicht, was ihr verwehrt geblieben war. Allerdings war er ihr nie sympathisch gewesen. Vielleicht hatte er Feinde, die für sein Verschwinden gesorgt hatten, oder er hatte Ungereimtheiten aufgedeckt und war deswegen aus dem Weg geschafft worden …
Stopp!, ermahnte sich Sonja. Jetzt ging die Phantasie eindeutig mit ihr durch. Es gab immer wieder Fälle, dass Menschen verschwanden und Suchaktionen erfolglos blieben, ohne dass gleich ein Verbrechen dahinterstecken musste. Lehmann konnte in eine Felsspalte gerutscht sein, oder ein Stollen war über ihm zusammengebrochen und hatte ihn verschüttet. Vielleicht hatte er auch einen Ausflug in die Wüste gemacht und war dabei von einem Skorpion gebissen worden; diese Viecher gab es in Ägypten überall.
Der Bus hielt am Rathausmarkt, Sonja stieg aus, überquerte den Platz und erwischte gerade noch die U-Bahn. Als sie sich hingesetzt hatte, ertönte aus ihrer Handtasche das SMS-Signal. Sonja fischte ihr Handy heraus. Die Nachricht war von Claus und sehr kurz.
Wohnung o.k.?
Sonja betrachtete das Display. Eigentlich hätte sie zurückschreiben müssen: Optimal, aber ich will nicht mehr umziehen. Das ging nicht. Die Erklärung, warum sie ihre Meinung geändert hatte, wäre zu lang für eine SMS. Anrufen wollte sie Claus auch nicht. Sie wollte erst sicher sein, dass man ihr das Jobangebot auch tatsächlich machte.
Sie entschied sich, die SMS einfach zu ignorieren. Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen steckte sie das Handy in die Handtasche zurück.
Die U-Bahn war nur halb besetzt. Schräg gegenüber saß ein glatzköpfiger Mann mit wattierter blauer Weste und hatte einen schwarzen Hund an der Leine. Der Hund lag auf dem Boden, die Ohren aufmerksam gespitzt, und seine Haltung erinnerte Sonja an die Statue des Totengottes Anubis, die man im Grab des Tutenchamun gefunden hatte.
Sie spürte ein nervöses Kribbeln im Bauch und schloss die Augen. Es war verrückt, sie konnte an nichts anderes mehr denken als an den Anruf. Das war die Chance ihres Lebens. Sie musste die Leute von der Altertümerverwaltung überzeugen, dass sie die Richtige für den Job war. Schließlich hatte sie sich jahrelang mit Nofretete beschäftigt. Keine andere Persönlichkeit aus der Vergangenheit hatte sie so fasziniert wie diese ägyptische Königin.
Vor ein paar Jahren hatte die britische Forscherin Joann Fletcher geglaubt, die Mumie der Nofretete im Tal der Könige entdeckt zu haben. Die Nachricht von dem sensationellen Fund war durch alle Zeitungen gegangen, und der Discovery Channel hatte eine Dokumentation darüber ausgestrahlt. Doch bald hatte sich das Ganze als Irrtum erwiesen. Man hatte die Tote untersucht und herausgefunden, dass sie mit etwa fünfundzwanzig Jahren gestorben war. Nofretete, die immerhin sechs Töchter zur Welt gebracht hatte, hätte älter sein müssen. In späteren Untersuchungen wurde außerdem behauptet, die Mumie sei männlich …
Das deutsch-ägyptische Ausgrabungsteam unter der Leitung von Paul Lehmann grub jetzt dagegen in Tell el-Amarna, in jenem Gebiet, in dem Echnaton die Stadt Achetaton hatte bauen lassen. Es galt als wahrscheinlicher, Nofretetes Mumie dort zu finden, obwohl die Pharaonen oft mehrere Gräber hatten und ihre Mumien – aus Angst vor Grabplünderungen – von ihren Anhängern manchmal mehrfach »umgebettet« worden waren.
Sonja war so in Gedanken versunken, dass sie zusammenzuckte, als ihre Haltestelle angesagt wurde. Schnell stand sie auf und ging zur Tür. Der Mann mit dem schwarzen Hund stieg ebenfalls aus. Sonja sah den beiden kurz nach, dann spurtete sie im Eilschritt zur Rolltreppe und fuhr nach oben. Bis zu ihrer Wohnung brauchte sie sonst zu Fuß gut fünf Minuten. Diesmal schaffte sie es in vier. Die Wohnung lag im zweiten Stock. Atemlos steckte Sonja den Schlüssel ins Schloss. Sie hörte, wie drinnen das Telefon läutete. Als sie aufgeschlossen hatte und zum Telefon stürzte, hörte das Läuten auf. Sonja fluchte. Das rote Lämpchen ihres Anrufbeantworters blinkte. Hastig drückte sie auf den Wiedergabeknopf.
»Sie haben keine neuen Nachrichten.«
»Mist«, zischte Sonja. Sie löschte die vier alten Nachrichten, die noch auf dem Gerät gewesen waren, und griff zum Telefon, um festzustellen, wer zuletzt angerufen hatte. Es war Claus gewesen. Sonja stöhnte, zog dann langsam ihren Mantel aus, streifte die Schuhe ab und ging ins Bad. Sie ließ sich kühles Wasser über die Hände laufen, und allmählich beruhigte sich ihr Herzschlag.
Lange betrachtete sie sich im Spiegel. Ihre Wangen waren gerötet, was ihr jedoch gut stand – sie war meistens sehr blass. Ihr Haar hatte ein schönes Naturblond und war noch genauso hell wie in ihrer Kindheit. Sonjas Freundin Amelie hatte ihr prophezeit, nach einer Schwangerschaft werde das Haar garantiert dunkler werden. Aber jetzt leuchtete es noch wie Gold. Kleine Schwedin hatte ihre Mutter sie als Kind oft liebevoll genannt, auch wegen ihrer dunkelblauen Augen.
Die Augen waren jetzt etwas blasser, aber noch immer sehr auffallend, vor allem wenn Sonja sie mit blauem Kajalstift und blauer Wimperntusche betonte – wie heute.
Sonja war mit ihrem Spiegelbild zufrieden. Sie sah sehr gut aus. Die meisten Leute schätzten sie höchstens auf Ende zwanzig.
Das Telefon läutete erneut. Sonja zögerte. Es war sicher wieder Claus, der wissen wollte, wie es mit der Wohnung gelaufen war. Als sie zum Apparat ging, setzte ihr Herz einen Schlag lang aus. Auf dem Display stand eine lange ausländische Nummer.
»Sonja Morhardt.«
Der Anruf kam aus Kairo. Es war das Supreme Council of Antiquities, die ägyptische Altertümerverwaltung. Eine weibliche Stimme teilte Sonja auf Englisch mit, dass sie gleich mit dem Generalsekretär Dr. Hazim Mohy el-Din verbunden werden würde.
Sonja merkte, wie ihre Knie weich wurden. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte schon oft von ihm gelesen oder ihn im Fernsehen gesehen. Zum Glück war ihr Englisch sicher; fremde Sprachen zu lernen hatte ihr immer Spaß gemacht und war ihr leichtgefallen.
Es knackte in der Leitung, dann war Dr. Mohy el-Din am Apparat. Zu Sonjas Verwunderung sprach er ein gut verständliches Deutsch. Er erkundigte sich nur kurz nach ihrer Ausbildung und fragte, ob sie interessiert sei, Paul Lehmann zu vertreten. Sonja hatte das Gefühl, dass ihm bereits Informationen über sie vorlagen. Er wollte auch gar keine Einzelheiten über sie wissen, sondern fragte nur, ob sie sofort anfangen könne.
