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Bei Herrn Rescue läuft es super: Er wird zu Mister Flat Germany erkoren, leitet erfolgreich das Gestüt Wedding und ist ein extrem gutbezahlter Guerillia-Marketing-Werbeträger. Trotz seiner Erfolge hat er es aber nicht leicht. Seine Mitmenschen bringen ihn mit dem Warentrennerstäbchen zur Weißglut, sein Kühlschrank nörgelt und eine Diagnose zwingt ihn zu politisch fragwürdigen Gesten. Mit Charme, Selbstironie und trockenem Humor versucht Berlins smoothester Lesebühnenautor mit seinem Fame klarzukommen und jede noch so ausweglose Situation zu meistern. Selbst, wenn er gerade einen Finger verloren hat. Doch ist ihm das, was er in den 33 Kurzgeschichten erzählt, wirklich so passiert? Sicher ist: Das ist alles 1:1 erfunden.
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Seitenzahl: 170
Für Klaus(-Dieter), der womöglich alle meine Bücher nicht gelesen hat.
periplaneta
ROBERT RESCUE: „Das ist alles 1:1 erfunden“ 1. Auflage, November 2017, Periplaneta Berlin, Edition MundWerk
© 2017 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin www.periplaneta.com
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.
Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.
Lektorat: Marion A. Müller Satz & Layout: Thomas Manegold Cover: Marion A. Müller / Thomas Manegold (with a little help from pixabay)
print ISBN: 978-3-95996-071-7 epub ISBN: 978-3-95996-072-4
Das ist alles
Eins zu EinS
Erfunden
periplaneta
Es war ein verwegener Plan, den Klaus-Dieter und ich damals gefasst hatten. Das Elternhaus zu verlassen, ist wahrlich eine wichtige Entscheidung im Leben eines jeden Menschen, doch in der Regel fasst man diesen Entschluss erst mit sechzehn oder achtzehn Jahren. Klaus-Dieter und ich dagegen kamen im Alter von fünf Jahren auf diese Idee.
Meiner Erinnerung nach war der Auslöser eine banale Verspätung. Wir sollten um fünfzehn Uhr zuhause sein, aber wir vertrödelten den Nachmittag im Wald, wo wir einen Bach stauten und aus Ästen und morschen Stämmen eine Hütte bauten.
Eine Uhr trugen wir beide nicht, doch wir sahen am Stand der Sommersonne, wie spät es in etwa war. Wohl drohte uns Krach mit unseren Müttern, aber außer einer Standpauke und vielleicht zwei Tagen Hausarrest fürchteten wir keinen weiteren Ärger. Vielleicht aber täusche ich mich, und es war genau umgekehrt. Womöglich gab es doch eine Vorgeschichte und wir trödelten nur, um nicht nach Hause gehen zu müssen. Das wäre eine Erklärung, warum wir uns zu diesem tollkühnen Plan entschlossen.
Wir saßen auf einer Wiese in der Nähe des Kindergartens, der am nördlichen Stadtrand nahe am Wald lag. Lebhaft erzählten wir uns, wie wir uns die Zukunft vorstellten und aus allerlei Albernheiten entfaltete sich eine Idee, die wir schließlich bis ins Detail ausarbeiteten. Wir wollten die Kleinstadt Nassau an der Lahn verlassen und bei einem Wanderzirkus als Artisten anheuern.
Wir waren beide große Fans des Zirkus. Wann immer ein solcher seine Zelte auf der großen Wiese am Kaltbach aufschlug, drängten wir unsere Eltern oder Brüder dazu, mit uns so viele Vorstellungen wie möglich zu besuchen. Wir stellten uns jedes Mal vor, wie viel die Artisten gesehen, in wie vielen Ländern sie aufgetreten waren und bestimmt haben wir davon geträumt, ihnen zu folgen. Wir wollten auch Künstler werden.
Also verließen wir den Rasen und betraten die Straße, die an der Wiese entlangführte. Unser Ziel war zunächst die Hohe Lay, ein Felsmassiv, das oberhalb der Lahn thronte. Daran vorbei wollten wir zum Dorf Winden, das im Westerwald lag. Beide Ziele waren schon eine Reise und ein Abenteuer, doch unser Ziel lag irgendwo dahinter, weit hinter dem Horizont, in einem anderen Land oder zumindest in einer anderen Stadt.
