Das ist mein Blut (eBook) - Sigrun Arenz - E-Book

Das ist mein Blut (eBook) E-Book

Sigrun Arenz

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Beschreibung

Aus einer Dorfkirche im fränkischen Seenland verschwindet das silberne Messgeschirr. Ganz in der Nähe wird auf offenem Feld ein Toter gefunden. In seinen erstarrten Händen: der Abendmahlskelch. Das ungleiche Ermittlerteam Eva Schatz und Rainer Sailer tappt in diesem Mordfall im Dunkeln, während ein weiteres Verbrechen geschieht und der Kreis der Verdächtigen sich stetig erweitert. Wer hatte ein Interesse daran, den Journalisten Dietmar Kronauer aus dem Weg zu räumen? Und welche Rolle spielen dabei der kunstvolle Silberkelch und der jüdische Goldschmied, der im Jahr 1936 aus Deutschland fliehen musste?

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SIGRUN ARENZ

 

DAS IST MEIN BLUT

 

Sailer und Schatz: der erste Fall

 

Kriminalroman

 

 

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (3. Auflage 2013)

© 2008 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Ramona Jäger

Umschlaggestaltung: ars vivendi verlag unter Verwendung einer Fotografie von Werner Schwab

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-317-1

 

Prolog

Der Körper des Jungen lag sorgfältig, beinahe künstlerisch drapiert im verrottenden Laub unter der Kastanie in einem verwilderten Garten. Die Beine waren leicht angewinkelt, und ein Arm lag unter seinem Kinn, als ob er schliefe, doch seine Augen waren offen, ein strahlendes Blau. Der Geruch feuchter, schwerer Erde lag in der Luft. Ein Täuberich ließ seinen gutturalen Ruf hören. Am Stamm der Kastanie rankte sich dunkel glänzender Efeu hoch. Efeu überwucherte auch den Boden des Hügels und verlieh dem Ort eine Aura der Einsamkeit und Verwahrlosung. Dennoch war der Platz nicht so isoliert, wie es auf den ersten Blick den Anschein hatte: Jenseits des Hanges, dem Blick durch eine ebenfalls efeuüberrankte Mauer entzogen, war von Zeit zu Zeit das Rauschen eines vorbeifahrenden Autos zu hören und hin und wieder das schwere Tuckern eines Traktors.

Der Junge lag mit offenen Augen im faulen Laub, unberührt vom Rufen der Taube wie vom Verkehrslärm, ungestört bis zu dem Moment, in dem das Mädchen sich durch die Lücke des mit einer Kette verschlossenen, kaputten Gartentores zwängte und beinahe über den ausgestreckten zweiten Arm des Jungen stolperte. Sie hieß Grit. Ihr Schrei war durchdringend.

Der Kommissar hatte eine Pfeife im Mund und trug trotz der frühsommerlichen Wärme einen alten grauen Filzhut auf dem Kopf. Er war einfach über das Tor geklettert, hatte sich den Tatort genau angesehen und blickte nun mit einem finsteren Stirnrunzeln auf die Leiche hinab.

»Ich habe gesagt, du musst oben in der Grube liegen«, brach es schließlich verärgert aus ihm heraus, wobei die Pfeife auf den Boden fiel. »Hier kann dich ja jeder sofort finden!«

Die Leiche richtete sich bei diesen Worten auf. Einige Blätter hingen in den zerzausten blonden Haaren des Jungen. »Grit wollte nicht in die Grube«, antwortete er hitzig. »Sie sagt, da gibt es Spinnen.«

Der Kommissar kaute auf einer ebenfalls blonden Haarsträhne herum. »Du musst trotzdem in die Grube«, verkündete der berühmte Kriminalbeamte, der normalerweise auf den Namen Katharina Römer hörte. Grit, die zehnjährige Cousine der Römers, verzog ihr Gesicht. »Können wir nicht etwas anderes spielen? Zauberland ist doch viel schöner. Ich mag keine Leichen finden, und schon gar nicht in dieser scheußlichen Grube. Das letzte Mal hat mich eine Spinne gebissen.«

