Das Jahr 2013 - Meine Mama wäre 100 - Anton Reinbold - E-Book

Das Jahr 2013 - Meine Mama wäre 100 E-Book

Anton Reinbold

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Beschreibung

Das Jahr 2013 – Meine Mama wäre 100! Ein Blick in die Zeiten des Lebens einer einfachen und doch außergewöhnlichen Frau Johanna Reinbold, von der Oktoberrevolution 1917 und bis in die Zeiten hinaus nach dem zweiten Weltkrieg.Erlebnisse einer Russlanddeutschen in der Ukraine, Deutschland, Sibirien und Moldawien. Es ist eine spannende Biographie einer Frau, die, wie auch die Geschichte ihrer ganzen Generation. Im Wirbelsturm der turbulenten, oft trostlosen Jahren mit Millionen Opfern, Heimatlosen und Vertrieben versuchten Menschen nicht nur selbst mit Familie zu überleben sondern auch Ihre Würde und menschliche Eigenschaften zu behalten. Das Buch ist nicht groß aber informationsreich, mit vielen spannenden, interessanten Episoden, Daten und Fakten. Es vermittelt nicht nur traurige Fakten, ist durchaus optimistisch, gelegentlich gibt es verborgenem Humor. Beschrieben wird nicht nur der private Bereich sondern auch das begleitende politische „Klima“, das das Verhalten der Menschen bestimmte. .

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„Wenn Du noch eine Mutter hast, so danke Gott und sei zufrieden“.

Dieser einfache Satz war auf einer Bürstentasche eingestickt, die bei uns lange Jahre an der Wand im Zimmer hing.

Im Nachhinein denke ich:

„Wenn Du aber sie nicht mehr hast, so vergesse nicht, was sie für Dich war“.

Dieser Bericht ist mit Dank meiner Mutter gewidmet.

Inhalt

Inhalt

Einführung,

Die Kindheit

Die Jahre bis zum zweiten Weltkrieg

Der Krieg 1941-1945. – Flucht und Vertreibung

Спецпоселение - Sondersiedlung in Sibirien

Eingeschränkte Freiheit, Sibirien ade!

Die erste Ausreisewelle nach Deutschland

Nachwort

Einführung,

Meine Mutter, Johanna Reinbold, geborene Scherer, ist am 27. Juni 1913 im damaligen Russland, heute Ukraine, im Dorf Baden geboren. Das Dorf heißt heute Otscheretowka, es liegt ca. 50 km westlich von der Hafenstadt Odessa entfernt.

Der Vater in der Familie, Anton Scherer, war kein Bauer im echten Sinne sondern Handwerker, Tischler vom Beruf. In diesem Beruf hat er auch seinen Sohn, meinen Onkel Josef angelernt. Die Mutter, Dorothea, geborene Bartsch, kam aus dem anderen, nahe liegendem Dorf Elsass.

Baden war damals eine von ca. 3500 deutschen Siedlungen im Russischen Reich. Die Siedler, wie auch wir, ihre Nachkommen, sind als „Russlandsdeutschen“ nach dem heutigen Lexikon bekannt. Der Begriff ist korrekt. Nicht selten werden wir in der Presse oder in der Bevölkerung falsch als „Deutschrussen“ bezeichnet. Klingt ähnlich wie „Deutschtürken“, damit verdreht man aber die wahre Bedeutung des Wortes.