Ich glaube mich zu erinnern, wie wir Schritt für Schritt die Straße langgingen und uns an den Händen hielten, wohl, weil wir unschlüssig waren, ob wir das wirklich tun sollten und uns gegenseitig anspornen wollten, als plötzlich von hinten unsere Namen gerufen wurden. Wir blieben stehen und drehten uns um. Andreas, der ältere Bruder von Klaus-Dieter und Frank, mein ältester Bruder, liefen auf uns zu, und als sie uns erreicht hatten, packten sie uns an den Armen und schimpften uns aus. Unsere Eltern hatten sie losgeschickt, uns zu suchen. Sie führten uns ohne Gegenwehr nach Hause. Unser großartiger Plan war damit gescheitert.
Es dauerte etwa elf Jahre, bis Klaus-Dieter einen neuen Anlauf startete. Er begann eine Lehre bei Hoechst in Frankfurt/Main und danach zog es ihn zum Studium nach Krefeld, wo er heute lebt und sein Geld mit Webdesign, Internet-Handel und Fotografie verdient. Ich ließ mir noch ein paar Jahre Zeit und verließ erst mit dreiundzwanzig die Kleinstadt, um in Berlin als Journalist und Autor mein Glück zu finden.
Lange hatten wir uns aus den Augen verloren, bis wir uns irgendwann bei Facebook wiederfanden.
„Weißt du noch, als wir damals mit fünf an einem Sommernachmittag beschlossen hatten, Artisten zu werden?“, frage ich Klaus-Dieter in einer Chatnachricht.
Klaus-Dieter schreibt in seiner Antwort, dass wir den Plan bereits morgens im Kindergarten besprochen und unser Milchgeld an diesem Tag nicht ausgegeben hätten.
Es ist natürlich ein Ausdruck kindlicher Naivität zu glauben, wir hätten mit fünfzig Pfennig oder einer Mark das Startkapital für ein neues, anderes Leben zusammengehabt.
Wie kann er sich an ein solches Detail noch erinnern? Hat er von frühester Jugend an Tagebuch geführt?! Manchmal kommt es mir so vor, als wäre ich beim Großteil meines Lebens nicht voll und ganz anwesend gewesen.
Klaus-Dieter berichtet mir, dass er seit zwanzig Jahren mit seinem Bruder kein Wort mehr gewechselt habe und ich pflege zu meinem ältesten ebenfalls keinen Kontakt mehr. Kann es sein, dass wir unterbewusst bis heute unseren Brüdern sauer sind, dass sie unseren Plan vereitelt haben?
Zum Schluss schreibt mein Kinder- und Jugendfreund: „So oder so, aus unserer Artisten-Karriere ist nicht viel geworden.“
Der Satz hallt lange in mir nach.
„Tachchen. Firma Lahmer.“
Halb angezogen stehe ich in der Tür. Vor drei Minuten klingelte der Wecker, vor zwei Minuten die Handwerker unten an der Haustür.
„Sie sollten erst um elf Uhr beziehungsweise ab elf Uhr kommen. Jetzt ist es neun Uhr fünfzig. Hallo.“ Wieder so ein Moment, in dem ich das übliche Prozedere, erst zu grüßen und dann Anmerkungen vorzubringen, umdrehe. Aber ich habe einen Grund dafür, schließlich hatte ich mit dem Chef der beiden einen Termin ausgemacht, auf den ich mich eingestellt habe. Aber ich sollte es langsam mal lernen. Für Monteure sind Verabredungen nur Floskeln, über die man am Telefon spricht und danach vergisst. Sie glauben, ihre Kunden stünden ab dem frühen Morgen gespannt wie ein Flitzebogen neben dem Türöffner.
Der eine Handwerker schaut kurz auf die Mappe mit dem Arbeitsauftrag und sagt dann: „Davon wussten wir nichts.“
Jaja, Standardargument. Wegschicken kann ich sie nicht, dann kommen sie womöglich nicht wieder, also halte ich ihnen die Tür auf.
Zwei Tage zuvor war eine Sanitärfirma da gewesen, um eine Bleileitung ausfindig zu machen und zu ersetzen. Zuerst gingen sie zur Toilette, hielten dort einen kleinen Plastikbecher in das Wasser und tranken einen Schluck.
„Hier ist sie nicht“, sagte der Handwerker dann. Anschließend wiederholten sie die Prozedur an der Spüle. Der Monteur verzog das Gesicht, schüttelte sich und spuckte das Wasser aus. „Boah, das ist ja widerlich“, hatte er gerufen.