»Spinnen beißen in Deutschland nicht«, erklärte Johannes Römer kategorisch, obwohl er eigentlich auch keine rechte Lust auf Krimispielen hatte. »Sei nicht immer so zimperlich. Wir könnten Millionäre spielen.«

Die Stirn des Kommissars hatte sich bei diesen Worten verdüstert. Jetzt zog er die Haarsträhne aus dem Mund und sagte entschlossen: »Dann können wir eben gar nicht spielen. Millionäre ist langweilig ohne Peter, und die Eingänge zum Zauberland sind alle überschwemmt.« Diese Worte bedeuteten in Wirklichkeit nichts anderes, als dass Katharina eben beschlossen hatte, Kommissar zu sein, und dass sie sich auf nichts anderes einlassen würde. Die anderen beiden wussten das, und ihnen war klar, dass sie einfach streiken würde, wenn sie darauf bestanden, etwas anderes zu spielen. Katharina Römer war elf Jahre alt, schmächtig und zart gebaut. Sie sah nicht aus wie eine Persönlichkeit, die anderen ihren Willen aufzwang. Die wenigsten Tyrannen tun das. Grit und Johannes fügten sich schulterzuckend und ließen sich erklären, wo sie sich zu platzieren und was sie zu sagen hatten. »Und wenn du später die Schauspielerin bist, die ich verhöre«, sagte der Kommissar zu Grit, während er seine Pfeife aufhob und ihr ein weißes Taschentuch reichte, »lässt du das hier versehentlich aus der Tasche fallen, das ist dann eine Spur.« Johannes, der bereits den efeubedeckten Hang des Römerschen Gartens hinaufgelaufen war, um in einer alten Grube zum zweiten Mal tot ­aufgefunden zu werden, wandte sich an seine Schwester: »Ich will auch ein Polizist sein.«

Katharina legte die Stirn in Falten. »Du kannst nachher mein Gehilfe sein, der im Moment noch krank ist«, beschied sie großzügig. »Aber erst mal musst du der Tote sein.«

Der Körper des Jungen lag sorgfältig, beinahe künstlerisch drapiert in der niedrigen Höhlung, deren Ursprung niemand mehr genau kannte. Verrottendes Laub war über den Rand gerutscht; eine Schleifspur im weichen, feuchten Boden verriet, wo der Mörder ausgerutscht sein musste, als er sich seiner verräterischen Last entledigte. Kommissar Kathus nahm die Pfeife aus dem Mund, als er den Fundort zufrieden begutachtete: der perfekte Ort für ein Verbrechen. Und er würde es aufklären.

Ungefähr zur gleichen Zeit stand Katharinas Vater, Pfarrer Herwig Römer, kaum dreihundert Meter entfernt im Altarraum der evangelischen Kirche St. Koloman und fluchte lästerlich. Das bunte Glasfenster an der Nordseite der Kirche, das die Emmausjünger auf dem Weg zeigte, war zerbrochen, der Boden mit dünnen, scharfkantigen Glassplittern übersät. Als ob das noch nicht ausreichte, waren das Altartuch vom Tisch gezerrt und die hohen Kerzen zerbrochen worden. Die Tür zur Sakristei stand weit offen, wie ein aufgerissenes Maul. Einen Augenblick lang zögerte der Pfarrer davor, in den Raum einzutreten, als erwarte er, dort im Schatten einen Leichnam mit verrenkten Gliedern in einer Blutlache zu entdecken. Dann nahm er sich zusammen, verbannte die absurden Gedanken, die sicher von zu vielen abendlichen Krimis herrührten, aus seinem Sinn und betrat die Sakristei.

Er hatte geahnt, was er vorfinden würde, aber das machte es nicht besser. Der Schrank mit dem Abendmahlsgerät war aufgebrochen worden. Leere, wo bis zum vergangenen Tag Kelche und Hostienschalen gestanden hatten.