Die deutschen Einwanderer spielten in der Geschichte des Russischen Reiches eine sehr große Rolle. Berühmte Politiker, Wissenschaftler, Feldherren, Dichter und Schriftsteller, Geographen und Entdecker hinterließen tiefen Spuren in der Geschichte dieses Landes. Besonders willkommen war in Russland der massenhafte Zuzug der Deutschen zwischen dem Ende des 18ten und dem Anfang des 19ten Jahrhunderts. Nach mehreren Kriegen in vorigen Zeiten und vor allem nach den siegreichen Kriegen gegen die Türken, konnte Russland riesige Gebiete zu seinem Territorium gewinnen. Dieses neue Land war fast menschenleer. Daraufhin hat die Zarin Katharina II, die Große, ein Manifest am 22.07.1763 erlassen, mit dem Aufruf, Ausländer zur Einwanderung nach Russland zu bewegen. Später kam das ergänzende Manifest vom 20.02.1804 ihres Enkels, Alexanders I, in dem einige Punkte korrigiert und erweitert wurden. Dies war die Grundlage für die massenhafte Einwanderung der Deutschen, die zuerst das Wolgagebiet und dann andere Regionen des Landes besiedelten. Die ersten deutschen Siedler, welche an die Wolga kamen, kamen überwiegend aus Hessen. Dieser Einwanderungsprozess der Deutschen ging viele Jahre weiter und dauerte fast ein Jahrhundert. Sie siedelten in praktisch allen Teilen Russlands, vorwiegend jedoch an der Wolga und rund um das Schwarze Meer. Insgesamt vermehrte sich rasant die Zahl der Russlandsdeutschen; aus den etwa 100.000 Einwanderern entstand bis Anfang des 20ten Jahrhunderts eine Volksgruppe von 1,7 Millionen Menschen.

Je nach Siedlungsgebieten unterteilt man die Deutschen in Russland als Wolgadeutsche, Schwarzmeerdeutsche, Krimdeutsche, Kaukasusdeutsche, Wolyniendeutsche, Sibiriendeutsche u.a.

Zu dem Begriff „Schwarzmeerdeutschen“ gehören deutsche Kolonisten, die das Land zwischen den Flüssen Dnjestr und Bug besiedelten. Die Kolonien unterteilten sich hier in vier Siedlungsgebiete: Beresaner, Liebentaler, Kutschurganer und Glückstaler.

Unsere Eltern lebten in der Kutschurganer Region. Die bedeutendsten Kolonien des Kutschurganer Gebiets (Kutschurgan ist in kleiner Nebenfluss von Dnjestr) waren Straßburg (heute Kutschurgan), Baden (Otscheretowka), Selz (Limanskoe), Kandel (heute Rybalskoe)), Mannheim (heute Kamenka) und Elsass (Stepanowka).

Unsere Vorfahren, wie auch Tausende Anderen, kamen 1808 ins Schwarzmeergebiet nach dem oben erwähnten Inkrafttreten des Manifestes des Zaren Alexanders I. Die Meisten waren Bauern und stammten aus den deutschen Gebieten Baden, Württemberg, Pfalz sowie Elsass. Sie suchten aus Not und Verzweiflung, die nach unendlichen Kriegen in Mitteleuropa entstanden, ihre Hoffnung auf ruhiges, menschenwürdiges Leben in der Ferne. Die versprochenen Privilegien wie etwa Religionsfreiheit, Befreiung vom Militärdienst, Selbstverwaltung auf lokaler Ebene mit Deutsch als Amtssprache, finanzielle Starthilfe, Darlehen, 30 Jahre Steuerfreiheit u.a. waren auch sehr verlockend.

Was war das für ein Jahr, das Jahr 1913! In allen Hinsichten ein besonderes Jahr, wie es sich später herausstellte. Es herrschte FRIEDEN. 1913 – das letzte Jahr vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Eine heile Welt in Europa. Kaiser Wilhelm II von Deutschland feierte sein 25-jähriges Regierungsjubiläum, die Romanows in Russland ihre 300-jährige Geschichte und in Österreich führte Kaiser Franz Joseph seit nun 65 Jahren das Land.

Das Jahr 1913 war für Russland durch höchste wirtschaftliche Produktivität und Prosperität in ihrer bisherigen Geschichte gekennzeichnet und war der Maßstab / Etalons für die kommunistische Führung noch viele Jahre danach.

Die deutschen Siedler schafften es in etwas mehr als 100 Jahren durch Fleiß, Schweiß und Blut zu verdientem Wohlstand. Der Alltag in den deutschen Kolonien zeichnete sich im Jahr 1913 durch friedliche Normalität aus.

