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Jon Fosse ist der Mystiker unter den Schriftstellern. Was liegt hinter den Dingen? Was macht den Menschen im Grunde aus? Solche Fragen treiben den Norweger um, der 1959 im Küstenstädtchen Haugesund geboren wurde. Seine Theaterstücke und Romane entwickeln einen hypnotischen Sog – dies auch, weil die Stille, das Unausgesprochene bei ihm stets ebenso präsent sind wie die Worte. Mit dem Nobelpreis ist Fosse im Literaturolymp angekommen. Doch zuvor durchlebte er existenzielle Krisen: Ein schwerer Unfall konfrontierte ihn bereits als Kind mit dem Tod, als Erwachsener verfiel er dem Alkohol. Nach einer spirituellen Odyssee fand er schließlich im Katholizismus seine metaphysische Obhut. Heute sagt Fosse: »Alles, was ich schreibe, ist eine Art Gebet.« Kurz vor Weihnachten 2022 trafen Martina Läubli und Linus Schöpfer den Schriftsteller erstmals in Oslo, um mit ihm über sein Schreiben, seinen Glauben und sein Leben zu sprechen. Nach dem Gewinn des Nobelpreises folgten weitere Treffen in Fosses Zweitdomizil in Österreich. Diese Gespräche fügen sich zu einem eindrücklichen intellektuellen Porträt zusammen.
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Seitenzahl: 99
Jon Fosse
Befragt von Martina Läubli und Linus Schöpfer
Kampa
»Was ist aber diese Dunkelheit,
wie heißt sie oder wie ist ihr Name?«
Meister Eckhart
Jon Fosse ist ein Mysterium der Weltliteratur. Er schreibt auf Nynorsk, einer seltenen Variante des Norwegischen, und findet trotzdem Leserinnen und Leser überall auf der Welt. Er hasste das Theater und galt später dennoch als Europas meistgespielter Bühnenautor. Er schreibt Stücke, in denen das Schweigen mächtiger ist als die Sprache, und seine Erzählungen erstrecken sich über Hunderte von Seiten, kommen aber ohne einen einzigen Punkt aus. Jon Fosse ist Meister einer Prosa, deren Handlung sich in kontemplativer, mitunter magischer Langsamkeit entfaltet. Fosse hat einen musikalischen Zugang zum Schreiben, unberührt von Trends und Weltgeschehen folgt er seinem Rhythmus. Wer seine Texte liest, wird in eine andere zeitliche Dimension entrückt. Zugleich bringt der Autor seine Romane, Dramen und Essays in einem rasenden Tempo zu Papier, das ihm selbst höchst rätselhaft ist.
Jon Fosse ist ein scheuer Mensch. Doch im Herbst 2023 wurde er zu einer globalen Figur, als ihm der Literaturnobelpreis verliehen wurde. Interviews gibt Fosse nur selten, Lesungen hält er überhaupt keine mehr ab. Nachdem er den Nobelpreis erhalten hatte, zog er sich noch weiter ins Private zurück.
Umso größer war unsere Überraschung, als er uns im Frühling 2024 zu zwei längeren Gesprächen nach Hainburg einlud. Das Städtchen in Österreichs äußerstem Osten ist seine zweite Heimat. Hier hat Fosse seinen Romanzyklus Heptalogie vollendet, den die Jury in Stockholm endgültig von seiner Nobelpreis-Würdigkeit überzeugt haben dürfte.
Es war unser zweites und drittes Treffen mit Jon Fosse. Bereits im Jahr 2022 hatten wir ihn kurz vor Weihnachten für die NZZ am Sonntag in Oslo besucht, um mit ihm über seinen Glauben zu sprechen. Auch wegen seiner Religiosität steht der Norweger in der zeitgenössischen Literatur einzigartig da. Fosse ist ein bekennender Christ, er glaubt an die römisch-katholische Kirche und geht regelmäßig zur Messe. Sein Schreiben versteht er als eine Form des Gebets.