„Also mir ist nie was aufgefallen“, erklärte ich.
„Ja, kein Wunder, Sie trinken das Zeug ja schon seit Jahren. Das ganze Blei hat Ihre Geschmacksnerven zerstört und sich obendrein so in Ihrem Körper angereichert, dass ich Ihnen nicht mehr lange gebe.“
Eigentlich hatte die Hausverwaltung die Sanierung der Bleileitungen im Haus vor drei Jahren für beendet erklärt, aber offensichtlich wurden immer wieder Rohre gefunden. Auf jeden Fall musste die Firma die Fliesen an meiner Spüle an der linken Wandseite aufstemmen, um die alte Leitung abzuklemmen und eine neue zu legen. Das Loch aber wieder zu schließen, dafür fühlte sich diese Firma nicht zuständig, das musste eine andere machen. Außerdem sollte diese dann auch im ehemaligen Außenklo, eine halbe Treppe tiefer, irgendwas malern oder verputzen.
Die zwei Handwerker der Firma Lahmer machen sich nun in meiner Küche breit. Der mit der weißen Latzhose nimmt einen Hammer und einen Meißel und beseitigt die überstehenden Reste der zerstörten Fliesen. Dann sagt der mit der schwarzen Latzhose, dass er jetzt übernimmt und der andere sich um das Außenklo kümmern soll.
Der Weiße verlässt die Wohnung.
Anfangs stehe ich noch in der Küche und schaue dem Handwerker bei der Arbeit zu. Wenn Monteure in der Wohnung sind, macht man nicht die Dinge, die man sonst so macht – also am Computer arbeiten, Fernsehen oder Geschlechtsverkehr. Man fühlt sich verpflichtet, ihre Arbeit irgendwie zu begleiten, sie zu beobachten oder parat zu stehen, falls sie irgendwas brauchen. Hin und wieder sagt man etwas und bekommt einsilbige Antworten. Also verlasse ich den Raum schließlich und überlege, was ich machen soll. Gerne würde ich den Regalturm in der Küche abräumen und saubermachen, eine Arbeit, die ich seit Monaten vor mir herschiebe. Aber das geht ja grade nicht, weil kein Platz ist. Also entscheide ich mich, meine Unterhemden zu sortieren nach „gut zu tragen“, „weniger gut“ und „kann weg“. Nach einer viertel Stunde bin ich damit fertig. Was jetzt?
Ich gehe wieder in die Küche.
„Ich nehme mal an, die kaputten Fliesen können Sie nicht eins zu eins ersetzen, oder?“, frage ich in Richtung Spüle. Ich habe die plötzliche Sorge, dass die neuen Fliesen farblich überhaupt nicht zu den alten passen. Obwohl mir das bei dem Zustand meiner seit Jahren nicht sanierten Wohnung eigentlich egal sein könnte.
„Nee, das geht nicht“, höre ich. „Die da sind ziemlich alt. Ich schätze, frühe Siebziger Jahre. Vermutlich aus der Schule von van Kock aus Holland, Wanne-Eickel-Biedermeier oder Steglitzer Barock. Ich tippe auf Letzteres. Im Baumarkt kriegen Sie so was nicht mehr.“
Ich verlasse wieder die Küche und gieße Blumen. Der Handwerker kommt hinterher. „Ich schneide die Fliesen unten am Wagen zu. Dann brauche ich nicht die Maschine hoch zu schleppen.“ Er zeigt mir die mitgebrachten Fliesen. Es sind weiße.
Oh Gott, da sieht man doch jeden Fleck drauf, vor allem Kalk!
Meinen entsetzten Gesichtsausdruck weiß er richtig zu deuten.
„Ich schaue mal, ob ich noch andere habe, die vielleicht besser mit den alten harmonisieren. Mit weißen kann man laut Farbenlehre eigentlich nichts falsch machen. Ihre sind jadegrün mit weißen Schleiern drin. Das würde gehen, aber mal schauen.“
Ich gieße noch mal die Blumen. Danach staubsauge ich.
Der Handwerker kommt zurück und verschwindet wieder in der Küche. Ich sortiere einen Karton mit alten Briefen und Postkarten. Zunächst stopfe ich alles von vor 2005 in eine Tüte. Dann wird mir klar, dass ich in die Schachtel ohnehin nie mehr reinschauen werde, also versenke ich den ganzen Karton in der Tüte.
