Das Ja-Experiment – Year of Yes - Shonda Rhimes - E-Book

Das Ja-Experiment – Year of Yes E-Book

Shonda Rhimes

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  • Herausgeber: Heyne
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Shonda Rhimes schreibt Drehbücher für die erfolgreichsten Serien: Grey’s Anatomy, Private Practice und How to Get Away with Murder sind auch hierzulande Publikumsrenner. Bloß beim Drehbuch für ihr eigenes Leben fehlt ihr der nötige Schwung: Privat ist sie schüchtern, ängstlich, menschenscheu. Bis sie eines Tages beschließt, sich zu ändern. Mit einem fi lmreifen Trick: einfach ein Jahr lang zu allem Ja sagen.

Ebenso witzig und selbstironisch wie ihre TV-Serien und zugleich schonungslos ehrlich beschreibt Rhimes die große Wirkung eines kleinen Wortes, das aus ihr einen neuen Menschen macht – glücklich, selbstbewusst und 60 Kilo leichter. Die wahrscheinlich unterhaltsamste und motivierendste Aufforderung, das eigene Leben mutiger zu gestalten!

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Seitenzahl: 369

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Das Buch

Shonda Rhimes schreibt Drehbücher für die erfolgreichsten Serien: Grey’s Anatomy, Private Practice und How to Get Away With Murder sind auch hierzulande Publikumsrenner. Bloß beim Drehbuch für ihr eigenes Leben fehlt ihr der nötige Schwung: Privat ist sie schüchtern, ängstlich, menschenscheu. Bis sie eines Tages beschließt, sich zu ändern. Mit einem filmreifen Trick: einfach ein Jahr lang zu allem Ja sagen.

Ebenso witzig und selbstironisch wie ihre TV-Serien und zugleich schonungslos ehrlich beschreibt Rhimes die große Wirkung eines kleinen Wortes, das aus ihr einen neuen Menschen macht – glücklich, selbstbewusst und 60 Kilo leichter. Die wahrscheinlich unterhaltsamste und motivierendste Aufforderung, das eigene Leben mutiger zu gestalten!

»Shonda Rhimes’ Ja-Experiment hat ihr gezeigt, zu was sie alles in der Lage ist. Diese Lebenshaltung inspiriert mich. Oh ja, Baby!«

Die Autorin

Shonda Rhimes, geb. 1970 in Chicago, ist Schöpferin der erfolgreichen TV-Serien Grey‘s Anatomy, Private Practice, Scandal und How to get away with murder. Sie gilt als eine der mächtigsten Frauen Hollywoods, wurde vom Time Magazine schon zweimal zu den 100 einflussreichsten Menschen gezählt und hat für ihre Werke bereits zahlreiche hohe Auszeichnungen bekommen. Die Mutter von drei Töchtern lebt in Los Angeles.

SHONDA RHIMES

DAS JA-EXPERIMENT

»YEAR OF YES«

Wie ein kleines Wortdein Leben ändern kann!

Aus dem Amerikanischenvon Elisabeth Schmalen

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Year of Yes bei Simon & Schuster, New York. SIMON & SCHUSTER and colophon are registered trademarks of Simon & Schuster, Inc. All rights reserved.

Zum Schutz genannter Personen wurden manche der Namen anonymisiert und charakteristische Züge verändert. Außerdem wurden die Eigenschaften verschiedener Personen manchmal zu einer Figur verdichtet. Die zeitliche Abfolge bestimmter Ereignisse wurde verändert, und sie wurden manchmal neu arrangiert, kombiniert oder zusammengefasst. Die Autorin ist weder wirklich alt, noch ist sie wirklich eine Lügnerin.

Zitate aus den Serien Grey’s Anatomy und Private Practice wurden abgedruckt mit freundlicher Genehmigung von ABC Studios.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe Oktober 2016

© 2015 by Ships At A Distance, Inc.

© der deutschsprachigen Ausgabe 2016by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Amelie Roth, München

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München

Umschlagfoto: © Corbis Outline / James White

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-20375-7V001

www.heyne.de

Für Harper, Emerson und Beckett,

möge jedes Jahr ein Ja-Experiment sein. Möget ihr eine Zukunft erben, in der nicht mehr von euch verlangt wird, eine EDAI zu sein. Und wenn die Zukunft da ist und es noch nicht so weit ist, zieht los und zettelt eine Revolution an. Mama sagt, ihr schafft das.

Für Delorse,

weil du mir die Erlaubnis erteilt hast, meine eigene, private Revolution in Gang zu setzen. Und weil du jedes Mal Ja sagst und kommst, wenn ich nach dir rufe. Du bist die EDAI unserer Familie – wir fünf, die nach dir kamen, sind dankbar für die zweiten Chancen, die wir dank dir erhalten haben.

Ich hatte das Bedürfnis nach einer Veränderung,dem sich im Zentrum meines Denkens eine Straße bahnte,mit der Gewalt eines Bulldozers.

MAYA ANGELOU

Wenn du willst, dass dir so ein Mist nicht mehr passiert, musst du einfach aufhören, allen Mist zu akzeptieren,und wählerischer werden.

CRISTINA YANG, GREY’S ANATOMY

Inhalt

HALLO

Ich bin alt und erzähle gern Lügengeschichten

Prolog

Nackt

1

Nein

2

Vielleicht?

3

Ähhh, ja …?

4

Ja zur Sonne

5

Ja zur ganzen Wahrheit

6

Ja zur Kapitulation im Mütterkrieg

7

Ja zum Spiel, Nein zur Arbeit

8

Ja zu meinem Körper

9

Ja zur Mitgliedschaft im Club

10

Ja, danke

EINE ANMERKUNG ZUR ZEIT

Ja zu mehr Ja

11

Ja zum Nein, Ja zu schwierigen Gesprächen

12

Ja zu Menschen

13

Ja zum Austanzen (mit den richtigen Leuten)

14

Ja zu mir selbst

15

Ja zur Schönheit

Dank

Über die Autorin

Bildteil

Bildnachweis

HALLO

Ich bin alt und erzähle gern Lügengeschichten

(Eine Art Warnhinweis)

Ich bin eine Lügnerin.

Und es ist mir egal, wenn jeder das weiß.

Ich denke mir ständig Geschichten aus.

Bevor Sie anfangen, über meinen Charakter und meine geistige Gesundheit zu spekulieren … lassen Sie es mich erklären. Ich denke mir Geschichten aus, weil ich es muss. Es geht nicht darum, ob es mir Spaß macht. Ich meine, es macht mir Spaß. Ich habe große Freude daran, mir Geschichten auszudenken. Fantastereien mit hinter dem Rücken gekreuzten Fingern sind das, was mich am Laufen hält, mich in Schwung versetzt, mich antreibt.

Ich erfinde gern Geschichten. Liebend gern.

Außerdem ist der Drang dazu tief in meinem Inneren verankert. Mein Gehirn neigt von Natur aus zu Halbwahrheiten, es wendet sich stets der Fiktion zu. So wie sich eine Blüte Richtung Sonne dreht. So wie ich zum Schreiben die rechte Hand benutze. Das Fabulieren ist für mich eine schlechte Eigenschaft, die sich gut anfühlt und leicht zur Gewohnheit wird, aber schwer wieder loszuwerden ist. Abenteuerliche Geschichten zu ersinnen, Fäden zu einer Erzählung zu verknüpfen ist mein schmutziges kleines Laster. Und ich mag es.