In Oslo hatten wir ihn nahe seiner Künstlerresidenz getroffen, die ihm der norwegische König zur Verfügung gestellt hat. In Hainburg trafen wir ihn kurz vor Ostern in einem alten Kloster an der Donau. Wir saßen im Innenhof zwischen den hohen Mauern, ab und an schob sich Fosse etwas Kautabak in den Mund, die Kellnerin brachte Melange an den Tisch, den typischen Wiener Kaffee. Der Schriftsteller redete offen und frei und machte nie den Anschein, als hätte er etwas dagegen, wenn wir endlich ein wenig Licht in das Mysterium Jon Fosse bringen würden.
Martina Läubli und Linus Schöpfer, Mai 2024
Zur Mittagszeit wird er emporgehoben in den Olymp, hinauf zu Thomas Mann, Ernest Hemingway und Albert Camus. Es ist der 5. Oktober 2023, kurz nach 13 Uhr, und Jon Fosse wird in Stockholm der Nobelpreis für Literatur zugesprochen.
Als wir ihn ein halbes Jahr später in Hainburg wieder treffen, steht sein Leben noch ganz im Zeichen dieser größtmöglichen Ehrung. Tags zuvor hat er sich mit dem Gemeinderat von Hainburg getroffen, der ihn mit einem Platz an der Donau würdigen möchte. Jahrelang hat er bereits in der Stadt gelebt, was aber kaum jemandem aufgefallen ist. Fosse bleiben die Absurditäten seines neuen Ruhms nicht verborgen, zugleich bemüht er sich um einen höflichen Umgang mit den vielen Begehrlichkeiten – und darum, sich selbst nicht verrückt machen zu lassen.
Jon Fosse hat uns als Treffpunkt das alte Kloster von Hainburg vorgeschlagen. Vom 13. bis ins 16. Jahrhundert beteten hier die Franziskaner. Doch die damalige Frömmigkeit ist über die Jahre verschwunden, stattdessen hat die allmähliche Säkularisierung sich im Gebäude eingeprägt. Erst diente das Kloster als Proviantlager, dann wurden seine Räume von einer Tabakfabrik genutzt, schließlich folgte die Umwandlung in ein Viersternehotel.
Es ist früher Nachmittag, ein sonniger, aber kühler Frühlingstag. Wir sitzen mit Jon Fosse am Tischchen im Innenhof. Fosse trägt Bart, Pferdeschwanz und Lederjacke und erinnert ein wenig an einen Veteranen einer nicht allzu furchterregenden Rockergang. Unsere Gespräche mit Fosse beginnen bei der brennenden Aktualität und führen irgendwann, unweigerlich, zu den ewigen Fragen: zu Gott und zum Glauben. Fosse beherrscht einige Sprachen, darunter auch das Deutsche, aus dem er etwa Franz Kafka ins Nynorsk übertragen hat. Eine Fremdsprache, die er noch etwas besser spricht, ist allerdings das Englische, in dem wir uns schließlich auch unterhalten.
Heute Morgen war in der Wochenzeitung Die Zeit ein Interview mit dem Theatermacher Thomas Ostermeier zu lesen – jener Ostermeier, der Ihre Stücke im Jahr 2000 als Erster auf Deutschlands Bühnen gebracht hat. Es war nicht zu überlesen: Der Mann ist total hoffnungslos. Die Barbarei sei über uns hereingebrochen, meinte er. Ostermeier ist nicht allein mit seiner Resignation. Sie entspricht dem Zeitgeist.
Ja, wir leben gerade in dunklen Zeiten: Ukraine, Gaza … ein Dritter Weltkrieg ist nicht mehr so abwegig. Wenn sich die NATO nun zu sehr in der Ukraine engagiert, wird es tatsächlich so weit kommen. Umso wichtiger ist es jetzt, zu versuchen, beide Seiten zu verstehen, trotz allem. Nur dann ist ein Frieden möglich.
Elfriede Jelinek und Herta Müller, die beiden deutschsprachigen Literaturnobelpreisträgerinnen, sehen das anders: Sie haben in diesen Tagen eine Petition unterzeichnet, die mehr Unterstützung für die Ukraine fordert.