 

Weißenburger Tagblatt vom 22.5.

Kirche ausgeraubt

Buchfeld. og. Unbekannte sind wahrscheinlich in der Nacht zum Montag in die Kirche St. Koloman in Buchfeld eingebrochen und haben das silberne Abendmahlsgeschirr entwendet, das in einem verschlossenen Schrank in der Sakristei aufbewahrt wurde. Noch am Sonntag waren Abendmahlskelche und Hostienschalen beim Gottesdienst in Gebrauch gewesen; am Montagnachmittag entdeckte Pfarrer Herwig Römer ein zerbrochenes Kirchenfenster und bemerkte, dass das Silber verschwunden war. Der oder die Einbrecher haben auch Verwüstungen im Altarraum hinterlassen. Für den Abendmahlsgottesdienst am kommenden Pfingstsonntag hat die katholische Gemeinde Buchfeld im besten ökumenischen Geist einen Teil ihres Abendmahlsgeschirrs zur Verfügung gestellt. Sachdienliche Hinweise zur Aufklärung des Diebstahls nimmt die Weißenburger Polizeiinspektion entgegen.

 

1

Polizeioberkommissarin Eva Schatz spielte missmutig mit den Akten auf ihrem Tisch und konnte sich nicht entschließen, mit der Arbeit zu beginnen. Mittwoch. Was für ein unerfreulicher Tag. Neben ihrem Ellbogen stand ein Becher mit Kaffee, der jetzt vor allem kalt, aber schon in seinen besten Zeiten nahezu ungenießbar gewesen war. Der wahnwitzig teure Kaffeeautomat, den sich die Station erst vor drei Monaten angeschafft hatte, hatte hervorragenden Kaffee gemacht, aber am vergangenen Mittwoch den Geist aufgegeben und war seitdem in Reparatur. Niemand war sich sicher, ob sie das Gerät je wieder sehen würden. Technik! Eva schüttelte den Kopf und betrachtete ihre kräftigen Hände mit dem eingerissenen Nagel am linken Zeigefinger. Das war der neumodische Kartoffelschäler gewesen. Und da wunderten sich die Leute darüber, dass heutzutage niemand mehr selbst kochte. Außer Irene natürlich, aber das war eine andere Sache.

Eva Schatz seufzte und überlegte sich, ob sie einfach den kalten Kaffee umwerfen sollte. Versehentlich natürlich. Über die Akten. Das würde gleich zwei Probleme auf einmal lösen.

»Eva?«

Ihr Kollege Meier stand auf der Türschwelle.

»Hm?«

»Einsatz. Leiche bei Ellingen. Einheimische wie du gefragt.«

Eva rollte die Augen. Wie Meier immer redete, hielt er sich irrtümlicherweise für ein Telegramm. »Okay, okay, noch mal Klartext. Was ist los?«, fragte sie genervt.

Meier sah sie an, als ob sie nicht ganz bei Sinnen sei, erklärte dann aber in etwas weniger atemlosem Stil: »In Ellingen haben sie eine Leiche gefunden, wahrscheinlich ermordet, erschlagen, wie auch immer. Du sollst der Weißenburger Polizei zur Hand gehen, die wollen jemanden von der Kripo, und da du von dort bist, haben sie dich vorgeschlagen.« Er legte ihr einen Zettel auf den Schreibtisch. »Du sollst dich mit PK Rainer Sailer in Verbindung setzen. Das ist seine Handynummer.«