Dann gehe ich zurück in die Küche. Der Handwerker legt gerade letzte Hand an und dichtet die Fugen ab. Er hat graue Fliesen genommen, um Himmels willen! Die sind ja noch furchtbarer als die weißen.
„Können Sie die bitte wieder abmachen?“, stammele ich. „Der Anblick beleidigt mein ästhetisches Gefühl.“
„Das geht nicht“, antwortet der Monteur. „Wir haben nur weiße und graue. Wenn wir sämtliche Fliesen hier in der Küche ersetzen würden, dann hätten Sie vielleicht ein Mitspracherecht, was das Muster oder die Farbe angeht, aber so nicht.“
„Oh Gott“, rufe ich. „Ich werde jedes Mal, wenn ich künftig die Küche betrete, einen Schock bekommen!“
Der Handwerker seufzt, legt die Silikonkartusche auf die Spüle und stellt sich neben mich.
„Schauen Sie doch mal genau hin“, fordert er mich auf. „Die grauen Fliesen am linken Rand erscheinen, bei einer poetischen Betrachtung der Komposition, wie ein morgendlicher Nebel, der über einem Meer emporsteigt.“
„Jaaaa, unter Umständen mit ganz viel Vorstellungskraft“, sage ich zögernd, bin aber noch nicht überzeugt.
„Die grünen Fliesen“, fährt der Handwerker fort, „erscheinen in der Wahrnehmung des Betrachters wie ein Meer. Kennen Sie die Adria?“
Ich nicke.
„Dann haben Sie sie sicherlich auch schon bei strahlendem Sonnenschein gesehen, am frühen Morgen, wenn der Mensch noch nicht regsam und die Natur mit sich allein ist.“
„Sie haben recht. Jetzt sehe ich es auch.“
„Die weißen Schwaden in den Fliesen sind Cirrocumulus-Wolken, die über den Strand hinwegziehen, raus auf die offene See, wo sie sich gemeinsam mit dem Nebel auflösen und einen Sommertag versprechen, wie ihn die Natur nicht alle Tage bietet.“
„In der Tat“, sage ich. „Das ist ein außerordentlich poetisches Bild, das Sie da zeichnen. Sehr schön, ich bin begeistert. Sie haben gute Arbeit geleistet. Die neue Farbe verändert das zuvor einfarbige, eintönige Fliesenensemble, das so keinerlei künstlerischen Erkennungswert zuließ.“
Der Handwerker sagt nichts dazu, sondern packt sein Material und verlässt die Wohnung.
Eine halbe Treppe tiefer steht er bei seinem Kollegen. „Und? Musstest du wieder eine Story erzählen?“, fragt dieser.
„Ja, die mit dem Nebel und dem Meer. Fiel mir aber leicht wegen der grünen Fliesen.“
„Welche Geschichte erzählst du den Leuten eigentlich bei Blümchenmustern?“
„Die mit der Wiese, dem Sommer und dem Nebel. Nebel habe ich immer drin, das weckt bei den Leuten immer irgendwelche Gefühle.“
07. Mai 2017:
Tue es nicht, mahnte die innere Stimme, du wirst es bereuen und dein Geld verlieren. Es war nicht so, dass ich mich gerade zum Online Poker mit echtem Geld anmeldete oder meiner nigerianischen Tante mein gesamtes Vermögen überwies, nein, es war schlimmer: Ich buchte bei Air Berlin zwei Flüge für den November.
Die ersten Berichte, dass sich das Unternehmen im Sturzflug befand, waren mir bekannt, aber ich dachte, pleite geht der Laden bestimmt nicht. Nicht Air Berlin, die Berliner Fluggesellschaft, der Stolz der Stadt. Etihad Airways aus den Vereinigten Arabischen Emiraten pumpte bereits seit längerem Geld in die Airline, aber das schien mir bei einem Berliner Unternehmen folgerichtig. Außerdem: Die Emirati hatten doch viele Petrodollar, die würden Air Berlin die nächsten hundertfünfzig Jahre in der Luft halten. Mit dem reizvollen, aber blödsinnigen Gedanken „No risk, no fun“ drückte ich auf den „Buchung bestätigen“-Button.