Es ist selbstverständlich, dass ein Überfall auf ein unabhängiges Land nicht akzeptabel ist. Ich versuche nur zu überlegen, wie das Leid beendet werden könnte, das dieser Krieg verursacht. Ich teile die Ansicht von Papst Franziskus: Die Parteien müssen sich zu Verhandlungen treffen. Denn solange es nicht zu einem Friedensabkommen kommt, kann dieser Krieg ewig weitergehen. Und möglicherweise wird er dann irgendwann zu einem Atomkrieg eskalieren.
Woher nehmen Sie Hoffnung im Alltag, trotz der Kriege?
Die meisten Menschen sind ja nicht direkt von diesen Kriegen betroffen. Und an einem uralten Konflikt wie jenem zwischen den Israeli und den Palästinensern können sie sowieso nichts ändern. Was die Menschen also tun sollen? Nun, sie sollen einfach weiterleben! Sie sollen so weitermachen wie bisher: zur Arbeit gehen, sich um die Kinder kümmern. Und das tun die Leute ja auch, glücklicherweise. Sie sind mit ihren Gedanken nicht ständig bei diesen Konflikten. Auch ich lebe einfach mein normales Leben weiter. Ich denke, alle Menschen tragen diese natürliche Veranlagung in sich, ihr Leben auch in Krisen weiterzuleben. Es ist eine begrüßenswerte Veranlagung. Sie schützt uns davor, verrückt zu werden.
Nun wird die Klimakrise durch genau diese Veranlagung verursacht, die Sie gerade gelobt haben: die Neigung, einfach so weiterzuleben wie bisher.
Es würde einen Unterschied machen, den Kapitalismus und seine Logik zu überwinden. Seine Logik des Immer-Mehrs: mehr produzieren als bisher, mehr konsumieren als bisher. Auch der Klimakrise kann der Kapitalismus nicht anders begegnen, als daraus Profit zu schlagen. Aber sonst? So sehr Sie sich persönlich auch bemühen: Ihr Beitrag zur Lösung der Klimakrise wird nur ein sehr, sehr, sehr kleiner sein.
Sie sind ein Fatalist?
Das kann man so sehen, ja. Ich kann nicht anders. Ich bin kein Optimist, ein Pessimist bin ich aber auch nicht. Was man auch nicht vergessen sollte bei dieser Diskussion: Europa und die Welt haben auch schon schlimmere Zeiten erlebt als heute.
Können Schriftsteller etwas zum besseren Verständnis der Welt beitragen?
Ein guter Schriftsteller hat eine hohe Sensibilität für die menschliche Psychologie, einen geschärften Sinn für die Welt. Das kann eine Qualität sein, wenn es um das Verständnis des Zeitgeschehens geht. Was aber keinesfalls heißen muss, dass jeder gute Schriftsteller zwingend ein guter politischer Denker ist.
Sie haben sich bisher stets zurückgehalten mit politischen Äußerungen.
Das hat mit meiner Sozialisierung zu tun. In den Siebzigern wurde der norwegische Literaturbetrieb von Leninisten und Maoisten dominiert. Ich weiß, das klingt heute ziemlich seltsam. Aber so war es. Wie vielen in meiner Generation ging mir diese krasse Politisierung gegen den Strich. Dieses ganze Gerede von der »Diktatur des Proletariats«, der »Notwendigkeit einer bewaffneten Revolution« und so weiter. Die meisten älteren, bekannten Schriftsteller teilten damals solche Ansichten.
Ein halbes Jahrhundert später sind Sie der berühmteste Schriftsteller Norwegens.
Der Nobelpreis hat alles verändert. Wenn ich in Oslo bin, werde ich ständig auf der Straße angesprochen, man gratuliert mir. Es ist ein bisschen so, als hätte ich ein wichtiges Fußballturnier für Norwegen gewonnen. Seit gut zehn Jahre lebe ich in Hainburg. Hier konnte ich immer gut arbeiten, hier habe ich meine komplette Heptalogie geschrieben. Aber nun ist es leider wohl auch in Hainburg vorbei mit der Anonymität, wie überall anderswo auf der Welt auch.
In Hainburg soll nun ein Platz nach Ihnen benannt werden.