Sonja überlegte blitzschnell. Den Job beim Museum konnte sie problemlos kündigen. Ihr stand ohnehin noch Urlaub zu.
»Ja, das geht«, sagte sie.
»Sehr schön«, erwiderte Dr. Mohy el-Din. »Dann mailen Sie mir bitte Ihre Bewerbungsunterlagen und auch ein möglichst aktuelles Foto.« Er nannte die Adresse, die Sonja notierte.
»Ich werde noch zwei, drei andere Leute fragen«, teilte Dr. Mohy el-Din ihr dann mit. »Aber ich gebe Ihnen so bald wie möglich Bescheid. Sie hören auf alle Fälle noch in dieser Woche von mir.«
Er verabschiedete sich. Als Sonja aufgelegt hatte, war sie wie betäubt. Das Gespräch hatte kaum länger als fünf Minuten gedauert.
Sie setzte sich sofort an den Computer und stellte die Dateien zusammen. Noch zwei oder drei andere Bewerber. Sie schnitt eine Grimasse. Zwar hatte sie einen hervorragenden Abschluss, aber ihr fehlte eben die Praxis. Seit ihrem Studium hatte sie an keiner Ausgrabung mehr teilgenommen. In Ägypten war sie ein paar Mal gewesen, hauptsächlich privat, die letzten drei Reisen hatte sie mit Claus gemacht.
Sie ergänzte ihren Lebenslauf und starrte auf die Tabelle. Ziemlich mager. Zum Glück war Nofretete ihr Spezialgebiet. Vielleicht würde das den Ausschlag geben … Immerhin hatte Dr. Mohy el-Din am Telefon durchaus interessiert geklungen. Sie verfasste ein kurzes Anschreiben, suchte ein hübsches Foto heraus und schickte die Mail dann mit den Dateianhängen nach Kairo.
Jetzt konnte sie nur noch warten. Wie schön wäre es, dachte sie, wenn dieser Traum in Erfüllung ginge und ich den Job bekäme …
Wieder läutete das Telefon. Sonja sah sich um und konnte das Gerät zuerst nicht entdecken. Sie hatte es zuvor in der Aufregung einfach irgendwo abgelegt. Nach dem vierten Klingeln fand sie es auf dem Bücherregal.
»Hallo, Claus«, meldete sie sich.
»Du bist ja doch da«,sagte Claus.»Gerade wollte ich wieder auflegen. Ich hab dir eine SMS geschickt. Wie war die Wohnung?«
»Es gibt eine Riesenneuigkeit«, sprudelte Sonja heraus und berichtete von Dr. Mohy el-Dins Anruf. »Stell dir vor, ich könnte wirklich diese Ausgrabung leiten! Das wäre der Wahnsinn, eine einmalige Chance für mich. Und wenn ich dann das Grab der Nofretete tatsächlich entdecken würde …« Es kribbelte in ihr vor Freude und Erwartung.
Claus schwieg zunächst, offenbar völlig überrumpelt von der Nachricht.
»Sag doch was!«, drängte Sonja. »Ist das nicht toll?«
»Mich interessiert in erster Linie, was mit diesem Lehmann passiert ist. Möglicherweise steckt ein Verbrechen dahinter. Man hört ja immer wieder von Anschlägen in Ägypten.« Claus machte eine kurze Pause. »Und außerdem diese vielen Grabräuber. Die Geschichte ist voll damit. Der illegale Handel mit Antiquitäten. Möglicherweise war Lehmann ja in so was verwickelt.«
»Das kann ich mir bei ihm nicht vorstellen.« Sonja schüttelte den Kopf. »Lehmann gilt als überaus korrekt. Er war schon im Studium ungeheuer penibel.«
»Du weißt nicht, was inzwischen geschehen ist. Menschen verändern sich.«
Sie glaubte trotzdem nicht daran, dass Lehmann irgendwelche Funde an Kunstliebhaber verscherbelt hatte. »Vielleicht hat er sich in der Wüste verlaufen«, überlegte sie laut. »Oder er ist irgendwo abgestürzt …«
»Solange man ihn nicht gefunden hat, kann man gar nichts sagen«, meinte Claus.
»Du scheinst dich ja überhaupt nicht darüber zu freuen, dass ich so ein Angebot bekommen habe«, stellte Sonja enttäuscht fest.
»Ich möchte nur nicht, dass du dir falsche Hoffnungen machst, Sonja. Klar, ich verstehe schon, dass du im Moment völlig aus dem Häuschen bist. Aber du musst es realistisch sehen. Du bist nur eine von vier Experten, die Mohy el-Din fragt. Und deine Mitbewerber sind höchstwahrscheinlich höher qualifiziert, mach dir da nichts vor.«
»Aber vielleicht haben sie keine Zeit«, murmelte Sonja und hoffte, dass ihre unbekannten Konkurrenten gerade mit superwichtigen Projekten beschäftigt waren.
»Ach, Sonja …« Sie hörte, dass er lächelte. »Wann will er sich denn wieder melden?«
»Noch diese Woche.«
»Dann musst du wenigstens nicht so lange warten.« Damit schien das Thema für Claus vorerst erledigt zu sein. »Und was ist nun mit der Wohnung?«
Sonja spielte mit einem Bleistift, während sie ihm die Räume beschrieb. Sie spürte seine Begeisterung.
»Und?«, fragte er dann. »Hast du zugesagt?«
»Noch nicht …«
»Ich bitte dich! Was hält dich davon ab? Die Wohnung ist ideal. Ruf die Maklerin sofort an, bevor uns jemand das Objekt vor der Nase wegschnappt!«
»Aber wenn ich den Job doch bekommen sollte?«, fragte Sonja. »Dann will ich vorläufig nicht schwanger werden … und wir müssten auch nicht sofort in eine größere Wohnung ziehen.«
»Wenn, wenn, wenn«, wiederholte Claus ungeduldig. »Die Wohnung hätten wir dann wenigstens. Wer weiß, wann sich wieder eine solche Chance bietet.«
Sonja presste die Lippen zusammen. »Falls ich weg bin, müsstest du dich allein um den Umzug kümmern«, sagte sie. »Von Ägypten aus kann ich das nicht regeln.«
»Ach, Schatz, das kriege ich notfalls auch hin, oder traust du mir das nicht zu?« Er lachte. »Ruf die Maklerin an, dass wir die Wohnung nehmen! Und ich bestelle gleich einen Tisch im Restaurant für heute Abend. Ich glaube, wir haben etwas zu feiern.«
»Die Wohnung«, sagte Sonja und schluckte. Dann fügte sie trotzig hinzu: »Und vielleicht meinen Job.«
»Richtig«, meinte Claus. »Vielleicht. Ciao, bis später, mein Liebling.«
In den nächsten Tagen kam kein Anruf vom Supreme Council of Antiquities, und gegen Ende der Woche war Sonja überzeugt, dass sie die Sache abhaken konnte. Ihre Enttäuschung war groß, aber sie ließ sich nichts anmerken, wenn sie mit Claus zusammen war. Sie versuchte, sich auf die neue Wohnung zu konzentrieren. Gemeinsam machten sie anhand des Grundrisses Pläne, wie sie am besten einzurichten war.