Doch es ist nicht nur eine schlechte Angewohnheit. Ich muss es tun. Es ist notwendig, dass ich es tue.

Denn wie sich herausstellte …

… ist das Ersinnen von Geschichten ein Beruf.

Wirklich.

Ganz ernsthaft.

Das, was in der katholischen St.-Mary’s-Schule in Park Forest, Illinois, dafür sorgte, dass ich die Pausen damit verbringen musste, in der Kirche zu knien und vor einer der Nonnen den Rosenkranz zu beten, ist tatsächlich ein grundanständiger Beruf.

»Erzähl es nicht weiter, aber weißt du was? Meine Mutter ist aus Russland geflohen. Sie war mit einem Typen verlobt, Wladimir, die Liebe ihres Lebens – aber sie musste ihn und alles andere dort zurücklassen. Es ist so traurig. Und jetzt muss sie so tun, als sei sie eine ganz normale Amerikanerin, sonst werden wir alle umgebracht. Natürlich spreche ich Russisch: Da! Was? Sie ist eine schwarze Russin, du Dummkopf. Die gibt es genauso wie weiße Russen. Ist ja auch ganz egal, was für eine Russin sie ist, wir können niemals dahin zurück, dort drüben ist sie so gut wie tot. Weil sie versucht hat, Leonid Breschnew umzubringen. Was soll das heißen, warum? Hast du denn gar keine Ahnung? Um uns vor dem nuklearen Winter zu bewahren. Um Amerika zu retten. Mann, ey.«

Brachte es mir Lob ein, dass ich wusste, wer Leonid Breschnew war? Verschaffte es mir Pluspunkte, dass ich mich in die russische Politik eingelesen hatte? Dankte es mir jemand, dass ich die anderen Zehnjährigen über den Kalten Krieg aufklärte?

Hinknien. Kirche. Nonnen. Rosenkranz.

Ich kann den Rosenkranz im Schlaf herunterbeten. Ich habe den Rosenkranz im Schlaf heruntergebetet.

Dafür ist das Geschichtenausdenken verantwortlich. Es ist verantwortlich für alles – für alles, was ich tat, für alles, was ich bin, für alles, was ich habe. Ohne die Geschichten, die Erzählungen, die Märchen, die ich zusammengesponnen habe, wäre ich heute wahrscheinlich eine sehr stille Bibliothekarin in Ohio.

Stattdessen sorgten meine Fantasieprodukte dafür, dass mein Leben nicht in den Abgrund führte, wie die Nonnen in der Schule es vorhergesagt hatten.

Die Geschichten, die ich mir ausdachte, brachten mich aus dem kleinen Schlafzimmer in einem Vorort von Chicago, das ich mir mit meiner Schwester Sandie teilte, in ein Studentenwohnheimzimmer einer der besten Unis der USA mitten in den Hügeln von New Hampshire und später ganz bis nach Hollywood.

Mein Schicksal reitet auf dem Rücken meiner Vorstellungskraft.

Die frevelhaften Flunkereien, die mir damals in den Pausen Strafgebete einhandelten, ermöglichen mir jetzt, im Laden eine Flasche Wein und ein Steak zu kaufen und mir keine Gedanken über den Preis zu machen. Mir eine Flasche Wein und ein Steak kaufen zu können, ohne mir über den Preis Gedanken machen zu müssen, ist mir sehr wichtig. Das war eines meiner Ziele. Denn als ich Studentin an der Filmschule war, hatte ich oft kein Geld. Und so musste ich mich regelmäßig zwischen Wein und Dingen wie Toilettenpapier entscheiden. An Steaks war nicht einmal zu denken.

Es hieß: Wein oder Toilettenpapier.

Wein.

Oder.

Toilettenpapier.

Nicht immer hat das Toilettenpapier gewonnen.

Haben Sie mich gerade schief angeguckt? War das etwa … haben Sie mich etwa verurteilt?

Nein. Sie können sich nicht einfach in dieses Buch drängen und mich verurteilen.

So werden wir uns nicht auf diese gemeinsame Reise begeben. Wir wollen eine schöne Zeit miteinander verbringen. Wir sind zusammen unterwegs, liebe Leser. Also soll sie, die ohne Wein ist, den ersten Stein werfen. Ansonsten …

Manchmal gewinnt das Toilettenpapier eben nicht.

Manchmal hat eine mittellose Frau den Rotwein nötiger.

Daher müssen Sie nachsichtig mit mir sein, wenn ich mich nicht für meine Vorliebe für die magische Wirkung kleiner Flunkereien und Unwahrheiten entschuldige.

Denn ich lebe davon, mir Geschichten auszudenken.

Das Fabulieren ist jetzt mein Beruf. Ich bin Drehbuchautorin für Fernsehserien. Ich erfinde Figuren. Ich erschaffe ganze Welten in meinem Kopf. Ich sorge für neue Wörter in der Alltagssprache – wenn Sie von Ihrer »Vajayjay« reden und Ihren Freunden bei der Arbeit erzählen, dass jemand »gepoped« wurde, geht das auf meine Serien zurück. Ich bringe Kinder zur Welt, ich beende Leben. Ich tanze es aus. Ich trage den weißen Hut. Ich operiere. Ich bin Gladiatorin. Ich entlaste. Ich erzähle, erfinde, ersinne. Ich hülle mich in Geschichten. Geschichten sind mein Beruf. Geschichten sind alles. Geschichten sind mein Ding.

Ja, ich bin eine Lügnerin.

Aber ich bin eine Berufslügnerin.

Grey’s Anatomy war mein erster richtiger Job beim Fernsehen. Dass dieser erste Job gleich eine Serie war, die ich selbst kreiert hatte, bedeutete, dass ich zu Beginn der Serie keine Ahnung davon hatte, wie es beim Fernsehen lief. Ich fragte jeden Drehbuchautor, der meinen Weg kreuzte, wie es war, für eine Staffel einer Fernsehserie zuständig zu sein. Es kamen viele tolle Ratschläge zusammen, die mir vor allem klarmachten, dass jede Serie anders und speziell ist. Doch eines war immer gleich: Jeder Drehbuchautor, den ich traf, benutzte dasselbe Bild – das Drehbuch für eine Fernsehserie zu schreiben sei wie Gleise für einen heranrasenden Zug zu verlegen.