Das ist natürlich eine etwas peinliche Angelegenheit. Aber der Gemeinderat möchte mir damit ein Geschenk machen. Der Pfarrer war auch bei unserem Treffen gestern … Er kannte mich vom Sehen – von der dritthintersten Reihe in der Kirche, wo ich jeweils sitze. Aber er wusste nichts über mich. Er hatte keine Ahnung, was ich tagein, tagaus genau tue. Ich fühle mich ja sehr wohl hier, auch wegen der wundervollen Barockkirche. Hainburg ist für mich eine Heimat geworden. Ich liebe die mittelalterliche Atmosphäre der Stadt, und ich liebe die Landschaft der Gegend. Allein schon der Himmel … Er scheint viel höher zu sein als in Norwegen!
Pflegen Sie Umgang mit den Menschen in Hainburg? Freundschaften?
Überhaupt nicht. Ich habe einen einzigen österreichischen Freund, und der lebt in Berlin. Von Zeit zu Zeit besucht er seinen Vater, der in Österreich lebt und über hundert Jahre alt ist. Und dann schaut er auch bei mir vorbei. Manchmal kommt auch jemand aus Norwegen. Und jetzt, nun ja, rede ich ja gerade mit Ihnen … Ich bin kein sehr sozialer Mensch. Das kann man sicher sagen.
Hat der Nobelpreis die Beziehung zu Menschen verändert, die Sie bereits früher kannten?
Ich versuche, derselbe zu bleiben. Und ich glaube, das ist mir gelungen. Meine Familie und meine engsten Freunde sehen mich immer noch gleich. Und doch merke ich, dass sich etwas geändert hat: in meiner Beziehung zu den etwas weniger engen Freunden. Diese reden nun anders mit mir als vor dem Preis. Sie verhalten sich anders.
Aber hat der Nobelpreis denn gar keine Vorteile …?
Doch, das Geld! Das Preisgeld ist eine ziemliche Summe. Es gibt mir eine Sicherheit, die ich vorher so nicht hatte. Und ich verkaufe viel mehr Bücher. Das verschafft mir neue Möglichkeiten. Aber ich war schon vorher zufrieden, hatte vorher schon ein komfortables Leben. Ich fahre hier in Hainburg weiterhin in meinem kleinen, geliebten Fiat Panda herum. Und bereits vor dem Nobelpreis konnte ich die Bücher kaufen, die ich kaufen wollte. Dasselbe gilt für Füllfederhalter … Nun gut, vielleicht gönne ich mir jetzt, da ich den Nobelpreis gewonnen habe, ein paar Füllfederhalter mehr (lacht).
Sie gehörten seit Jahren zum Favoritenkreis. Hatten Sie eine Vermutung, dass Sie diesmal tatsächlich gewinnen könnten?
Die Spekulationen begannen im Jahr 2013. Da wurde mein Name erstmals in den Wettbüros herumgereicht. Von da an wurde ich jedes Mal als Kandidat gehandelt. Überrascht war ich dann allerdings trotzdem. Nach der Verleihung erfuhr ich, dass ich in der Akademie schon deutlich früher, nämlich seit 2003, als möglicher Kandidat im Gespräch gewesen war. Angeblich profitierte ich auch vom Tod des schwedischen Dramatikers Lars Norèn 2021, der ebenfalls als Anwärter auf den Preis galt. Nach seinem Tod blieb ich als einziger Kandidat Skandinaviens übrig.
Woran arbeiten Sie jetzt?
Wenn man diesen Preis gewinnt, kommt einem zwangsläufig die Konzentration abhanden. Ein großer Trubel bricht über einen herein. Zuerst war ich vollauf damit beschäftigt, Angebote abzulehnen. Ich verbrachte ganze Tage damit, einfach nur Nein und wieder und wieder Nein zu sagen. Zum Glück hatte ich für die letzten Monate sowieso eine Pause einlegen wollen. Ich hatte vor, Romane des australischen Schriftstellers Gerald Murnane zu übersetzen, und das habe ich nun auch getan. Es war eine entspannende Ablenkung, sich in seine Wörter versenken zu dürfen. Zu versuchen, seine Welt in meinem Norwegisch neu aufzubauen. Und unmittelbar vor dem Preis habe ich drei Theaterstücke geschrieben, dazu kommen drei noch unveröffentlichte Erzählungen.