Wenn Sonja allein war, wurde sie manchmal wütend. Warum hatte sie nicht ein einziges Mal Glück und bekam einen so verantwortungsvollen Posten? Und warum meldete sich Dr. Mohy el-Din nicht, um ihr abzusagen? Wenigstens eine Mail hätte er schicken können!
Um sich abzulenken, begann Sonja auszumisten. Das war keine Arbeit, die sie sonderlich liebte, aber früher oder später musste sie damit anfangen, wenn sie nicht mit dem ganzen Krempel umziehen wollte. Schweren Herzens packte sie ihre Sammlung von alten Archäologie-Zeitschriften und trug sie zum Altpapier-Container. Als sie den Stapel hineinstopfte, hatte sie das Gefühl, dass das Kapitel Archäologie für sie beendet war. Aber sie spürte keine Erleichterung, eher eine große Leere. Claus dagegen meinte, dass der Job sie ohnehin überfordert hätte. Das tröstete sie kaum.
Nach wie vor zuckte sie zusammen, wenn das Telefon klingelte. Aber entweder war es ihre Freundin Amelie oder die Maklerin, die anrief, um noch ein paar Einzelheiten zu klären, oder ein Vermögensberater, der einen Termin vereinbaren wollte.
Uli hatte ihr eine Mail geschrieben und sich nach dem Stand der Dinge erkundigt. Sie hatte ihm kurz geantwortet, dass Dr. Mohy el-Din sie zwar angerufen, aber sich dann nicht mehr gemeldet hatte.
Sei nicht traurig!, mailte ihr Uli zurück. Du bist trotzdem einzigartig!
Als sie seine Antwort las, bekam sie feuchte Augen. Sie überlegte, woran es lag, dass sie und Uli immer nur gute Freunde gewesen waren. Im Studium hatte jeder von ihnen in einer Beziehung gesteckt. Uli war zuerst wieder Single gewesen. Sonja hatte es mit ihrem damaligen Freund etwas länger ausgehalten. Und als es zwischen ihnen dann zu Ende gewesen war, hatte sie sich bereits in ihren Professor Claus Bronnbach verliebt. Zuerst war es kaum mehr als Schwärmerei gewesen, sie hatte sich nur zaghaft getraut, mit ihm zu flirten. Er war zu jenem Zeitpunkt verheiratet gewesen, und sie hatte damals den Grundsatz gehabt, nicht in fremden Revieren zu wildern, obwohl etliche ihrer Kommilitoninnen in dieser Hinsicht keine Skrupel gehabt hatten. Amelie hatte ihr geraten, ihre Doktorarbeit bei Claus zu schreiben, aber Sonja hatte sich dagegen entschieden. Als es sich herumgesprochen hatte, dass Claus frisch getrennt war, hatte Sonja die Gelegenheit beim Schopf ergriffen. Auf einer Exkursion waren sie sich nähergekommen, und seitdem waren sie zusammen, erst heimlich, dann nach Sonjas Abschluss offiziell. Uli hatte das Auf und Ab ihrer Gefühle immer verfolgt, sie getröstet, wenn sie traurig war, und bei Krisen ihr Selbstbewusstsein wieder aufgebaut.
Sie lächelte. Uli war für sie so etwas wie ein Bruder, den sie leider nie gehabt hatte. Sie überlegte, ob er Pate für ihr Kind werden sollte, strich sich über den Bauch und spürte wieder ein dumpfes Gefühl der Enttäuschung. Der Lockruf Ägyptens war noch so stark …
Ärgerlich über sich selbst, trat sie an das Regal, fuhr an den Bildbänden und an den Büchern über Nofretete entlang und überlegte, ob sie die Bücher nicht doch in ein Antiquariat bringen sollte. Es wurde Zeit, endlich ihren Traum zu begraben; sie würde sonst nie zufrieden werden.
Sie zog die Bücher aus dem Regal und stapelte sie in einen Karton, den sie dann unentschlossen in einen Abstellraum schob. Nein, sie schaffte es nicht, diese Bände wegzugeben. Noch nicht.
Am Freitagnachmittag machte sie sich fertig, um noch für ein paar Stunden ins Museum für Kunst und Gewerbe zu gehen. Ironischerweise hatte in dieser Woche gerade eine Ausstellung über ägyptische Mumien begonnen. Sonja war schon an der Tür, aber weil sie noch etwas Zeit hatte, folgte sie einem inneren Impuls und schaltete ihren Computer ein, um nachzuschauen, ob sie neue Mails bekommen hatte. Das akustische Signal ertönte. Es waren vier ungelesene Nachrichten. Sonjas Herz schlug schneller, als sie als Absender einer Mail das Supreme Council of Antiquities erkannte.
»Die Absage«, murmelte sie und öffnete zögernd die Mail, die den Betreff Tell el-Amarna hatte.
Das Schreiben stammte von Dr. Hazim Mohy el-Din.
Liebe Frau Dr. Morhardt,
sind Sie bereit? Ich erwarte Sie in zehn Tagen. Teilen Sie mir
Ihre Ankunft mit, einer meiner Mitarbeiter wird Sie vom
Flughafen abholen.
Mit besten Grüßen
Dr. Hazim Mohy el-Din
Die Hitze in Kairo erschlug sie fast. Sie war dankbar, dass der junge Mann, den Dr. Mohy el-Din geschickt hatte, ihr die Koffer abnahm. Ihr Flug hatte über drei Stunden Verspätung gehabt. Jetzt konnte sie Dr. Mohy el-Din nicht mehr im Büro aufsuchen.
»Es tut mir leid, dass Sie so lange warten mussten«, sagte Sonja zu dem jungen Ägypter, der sich mit dem Namen Ahmed Ghassab vorgestellt hatte. Sie hatte nicht mehr damit gerechnet, dass er noch auf dem Flughafen wäre, und schon überlegt, ob sie sich ein Taxi zum Hotel nehmen sollte. Doch dann hatte sie das Schild mit ihrem Namen entdeckt.
Ahmed versicherte ihr auf Englisch, dass es ihm nichts ausgemacht habe, so lange zu warten.
»Soll ich Sie gleich ins Hotel bringen?«, fragte er.
Sonja nickte. »Ja, bitte. Ich bin ziemlich erschöpft.«
Als sie zum Auto gingen, teilte Ahmed ihr mit, dass Dr. Mohy el-Din am nächsten Morgen ins Hotel kommen und den Mann mitbringen werde, der Sonja nach Mittelägypten fahren solle.
»Ich habe mit meinem Chef telefoniert und ihm gesagt, dass Ihr Flieger leider Verspätung hat«, sagte er. »Er möchte Sie dann morgen früh persönlich kennenlernen. Es sei denn, Sie wollen jetzt noch mit ihm zu Abend essen.« Ahmed sah Sonja fragend an. »Dann rufe ich ihn auf dem Handy an.«
Sonja überlegte kurz. Die letzten Tage waren äußerst hektisch gewesen, sie hatte sehr viel organisieren müssen. Dazu kam noch der Stress mit Claus, dem es nicht passte, dass sie die Stelle als Ausgrabungsleiterin antreten wollte. Wahrscheinlich hatte er nie ernsthaft damit gerechnet, dass Sonja den Job tatsächlich bekäme. Es hatte endlose Diskussionen und zuletzt einen Riesenkrach gegeben. Vor dem Abflug hatten sie sich wieder halbwegs versöhnt, aber trotzdem war ein schales Gefühl zurückgeblieben.