Die Story ist das Gleis, das man stetig weiter verlegen muss, da der Zug naht. Der Zug ist die Produktion. Man schreibt und schreibt, man verlegt weiter Gleise, komme, was wolle, denn der Produktionszug donnert auf einen zu – komme, was wolle. Jede Woche muss die Filmcrew mit der Vorbereitung einer neuen Folge anfangen – Drehorte finden, das Set aufbauen, Kostüme entwerfen, Requisiten auftreiben, Aufnahmen planen. Und eine Woche später muss die Crew eine neue Episode drehen. Jede Woche. Eine Woche Vorbereitung. Eine Woche Dreharbeiten. Eine Woche, eine Woche, eine Woche, eine Woche. Was bedeutet, dass die Crew jede Woche ein funkelnagelneues Drehbuch benötigt. Und es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sie es auch bekommt. Jede. Verdammte. Woche. Der Zug naht. Jede Woche muss die Crew im Studio etwas zu drehen haben. Denn das Schlimmste, was passieren kann, ist ein Produktionsstopp, eine Entgleisung, denn das kostet die Filmfirma Hunderttausende Dollar, während alle warten. So etwas macht aus einem Drehbuchautor einen gescheiterten Drehbuchautor.

Also lernte ich rasch, wie man Gleise verlegt. Kunstvoll. Kreativ. Aber schnell wie der Blitz.

Als Grundlage nehme man eine Geschichte.

Einzelne Erzählstränge, um die Löcher aufzufüllen.

Etwas Fantasie, um die Kanten zu glätten.

Stets verspüre ich die Hitze des Schnellzuges auf meinen Waden und Oberschenkeln, an meinen Fersen, auf meinen Schulterblättern und Ellbogen, auf der Sitzfläche meiner Hose, er droht, mich zu überfahren. Doch ich trete nicht einfach einen Schritt zur Seite und lasse mir den kühlen Wind ins Gesicht wehen, wenn der Zug an mir vorüberdonnert. Ich trete nie zur Seite. Nicht, weil ich nicht kann. Sondern, weil ich nicht will. Dies ist mein Job. Und für mich gibt es keinen besseren Job auf der Welt. Das Adrenalin, die Eile, das … ich nenne es »das Summen«. In meinem Kopf ertönt eine Art Summen, wenn ich einen gewissen Schreibrhythmus, ein bestimmtes Tempo erreiche. Wenn sich das Verlegen der Gleise nicht mehr anfühlt, als krabbele ich auf Händen und Knien einen Berg hinauf, sondern als gleite ich mühelos durch die Luft. Als habe ich die Schallmauer durchbrochen. Alles in mir verschiebt sich. Ich durchbreche die Schreibmauer. Und das Gefühl beim Gleiseverlegen ändert sich, wandelt sich, aus Mühsal wird ein Hochgefühl.

Ich bin mittlerweile richtig gut darin, mir etwas auszudenken.

Ich lüge auf olympischem Niveau.

Doch es gibt ein weiteres Problem.

Ich bin alt.

Nicht so alt, dass ich entrüstet die Faust schüttele und laut brülle, wenn jemand über meinen Rasen läuft. Auch nicht verehrt-faltig-betagt-alt. Äußerlich merkt man es nicht. Äußerlich sehe ich richtig gut aus.

Ich sehe jung aus.

Ich sehe nicht alt aus und werde es wahrscheinlich auch nie tun. Ehrlich. Ich altere nicht. Nicht, weil ich ein Vampir bin oder so etwas.

Ich altere nicht, weil ich die Tochter meiner Mutter bin.

Meine Mutter? Sieht unglaublich aus. In einem schlechten Augenblick würde man sie vielleicht für eine leicht abgekämpfte Fünfundzwanzigjährige halten, die am Vortag ein bisschen zu viel gefeiert hat. Dabei ist die Frau fast … sie fände es nicht gut, wenn ich es verriete. Also nur so viel: Meine Mutter hat sechs Kinder, siebzehn Enkel und acht Urenkel. Wenn ich sie sehe, sage ich ihr gern, dass sie sich »gut gehalten« habe. Hauptsächlich, weil sie dieser Ausdruck ärgert. Und weil es sie auch zum Lachen bringt. Aber vor allem, weil wir alle wissen, dass es stimmt. Doch ganz heimlich sage ich es, weil ihr Anblick eine Erleichterung für mich darstellt – ich weiß, dass ich für mein Gesicht Ähnliches erwarten kann.

Wir Frauen in meiner Familie haben die Genlotterie gewonnen.

Sie halten das für einen Scherz?

Ist es nicht.

Wenn ich alt bin, werde ich mich gemeinsam mit den anderen Frauen aus der Familie meiner Mutter in einer Reihe anstellen und voller Freude den Gewinn abholen, den dieser Lottoschein verspricht. Denn wir haben nicht nur ein paar Kreuze richtig gesetzt, sondern den Jackpot geknackt. Mit allen sechs Zahlen und der Zusatzzahl.

Meine Tanten, meine Cousinen, meine Schwestern … Sie sollten uns mal zusammen sehen, wie herausgeputzte Kleinkinder. Wir weiblichen Nachkommen meiner Großmutter Rosie Lee sehen verdammt gut aus. Weit und breit keine Falte zu sehen. »Our black won’t crack – for real.« Wie meine Schwester Sandie und ich einander zu versichern pflegen: »Wir werden immer die heißesten Frauen im Altersheim sein.«

Und das ist bittersüß und traurig zugleich. Denn mein Gehirn …

Mein Gehirn ist alt.

Richtig alt.

Keine-Zähne-mehr-im-Mund-alt.

Also ja. Ja, ich werde eine der beiden heißesten Frauen im Sunset Center sein, dem Heim für ältere Mitbürger, die keine Lust auf ein Leben wie im Film Grey Gardens haben.

Doch obwohl ich bestimmt zu den Stars auf dem Seniorenball gehören werde, erinnere ich mich dann nicht mehr daran, dass mir die Aussicht darauf, im Altersheim zu den heißen Fegern zu gehören, je Freude bereitet hat.

Denn äußerlich habe ich die Genlotterie zwar gewonnen, doch innerlich …

Wir entscheiden uns hier oben drin zwischen Wein und Toilettenpapier, ja?

Mein Gedächtnis versagt.

Es geschieht ganz subtil. Wenn ich nicht den ganzen Tag damit zubringen würde, in meinem Kopf nach Wörtern zu wühlen und sie zu Sätzen zusammenzufügen, wäre es mir vielleicht nicht einmal aufgefallen. Doch da es so ist, fiel es mir auf. Wäre meine erste Fernsehserie keine Krankenhausserie gewesen, die mich nach jedem Niesen in der hypochondrischen Überzeugung, ich hätte einen Tumor oder eine schlimme Krankheit, schreiend zum Arzt rennen ließ, hätte ich die Symptome vielleicht als Schlafmangel abgetan. Doch da sie es war, kann ich es nicht.

Ich vergesse Namen, bringe Details einzelner Veranstaltungen durcheinander, bin mir sicher, eine verrückte Geschichte von einem Freund gehört zu haben, obwohl sie mir ein anderer erzählt hat. Das Innere meines Gehirns gleicht einem verblassenden Foto, Geschichten und Bilder entschwinden langsam in unbekannte Winkel. Dabei lassen sie Leerstellen zurück, wo ein Name oder eine Veranstaltung oder ein Ort sein sollten.

Jeder, der Grey’s Anatomy gesehen hat, weiß, wie besessen ich von einem Mittel gegen Alzheimer bin. Jeder, der mich auch nur flüchtig kennt, weiß, dass es meine größte Angst ist, Alzheimer zu bekommen.