Das war ein Jahr der unbegrenzten Möglichkeiten für die Menschen und gleichzeitig das Jahr der vergebenen Chancen. Nun, es war aber nur die Ruhe vor dem Sturm, wie die Russen sagen „затишье перед бурей“. Nach diesem Jahr ging Vieles bergab. Die turbulenten Jahre danach rissen Menschen und Schicksale der Generation meiner Mutter, wie im stürmischen Meer mit sich, mit Höhen und Tiefen. Nichts mehr war normal, nichts mehr war stabil und vorauszusehen. Für Millionen Menschen in ganz Europa brachten die Folgejahre großes Leiden.

Nebenbei sollte erwähnt werden, dass dieses Jahr 1913 nicht nur das Geburtsjahr meiner Mama, sondern auch das des Bundeskanzlers Willi Brand sowie der US-Präsidenten Richard Nixon und Gerald Ford war. Alle kamen gleichberechtigt ins Leben, nur weit nicht Jeder hatte die großen Chancen.

Die Kindheit

Meine Mutter war die jüngste von fünf überlebenden Kindern in der Familie (insgesamt waren es 12 Geschwister) zu denen weiterhin der ältere Bruder Josef (1903-1983) sowie drei Schwestern zählten: Elisabeth (1904-1933), Brigitta (1905-1965) und Mathilda (1910-1989). In den ersten Jahren ihres Lebens tobten zuerst der erste Weltkrieg, dann die russische Oktober-Revolution und der russische Bürgerkrieg. Das ganze Russische Reich war im Aufruhr. Die Deutschen in Russland hat es in dieser und der folgenden Zeit hart getroffen. Die ständigen Forderungen zur Abgabe von am Land erwirtschafteten Produkten an die revolutionären Kräfte während der Zeiten des Kriegskommunismus nach der Revolution zerrten an den Kräften und am Wohlstand der Russlandsdeutschen. Besonders schlimm für die deutschen Kolonisten waren die Jahre des Bürgerkrieges (1918-1920). Die deutschen Dörfer waren mitten drin in den Schauplätzen kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen den Bürgerkriegsgegnern. Die Strapazen für die Bevölkerung durch das Hin- und Wegrücken der unterschiedlichen feindlichen Parteien (Roten-Bolschewiki, Weißen, Grünen, Anarchisten und sonstige), waren enorm. Jede Partei wütete und propagierte für eigenen Visionen, Ideen und Interessen, jeder der Kriegsherren rekrutierte junge Männer, forderte beim Einzug ins Dorf Tribut. Dass viele dabei sehr oft brutale Gewalt anwendeten, ist ein weiteres dunkles Kapitel für sich. Der von den Kolonisten organisierte Selbstschutz durch Dorfmilizen brachte letztendlich nur den Tod vieler Dorfeinwohner. Unter vielen Opfern war auch mein Urgroßvater Michael Volz, der von den „Roten“ erschossen wurde.

Den Krieg konnten die Bolschewiki durch Rücksichtslosigkeit und Entschlossenheit für sich entscheiden. Zerrüttung herrschte im Land. Nach dem Ende des langandauernden Bürgerkrieges kam in den meisten westlichen Teilen von Russland eine schreckliche Hungersnot, welche durch Missernten und vor allem durch die Zwangspolitik des Kriegskommunismus der neuen Bolschewiken-Regierung ihre Gründe hatte. Den Bauern wurde das Letzte abgenommen, alle Vorräte, das Saatgut war weg. Mindesten 20 Mio. Menschen erlitten eine nicht zu beschreibende Form von Hunger. Auch eine furchtbare Pest brach aus. Ein Hilferuf des bekannten russischen Schriftstellers Maxim Gorkij an die Weltöffentlichkeit erschien in der Presse, woraufhin eine großzügige Hilfe eingeleitet wurde. Durch die bekannte amerikanische Hilfsorganisation ARA (American Relief Administration - Verwaltung des Amerikanischen Hilfswerks), die Bemühungen des Roten Kreuzes unter leidenschaftlicher Beteiligung und Vermittlung des norwegischen Polarforschers Fridtjof Nansen, mehrere ausländischen mennonitischen und andere Organisationen wurde aus dem Ausland eine riesige Hilfsaktion organisiert. Die Hilfe von den wohltätigen ausländischen Hilfsorganisationen betrug das Zehnfache dessen, was die sowjetische Regierung durch eigene Ressourcen letztendlich zur Verfügung gestellt hatte. Beteiligt an den Hilfsaktionen waren auch ehemalige Russlandsdeutsche, die Ende des 19ten Jahrhunderts weiter nach Amerika emigriert sind.