Eigentlich wollte sie wirklich ihre Ruhe, die Beine hochlegen und abschalten. Andererseits reizte es sie, den Mann kennenzulernen, der es ihr ermöglicht hatte, ihren Traum zu verwirklichen.
Sie lächelte Ahmed an. »Wenn sich Dr. Mohy el-Din heute noch mit mir treffen möchte – gern.«
»Oh, das ist wunderbar, er wird sich freuen.« Ahmed zückte sogleich sein Handy, wählte und sprach ein so schnelles Arabisch, dass Sonja kaum mitkam. Dann reichte er ihr das Handy und sagte: »Er will mit Ihnen reden.«
Sonja war aufgeregt. »Guten Abend, Dr. Mohy el-Din.«
»Hallo, Frau Morhardt.« Seine Stimme klang genauso munter wie vor einigen Tagen. »Ich hoffe, Sie hatten einen guten Flug – bis auf die ärgerliche Verspätung.« Er redete mit ihr, als würden sie sich schon jahrelang kennen, höflich und gleichzeitig kollegial. Sie verabredeten sich um zwanzig Uhr im Restaurant des Hotels. So blieb Sonja noch genügend Zeit, um sich frisch zu machen.
Ahmed lud ihr Gepäck in den Kofferraum seines Wagens, ließ Sonja einsteigen und fuhr los in Richtung Innenstadt, wo sich das Hotel befand, das Dr. Mohy el-Din für sie gebucht hatte. Der Flughafen war vom Zentrum gut zwanzig Kilometer entfernt.
Sonja war schon öfter in Kairo gewesen, aber das Verkehrschaos kam ihr jedes Mal schlimmer vor. Ahmed ließ sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen. Er steuerte das Auto geschickt zwischen Bussen und Lastwagen hindurch, unbeeindruckt von dem Gehupe ringsum. Sonja sah aus dem Fenster, zunehmend fasziniert von der Atmosphäre Kairos und den Gegensätzen, die hier herrschten: Moderne und Tradition, Glanz und Schmutz, orientalisches Flair und die Zugeständnisse an den Tourismus. Der Wüstensand verlieh der Stadt den typischen Gelbstich. Hinter hässlichen grauen Gebäuden ragten Minarette auf, am Straßenrand schimmerte das leuchtende Grün der Dattelpalmen. Je näher sie der Innenstadt kamen, desto dichter wurde der Verkehr. Fußgänger überquerten seelenruhig die Fahrbahn. Zwei Frauen mit langen Röcken balancierten Obstkörbe auf dem Kopf. Ein Eselskarren zuckelte vor ihnen auf der Fahrbahn, auf dem Karren saß ein alter Mann, der eine blaue Galabija trug. Das traditionelle Gewand, das man hier so häufig sah, erinnerte Sonja immer an ein Nachthemd.
Endlich erreichten sie die Innenstadt. Beim Anblick des Nils, der breit dahinströmte und noch immer die Lebensader Ägypten war, ging Sonja das Herz auf. Sie hatte das Gefühl, als komme sie nach Hause.
Ahmed hielt in zweiter Reihe vor dem Hotel und half ihr, das Gepäck in die Eingangshalle zu tragen. Das Hotel war luxuriös, helle Lichter säumten Decke und Wände, orientalische Muster rankten sich um Türen und Torbogen, und Sonja hatte den Eindruck, die Welt von Tausendundeine Nacht zu betreten. Die Müdigkeit fiel von ihr ab, sie spürte eine kribbelnde Aufgeregtheit und wusste plötzlich, dass es richtig gewesen war, hierherzukommen – egal, ob es Claus passte oder nicht.
Sie verabschiedete sich von Ahmed, der ihr einen schönen Abend wünschte, und trat an die Rezeption, wo eine junge Frau sie begrüßte. Die Hotelangestellte sah im Computer nach, bestätigte die Anmeldung, und nachdem Sonja ihren Pass vorgelegt hatte, bekam sie den Zimmerschlüssel. Ihr Zimmer befand sich im ersten Stock, ein Page trug ihr das Gepäck nach oben, während Sonja fast im weichen Teppich versank, mit dem die breite Treppe belegt war.
Das Zimmer war ein Traum, bunt und geräumig: Holzmöbel im orientalischen Stil mit Schnitzereien, das Doppelbett mit gewebter Decke und vielen seidenen Kissen. Im Bad standen mehrere Flakons mit Badesalz und Shampoo bereit, die Handtücher waren kuschelig weich. Es fehlte an nichts. Sonja gab dem Pagen ein Trinkgeld, schloss hinter ihm die Tür und atmete tief durch.
Sie beschloss, zuerst ein Bad zu nehmen, ließ Wasser in die Wanne laufen und roch an verschiedenen Flakons, bevor sie sich für den Sandelholzduft entschied. Sie lag fast eine halbe Stunde lang in der Wanne und fühlte sich danach wie neu geboren. Das Badetuch um den Körper gewickelt, setzte sie sich aufs Bett, zog das Telefon zu sich heran, rief die Rezeption an und ließ sich mit Claus verbinden. Wenig später hörte sie seine Stimme.
»Sonja, endlich. Warum rufst du erst jetzt an? Ich habe mir schon Sorgen gemacht, dass etwas passiert ist.«
»Der Flieger hatte drei Stunden Verspätung. Es ist alles in Ordnung. Ich bin im Hotel. Mein Zimmer ist übrigens sehr schön.«
»Ich vermisse dich jetzt schon«, sagte Claus mit samtiger Stimme. »Wie soll ich es nur so lange ohne dich aushalten?«
Sie lachte leise, ohne zu antworten. Wenn er auf Exkursionen fuhr, war er auch oft wochenlang von ihr getrennt gewesen – und da hatte er niemals diese Frage gestellt.
»Hast du diesen Kerl schon getroffen?«, fragte Claus.
»Welchen Kerl?«
»Na, den Generalsekretär – du weißt schon. Der dich eingestellt hat.«
»Nein, es war zu spät, um ihn im Büro aufzusuchen. Aber wir sind nachher zum Essen verabredet.«
»Wo?«
»Hier im Hotel. Du musst dir keine Sorgen machen, dass ich mich nachts in Kairo verlaufe.«
»Ich mache mir aber Sorgen. Lass dich von dem Typen nicht flachlegen!«
»O Claus!« Sie stöhnte. »Glaubst du, ich bin nach Ägypten gereist, um bei erster Gelegenheit fremdzugehen?«
»Vielleicht erwartet er eine Gegenleistung dafür, dass er dich genommen hat.«
Wut stieg in ihr auf, dass er ein Gespräch auf solchem Niveau führte. Zählten ihre Qualifikationen überhaupt nicht? Sie hatte ihr Studium immerhin mit der Note 1,2 abgeschlossen.
»Du denkst also, er hat mich hauptsächlich deswegen ausgesucht, weil ihm mein Foto gefallen hat?«, fragte sie provozierend. »Mach dich nicht lächerlich, Claus!«
»Ich will nur nicht, dass du da in irgendwas reinrutschst.«
»Ich bin fünfunddreißig und keine siebzehn mehr!«
»Aber du bist manchmal zu gutgläubig … und ich möchte einfach nicht, dass dir was passiert.«
Sie atmete tief durch, um ihn nicht anzuschreien. Er benahm sich total albern. Nur weil es mal nicht nach seinen Vorstellungen ging.
»Okay«, sagte sie, während ihre Stimme vor unterdrücktem Zorn bebte. »Ich werde auf mich aufpassen.« Dann verabschiedete sie sich und versprach, sich wieder zu melden, sobald sich die Gelegenheit dazu ergäbe.
