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In einem Haus an einem Fjord liegt Signe, eine alte Frau, auf einer Bank und sieht sich selbst als junge Frau durch die Räume gehen. Sie sieht sich am Fenster stehen und auf das Wasser blicken. Sie sieht ihren Mann Asle, den es in seinem kleinen Boot immer wieder auf den Fjord hinauszog, bis er eines Tages nicht zurückkehrte. In dem alten Haus, das erfüllt ist von den Stimmen seiner ehemaligen Bewohner, traumwandelt Signe durch die Vergangenheit und begegnet den vorangegangenen Generationen der Familie – bis zurück zu Asles Ururgroßmutter Alise, die in der Nacht am Ufer ein Feuer hütet. Denn schon damals hatte es einen gegeben, der nie mehr vom Fjord zurückkam.
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Seitenzahl: 109
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Jon Fosse
Novelle
Aus dem Norwegischenvon Hinrich Schmidt-Henkel
mare
© 2023 by mareverlag, Hamburg
© 2003 by Jon Fosse
Covergestaltung Nadja Zobel, Petra Koßmann / mareverlag
Coverabbildung Magazin
Datenkonvertierung E-Book Bookwire
ISBN E-Book: 978-3-86648-838-0
ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-743-7
www.mare.de
Ich sehe Signe auf der Bank liegen dort in der Stube und sie blickt auf all das Altgewohnte, den alten Tisch, den Ofen, die Holzkiste, die alte Wandvertäfelung, das große Fenster zum Fjord hin, sie blickt darauf, ohne es zu sehen, und alles ist wie immer, nichts ist verändert, trotzdem ist alles anders, denkt sie, denn seit er verschwunden und nie wiedergekommen ist, ist nichts mehr, wie es war, sie ist einfach hier, ohne hier zu sein, die Tage kommen, die Tage gehen, die Nächte kommen, die Nächte gehen und sie folgt mit ihren langsamen Bewegungen, ohne dass irgendetwas besonders oder außergewöhnlich ist, und weiß sie, was für ein Tag heute ist?, denkt sie, ja, es ist wohl Donnerstag und der Monat ist März, und das Jahr, das Jahr ist 2002, so viel weiß sie, so viel schon, aber welches Datum heute ist und so was, nein, das will ihr nicht einfallen, und warum eigentlich auch? was hat das schon zu bedeuten?, denkt sie, sie braucht das nicht zu wissen, sie kann trotzdem sicher und schwer in sich selber ruhen, so, wie sie war, bevor er verschwunden ist, aber dann packt sie das wieder, dass er verschwunden ist, an dem Dienstag damals, Ende November, 1979, und sofort ist sie wieder in dem Leeren, denkt sie und sie blickt zur Flurtür und die geht auf und dann sieht sie sich selber hereinkommen und die Tür hinter sich zumachen und dann sieht sich selber in die Stube gehen, sie bleibt stehen und sie blickt zum Fenster, und dann sieht sie sich selber, wie sie ihn anblickt, und er steht am Fenster und sie sieht, wie sie im Zimmer steht, dass er ins Dunkle hinausschaut, mit seinem langen schwarzen Haar und in seinem schwarzen Pullover, dem Pullover, den sie selber für ihn gestrickt hat, und er trägt ihn fast immer, wenn es kalt ist, er steht da, denkt sie, und er ist fast eins mit der Dunkelheit dort draußen, denkt sie, ja, so sehr, dass sie, als sie die Tür aufgemacht und hineingekommen ist, erst gar nicht gemerkt hat, dass er da steht, obwohl sie, ohne es zu denken, ohne es sich einzugestehen, irgendwie gewusst hat, dass er da stehen würde, denkt sie, und sein schwarzer Pullover und die Dunkelheit draußen vorm Fenster sind fast eins, er ist die Dunkelheit, die Dunkelheit ist er, aber trotzdem, denkt sie, als sie hereingekommen ist und ihn da hat stehen sehen, da war das, als würde sie etwas Unerwartetes sehen, und das ist seltsam, denn er steht so oft dort am Fenster, nur dass sie es sonst nicht sieht, denkt sie, oder sie sieht es, aber sie bemerkt es irgendwie gar nicht, denn dass er da steht, ist wohl auch zu einer Gewohnheit geworden, wie das meiste, es ist etwas, das einfach ist, um sie herum, aber jetzt, als sie in die Stube gekommen ist, hat sie gesehen, dass er da steht, sie hat sein schwarzes Haar gesehen und seinen schwarzen Pullover und jetzt steht er immer noch da und blickt hinaus in die Dunkelheit und warum tut er das bloß?, denkt sie, warum steht er einfach da? wenn ja draußen hinterm Fenster noch etwas zu sehen wäre, dann könnte sie es