»Ach, der«, murmelte Eva, die sich an den Weißenburger Kollegen von der berüchtigten Fortbildung »Stress- und Konfliktbewältigung« im letzten Herbst erinnerte. Das einzige, was sie persönlich von der mehrtägigen Veranstaltung mitgebracht hatte, war eine Abneigung gegen Brokkoli und aggressionslösende Interaktionsspiele. »Immer ich«, murrte sie halbherzig und fügte mit einem Blick aus dem Fenster hinzu: »Und das Wetter ist auch danach.« Aber insgeheim war sie dankbar, dem ungenießbaren Kaffee, den langweiligen Akten und der tristen Aussicht ihres Büros auf den Polizeiparkplatz zu entkommen. Eine halbe Stunde später fuhr sie durch einen leichten Nieselregen auf der B 13 am Altmühlsee vorbei, dessen Ufer wie von grauen Schleiern verhangen waren. Spätestens als sie die Ortseinfahrt von Gunzenhausen passierte, fühlte sie sich zwanzig Jahre in der Zeit zurückversetzt. Sie mochte das Gefühl nicht. Die winzigen Bauernkäffer, die kleinen Städte mit ihren schmucken Fachwerkhäusern, die wie Spielzeug aussahen, und den stolzen kleinen Kirchtürmen. Die trägen Sommernachmittage, an denen das Summen der Wespen und das Brummen der Traktoren zu einem einzigen einschläfernden Laut verschmolzen. »Raus hier«, war über Jahre hinweg ihr einziges in Worte fassbares Lebensziel gewesen. Hinter Gunzenhausen nestelte sie im Fahren eine Zigarette aus der Packung im Handschuhfach und verzweifelte an dem Versuch, das Feuerzeug zu finden, das eigentlich auch irgendwo sein musste. Sie gab entnervt auf, als ein LKW-Fahrer auf der Gegenspur sie aggressiv anhupte, nur weil sie während ihrer Suche ein wenig über die Mittellinie geraten war.

Von Ellingens barocker Pracht war nicht viel zu sehen, als sie schließlich am Deutschherrenschloss vorbeifuhr. Der Regen war dichter geworden, die Scheibenwischer arbeiteten sich an der beschlagenen Windschutzscheibe ab, und gerade, als sie über die Brücke hinter dem Schloss kam, klingelte ihr Handy. »Verdammt«, fluchte sie und griff nach dem Gerät. »Ja?«

»POK Schatz?«, fragte eine Männerstimme. »Sailer hier. Sind Sie unterwegs?« Er klang höflich genug, aber Eva hatte keine Mühe, die eigentliche Bedeutung der Frage als »Wo zum Teufel bleiben Sie eigentlich?« zu übersetzen.

»Bin fast da«, erwiderte sie gereizt und steuerte mit einer Hand durch die kurvige Schlossstraße. »Ich fahre gerade!«, fügte sie anklagend hinzu und klappte ihr Handy zu, um die Verbindung zu beenden. Im Regen rauschte sie mit überhöhter Geschwindigkeit den Berg hinauf, ließ dann die letzten Häuser hinter sich und verließ die Stadt auf der Ostseite. Wahrscheinlich hätte sie nach all den Jahren den schmalen, ungeteerten Weg verpasst, der links zum Castrum Sablonetum, den Ruinen des alten Limeskastells, führte, aber die Abzweigung war mit Polizeiband abgesperrt und zwei Dienstwagen standen unübersehbar an der Mündung. Eva stellte ihr Auto ebenfalls ab, packte ihre Regenjacke, die auf dem Beifahrersitz lag, und stieg aus. In den wenigen Sekunden, die sie brauchte, um sie anzuziehen, fühlten sich ihre Schultern bereits unangenehm feucht an. Sie musste nicht mühsam nach ihrer Dienstmarke fischen, denn PK Rainer Sailer kam ihr auf dem von der Polizei gelegten Trampelpfad entgegen.