Daher bin ich fest davon überzeugt, dass ich es habe. Ich bin mir sicher, dass ich Alzheimer habe. So sicher, dass ich mein löchriges Gedächtnis und meine kreischende Hypochondrie zum Arzt schleppe.

Ich habe kein Alzheimer.

Noch nicht.

(Danke, liebes Universum. Du bist schön und klug. Superschön und superklug.)

Ich habe kein Alzheimer.

Ich bin einfach nur alt.

Erheben wir die Gläser zum Gedenken an meine Jugend.

Die Zeit ist einfach nicht auf meiner Seite. In meinem Gedächtnis machen sich langsam, aber sicher Lücken breit. Die Einzelheiten meines Lebens verschwinden. Mir werden die Bilder von den Wänden meiner Erinnerung gestohlen.

Das ist anstrengend. Und verwirrend. Manchmal lustig. Und oft traurig.

Aber.

Ich lebe davon, mir Geschichten auszudenken. Schon immer. Daher:

Ohne dass ich je den Plan gefasst, ohne dass ich es aktiv versucht, ohne dass ich auch nur bemerkt hätte, was passiert, ist die Geschichtenerzählerin in mir eingesprungen und kümmert sich um das Problem. Meine innere Lügnerin übernimmt das Kommando und lässt der Fantasie freien Lauf. Füllt … die Leerstellen aus. Übermalt das Nichts. Schließt die Lücken und stellt Zusammenhänge her.

Verlegt Gleise für den Zug.

Der Zug, der naht, komme, was wolle.

Denn das ist mein Job.

Geschichten fortzuspinnen ist mein Ding.

Was mich vor ein Problem stellt.

Dieses Buch ist keine Fiktion. Es handelt nicht von Figuren, die ich erfunden habe. Es spielt nicht im Seattle-Grace-Hospital oder bei Pope & Partner. Es handelt von mir. Es spielt in der Realität. Es soll nur Tatsachen enthalten.

Was bedeutet, dass ich nichts ausschmücken darf. Ich darf nicht hier und dort etwas hinzufügen. Ich darf keine funkelnde Schleife herumwickeln oder eine Handvoll Glitzer darüberstreuen. Ich darf kein besseres Ende schaffen oder eine spannendere Wendung einbauen. Ich darf nicht »Scheiß drauf« sagen, mich für die gute Geschichte entscheiden und später einen Rosenkranz beten.

Ich darf mir nichts ausdenken. Ich muss die Wahrheit sagen. Mein Arbeitsmaterial ist ausschließlich die Wahrheit. Doch es ist meine Wahrheit. Und darin besteht das Problem.

Sie verstehen, was ich meine, oder?

So. Das hier ist wohl mein Warnhinweis.

Ist jedes einzelne Wort in diesem Buch wahr?

Ich hoffe es.

Ich meine es.

Ich glaube es.

Doch woher zum Teufel soll ich es wissen, wenn das nicht so ist?

Ich bin alt.

Ich denke mir gern Geschichten aus.

Okay. Es ist möglich. Es könnten ein paar Gleise vorkommen. Ich könnte auf diesen Seiten Gleise für den herannahenden Zug verlegt haben. Das war nicht meine Absicht. Es war nicht mein Ziel. Ich glaube nicht, dass ich es getan habe. Aber möglich ist es.

Lassen Sie es mich so sagen: Das hier ist die Wahrheit, wie ich sie in Erinnerung habe. Wie ich sie kenne. Soweit eine alte Lügnerin die Wahrheit kennen kann. Ich tue mein Bestes. Und wenn ich nicht jedes Detail korrekt wiedergegeben habe, nun gut …

… noch einmal für die Leute auf den billigen Plätzen …

Ich bin alt.

Und ich erzähle gern Lügengeschichten.

Prolog

Nackt

Als mir das erste Mal nahegelegt wurde, ein Buch über dieses Jahr zu schreiben, wollte ich instinktiv Nein sagen.

Über mich selbst zu schreiben fühlt sich ungefähr so an, als würde ich in einem guten Restaurant auf einen Tisch klettern, mein Kleid heben und allen Leuten zeigen, dass ich keine Unterhose trage.

Das heißt, es fühlt sich anstößig an.

Es stellt die Teile meiner selbst, die ich normalerweise für mich behalte, öffentlich aus.

Die üblen Teile.

Die geheimen Teile.

Wissen Sie, ich bin introvertiert. Ganz und gar. Bis ins Mark. Meine Knochen sind introvertierte Knochen. Mein Rotz ist introvertierter Rotz. Bei jedem Wort, das ich tippe, schreit jede Zelle meines Körpers, es sei widernatürlich, dieses Buch zu schreiben.

Eine Dame entblößt ihre Seele nicht außerhalb ihres Boudoirs.

Nackt vor Sie zu treten macht mich nervös und fahrig, so als hätte ich an einer ganz ungünstigen Stelle Ausschlag. Es lässt mich schwer atmen, sodass ich wie ein merkwürdiger, panischer Hund klinge. Es führt dazu, dass ich in der Öffentlichkeit völlig unpassend in Gelächter ausbreche, sobald ich daran denke, dass das Buch von Leuten gelesen wird.

Dieses Buch zu schreiben verursacht mir Unbehagen.

Und genau darum, liebe Leser, geht es. Das ist der Sinn des Ganzen. Deshalb schreibe ich es überhaupt. Trotz der Zuckungen, des Gelächters und der Hechelei.

Zu viel Behaglichkeit war der Auslöser der ganzen Sache.

Na ja, zu viel Behaglichkeit und sechs alarmierende Wörter.

Und Truthahn.

1

Nein

»Du sagst nie zu irgendetwas Ja.«

Sechs alarmierende Wörter.

Das ist der Anfang. Der Ursprung des Ganzen. Meine Schwester Delorse sprach sechs alarmierende Wörter aus und veränderte alles. Sie sprach sechs Wörter aus, und nun, während ich das hier schreibe, bin ich ein anderer Mensch.

»Du sagst nie zu irgendetwas Ja.«

Dabei sprach sie diese sechs alarmierenden Wörter nicht einmal richtig aus. Sie murmelte sie. Ihre Lippen bewegten sich kaum, ihr Blick war fest auf das große Messer in ihrer Hand gerichtet, während sie rasend schnell Gemüse würfelte, um bloß keine Zeit zu verlieren.

jajajajajajajajajajajajajajajajaja

28. November 2013.

Es ist der Morgen des Thanksgiving-Feiertages. Entsprechend viel steht auf dem Spiel.

Für Thanksgiving und Weihnachten war immer meine Mutter zuständig. Sie hatte diese Familienfeiertage einwandfrei und hundertprozentig im Griff. Das Essen war stets köstlich, die Blumen frisch, die Farben aufeinander abgestimmt. Alles war perfekt.

Letztes Jahr verkündete meine Mutter, dass ihr die ganze Arbeit zu viel sei. Ja, es hatte immer alles ganz mühelos gewirkt – doch das hieß nicht, dass es auch mühelos war. Und so erklärte meine Mutter trotz unumstrittener Herrschaft, sie werde abdanken.

Heute Vormittag wagt Delorse nun zum ersten Mal den großen Schritt und setzt sich die Krone auf.