»Du hast ja meine Handynummer. Allerdings weiß ich nicht, wie gut die Verbindung in Tell el-Amarna ist. Möglicherweise gibt es dort kein Funknetz.«
Nachdem sie aufgelegt hatte, stieß sie die Luft aus. Claus war extrem anstrengend! Sie war doch nicht sein Besitz!
Trotzig beschloss sie, sich an diesem Abend besonders schön zu machen. Zwanzig Minuten später war sie angezogen, geschminkt und sehr zufrieden mit dem Resultat. Sie blickte auf die Uhr und entschied, schon einmal in die Halle zu gehen und in der Lobby auf Dr. Mohy el-Din zu warten.
Als sie über den roten Teppich die Treppe hinunterstieg, sah sie ihn in die Halle kommen und auf die Rezeption zusteuern. Sie erkannte ihn sofort. Er sah genauso aus wie auf den Fotos und in den Fernsehsendungen – ein hochgewachsener Mann, etwa Mitte fünfzig, mit vollem grauem Haar, dunklem Teint und zielstrebigen Bewegungen. Statt der üblichen Jeans trug er einen dunkelbraunen Anzug.
Lächelnd trat Sonja auf ihn zu. »Dr. Mohy el-Din?«
Sein Kopf fuhr herum. »Frau Morhardt?« Er strahlte übers ganze Gesicht. Seine Augen waren hellblau, ungewöhnlich für einen Ägypter. »Freut mich sehr.«
Sein Händedruck war kräftig. Er hielt ihre Hand eine Spur länger fest, als es üblich war. »Schön, dass Sie sich trotz des anstrengenden Flugs Zeit für mich nehmen. Ich hoffe, Sie sind zufrieden mit dem Hotel, das ich für Sie ausgesucht habe.«
»Es ist alles ganz wunderbar«, versicherte Sonja ihm.
»Die Küche ist auch hervorragend«, sagte er. »Sehr zu empfehlen.«
Sonja nickte. »Gut, ich habe nämlich einen Riesenhunger.«
Sie gingen zusammen über weiche Teppiche den Flur entlang, der in das Restaurant führte.
»Ich mag dieses Land«, gestand Sonja. »Manchmal habe ich das Gefühl, dass Ägypten meine zweite Heimat ist.« Das war nicht übertrieben.
»Vielleicht haben Sie früher schon einmal hier gelebt, in einem anderen Leben.« Er sah sie von der Seite an. »Glauben Sie an die Wiedergeburt?«
Sie hob die Schultern. »Offen gestanden weiß ich nicht so recht, was ich davon halten soll.«
»Sie könnten eine Rückführung machen lassen, dann würden Sie Genaueres erfahren. Es gibt sicher auch in Deutschland Therapeuten, die Rückführungen in frühere Leben anbieten.«
»Ich glaube nicht, dass ich so etwas wirklich will. Es könnte ja etwas herauskommen, das mir überhaupt nicht gefällt.«
»Da haben Sie auch wieder recht.«
Sie betraten das Restaurant. Sonja registrierte den spiegelnden Marmorboden und die stilvoll gedeckten Tische. Von der Decke hingen kleine Lampions, die ein mildes Licht verbreiteten.
»Sollen wir uns ans Fenster setzen?«, fragte Dr. Mohy el-Din.
»Gern.«
Ein Kellner führte sie an einen freien Tisch mit Blick auf den Innenhof des Hotels. Der menschenleere Pool war beleuchtet. Auch draußen standen Tische, an denen Gäste saßen, in Jacken und Schals gehüllt, denn abends wurde es kühl.
Dr. Mohy el-Din wechselte mit dem Kellner einige Sätze auf Ägyptisch. Der Kellner wollte sie unbedingt zu einem besonderen Fischgericht überreden.
»Wir möchten trotzdem die Karte«, sagte Dr. Mohy el-Din.
Der Kellner verbeugte sich und brachte kurz daraufzwei in Leder gebundene Speisekarten. Der Text war zweisprachig, arabisch und englisch. Sonja bestellte als vegetarische Vorspeise Auberginenpüree. Als Hauptgang wählte sie geschmortes Lammfleisch mit Okraschoten, während Dr. Mohy el-Din sich gefüllte Eier und Hähnchen mit Nussreis aussuchte. Sie mussten gar nicht lange warten, bis der Kellner die Vorspeisen und dazu das obligatorische Fladenbrot brachte. Als Sonja sich ein Brotstück abriss, spürte sie, wie sie allmählich zur Ruhe kam. Sie war angekommen, vor ihr lag ein angenehmer Abend, und in der nächsten Zeit würde eine verantwortungsvolle Aufgabe auf sie warten. Sie war rundum zufrieden, als sie einen Klecks Auberginenpüree auf ihr Brotstück häufte.
»Sie sind also eine Frau, die gern im Hier und Jetzt lebt.« Dr. Mohy el-Dins Worte waren keine Frage, sondern eine Feststellung.
Sonja dachte kurz nach und nickte. »So kann man es sagen. Natürlich denke ich ab und zu über die Zukunft nach, aber ich plane mein Leben nicht Jahre voraus.« Wie Claus, hätte sie am liebsten hinzugefügt.
»Und Sie machen sich erst recht keine Gedanken über den Tod«, sagte Dr. Mohy el-Din, während er eine Gabel Reis in den Mund schob.
Sie wurde rot. »Doch«, gestand sie. »Ab und zu schon.« Sie hob die Schultern. »Aber ich kann mir ein Weiterleben nach dem Tod nicht recht vorstellen. Ich bin ein paar Jahre lang in eine Klosterschule gegangen. Wir waren nur Mädchen, Nonnen haben uns unterrichtet, alles war ritualisiert, wir mussten jeden Morgen vor dem Unterricht beten. Es war ein Albtraum. Mit sechzehn bin ich endlich auf eine normale Schule gegangen, und sobald ich das Abi hatte, bin ich aus der Kirche ausgetreten. Meine Mutter war entsetzt. Vielleicht können Sie verstehen, dass ich zur Religion ein ziemlich zwiespältiges Verhältnis habe.«
»Bei den alten Ägyptern war das Leben sehr auf den Tod ausgerichtet«, sagte Dr. Mohy el-Din. »Wenn man alle diese Bauwerke betrachtet, scheint der Tod für sie sogar wichtiger gewesen zu sein als das Leben. Sie haben schon zu Lebzeiten alle Einzelheiten für das Leben nach dem Tod organisiert – zumindest jene, die es sich leisten konnten.«
Sonja nickte. »Während bei uns in den westlichen Ländern Sterben und Tod immer noch verdrängt werden.« Sie versuchte, sich in die Lebenswelt der alten Ägypter einzufühlen, und fragte sich, wie sich deren Denkweise wohl auf das moderne Leben auswirken würde. Die Straßen wären dann vielleicht mit Engelsstatuen geschmückt, sodass man sich immer und überall begleitet fühlte. Und gleichzeitig überwacht. Man würde in der Gewissheit aufwachsen, dass nach dem Tod keine große schwarze Leere käme, sondern ein neues buntes Leben mit Abwechslungen, aber auch Verpflichtungen …
Sie schüttelte den Kopf. Die Vorstellung war zu schwierig. Sie war sich nicht sicher, ob sie die alten Ägypter um ihren tiefen Glauben beneiden sollte. Aber zumindest hatte dieser Glaube eine einzigartige Kultur hervorgebracht.