»Was für ein Wetter«, bemerkte er gutmütig, als hätte es den kurzen unfreundlichen Austausch am Telefon nicht gegeben, und streckte ihr die Hand hin. Er war nicht sehr groß, blond und bestimmt zehn Jahre jünger als sie. »Wir mussten hier schon weitgehend aufräumen«, fügte er mit einem entschuldigenden Blick auf die verhüllte Bahre hinzu, die gerade an ihnen vorbei zum Leichenwagen transportiert wurde. »Der Regen … Aber Sie wollen sich den Fundort sicher trotzdem ansehen.«

Sie gingen hintereinander auf dem Trampelpfad die letzten hundert Meter bis zu den Ruinen des Kastells. Eva sah sich schweigend um. Links lag ein umgepflügtes Feld, dessen braune Erde im Regen fett und schwer glänzte. Jenseits davon, mindestens fünfhundert Meter entfernt, war eine Reihe kleiner Einfamilienhäuser zu sehen. Hinter ihnen die Straße, von der gelegentlich das Rauschen eines Autos zu hören war. Direkt vor ihnen reckte ein Baum seine frischbelaubte Krone in die graue Luft, und dahinter erhob sich, was von der Anlage des römischen Militärlagers Castrum Sablonetum wieder ausgegraben worden war: ein paar Mauern, etwas, was aussah wie das Fundament eines viereckigen Turmes, zu dem eine Treppe hinaufführte, und einige undefinierbare Steingebilde. Eva zog fröstelnd die Schultern hoch und stöhnte: »Ein Alptraum. Eine Leiche im Nirgendwo!«

PK Sailer ließ den Blick über das verlassene Kastell und die umliegenden Felder schweifen und erwiderte mit einem halben Nicken: »Ja und nein. Es war sicher ein guter Ort, um jemanden loszuwerden, aber ganz so verlassen, wie sie aussieht, ist die Gegend nicht. Hier gibt es Spaziergänger, Spaziergänger mit Hunden, die den Feldweg entlangkommen, Liebespaare und junge Leute, die sich in den Ruinen treffen … und noch ein paar ganz andere Gruppen«, fügte er geheimnisvoll hinzu und blieb vor der Treppe stehen. »Touristen natürlich auch«, er deutete auf die Informationsschilder unter dem Baum, die eine Rekonstruktion des ursprünglichen Kastells zeigten und die Geschichte des befestigten Römerlagers skizzierten. »Aber zu der Zeit, wo die Leiche hier abgelegt wurde, wird wahrscheinlich niemand unterwegs gewesen sein.«

»Abgelegt oder zurückgelassen?«, fragte Eva rasch. »Ist das Opfer hier umgekommen oder bloß hier entsorgt worden? Und haben wir schon eine Identifizierung?«

»Gute Frage, gute Frage und gute Frage«, meinte Sailer trocken. »Bislang können wir über gar nichts sicher sein, nur, dass der Tote ein Mann war, um die vierzig, würde ich sagen. Gefunden wurde er dort …« Er führte Eva zu dem mittleren von drei steinernen Vierecken rechts des Turmes. Sie maßen je etwa zweimal zwei Meter, waren einen guten Meter hoch und innen mit losen Steinen halb ausgefüllt. Wie sie so dalagen, ihre ursprüngliche Verwendung nicht mehr erkennbar, Gräser und Schösslinge aus den Mauerritzen wuchernd, erinnerten sie an Särge. Eva stieg auf die mit einer Polizeiplane abgedeckte Mauer und blickte in das mittlere Mauerviereck hinunter. Weißes Klebeband zeigte die Position an, in der der Tote aufgefunden worden war, halb sitzend in einer Ecke, einen Arm im Schoß, den anderen weit ausgestreckt. Hellrotes Blut mischte sich auf den losen Steinen mit dem Regen. »Viel Blut?«, wollte Eva wissen. Ihr Kollege nickte: »Ziemlich.«

»Das spricht dann nicht gerade dafür, dass er von weiter her transportiert wurde.«

Sailer zuckte die Schultern. »Würde ich auch sagen, aber wie die Pathologie immer wieder betont: Man soll keine voreiligen Schlüsse ziehen … Wollen wir zur Station fahren, dann können wir auf die Bilder warten, und ich erzähle Ihnen alles, was wir sonst noch wissen, im Trockenen.«

Sie nickte und folgte ihm zurück über den Polizeipfad, hielt aber noch einmal abrupt inne, als sie an der Treppe zum Turm vorbeikamen. »Haben Sie das untersucht?«, fragte sie scharf. Auf dem Boden war ein geschwärzter Ring zu sehen, in dem ganz offensichtlich ein Feuer gebrannt hatte. Etwas kalte, nasse Asche und diverse Stücke verkohlten Holzes lagen darin herum.