Deshalb ist meine Schwester reizbar und gefährlich.

Sie macht sich nicht einmal die Mühe, zu mir hochzuschauen, als sie diese Wörter murmelt. Dafür ist keine Zeit. In weniger als drei Stunden werden unsere hungrigen Familienmitglieder und Freunde einfallen. Wir sind noch nicht einmal in der Phase angelangt, in der der Truthahn mit Bratflüssigkeit übergossen wird. Daher gilt: Solange meine Schwester mich nicht erlegen, zubereiten und mit Füllung, Bratensaft und Cranberry-Soße servieren kann, habe ich im Augenblick keine Chance auf ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.

»Du sagst nie zu irgendetwas Ja.«

Delorse ist die Älteste von uns Geschwistern. Ich bin die Jüngste. Uns trennen zwölf Jahre, in denen unsere Brüder und Schwestern zur Welt kamen – Elnora, James, Tony und Sandie. Mit so vielen Geschwistern zwischen uns entstand in unserer Kindheit schnell das Gefühl, dass wir zwar im selben Sonnensystem lebten, einander aber nie auf unseren jeweiligen Planeten besuchten. Schließlich begann Delorse zu studieren, als ich in die Schule kam. Ich habe vage Kindheitserinnerungen an sie – wie sie mir das Haar zu viel zu festen Cornrows flocht und mir so Kopfschmerzen verursachte, wie sie meinen älteren Brüdern und Schwestern einen brandneuen Tanz namens »Bump« beibrachte, wie sie bei ihrer Hochzeit zum Altar schritt, meine Schwester Sandie und ich als Schleppenträgerinnen hinter ihr, unser Vater an ihrer Seite. Als Kind verkörperte sie die Art Frau, zu der ich heranwachsen sollte. Heute zählt sie zu meinen besten Freundinnen. In den meisten wichtigen Erinnerungen meines Erwachsenenlebens spielt sie eine Rolle. Daher passt es wohl ganz gut, dass sie auch jetzt hier ist und diese Wörter in meine Richtung murmelt. Es passt, dass sie in diesem Augenblick gleichzeitig diejenige ist, die mir erklärt, zu was für einem Menschen ich mich entwickeln soll, und diejenige, die im Zentrum der Erinnerung steht, die eine der bedeutendsten meines Lebens werden wird.

Und dieser Augenblick ist wichtig.

Das weiß sie nicht. Das weiß ich nicht. Noch nicht. Jetzt gerade fühlt sich dieser Moment nicht weiter bedeutsam an. Jetzt gerade fühlt es sich nur so an, als stände das Thanksgiving-Essen vor der Tür und Delorse sei erschöpft.

Sie ist bereits vor dem Morgengrauen aufgestanden, um mich anzurufen und mich daran zu erinnern, den knapp zehn Kilogramm schweren Truthahn aus dem Kühlschrank zu holen, damit er schon einmal Raumtemperatur annimmt. Dann kam sie die vier Blocks von ihrem Haus zu mir herüber, um das aufwendige Abendessen für unsere Familie zuzubereiten. Es ist noch nicht ganz elf Uhr, aber sie ist schon seit Stunden am Werkeln. Schnippelt, rührt, schmeckt ab. Sie arbeitet hart.

Und ich schaue ihr dabei zu.

Es ist nicht so schlimm, wie es klingt.

Ich habe nicht nichts getan.

Ich bin nicht nutzlos.

Ich habe Delorse Dinge angereicht, wenn sie danach gefragt hat. Außerdem trage ich meine drei Monate alte Tochter in einem Tuch vor dem Bauch und meine anderthalbjährige Tochter auf der Hüfte herum. Ich habe meiner Elfjährigen die Haare gekämmt, den Fernseher ausgeschaltet und ihr ein Buch in die Hand gedrückt.

Und wir reden. Meine Schwester und ich. Wir reden. Berichten einander alles, was passiert ist, seit … nun ja, seit gestern oder vielleicht vorgestern.

Gut. Okay. Ich rede.

Ich rede. Sie kocht. Ich rede und rede und rede. Ich habe ihr viel zu erzählen. Ich liste ihr all die Einladungen auf, die in der letzten Woche oder so bei mir eingegangen sind. Jemand will, dass ich auf einer Konferenz spreche, ein anderer hat mich zu dieser schicken Party eingeladen, und außerdem habe ich eine Anfrage, in das Land Soundso zu reisen, um dort den König zu treffen, und auch eine für einen Auftritt in einer bestimmten Talkshow. Ich liste zehn oder elf Einladungen auf, die ich erhalten habe. Ich berichte Delorse im Detail davon.

Ich muss zugeben, dass ich etwas dick auftrage, dass ich manches ausschmücke, Gleise verlege. Ich bausche das Ganze absichtlich ein bisschen auf – ich versuche, meine große Schwester zu einer Reaktion zu bewegen. Ich will Eindruck schinden. Ich will, dass sie mich für cool hält.

Wissen Sie, ich bin in einer tollen Familie aufgewachsen. Meine Eltern und Geschwister haben viele wunderbare Eigenschaften. Sie sind allesamt hübsch und klug. Und wie schon gesagt, sie sehen alle aus wie Neugeborene. Dennoch haben alle meine nächsten Familienmitglieder eine außerordentlich üble Angewohnheit gemeinsam.

Sie interessieren sich nicht für meine Arbeit.

Kein bisschen.

Keiner von ihnen.

Nicht ein Einziger.

Sie alle finden die Vorstellung, irgendjemand könne von mir beeindruckt sein – egal, aus welchem Grund –, schlicht verstörend. Menschen, die sich so verhalten, als wäre ich in irgendeiner Weise interessant, stürzen sie in Verwirrung. Sie starren einander verblüfft an, wenn mich irgendjemand anders behandelt, als sie es tun – wie eine total trottelige, ununterbrochen plappernde kleine Schwester.

Hollywood ist ein seltsamer Ort. Es ist leicht, hier den Kontakt zur Realität zu verlieren. Doch nichts sorgt für mehr Bodenhaftung als eine Horde von Geschwistern, die immer, wenn jemand um ein Autogramm bittet, ehrlich entsetzt fragen: »Von ihr? Ein Autogramm von Shonda? Sind Sie sicher? Shonda? Wirklich, Shonda? Shonda RHIMES?Warum?«

Das ist echt hart. Doch andererseits … überlegen Sie mal, wie viele aufgeblasene Egos verhindert worden wären, wenn jeder fünf ältere Brüder und Schwestern hätte. Sie lieben mich. Von ganzem Herzen. Doch sie werden sich keinen Promi-VIP-Mist von ihrer Brillenschlangen-Schwester bieten lassen, die einst vor ihrer aller Augen Buchstabensuppe quer über die Veranda kotzte und dann auf dem Erbrochenen ausrutschte und mit dem Gesicht voran hineinfiel.