verstehen, aber dort ist nichts zu sehen, nur die Dunkelheit, die schwere, fast schwarze Dunkelheit, höchstens könnte vielleicht ein Auto kommen und dann könnte das Licht von den Scheinwerfern ein Stück von der Straße beleuchten, aber so viele Autos kommen hier nicht vorbei und das hat sie ja auch so haben wollen, sie hat an einem Ort wohnen wollen, wo sonst niemand wohnt, wo sie und er, Signe und Asle, möglichst ganz allein sind, einem Ort, den alle anderen verlassen haben, einem Ort, wo der Frühling Frühling ist, der Herbst Herbst, der Winter Winter, wo der Sommer Sommer ist, an so einem Ort hat sie leben wollen, denkt sie, aber jetzt, wenn nur noch die Dunkelheit zu sehen ist, warum steht er dann da und schaut in die Dunkelheit hinaus? warum tut er das? warum steht er da so oft, obwohl nichts zu sehen ist?, denkt sie, und wenn nur endlich Frühling werden könnte, denkt sie, wenn nur endlich der Frühling kommen würde, Licht, wärmere Tage, kleine Blumen auf der Wiese, Knospen an den Bäumen und Blätter, denn diese Dunkelheit, diese ewige Dunkelheit immer, die hält sie nicht mehr aus, denkt sie, und sie muss wohl bald was zu ihm sagen, denkt sie, und dann ist ihr, als ob etwas anders wäre als vorher, denkt sie und sie schaut sich in der Stube um und alles ist wie immer, nichts ist verändert und warum denkt sie dann, dass etwas verändert ist?, denkt sie, warum sollte sich etwas verändert haben? warum denkt sie so was? dass sich etwas verändert hätte?, denkt sie, denn er steht ja dort am Fenster, fast nicht zu unterscheiden von der Dunkelheit draußen, aber was ist bloß in der letzten Zeit mit ihm los? ist etwas passiert? hat er sich verändert? warum ist er so still geworden? aber nun, still, ja, still ist er immer gewesen, denkt sie, was man sonst auch von ihm sagen mag, er ist schon immer ein Stiller gewesen, also ist das eigentlich nichts so Besonderes, so ist er eben, so verhält er sich eben, so ist es eben, was, denkt sie, aber wenn er sich jetzt doch bloß zu ihr umdrehen würde, etwas zu ihr sagen würde, denkt sie, einfach nur irgendwas sagen, aber er bleibt da stehen, als hätte er nicht mal bemerkt, dass sie reingekommen ist
Da stehst du also, was, sagt Signe
und er dreht sich zu ihr um und sie sieht, dass die Dunkelheit auch in seinen Augen ist
Tu ich wohl, ja, sagt Asle
Nicht viel zu sehen draußen, sagt Signe
Nein, nichts, sagt Asle
und er lächelt ihr zu
Nein, nur die Dunkelheit, sagt Signe
Nur die Dunkelheit ja, sagt Asle
Wo schaust du hin, fragt Signe
Weiß ich nicht, sagt Asle
Aber du stehst am Fenster, sagt Signe
Tu ich, ja, sagt Asle
Aber du schaust nirgends hin, sagt Signe
Nein, sagt Asle
Aber warum stehst du dann da, fragt Signe
Ja, sag doch mal, sagt sie
Ja, denkst du über was nach, fragt sie
Ich denk über nichts nach, sagt Asle
Aber wohin schaust du, fragt Signe
Ich schau nirgendwohin, sagt Asle
Du weißt nicht, sagt Signe
Nein, sagt Asle
Stehst nur so da, sagt Signe
Ja, ich steh nur so da, sagt Asle
Tust du, stimmt, sagt Signe
Stört dich das, sagt Asle
Nein, das ist es nicht, sagt Signe
Warum fragst du dann, fragt Asle
Nur so, sagt Signe
Aha, sagt Asle
Aus keinem bestimmten Grund, ich hab einfach nur
gefragt, sagt Signe
Aha, sagt Asle
Ja, ich steh hier so, sagt er
Man muss ja auch nicht immer einen bestimmten Grund
haben, wenn man was sagt, was, sagt er
Hat man wahrscheinlich selten, sagt er
Man sagt eben was, irgendwas, so ist das, sagt Signe
Ja, genau, sagt Asle
Irgendwas muss man ja sagen, sagt Signe
Muss man ja, sagt Asle
So ist das, sagt er
und sie sieht ihn da stehen und er weiß offenbar nicht so genau, was er mit sich anfangen soll, und dann hebt er eine Hand und lässt sie wieder sinken und dann hebt er die andere Hand, hält sie vor sich, und dann hebt er die erste Hand auch wieder
Woran denkst du, fragt Signe
Nein, an nichts Bestimmtes, sagt Asle
Nein, sagt Signe
Oder doch ja, sagt Asle
Ja, sagt er
und er steht da und blickt sie an
Ich, sagt er
Ich, ja ich, ich werd mal, sagt er
Du, sagt Signe
Ja, sagt Asle
Du wirst, sagt Signe
Ich, sagt Asle
Ich fahr mal bisschen auf den Fjord raus, sagt er
Heut auch wieder, sagt Signe
Glaub schon, sagt Asle