»Klar«, antwortete Sailer. »Wir haben alles mitgenommen, was irgendwie interessant sein könnte. Auch jede Menge Abfall, der hier überall herumlag. Ich würd mir aber nicht zu viele Hoffnungen machen«, fügte er hinzu. »Die Feuerstelle wird von vielen Leuten benutzt, die hierher kommen. Jugendliche und so … Wahrscheinlich hat unser Täter hier keine brauchbaren Spuren hinterlassen.«

Wortlos stieg Eva die vom Regen schlüpfrigen Stufen hinauf und fand sich zwei Meter über dem Geschehen. Auf der Mauerkrone war eine bronzene Scheibe befestigt, die sie auf den ersten Blick für eine Sonnenuhr hielt, die aber tatsächlich die Entfernungen zu den verschiedenen Orten der Umgebung angab, strahlenförmig vom Standort des Kastells ausgehend. Sie schaute nachdenklich darauf und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Kein Auto, oder zumindest hatte noch niemand etwas davon gesagt. War das Opfer zu Fuß hierher gekommen? Alleine oder mit seinem Angreifer? Und wer konnte bloß etwas gesehen haben, und sei es nur irgendeine Kleinigkeit? Von hier oben konnte sie in die Steingrube blicken, in der die Leiche gefunden worden war. Sie sah im Regendunst die Straße; sie war zu weit entfernt und dem Blick entzogen, als dass sich hoffen ließ, von ihr aus hätte jemand etwas beobachtet. Verschiedene Feldwege führten am Kastell vorbei oder kreuzten sich in einiger Entfernung. Jenseits des noch unbewachsenen Feldes standen Häuser – unwahrscheinlich, dass jemand dort etwas mitbekommen hatte. Und doch gab es Wege, auf denen regelmäßig Menschen vorbeikamen. Außerdem lag der Ort in Sichtweite der Stadt. Sie stieg stirnrunzelnd wieder zu ihrem Kollegen hinunter, dessen blondes Haar jetzt vor Nässe schwarz glänzte. »Und, irgendwas Interessantes?«, grinste er. Sie warf ihm einen kalten Blick zu – das war genau die Art von sinnlosen Fragen, die sie hasste –, entschloss sich dann aber doch zu einer ernsthaften Antwort. »Ich denke, wir suchen nach einem Einheimischen. Jemandem, der sich hier gut auskennt. Der das Risiko genau kalkuliert hat, das er mit diesem Ort eingegangen ist.«

Zusammen stapften sie den Feldweg entlang zu den Wagen.

»Vielleicht nicht nur einer«, ließ Sailer vernehmen, als sie an der Landstraße standen. Die anderen Autos waren bereits vorausgefahren, und Eva lud ihn mit einer Geste ein, bei ihr einzusteigen.

»Wie war das?«, hakte sie verständnislos nach, während sie aufsperrte.

»Es könnte eine Gruppe von Tätern gewesen sein«, meinte er. Evas etwas altersschwacher Escort schaukelte bedenklich, so schwungvoll ließ er sich auf den Beifahrersitz fallen. »Ich erklär’s in der Station, wenn wir die Fotos haben.«

 