Aus diesem Grund veranstalte ich gerade einen verbalen Stepptanz durch den ganzen Raum, so verbissen, als ginge es um den Sieg bei Dancing with the Stars. Ich versuche, meiner Schwester irgendein Anzeichen dafür zu entlocken, dass sie beeindruckt ist, einen Funken, der zeigt, dass sie mich doch in gewisser Weise für cool hält. Die Bemühungen, meine Familienmitglieder zu einer Reaktion zu bewegen, sind fast schon zu einem Spiel für mich geworden. Ein Spiel, bei dem ich fest daran glaube, eines Tages zu gewinnen.

Aber nicht heute. Meine Schwester würdigt mich nicht einmal eines Blickes. Stattdessen fällt sie mir – ungeduldig, möglicherweise müde und wahrscheinlich genervt von meinem endlosen Gerede über die ganzen mondänen Einladungen – ins Wort:

»Gehst du zu irgendeiner dieser Veranstaltungen hin?«

Ich stocke. Etwas verdutzt.

»Hä?« Das ist meine Reaktion. »Hä?«

»Diese Veranstaltungen. Diese Partys, Konferenzen und Talkshows. Hast du irgendwo zugesagt?«

Einen Augenblick lang stehe ich einfach da. Sprachlos. Verwirrt.

Wovon redet sie? Zusagen?

»Äh, nein. Ich meine … nein«, stammele ich. »Ich kann doch nicht … natürlich habe ich Nein gesagt. Ich meine, so viel, wie ich zu tun habe.«

Delorse schaut nicht auf. Sie schneidet weiter Gemüse.

Als ich später darüber nachdenke, wird mir klar, dass sie mir wahrscheinlich nicht einmal zugehört hat. Wahrscheinlich überlegt sie, ob sie für die Käsemakkaroni, die sie als Nächstes machen will, genügend Cheddar gerieben hat. Oder sie entscheidet, wie viele Kuchen sie backen wird. Oder sie fragt sich, wie sie sich im folgenden Jahr davor drücken könnte, wieder für das Thanksgiving-Essen zuständig zu sein. Doch in jenem Augenblick erkenne ich das nicht. Dass meine Schwester in dem Moment nicht einmal aufschaut? Das hat etwas zu BEDEUTEN. Es fühlt sich an, als stecke eine Absicht dahinter.

Es wirkt tiefgründig.

Wie eine Herausforderung.

Unhöflich.

Ich muss mich verteidigen. Was habe ich zu meiner Verteidigung zu sagen? Was kann ich …

Genau in diesem Augenblick (und derart zufällig, dass ich beschließe, das Universum müsse mich lieben) spuckt Beckett, das heitere, drei Monate alte Baby im Tuch vor meiner Brust, eine Milchfontäne aus, die wie ein gruselig-warmer Wasserfall mein Shirt hinabrinnt. Die zimperliche Anderthalbjährige auf meiner Hüfte, der Mond zu Becketts sonnigem Gemüt, rümpft die Nase.

»Es stinkt, Liebling«, erklärt sie mir. Emerson nennt alle Leute »Liebling«. Während ich in ihre Richtung nicke und auf dem übel riechenden, warmen Milchfleck herumtupfe, halte ich kurz inne. Betrachte das Chaos in meinen Armen.

Und weiß, wie ich mich verteidigen kann.

»Beckett! Emerson! Ich habe Babys!! Und Harper! Ich habe eine elfjährige Tochter. Das ist eine heikle Phase. Ich kann nicht einfach irgendwohin fahren und alles Mögliche machen! Ich muss mich um die Kinder kümmern.«

Das brülle ich quer über die Küchentheke in Richtung meiner Schwester.

Halt. Wo gerade von Dingen die Rede ist, um die ich mich kümmern muss … Ich bin auch noch für eine weitere Kleinigkeit zuständig – die Donnerstagabende*. Ha! Ich mache einen Siegestanz durch die Küche und zeige auf Delorse. Hämisch.

»Außerdem habe ich einen Job! Zwei Jobs! Grey’s AnatomyUNDScandal! Drei Kinder und zwei Jobs! Ich habe … keine Zeit! Ich bin Mutter! Ich bin Autorin! Ich habe meine Serien!«

Bam!

Welch ein Triumph. Ich bin eine Mutter. Eine Mutter, verdammt. Ich habe Kinder. DREI Kinder. Und ich bin für zwei Fernsehserien gleichzeitig verantwortlich. Von meiner Arbeit sind mehr als sechshundert Mitarbeiter abhängig. Ich bin eine Mutter, die arbeitet. Eine berufstätige Mutter.

Wie … Beyoncé.

Ja.

Genau wie Beyoncé.

Ich verdiene die Brötchen UND ich schmiere sie. Das ist keine Ausrede. Sondern eine Tatsache. Das kann niemand wegargumentieren. Niemand kann meine Beyoncé-Leistung wegargumentieren.

Doch ich habe vergessen, dass ich es mit Delorse zu tun habe.

Delorse kann alles wegargumentieren.

Delorse legt das Messer hin. Sie hört tatsächlich auf zu kochen und legt das Messer hin. Dann hebt sie den Kopf und schaut mich an. Meine Schwester, die größte Gewinnerin unseres Familienjackpots, ist über fünfzig. Ende fünfzig. Ihre Söhne sind erwachsen, studierte Männer mitten im Berufsleben. Sie hat Enkelkinder. Und dennoch werde ich oft gefragt, ob meine sechsundfünfzigjährige Schwester meine Tochter sei.

Das ist furchtbar und manchmal wirklich zu viel.

Als Delorse nun den Kopf hebt und mich anschaut, sieht sie eher aus wie eine aufmüpfige Vierzehnjährige als wie meine älteste Schwester. Und dieses Aufmüpfige-Vierzehnjährigen-Gesicht mustert mich nun.

»Shonda.«

Mehr sagt sie nicht. Doch in diesem einen Wort liegt enorm viel Selbstsicherheit.

Also platzt es aus mir heraus –

»Eine alleinerziehende Mutter.«

Das ist dreist. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Denn obwohl der Begriff »alleinerziehende Mutter« im wörtlichen Sinne auf mich zutrifft – ich bin eine Mutter und ich bin alleinerziehend –, gilt das nicht für die Assoziationen, die er weckt. Mein Versuch, mich hinter diesem Begriff zu verstecken, als sei ich eine Frau, die sich abrackern muss, um für genügend Essen zu sorgen, ist ein übler Trick. Ich weiß das. Sie wissen das. Und leider weiß es auch Delorse.

Ich muss das Gespräch irgendwie beenden. Also ziehe ich eine Augenbraue hoch und schaue grimmig. So wie ich im Büro gucke, wenn ich keine weitere Diskussion mehr dulde.

Meiner Schwester ist dieser Blick völlig egal. Aber sie greift wieder zum Messer und nimmt sich erneut das Gemüse vor.

»Wasch den Sellerie«, weist sie mich an.

Also wasche ich den Sellerie. Irgendwie sorgen der Geruch von frischem Sellerie, die Bewegungen beim Waschen und Emersons Begeisterung, als sie Wasser durch die Gegend spritzt, fälschlicherweise dafür, dass ich mich in Sicherheit wähne.

Deshalb bin ich unvorbereitet.

Ich drehe mich um. Reiche Delorse den nassen, sauberen Sellerie. Und bin überrascht, als sie, immer noch Gemüse schneidend, wieder zu sprechen beginnt.