und er dreht sich wieder zum Fenster und wieder sieht sie ihn da stehen und er ist von der Dunkelheit draußen fast nicht zu unterscheiden und wieder sieht sie sein schwarzes Haar am Fenster und dass sein schwarzer Pullover mit der Dunkelheit da draußen fast eins ist Heute schon wieder, sagt Signe
und er antwortet nicht und heute fährt er schon wieder auf den Fjord raus, denkt sie, aber es ist doch Wind, und bald regnet es wahrscheinlich auch wieder, aber das schert ihn wohl gar nicht, egal bei welchem Wetter fährt er mit seinem kleinen Boot raus, einem kleinen Ruderboot, einem Holzboot, denkt sie, was kann man nur daran finden, in so einem kleinen Boot auf den Fjord rauszufahren? da ist es doch kalt und ungemütlich, einfach nur der Fjord mit all dem Wasser, den Wellen, im Sommer mag es ja noch ganz nett sein, auf den Fjord rauszufahren, wenn er blitzeblau ist, wenn er blau glitzert, dann kann er vielleicht verlockend wirken, wenn die Sonne auf den Fjord scheint und er ganz still daliegt, alles blau in blau, aber jetzt, im dunklen Herbst, jetzt ist der Fjord grau und schwarz und farblos und es ist kalt und die Wellen sind groß und unruhig, und im Winter erst, wenn die Ruderbänke verschneit und vereist sind und man das Tauwerk erst mit den Füßen lostreten muss, damit das Eis es freigibt, wenn man das Boot losmachen will, und dann treiben verschneite Eisschollen auf dem Fjord, was dann? was soll dann so verlockend am Fjord sein? nein, das begreift sie nicht, denkt sie, nein, wirklich, denkt sie, das ist ihr vollkommen schleierhaft, und wenn er ja nur dann und wann mal auf den Fjord rausfahren würde, um zu angeln vielleicht oder um ein Netz auszulegen oder so, aber nein, jeden einzelnen Tag fährt er auf den Fjord raus, an manchen Tagen sogar zweimal, wenn es dunkel ist, bei Regen, bei Wellengang, zu jeder Jahreszeit, will er vielleicht nicht mit ihr zusammen sein? fährt er darum immer auf den Fjord raus?, denkt sie, denn was für einen Grund kann er sonst haben? und hat er sich nicht in der letzten Zeit auch verändert, er ist nur noch selten fröhlich, so gut wie nie, und er ist so verschlossen, menschenscheu, wenn wer kommt, verzieht er sich, und wenn er mal mit wem spricht, steht er da und weiß nicht wohin mit seinen Händen, und er weiß nicht, was er sagen soll, steht da und ist verlegen, das kann jeder sehen, denkt sie, was er bloß hat?, denkt sie, ein bisschen ist er ja schon immer so gewesen, etwas zurückhaltend, hat immer gedacht, die anderen halten nichts von ihm, dass er sie stört allein durch seine Gegenwart, dass er ihnen lästig ist, dass er sie an irgendwas hindert, das sie wollen, ohne dass er wüsste, was das nun sein soll, und das wird tatsächlich immer schlimmer, früher hat er es noch in Gesellschaft ausgehalten, jetzt nicht mehr, jetzt geht er weg und hält sich abseits, sobald außer ihr noch wer hier ist
Du willst auf den Fjord rausfahren, das denkst du, oder, fragt Signe
Ich denk gar nichts, sagt Asle
Gar nichts, sagt Signe
Nein, sagt Asle
Ich denk gar nichts, sagt er
Ich steh nur hier, sagt er
Du stehst nur da, sagt Signe
Ja, sagt Asle
Was für ein Tag ist heute, fragt Signe
Dienstag, sagt Asle
Ein Dienstag, Ende November, im Jahre 1979, sagt er
Nicht zu glauben, wie schnell die Jahre vergehen, sagt
Signe
Nein, nicht zu glauben, sagt Asle
Ein Dienstag Ende November, sagt Signe
Ja, sagt Asle
und er geht vom Fenster weg und geht zur Flurtür
Du gehst, sagt Signe
Ja, sagt Asle
Wo willst du hin, fragt Signe
Nur bisschen raus, sagt Asle
Ja, da wird wohl keiner was gegen sagen können, sagt
Signe
Ja, sagt Asle
und sie sieht ihn zum Ofen gehen, er nimmt ein Holzscheit und er bückt sich und steckt das Holzscheit in den Ofen und dann richtet er sich auf und schaut in die Flammen und dann steht er eine Zeit lang da und schaut in die Flammen, dann geht er zur Flurtür und sie sieht seine Hand vor der Klinke, als würde er kurz zögern, sich anders besinnen, und sollte sie etwas zu ihm sagen? oder sollte er etwas zu ihr sagen? aber keiner von beiden sagt etwas und dann drückt er die Türklinke
Du hast nichts Besonderes vor, sagt Signe
Nein, nein, sagt Asle
und er zieht die Tür auf sich zu, geht hinaus, und es ist, als ob er sich zu ihr umdrehen und ihr etwas sagen