15. August 2017:
Der vom Bundeswirtschaftsministerium genehmigte Brückenkredit soll den Flugbetrieb für drei Monate sicherstellen. Ich fange an zu rechnen: 15. August bis 15. September, 15. September bis 15. Oktober, 15. Oktober bis 15. November. Mein Flug nach Bonn und die Rückreise von Frankfurt sind am 11., beziehungsweise am 13. November.
Ich bin erleichtert.
Aber wie wird der Flug nach Bonn aussehen? Werden wir alle stehen müssen, weil es keine Sitze mehr gibt? Müssen wir uns bei Start und Landung aneinander festhalten, weil auch die Gurte bereits bei eBay an Sammler verkauft worden sind? Was passiert, wenn wir die Maschine verlassen? Wird der Airbus zur Schrottpresse gerollt oder einfach gesprengt?
Eine Woche später, vom 19. November bis 21. November, heißt mein Flugziel München. Ab wann genau beginnt der Brückenkredit denn? Ende August bis Ende November? Nervös studiere ich die Nachrichten, finde aber keinen Hinweis. Kann ich stornieren? Keine konkrete Aussage. Die Emirati, so lese ich, haben monatlich fünfzig Millionen überwiesen, um Air Berlin lebensfähig zu halten. Also gehe ich davon aus, dass sie freundlicherweise für August noch gezahlt haben. Dann wäre ich sicher. Wenn ich nicht stornieren kann, weil vermutlich auch kein Geld da ist, das die Fluglinie mir zurückzahlen kann, dann bliebe nur die Möglichkeit, meine Ansprüche gegenüber der Konkursmasse geltend zu machen.
Ich verstehe nichts von Insolvenzrecht, aber ich kann mir denken, dass niemand außer mir ein Interesse daran haben wird, dass ich mein Geld zurückbekomme.
Also bleibt mir nur eins: die E-Mail mit dem PDF zu löschen oder, wenn ich es dramatisch mag, die E-Mail auszudrucken, mir daraus einen Papierflieger zu basteln und ihn anzuzünden. Danach reiße ich das Fenster auf und brülle eine halbe Stunde lang den Hinterhof der Lüderitzstraße 6 an.
Wird die Lufthansa die Start- und Landerechte, die sogenannten Slots, von Air Berlin in München übernehmen? Wohl kaum, denn sie fliegt ja selbst dorthin. Aber sollte Lufthansa sich nicht der gesellschaftlichen Verpflichtung stellen – zum Wohle aller Deppen, die noch im Mai oder Juli Flüge mit Air Berlin gebucht haben – und kulant Maschinen einsetzen, damit die Hornochsen ihr Flugziel ohne allzu große finanzielle Verluste erreichen können? Sollten sie, meiner aufrichtigen Meinung nach, und sie sollten dafür ein Denkmal bekommen, ein großes nationales Denkmal, ja quasi ein Heiligtum, zu dem ich – jetzt schon versprochen – einmal im Jahr pilgern werde, um Blumen des Dankes niederzulegen vor den Standbildern des Vorstandes. Ich werde Tränen der Erleichterung weinen, dass sie mich davor bewahrt haben, acht Stunden in einem stickigen Flixbus verbringen zu müssen.
Und der Flughafen BER sollte nach der Lufthansa benannt werden, denn was wären die Verdienste von Willy Brandt gegen das, was diese Fluggesellschaft für die Luftfahrt in Berlin dann tut? Doch die Lufthansa wird das Angebot diplomatisch, aber bestimmt ablehnen.
Der BER, jener von allen erdenklichen Göttern verfluchte Acker, auf dem einfach kein Flughafen gedeihen will. Der August 2017 wird in die Geschichte der Berliner Luftfahrt als jener Monat eingehen, in dem endgültig alle Träume von Berlins aeronautischer Glanz und Gloria enden werden.
Die Flughafengesellschaft Berlin-Brandenburg hat sich in Sachen Air Berlin umsichtig verhalten, ist in den Nachrichten zu lesen. Schon länger ließ sich die FBB von der angeschlagenen Airline die Rechnungen sofort bezahlen oder erbrachte Leistungen nur gegen Vorkasse. Interessant, ein kriselndes Unternehmen misstraut dem anderen kriselnden Unternehmen. Eine Konstellation, die wohl nur in Berlin existieren dürfte.