»Du bist eine alleinerziehende Mutter, aber du bist keine alleinerziehende Mutter. Ich wohne vier Blocks entfernt. Sandie wohnt vier Blocks entfernt. Deine Eltern wohnen vierzig Minuten von hier entfernt und verbringen liebend gern Zeit mit den Kindern. Du hast buchstäblich die beste Nanny der Welt. Du hast drei wunderbare beste Freunde, die jederzeit bereitstehen und dir helfen. Du bist von Familienmitgliedern und Freunden umgeben, die dich lieben, von Menschen, die wollen, dass du glücklich bist. Du bist dein eigener Chef – deine Arbeit ist nur so stressig, wie du es zulässt. Aber du machst nie etwas anderes, als zu arbeiten. Du hast nie Spaß. Früher hattest du eine Menge Spaß. Jetzt bieten sich dir so viele traumhafte Gelegenheiten – einmalige Gelegenheiten –, und du nutzt keine von ihnen. Warum?«

Ich verlagere nervös das Gewicht. Irgendwie gefällt mir das hier nicht. Das Gespräch behagt mir gar nicht. Mein Leben ist gut. Mein Leben ist toll. Ich meine, schauen Sie es sich doch an!

Schauen Sie!

Ich bin … glücklich.

Mehr oder weniger.

Ich bin mehr oder weniger glücklich.

Irgendwie.

Halt dich da raus, Delorse. Du nervst, Delorse. Wie Benjamin Button immer jünger werden, das gibt es im wahren Leben nicht, daher muss dein Gesicht auf einen Pakt mit dem Teufel zurückgehen, Delorse! Weißt du was, Delorse? Du stinkst.

Aber all das spreche ich nicht aus. Stattdessen stehe ich lange Zeit einfach da. Sehe ihr beim Schneiden zu. Und setze schließlich zu einer Antwort an. Mit genau der richtigen Dosis lässiger Arroganz in der Stimme.

»Meinetwegen.«

Und dann wende ich mich ab, in der Hoffnung, dass die Unterhaltung damit beendet ist. Ich gehe zur Couchecke hinüber und lege die bereits schlummernde Beckett vorsichtig in den Stubenwagen. Ich setze Emerson auf dem Wickeltisch ab, sie braucht eine neue Windel. Gleich werde ich nach oben gehen und versuchen, ein noch nicht vollgekotztes Oberteil zu finden, das ich zum Essen tragen kann. Die frische Windel sitzt. Ich nehme Emerson auf die Hüfte, lasse sie den Kopf auf meine Schulter legen, und wir drehen uns auf dem Weg zur Treppe wieder zu meiner Schwester um. In diesem Augenblick sagt sie es. Die sechs Wörter.

Sie murmelt sie. Fast unhörbar.

Während sie die letzte Zwiebel würfelt.

Sechs alarmierende Wörter.

»Du sagst nie zu irgendetwas Ja.«

Einen Herzschlag lang bleibt die Zeit stehen. Erstarrt zu einem glasklaren Augenblick, den ich nie vergessen werde. Zu einem der Bilder, das nie von der Wand meines Gedächtnisses verschwinden wird. Meine Schwester, in einem braunen Kapuzenpullover, die Haare zu einem sauberen Knoten im Nacken zusammengebunden, das Messer in der Hand, den Kopf gesenkt, vor ihr auf dem Schneidebrett ein kleiner Haufen weißer Zwiebelwürfel.

Sie feuert die Wörter ab.

»Du sagst nie zu irgendetwas Ja.«

Feuert sie ab wie eine Granate.

Du sagst nie zu irgendetwas Ja.

Dann schiebt meine Schwester die Zwiebelwürfel beiseite und nimmt sich den Sellerie vor. Ich gehe nach oben, um mich umzuziehen. Unsere Familienmitglieder und Freunde treffen ein. Der Truthahn gelingt perfekt. Das Essen ist köstlich.

Die Granate landet mitten in meinem Inneren und bleibt dort stecken. Geräuschlos. Getarnt. Ich verschwende keinen Gedanken an sie.

Du sagst nie zu irgendetwas Ja.

Thanksgiving kommt und geht.

* Anm. d. Üb.: In den USA werden die Serien von Shonda Rhimes – Grey’s Anatomy, Scandalund mittlerweile auch How to Get Away With Murder – nacheinander jeden Donnerstagabend im Fernsehen ausgestrahlt.

2

Vielleicht?

Mehrere Wochen lang geschieht nichts.

Die Granate rollt in meinem Kopf umher, der Zünder sitzt sicher und fest. Sie rollt so leise und unbemerkt umher, dass ich ihre Existenz vergesse. Meine Tage verstreichen wie üblich. Ich fahre zur Arbeit, verfasse Drehbücher, arbeite an Folgen meiner Serien, komme nach Hause, kuschele mit den Kindern, lese Gutenachtgeschichten vor.

Mein Leben verläuft normal.

Bis auf ein ungewöhnliches Ereignis: Ich fliege als neues Vorstandsmitglied des Kennedy Centers nach Washington. Dort nehme ich an den Feierlichkeiten anlässlich des Kennedy-Preises teil und besuche zum ersten Mal das Weiße Haus. Und dann erfahre ich, dass ich aufgrund irgendeiner Zauberei, die ich bis heute nicht verstehe, bei der Verleihung der Auszeichnungen beim Präsidenten und der First Lady in der Loge sitzen werde.

Ich werde nicht gefragt. Ich bekomme es mitgeteilt. Ich habe keine Chance, Nein zu sagen. Vermutlich, weil die Organisatoren davon ausgehen, dass ich eine solche Ehre niemals ablehnen würde. Wer würde das auch tun?

Ich trage ein traumhaftes schwarzes, perlenbesetztes Abendkleid. Meine Begleitung einen neuen Smoking. Wir sitzen während der gesamten Veranstaltung direkt hinter dem Präsidenten und Mrs. Obama. Ich bin viel zu schüchtern und nervös, um mehr als nur ein paar Worte hervorzukrächzen, als ich die Gelegenheit habe, mit ihm und der First Lady zu reden. Ganze Sätze bringe ich nicht heraus. Aber ich genieße den Abend. Ich habe Spaß.

Wir trinken im gleichen Raum Cocktails wie Carlos Santana und Shirley MacLaine. Wir werden für den Rest unseres Lebens erzählen können, dass wir dabei waren, als Snoop Dogg Herbie Hancock dafür dankte, den Hip-Hop erschaffen zu haben. Wir sind Zeugen, wie Garth Brooks gemeinsam mit einem Chor aus Veteranen den Billy-Joel-Song »Goodnight Saigon« singt. Es ist wundervoll. Der ganze Abend fühlt sich wie verzaubert an. Ganz egal, für wie herzlos sich die Mitwirkenden des Politzirkus halten oder wie weltverdrossen die Volksvertreter erscheinen, Washington ist dennoch eine Stadt, der der wahre Zynismus à la Hollywood abgeht. Die Leute dort begeistern sich für Dinge, und ihr Enthusiasmus wirkt ansteckend. Als ich nach Los Angeles zurückfliege, erfüllt mich heiterer Optimismus.