Viele von unseren Leuten erinnerten sich ihr Leben lang mit großer Dankbarkeit an die eingerichteten Küchen und Pakete aus Amerika. Trotz der großen Hilfslieferungen hatte Russland etwa drei bis fünf Mio. Hungersopfer zu beklagen, unter ihnen schätzungsweise 120.000 Russlanddeutsche (48.000 allein im Wolgagebiet).

Im Jahr 1922 ist auch der Vater von meiner Mutter, Anton Scherer verhungert. Der damals 18 Jahre alte Onkel Josef (Mutters Bruder) war von nun an der einzige Mann in der Familie. So hat die Familie den Ernährer verloren und es kamen sorgenvolle Jahre. Über diese geplagte Zeit hat Mutter viel erzählt. Es fehlte an allem, selbst die einfachsten Dinge fehlten. Die Bekleidung der Kinder war armselig. Als ein Mal ihre Mutter (meine Großmutter) ein wenig Geld zusammen gespart hatte, wollte sie dem Onkel Josef, der schon ein erwachsener Junge war, einen Anzug kaufen. Das Geld hat gerade noch dafür ausgereicht. Darauf hat Onkel Josef erwidert, besser den jüngeren Mädels etwas von dem Geld zum Anziehen zu kaufen, denn nach seiner Meinung hätten sie es notwendiger gehabt als er.

Irgendwie hat man sich durch diese Zeit durchgeschlagen und überlebt. Die Hungersnot der Jahre 1921-1923 war nicht die erste und nicht die letzte von Tragödien, die das Land dem kommunistischen Regime zu verdanken hatte.

Die Jahre bis zum zweiten Weltkrieg

Als Kind besuchte Mama den Kindergarten. In einer Broschüre, die der Badener Leo Deibele erstellt hatte, gibt es ein Foto von schlechter Qualität, auf dem sie mit anderen Kindern zu erkennen ist.

Später, schon in der sowjetischen Zeit, ging sie zur Schule, welche sie vier Jahre lang mit sehr gutem Erfolg besucht hatte. Sie zeigte große Fähigkeiten beim Lernen, so dass ihr Onkel sich bei ihrer Mutter fürs Weiterlernen eingesetzt hatte. Die damalige ungünstige materiale Lage erlaubte dies jedoch nicht, somit war ihr der Besuch der Schule weiterhin verwehrt.

In der Schule waren damals ortseigene, fremde aber auch einige russische Lehrer angestellt. Meine Mutter hat mit Humor oft die ukrainische Lehrerin Seraphina Tschpiga erwähnt, die ein sehr furchtbares Deutsch sprach und besonders stotterte, wenn sie aufgeregt die Schüler beschimpfte.

In der Schule hat sie die herrschende kommunistische Propaganda mit ständigem und hartem antireligiösen Druck und Zwang besonders gestört. Sie sagte, dass in dieser antireligiösen Schulatmosphäre sie auch nicht weiter lernen wollte, denn Mama war streng religiös. Religion war wie ein leuchtender Stern in ihrem Leben. Ihre Überzeugung war felsenfest. Man kann sich ihre Einstellung zu dem System in folgendem Sinne vorstellen, denn im Lande wurde nicht nur mündliche, antireligiöse Propaganda geführt, an der Tagesordnung standen auch die Verfolgung Geistlicher und sogar deren Ermordung, samt Kirchenschließungen.

Mama hat früh angefangen, auf Feldern als Tagelöhnerin zu arbeiten. So arbeitete sie auch auf den Feldern der Eltern ihres zukünftigen Mannes, meines Vaters Michael Reinbold.