Die FBB hat aber andere Sorgen: Der BER wird nämlich nicht fertig. Noch in diesem Jahr wird ein neuer Eröffnungstermin genannt, was die FBB zur Erheiterung der Weltbevölkerung – die Berliner ausgenommen – eigentlich mit einer öffentlichen Präsentation zelebrieren sollte. Das Ganze in etwa so wie bei einer Präsentation von Apple. Nur kürzer und mit langen Gesichtern.
2018 wird er wohl fertig, so heißt es jetzt, aber dann vergeht noch ein ganzes Jahr mit der Abnahme. Die Rauchmelder, die Lüftung und die Türen müssen auf ihre ordnungsgemäße Funktion hin getestet werden, außerdem müssen die Gleise der längst fertigen S-Bahn-Verbindung per Hand nachgeschliffen werden und das über die Strecke vom Südkreuz bis nach Schönefeld.
Aber jetzt droht woanders Ungemach. Der Flughafen Tegel ist nämlich marode. Man könnte sagen, er wird nur noch durch Gaffer Tape zusammengehalten.
Die letzten Jahre wurden die Mittel zur Instandsetzung klein gehalten, weil man ja davon ausging, dass Tegel schließt, wenn der BER eröffnet. Eine Sanierung ist mittlerweile dringend nötig, aber wenn man den gesamten Flugverkehr vorübergehend umleitet zu diesem Ding da im Süden, dieses potemkinsche Dorf von Flughafen namens Schönefeld, wer soll dann dort noch starten und landen können? Da ist doch gar kein Platz für so viele Airlines. Gut, Air Berlin ist dann nicht mehr dabei, das ist schon einmal eine gute Nachricht. Aber Schönefeld ist doch kein Flughafen. Es gibt nur einen Zeitschriftenkiosk dort. Und der hat Platz für drei Personen gleichzeitig.
Und dann gibt es noch den Volksentscheid über die Schließung oder die Offenhaltung von Tegel, der zeitgleich mit der Bundestagswahl stattfindet. Eine hochemotionale Angelegenheit, bei der man sich genau überlegen muss, mit wem man darüber spricht, denn die Frage „schließen oder offenlassen“ spaltet Familien, Beziehungen und Freundschaften.
Viele Nordberliner wollen ihn wegen des Lärms und der Absturzgefahr zumachen, andere – und das sind zumeist auch Nordberliner – wollen ihn aus Bequemlichkeit behalten. Wenn man mit U-Bahn und Bus gerade mal zwanzig Minuten zum Check-In benötigt, dann arrangiert man sich schon mal mit dem Fluglärm.
Sind denn die Nordberliner, die ihn schließen wollen, schon mal von dem Ding da im Süden geflogen?
Die Gemengelage ist also folgende: Der BER macht wohl im Herbst 2019 auf. Sollte das Volksbegehren erfolgreich für die eine Seite verlaufen, dann schließt Tegel sechs Monate nach Eröffnung des BER, also im Frühjahr 2020.
Wenn alle Stricke reißen, und das ist bei der Berliner Politik bezüglich des Luftverkehrs beinahe zu erwarten, dann öffnet und schließt gar nichts mehr und der Tower von Tegel stürzt, als Zeichen des Niedergangs, ein. Wenn das passiert, kommt immer noch der Flughafen Eberswalde als Ersatz für Tegel in Frage. Er liegt mit fünfundfünfzig Kilometern Entfernung schön weit weg von Berlin und der Tower ist richtig süß, weil quasi ein Bahnwärterhäuschen.
20. August 2017:
Auf eBay werden die ersten Schokoherzen von Air Berlin feilgeboten. Stolze zweihundertzwanzig Euro werden dafür verlangt. Das ist das Doppelte von dem, was ich für mein Flugticket nach München bezahlt habe. Ich habe die beim Ausstieg immer verschmäht. Ich weiß nicht, warum. Wahrscheinlich, weil ich ein berühmter Vorlesekünstler bin, der es nach der Landung immer eilig hatte, zu den Auftritten zu gelangen, um vor Zehntausenden Fans seine unterhaltsamen Texte vorzulesen.
Ich hätte in der Vergangenheit einiges anders machen sollen, denke ich mir und tröste mich mit dem naiven Gedanken, dass es wohl manchem Entscheidungsträger in Berlin ebenso ergeht.
Die Firma Zapptales wirbt damit, WhatsApp- oder Facebook-Chats als Buch zu drucken – als individuelles Geschenk für Freunde.