Die Granate explodiert ohne Vorwarnung.

Es geschieht um vier Uhr morgens, wenige Tage vor Weihnachten. Ich liege auf dem Rücken in meinem breiten Doppelbett. Meine Augen sind ohne mein Zutun weit geöffnet. Etwas hat mich schlagartig wach gemacht, mich aus dem Schlaf gerissen.

Abrupt geweckt zu werden, ist nichts Ungewohntes für mich.

Wie jede Mutter auf diesem Planeten gab ich in dem Augenblick, in dem das erste Kind ins Haus kam, den Tiefschlaf auf. Mutter zu sein bedeutet, immer ein bisschen wach, ein bisschen wachsam zu sein. Ein Auge offen zu halten. Daher überrascht es mich überhaupt nicht, mitten in der Nacht geweckt zu werden. Was mich überrascht, ist, dass der Grund dafür kein Kind ist, das wutentbrannt im Kinderbett steht und heult. Das Haus ist still. Meine Mädchen schlafen tief und fest.

Warum bin ich dann wach?

Wäre ich gefragt worden, hätte ich Nein gesagt.

Bei diesem Gedanken sitze ich auf einmal aufrecht im Bett.

Was?

Wäre ich gefragt worden, hätte ich Nein gesagt.

Mein Gesicht wird ganz heiß. Ich bin peinlich berührt, als befände sich jemand im Zimmer, der die Worte in meinem Kopf hören könnte.

Wäre ich gefragt worden, ob ich bei der Kennedy-Preisverleihung in der Präsidentenloge sitzen wolle, hätte ich Nein gesagt.

Lächerlich.

Aber es stimmt. Es stimmt ganz ohne jeden Zweifel.

Dessen bin ich mir genauso sicher wie der Tatsache, dass ich atmen muss. Ich hätte die Absage schonend formuliert. Respektvoll. Elegant. Ich hätte mir eine kreative Ausrede einfallen lassen und zum Ausdruck gebracht, wie geehrt ich mich fühle und wie sehr ich bedaure, nicht kommen zu können. Die Ausrede wäre gut gewesen, sie wäre brillant gewesen.

Ich bitte Sie – schließlich bin ich Autorin. Ich hätte die richtigen Worte gewählt, die alle in Entzücken versetzt hätten. Niemand kann eine Einladung so formvollendet ablehnen wie ich. Sie sind allesamt nur Amateure, wenn es ums Davonlaufen geht; ich beherrsche diese Kunst wie ein Weltmeister.

Ich nicke mir selbst zu. Ganz sicher. Wie auch immer ich es formuliert hätte, ich hätte Nein gesagt. Das steht außer Frage.

Wäre ich gefragt worden, hätte ich Nein gesagt.

Im Ernst jetzt?

Ich springe aus dem Bett. Der Schlaf hat keine Chance mehr. Ich muss nachdenken. Ich brauche Wein. Unten lasse ich mich aufs Sofa fallen und starre in die Lichter am Weihnachtsbaum. Mit einem Glas Wein in der Hand trinke ich über die Frage nach.

Warum hätte ich Nein gesagt?

Aber ich kenne die Antwort. Ich kannte die Antwort, bevor ich aus dem Bett gesprungen bin. Ich wollte nur den Wein.

Weil ich Angst habe.

Ich hätte es abgelehnt, mit dem Präsidenten und seiner Frau bei der Kennedy-Preisverleihung in der Ehrenloge zu sitzen, weil mir der Gedanke daran, Ja zu sagen, Angst eingejagt hätte.

Ich hätte es abgelehnt, weil ich es bei einem Ja wirklich hätte tun müssen. Ich hätte wirklich hingehen und in der Loge sitzen und den Präsidenten und die First Lady treffen müssen. Ich hätte Small Talk machen und reden müssen. Ich hätte neben Carlos Santana Cocktails trinken müssen.

Ich hätte all die Dinge machen müssen, die ich an jenem Abend tatsächlich getan hatte.

Und ich hatte den Abend genossen. Er erwies sich letztendlich als einer der unvergesslichsten meines Lebens.

Ich bin bekannt dafür, gute Geschichten zu erzählen.

Geschichten, die meine Freunde zum Lachen bringen, wenn ich sie beim Abendessen zum Besten gebe, und die mein Gegenüber beim Date den Cocktail über den Tisch prusten lassen. Geschichten, bei denen hinterher alle bitten: »Erzähl das noch mal.« Das ist meine Superkraft – ich kann gut Geschichten erzählen. Stimmige Geschichten. Lustige Geschichten. Epische Geschichten.

Ich kann aus allem eine gute Geschichte machen. Ich kann das lahmste Ereignis in eine mitreißende Erzählung verwandeln. Die Sache ist die, dass eine gute Geschichte nicht aus vorsätzlichen Lügen bestehen darf. Die besten Geschichten sind wahr. Alles, was ich tun muss, ist … die störenden Elemente wegzulassen.

Die zehn Minuten, die ich vor meiner Abfahrt zum Weißen Haus damit verbringe, mich davon zu überzeugen, dass ich keine Magen-Darm-Grippe habe, sondern gesund bin. Den Augenblick, in dem ich in Betracht ziehe, den Staub vom Boden der Xanax-Flasche abzulecken – denn ich nehme ja gar kein Xanax mehr, es sind zwölf Jahre vergangen, seit Xanax mein Freund war. Igitt, der Xanax-Staub ist zwölf Jahre alt?

Die Nächte, in denen ich vierzehn Stunden am Stück schlafe, weil ich so gestresst bin, dass die Entscheidung »schlafen oder laufen« lautet. Und damit meine ich nicht Joggen auf dem Laufband, sondern Weglaufen im Sinne von: Ab ins Auto, schnell zum Flughafen und »Auf Nimmerwiedersehen«.

Lauf!

Das scheint mir ein deutlich besserer Plan zu sein, als vor die Öffentlichkeit zu treten, obwohl alle Nervenenden in meinem Körper laut aufkreischen.

So bin ich.

Still.

Schweigsam.

Nach innen gekehrt.

Ich fühle mich inmitten von Büchern wohler als in ungewohnten Situationen.

Ich bin völlig damit zufrieden, in meiner Gedankenwelt zu leben.

Dort bin ich zu Hause, seit ich ein kleines Kind war. In meiner frühesten Erinnerung sitze ich auf dem Boden unserer Speisekammer. Ich verbrachte Stunden an diesem dunklen und warmen Ort und spielte mit Konservendosen, mit denen ich ein ganzes Reich erschuf.

Ich war kein unglückliches Kind. Da ich das Nesthäkchen einer achtköpfigen Familie war, stand immer jemand bereit, um mir etwas vorzulesen, meine ausgedachten Geschichten zu loben oder mich an Teenager-Geheimnissen teilhaben zu lassen. Jeder Streit unter Geschwistern um den übrig gebliebenen Keks oder das letzte Stück Kuchen endete stets mit einem resignierten Seufzen: »Gib es der Kleinen.«

Ich wurde geliebt, ich war ein Star, ich war die Blue Ivy meiner Welt. Ich war kein unglückliches Kind.

Ich war nur ein ungewöhnliches Kind.