»Das ist Mein Blut?«, wiederholte Eva angewidert und legte das Bild mit der stark vergrößerten Inschrift auf den Tisch zurück. Die Tatortfotos lagen in kleinen Haufen auf dem Schreibtisch ihres Kollegen, ergänzt von Computerausdrucken und handgeschriebenen Zetteln. Auf den Bildern wirkte die Ruine von Sablonetum weit weniger trübsinnig als in Wirklichkeit, was vielleicht bloß daran lag, dass sie nicht länger im strömenden Regen herumstanden, sondern im Trockenen saßen und noch dazu der Geruch frisch gebrühten Kaffees in der Luft hing. Aber die Fotos der Steingrube zeigten eine brutale Wirklichkeit, die das weiße Klebeband und selbst das vom Regen ausgewaschene hellrote Blut nicht annähernd hatten vermitteln können. Der unbekannte Tote war ein kräftiger, großer Mann gewesen, mit noch dichtem, dunklem Haar, das hier und da ein erstes Grau sehen ließ. Die erstarrten Gesichtszüge des Toten ließen lediglich erahnen, dass er gut ausgesehen hatte, sonst verrieten sie nichts. Ganz anders als die tiefe Stichwunde am Hals, die das viele Blut erklärte, das seine Kleidung – das Baumwollhemd, das Futter der braunen Lederjacke, selbst die Jeans – getränkt hatte und weiter auf die Steine gelaufen war. Die Arme wiesen mehrere parallele Schnittwunden auf, die etwas grotesk Geordnetes an sich hatten. Doch das Auffallendste war, dass der Tote mit seiner rechten Hand einen silbernen Becher oder Kelch umschloss, der bis zur Hälfte mit Blut gefüllt war.

»Sein eigenes?«, fragte Eva angestrengt, mehr damit sie irgendetwas sagte, als weil sie Zweifel hatte.

»Ich nehme es an«, gab Sailer zurück. »Wird natürlich gerade geprüft. Kaffee?« Er hielt ihr einen Becher hin und grinste vielsagend, als sie zusammenzuckte und voller Widerwillen auf die schwarze Flüssigkeit sah ... direkt nach diesem Foto … ihr Kollege schien es darauf anzulegen, sie aus der Fassung zu bringen, deshalb nahm sie sich zusammen und ergriff den Kaffeebecher. »Danke«, sagte sie trocken. »Hoffentlich ist er genießbarer als das Gesöff, das es heute bei uns gab.«

»Bei uns wird der Kaffee noch von den lilienweißen Händen unserer Mitarbeiterinnen im Büro gebraut und ist entsprechend exzellent«, erklärte Sailer süß, und Eva fühlte zum zweiten Mal an diesem Tag den starken Drang, ihren Becher umzuschütten. Versehentlich natürlich. Über Rainer Sailers Kordhose. Solange der Kaffee noch richtig schön heiß war. »Können wir vielleicht mal vernünftig arbeiten?«, fragte sie stattdessen bloß schneidend und wandte sich wieder den Bildern auf dem Schreibtisch zu. »Der Kelch?«, fragte sie. Er war aus Silber, schwer und doch elegant, mit rankenden Blättern aus Gold um den Fuß. »Am Ende der Heilige Gral?«

Rainer Sailer lachte kurz auf. »Da müssten die Gralssucher jahrhundertelang die falschen Weiden abgegrast haben. Dieser Kelch gehört höchstwahrscheinlich in die Sakristei der Kirche St. Koloman drüben in Buchfeld, zehn, zwölf Kilometer von hier. Da haben sie diese Woche eingebrochen und das Abendmahlszubehör gestohlen. Ich habe die Anzeige aufgenommen und den Tatort besichtigt. Kirchenfenster eingeschlagen, etwas Vandalismus am Altar, der Schrank mit dem Silberzeug aufgebrochen. Bilder der verschwundenen Sachen haben wir nicht, aber ich nehme an, der Pfarrer wird uns sagen können, ob dieser Kelch dazugehört. Das würde uns zumindest einen Punkt geben, an dem man ansetzen könnte – wer hat die Sachen aus der Kirche gestohlen, und wie ist unser Toter daran gekommen?«

Eva griff wieder nach dem Bilderstapel, der die rechte Hand des Toten und den Kelch aus verschiedenen Perspektiven zeigte. Und die Inschrift, die sich in delikater Gravur um den Kelchrand zog: Das ist Mein Blut, fein geschrieben, aber in der Vergrößerung sehr gut lesbar. »Ist ja widerlich«, murmelte sie.