»Und dann kam Echnaton, der alle alten Götter stürzte und den Sonnengott zum alleinigen Gott erhob«, erklärte Dr. Mohy el-Din, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Und sich selbst hat er zu seinem Vertreter gemacht.«
»Eine unvorstellbare Revolution«, bestätigte sie. »Bestimmt ging der Wandel nicht ohne größeres Blutvergießen vonstatten. Der Pharao zog sich doch sicher den Hass der Priester zu, die den alten Göttern dienten. Schließlich waren die meisten plötzlich arbeitslos, als er die Tempel schließen ließ.«
»Aber das Volk folgte Echnaton«, sagte Dr. Mohy el-Din. »Er muss eine unglaublich charismatische Persönlichkeit gewesen sein.«
»Ja, seine Ausstrahlung war wohl geradezu magisch«, stimmte sie zu. »Genau wie die seiner Gemahlin Nofretete.«
»Womit wir beim Thema wären.« Er lächelte sie über den Tisch hinweg an. »Es wäre sensationell, wenn wir ihre Mumie fänden. Die ganze Welt würde aufhorchen.«
Sie wurde ernst. »Haben Sie inzwischen etwas von Paul Lehmann gehört?«
»Nein, nichts. Leider.«
»Was ist Ihrer Meinung nach mit ihm passiert?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Lehmann galt als sehr zuverlässig. Ich glaube nicht, dass er einfach seine Arbeit im Stich gelassen hat.«
Sonja spielte mit der Serviette und schwieg.
»Haben Sie Angst vor Ihrer Aufgabe?«, fragte Dr. Mohy el-Din.
»Eigentlich nicht«, antwortete Sonja. »Es ist für mich eine großartige Chance. Ich werde mir wirklich Mühe geben.«
Er lächelte. »Davon bin ich überzeugt.« Er tupfte sich den Mund ab. »Wer weiß, in welche Geschäfte er sich hat verwickeln lassen.«
»Glauben Sie, Paul Lehmann war bestechlich?«
»In der Regel ist alles nur eine Frage des Preises.«
»Ich habe mit ihm studiert«, erzählte Sonja. »Er war mir nie sonderlich sympathisch, aber er war sehr pflichtbewusst. Beinahe schon überkorrekt.«
»Also ein Beamtentyp, kein Abenteurer.«
»Genau. Sehr ehrgeizig. Er wollte immer der Beste sein.«
»Vielleicht ist ihm genau dieser Wunsch zum Verhängnis geworden. Aber jetzt wollen wir lieber über Sie reden statt über Lehmann.« Er sah sie an. In seinen Augen lag ein eigentümlicher Ausdruck, und Sonja überlegte, ob er mit ihr flirtete. Doch dann lehnte sich Dr. Mohy el-Din zurück und wurde sachlich.
»Morgen früh gegen neun holt mein Fahrer Sie mit dem Wagen ab. Es ist eine weite Fahrt bis nach Tell al-Amarna, aber mit etwas Glück können Sie es bis gegen Abend schaffen. Ansonsten müssten Sie unterwegs übernachten, aber keine Sorge, mein Fahrer kennt entsprechende Adressen.«
»Ich bin wirklich sehr gespannt«, gestand Sonja. »Ich kann es kaum erwarten, mit der Arbeit anzufangen.«
»Genießen Sie die Nacht in diesem Hotel und Ihr weiches Bett«, sagte er. »Im Camp wird es nicht ganz so komfortabel sein. Wir haben uns zwar nach Kräften bemüht, für alles Notwendige zu sorgen, aber ein Zelt ist nun mal kein Fünfsternehotel.«
»Das ist mir schon klar«, murmelte Sonja. »Es ist schließlich nicht die erste Ausgrabung, an der ich teilnehme.«
»Das war auch nicht so gemeint.« Er rückte wieder näher an den Tisch heran. »Ägypten hat viele Gesichter. Auf der einen Seite gibt es unendlichen Luxus, auf der anderen Seite bittere Armut. Aber das war auch schon so in der Zeit der Pharaonen. An Ihrer Stelle würde ich heute noch den Luxus auskosten. Möchten Sie einen Nachtisch?«
Zwei Stunden später lag Sonja im Bett und wälzte sich ruhelos von einer Seite auf die andere. Obwohl sie todmüde war, konnte sie nicht einschlafen. Zu viel ging ihr im Kopf herum. Das leise Surren der Klimaanlage, die ungewohnten Geräusche, der volle Magen – alles störte sie.
Sie hätte doch nicht als Nachtisch Om Ali essen sollen, das war eindeutig zu viel gewesen. Es stieß ihr klebrig nach den Nüssen und dem Strudelteig auf, und ihr war ein wenig schlecht.
Trotzdem war es ein netter Abend gewesen. Sie fand Dr. Mohy el-Din sehr sympathisch, und das Gefühl schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Sie würden sicher gut miteinander auskommen. Bestimmt würde sie noch oft mit ihm zu tun haben.
Trotz der leichten Übelkeit spürte sie wieder ein erwartungsvolles Kribbeln im Bauch. Sie dachte an ihr Zelt, an ihr Feldbett, an die Arbeit, die sicher schon in aller Frühe beginnen würde, denn man musste die Tage ausnutzen, weil für die Grabung nicht unbegrenzt viel Zeit zur Verfügung stand.
Ob sie wirklich das Grab der Nofretete oder ihre Mumie finden würde? Die Königin war irgendwann spurlos aus der Geschichte verschwunden. Man hatte sie geliebt, gehasst, bewundert und irgendwann so verachtet, dass man ihren Namen in den Kartuschen gelöscht hatte, um die Erinnerung an sie zu tilgen.
Aber die schöne Porträtbüste, die heute im Neuen Museum in Berlin stand, hatte das Gedächtnis an Nofretete für immer bewahrt.
Mit diesem Gedanken fiel Sonja endlich in einen tiefen und traumlosen Schlaf.
Achetaton,
im 12. Regierungsjahr des Pharaos
Nofretete stand vor dem großen Bronzespiegel, musterte sich mit kritischem Blick und strich sich mit den Händen über die Hüften. Ihr Körper war noch immer schlank und fest, obwohl sie sechs Kinder geboren hatte – sechs Töchter, die ihre Schönheit geerbt hatten.
Die letzte Geburt war schwierig gewesen, sie wäre dabei fast verblutet und hatte schon die Schatten von Osiris’ Reich gesehen. Aber Aton hatte ihren Tod nicht zugelassen und sie ins Licht zurückgeführt.
Man hatte ihr vorhergesagt, dass sie keine weiteren Kinder bekommen werde. Und es stimmte. Bisher hatte sich ihr Leib mit derselben Regelmäßigkeit gerundet, wie der Nil über seine Ufer trat. Doch im letzten und auch in diesem Jahr blieb ihr Bauch flach, sie trug keine Frucht mehr unter ihrem Herzen und würde Echnaton keinen Thronfolger schenken, den er sich so sehnlich wünschte.
Sie presste die Lippen aufeinander. Es war nur natürlich, dass Echnaton sich der schönen Kija zugewandt und diese zur Nebenfrau gemacht hatte, damit sie ihm einen Sohn gebar. Aber dass er Nofretetes Lager gar nicht mehr aufsuchte, um sie mit seinen Zärtlichkeiten zu beglücken, das verletzte sie tief. War sie nicht mehr anziehend für ihn?
Sie betrachtete ihre Beine. Auf den Oberschenkeln und auch auf dem Bauch waren feine weiße Narben zu sehen, die die Schwangerschaften hinterlassen hatten. Auch ihre Brüste waren nicht mehr so fest wie früher. Aber ihr Gesicht war straff und faltenlos. Mit stolzem Blick betrachtete sie sich im Spiegel. Ihre Schönheit war legendär. Wenn sie gewollt hätte, hätte sie jeden Mann haben können. Die Männer verehrten sie – sie, die Sonnenkönigin, die Unerreichbare.
Warum hatte sie Echnatons Liebe verloren? Er war wie vernarrt in Kija. Natürlich war sie, Nofretete, noch immer die göttliche Gemahlin, mit ihr ließ er sich in der Öffentlichkeit sehen, und gemeinsam vollzogen sie die Zeremonien. Doch die Nächte gehörten der anderen.
Nofretete runzelte die Stirn. Das musste ein Ende haben. Sie wollte Echnatons Aufmerksamkeit zurückerobern – er sollte wieder mit ihr schlafen, seinen Samen in sie ergießen. Sie hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass sie doch noch einen Thronfolger zur Welt bringen würde – gleichgültig, was die Ärzte sagten.
Vielleicht hatte Kija Echnaton verhext. Nofretete schloss bei diesem Gedanken die Augen. Ja, so musste es sein. Es hieß, sie sei schwanger und ihr Leib bereits rund wie der Mond. Trotzdem wohnte Echnaton ihr offenbar noch immer Nacht für Nacht bei. Bestimmt war sie nicht mehr sehr beweglich und alles andere als eine leidenschaftliche Gespielin. Gewöhnlich hätte Echnaton sich längst zurückgezogen und sich eine andere Frau genommen, auch um das ungeborene Kind nicht zu gefährden. Dass er es nicht tat, konnte nur einen Grund haben: Zauberei.
So konnte es nicht weitergehen. Wenn Kija tatsächlich einen Sohn zur Welt brachte, würde ihr Ansehen noch weiter steigen – und vielleicht machte Echnaton sie dann zu seiner Hauptfrau. Das durfte nicht geschehen, auf keinen Fall!
Nofretete krallte die Finger so heftig ineinander, dass sich die Nägel ins Fleisch bohrten. Sie war entschlossen, Echnatons Liebe zurückzugewinnen. Wenn sie es nicht mit ihrer Schönheit schaffte, dann musste sie eben zu dem Mittel greifen, das auch Kija benutzte. Und je eher, desto besser.
Nofretete streifte das Gewand über und verhüllte Gesicht und Schultern mit einem breiten Schal. Sie wusste, wohin sie sich wenden musste. Sie würde den Schutz der Dunkelheit nutzen. Niemand würde sie unterwegs erkennen. Und die Zauberin, die sie aufsuchte, würde über das nächtliche Gespräch Stillschweigen bewahren. Andernfalls würde Nofretete dafür sorgen, dass ihr Körper tot im Nil trieb.
Am nächsten Tag fühlte sich Sonja wie gerädert. Ihr fehlte der Schlaf. Sie litt an Bauchkrämpfen und hatte sich in den frühen Morgenstunden zweimal übergeben. Als sie aus dem Bett taumelte, wusste sie nicht, wie sie den Tag überstehen sollte. Ein Blick in den Spiegel überzeugte sie, dass sie genauso elend aussah, wie sie sich fühlte. Sie musste sich am Waschbecken festhalten, so weich und zittrig waren ihre Knie.
»So ein Mist!«
Wahrscheinlich hatte sie das Essen am Abend zuvor nicht vertragen, obwohl sie kein ungewaschenes Obst gegessen und kein Leitungswasser getrunken hatte.
Beim Gedanken an ein Frühstück rebellierte ihr Magen, und sie musste wieder würgen. Aber es kam nichts mehr außer einer Handvoll Schleim. Danach stand ihr der kalte Schweiß auf der Stirn. Am liebsten wäre sie ins Bett zurückgekrochen und hätte den Tag verschlafen. Aber das war nicht möglich. Dr. Mohy el-Dins Fahrer würde sie in anderthalb Stunden abholen. Sie musste sich zusammenreißen. Leicht schwankend kehrte sie in ihr Zimmer zurück und suchte im Koffer nach dem Mittel gegen Reiseübelkeit. Sie fand das Fläschchen, träufelte ein paar Tropfen auf einen Löffel und hoffte auf rasche Wirkung. Für einige Minuten blieb sie auf der Bettkante sitzen. Allmählich ging es ihr besser.
Sie duschte sich, machte sich fertig und ging in den Frühstücksraum hinunter. Den Köstlichkeiten auf dem Büfett schenkte sie keinen Blick. Stattdessen verlangte sie nach schwarzem Tee und weißem Toastbrot.
Rechtzeitig vor neun Uhr hatte sie ihre Sachen gepackt und an der Rezeption ausgecheckt. Nun wartete sie in der Lobby auf den angekündigten Fahrer.
Es war schon nach halb zehn, als sich die gläserne Eingangstür öffnete und ein untersetzter Mann das Hotel betrat. Er sah sich suchend um. Sonja erhob sich aus dem roten Plüschsessel und trat auf den Mann zu.
»Hello, are you looking for me? I’m Sonja Morhardt.«
Ein Blick aus schwarzen Augen traf sie. Blitzschnell fühlte sie sich von oben bis unten gemustert. Sie spürte sofort eine Welle von Antipathie, die in ihr aufstieg. Der Mann machte einen ungepflegten Eindruck und roch nach Schweiß. Er sah eher wie ein Wegelagerer aus und nicht wie ein Chauffeur, der vom Generalsekretär des Supreme Council of Antiquities zu ihr geschickt worden war.
Er antwortete ihr in gebrochenem Englisch, stellte sich als Marik Habib vor und sagte, dass er den Auftrag habe, sie nach Tell el-Amarna zu bringen. Dann musterte er ihr Gepäck.
»Ist das alles?«
Sonja nickte. Er griff nach ihrem Koffer und überließ ihr die beiden schweren Reisetaschen. Schon war er auf dem Weg nach draußen. Sie hatte Mühe, ihm zu folgen, und spürte, wie sich ein neuer Schweißausbruch ankündigte. Als sie das Hotel verließ, war Marik verschwunden, und einen Augenblick lang befürchtete sie, dass er mit ihrem Koffer das Weite gesucht hatte. Der Verkehrslärm war um diese Zeit bereits gewaltig; das laute Gehupe und die knatternden Auspuffe machten Sonja fast verrückt. Dann entdeckte sie zu ihrer Erleichterung Marik. Das grüne Auto, mit dem er gekommen war, parkte ein Stück vom Hotel entfernt in zweiter Reihe, und Marik wartete vor dem geöffneten Kofferraum, eine Zigarette im Mundwinkel. Sie schleppte sich zu dem Wagen, wo Marik ihr wortlos die beiden Taschen abnahm und verstaute. Mit einer Handbewegung bedeutete er ihr, sie solle einsteigen.
Das Auto sah nicht gerade vertrauenerweckend aus, ein altes Vehikel, das schon bessere Zeiten erlebt hatte. Sonja musste ziemlich viel Kraft aufwenden, bis es ihr gelang, die Tür zu öffnen. Der Sitz war durchgesessen, der Sicherheitsgurt ließ sich nicht richtig anlegen, und nach mehreren Versuchen gab sie es auf.