Ihr Kollege nahm ihr das Bild aus der Hand und betrachtete es eine Weile lang schweigend. »Na ja, nicht auf einem ­Abendmahlskelch«, erwiderte er dann mit einem leichten Schulterzucken. Auf Evas fragenden Blick hin führte er weiter aus: »Ich meine, das kommt beim Abendmahl schließlich vor … Unser Herr Jesus Christus, in der Nacht, da er verraten ward und so weiter, nahm auch den Kelch nach dem Abendmahl, dankte und sprach: Das ist mein Blut, das für euch vergossen wird zur Vergebung der Sünden.« Als er merkte, dass sie ihn noch immer seltsam anstarrte, fügte er trotzig hinzu: »Ich geh halt gelegentlich in die Kirche. Da werden diese Worte vom Geistlichen gesprochen. Die kann doch jeder auswendig …« Er nahm ihr das Foto aus der Hand und musterte es mit in Falten gelegter Stirn. »Aber in der Hand einer Leiche und voll mit echtem Blut – das ist schon ziemlich abartig.«

»Und diese Form der Einschnitte am Arm«, sinnierte Eva. »Gefällt mir nicht, wie das aussieht – nach ganz komischen Ritualen oder Praktiken. Gibt es hier in der Gegend irgendwelche Sekten, Gruppierungen, Gemeinschaften, die sich eventuell mit Blutritualen oder Ähnlichem beschäftigen?«

Rainer Sailer schauderte. »Satanisten? Nicht, dass ich wüsste, aber meine Gedanken gehen in die gleiche Richtung. Und wenn der Einbruch in die Kirche von denselben Leuten begangen worden ist, passen die Verwüstungen, die sie am Altar hinterlassen haben, auch dazu. Dann war das vielleicht kein gewöhnlicher Vandalismus. Wir haben hier keine aktenkundigen Fälle von Satanismus, aber das Kastell wird gelegentlich von etwas seltsamen Gruppen als Versammlungsort genutzt – neuheidnische Gemeinschaften, Baumverehrer, keltische Religionen und so weiter.«

»Ja, aber das ist ja wohl nicht dasselbe«, wandte Eva ein. »Die gehen im Allgemeinen nicht herum und erstechen ihre Mitglieder – oder auch andere Leute. Das sind doch bloß ­harmlose Romantiker.«

Ihr Kollege schien nicht überzeugt, ging aber nicht weiter darauf ein. »Kümmern wir uns um das Naheliegende«, schlug er vor. »Infos über den Toten und Identifizierung des Kelches. Das sollte wohl ich machen, schließlich ist der ­Kircheneinbruch eigentlich mein Fall – außer Sie wollen das übernehmen, Frau Kollegin?«

»Eva und ›du‹ tut’s auch«, sagte sie ziemlich schroff. Sie mochte Sailer zwar nicht besonders, vor allem nach dem Kaffeezwischenfall, aber sie hasste es, sich mit Kollegen zu siezen, wenn sie mit ihnen zusammenarbeiten musste. Außerdem schien er in punkto Arbeit immerhin ganz brauchbar zu sein. Rainer nickte zustimmend. »Okay. Wo hab ich denn die Nummer des Pfarrers?« Er begann, unter den Papieren auf dem Schreibtisch zu wühlen, und förderte schließlich einen sehr kleinen Zettel zutage, der aussah, als ob er ihn von einem größeren Stück Papier abgerissen hätte. In lächerlich winziger Schrift hatte er darauf einen Namen und ein paar Zahlen notiert. »Römer, Römer, da haben wir ihn ja …«

2

Pfarrer Römer, den Rainer über sein Handy erreichte, hielt sich momentan zum Einkaufen in Weißenburg auf und erklärte sich bereit, selbst auf die Polizeiinspektion zu kommen. Er war ein Mann um die vierzig, dessen auffälligste Merkmale die hohe Stirn mit dem zurückgehenden Haaransatz und die nachdenklichen, klaren blauen Augen waren.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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