Marik war mittlerweile ebenfalls eingestiegen, steckte den Zündschlüssel ins Schloss, startete den Motor und fädelte sich in den Verkehr ein. Sie fuhren nach Süden, und zur Rechten sah Sonja die riesigen Pyramiden von Gizeh, Monumente einer längst vergangenen Zeit. Es war ein erhabener Anblick, der sie an den Grund ihres Hierseins erinnerte. Sie versuchte sich zu entspannen und streckte die Beine so weit wie möglich nach vorn aus.
Außerhalb Kairos schien Marik etwas gesprächiger zu werden. Er fragte sie, ob sie zum ersten Mal in Ägypten sei.
»Nein, ich bin schon oft hier gewesen«, antwortete Sonja. »Aber ich habe bisher noch nie eine Ausgrabung geleitet.«
Dieser Punkt schien ihn nicht sonderlich zu interessieren. Er wollte wissen, ob sie verheiratet sei und Kinder habe.
»Weder noch«, sagte Sonja. »Und Sie?«
Sie erfuhr, dass Marik drei Söhne hatte, sieben, fünf und drei Jahre alt. Er zog einige abgegriffene Fotos aus der Brusttasche und reichte sie ihr. Die drei dunkelhaarigen Jungen sahen einander sehr ähnlich. Sonja lächelte. Marik erzählte ihr voller Stolz, dass seine Frau wieder schwanger sei, das Kind werde im Januar zur Welt kommen.
»Eine große Familie«, sagte Sonja anerkennend.
Damit war das Eis endgültig gebrochen. Marik redete wie ein Wasserfall. Als Fahrer war er oft tagelang unterwegs und froh, dass seine Schwester und sein Schwager in der Nähe wohnten, sich um seine Frau und seine Kinder kümmerten und notfalls auch einmal aushalfen. Ab und zu ließ Sonja eine höfliche Bemerkung fallen, aber irgendwann versiegte sein Redestrom. Im Wagen wurde es immer heißer. Sonja klappte die Blende über der Frontscheibe herunter und setzte ihre Sonnenbrille auf. Die Fahrt ermüdete sie zunehmend. Sie konzentrierte sich auf die Landschaft, auf das breite Band des Nils, die Lebensader Ägyptens. Das fruchtbare Land an seinen Ufern leuchtete in sattem Grün. Es war relativ schmal, verglichen mit der Gesamtfläche, und schon wenige Hundert Meter dahinter begannen Wüste oder Gebirge. Sie erblickte Menschen, die den Boden seit Jahrtausenden nach denselben Methoden bearbeiteten; die genügsamen Leute nötigten ihr Respekt ab, sie fanden in dem einfachen Dasein ihre Zufriedenheit. Die kleinen Kinder, die sie unterwegs sah, wirkten glücklich und unkompliziert; manche winkten dem Wagen fröhlich zu.
Sonja rieb sich die Schläfen, die Hitze machte sie träge, und Kopfschmerzen kündigten sich an. Sie musste an das Gespräch mit Dr. Mohy el-Din denken und an seinen Vorschlag, einen Rückführungstherapeuten aufzusuchen. Während sie durch das offene Wagenfenster nach draußen starrte, überlegte sie, ob sie wohl schon einmal gelebt hatte. Vielleicht in diesem Land, mit dem sie sich so verbunden fühlte … Sie konnte es sich nicht vorstellen, obwohl sie sich für die ägyptische Vergangenheit brennend interessierte und gern gewusst hätte, wie es damals wirklich gewesen war. In Achetaton beispielsweise, jener blühenden Stadt, die Echnaton gegründet hatte und in der nach Schätzung der Wissenschaftler bis zu fünfzigtausend Einwohner gelebt hatten. Also gigantisch für damalige Verhältnisse. Inzwischen waren nur noch ein paar Steine übrig, eine Fundgrube hauptsächlich für Archäologen, nichts Spektakuläres … Tell el-Amarna zählte nicht gerade zu den Sehenswürdigkeiten, die scharenweise von Touristen aufgesucht wurden. In Luxor oder in Karnak gab es für Reisende viel mehr zu sehen: der beeindruckende Tempel mit den hohen Säulen, die Allee der Sphingen oder das Tal der Könige. Tell el-Amarna war eher ein Geheimtipp für eingefleischte Ägyptenfreaks. Echnaton hatte sich bestimmt eine andere Zukunft für seine Stadt gewünscht. Sonja seufzte.
Marik warf ihr einen Seitenblick zu. »Eine lange Fahrt.«
»Ich weiß«, antwortete Sonja.
»Aber ich bin sicher, dass wir es bis heute Abend schaffen«, murmelte Marik.
Falls wir keine Panne haben und der Wagen unterwegs liegen bleibt, dachte Sonja unwillkürlich. Seit ein paar Kilometern kam es ihr so vor, als sei der Motor noch lauter geworden, und das merkwürdige Klingelgeräusch war sicher alles andere als normal. Marik jedoch wirkte keineswegs beunruhigt und pfiff leise vor sich hin. Dann wühlte er plötzlich im Handschuhfach herum, schob eine Kassette in den Recorder, und kurz darauf tönte arabische Musik aus den Lautsprechern. Sonja dröhnte allmählich der Kopf, aber der Schmerz war auszuhalten und versetzte sie, zusammen mit der Hitze und der Musik, in einen tranceähnlichen Zustand, aus dem sie erst erwachte, als der Wagen plötzlich zum Stehen kam. Marik stieg aus.
Sonja rieb sich die Augen und stellte fest, dass sie an einer Tankstelle angehalten hatten. Sie öffnete ebenfalls die Tür, um sich nach dem langen Sitzen die Beine zu vertreten.
Es war heiß, und die Luft roch nach Benzin. Sonja fühlte sich noch immer schwach, aber sie stellte fest, dass sie allmählich wieder ohne Ekelgefühle an Essen denken konnte. Inzwischen war es Mittag geworden, die Sonne stand hoch am Himmel.
»Wo sind wir?«, fragte sie Marik.
Sie erfuhr, dass sie sich unmittelbar vor der Stadt Biba befanden und ungefähr die Hälfte der Strecke geschafft hatten. Sonja reckte den Hals und entdeckte eine koptische Kirche. Hätte sie sich besser gefühlt, hätte sie die Gelegenheit genutzt, um sich unterwegs einige Sehenswürdigkeiten anzusehen, aber in ihrem momentanen Zustand wollte sie jede zusätzliche Anstrengung lieber vermeiden.
Marik fragte, ob sie in Biba unterbrechen oder weiterfahren sollten. Sonja hatte mittlerweile großen Hunger und nichts gegen eine Essenspause einzuwenden.
Marik meinte, für die weitere Strecke müssten sie etwas mehr Zeit einplanen. Vor allem in El-Minija würden sie nicht so schnell vorankommen, denn die Stadt sei immer sehr voll, wenn die Straßen auch nicht ganz so verstopft seien wie in Kairo.
Sonja nickte nur. Sie fuhren in die Stadtmitte hinein, und Marik suchte einen geeigneten Platz, um den Wagen abzustellen. Sie stiegen aus und schlenderten durch die Straßen auf der Suche nach etwas Essbarem. Endlich wurden sie fündig – am Straßenrand wurden heiße Süßkartoffeln angeboten. Dazu tranken sie gekühlten roten Hibiskustee. Sonja staunte, wie erfrischend und belebend das Getränk war. Als sie zum Wagen zurückkehrten, fühlte sie sich gestärkt.