Fremd Blieb die Heimat in der Fremde - Anton Reinbold - E-Book

Fremd Blieb die Heimat in der Fremde E-Book

Anton Reinbold

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Beschreibung

Wichtigste Ereignisse in der Geschichte der deutschen Einwanderern in Russland in den Zeiten der Katharina der Große bis in die Gegenwart. Kriege und Frieden in Europa

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Gewidmet meiner Familie. Meinen Landsleuten.

Herzlichen Dank Renate Gelsinger-Sutardjo für die umfangreiche und gründliche Unterstützung bei der Gestaltung des Manuskripts zum Buch.

Das Schicksal dieser Menschen kling wie eine Warnung. Warnung vor einem Land, dass durch Jahrhundert langer Expansion zum größten Land der Erde aufgewachsen ist. Ein großes, unermesslich großes Land, das schwer zusammenzuhalten, zu erschließen und urbar zu machen war. Massenweise wurden Menschen aus dem noch zersplitterten Deutschland durch Vergünstigungen angeworben. Und sie kamen, leisteten in schwierigen Bedingungen, im fremden Land und zuerst in Frieden ihre Existenz zum Wohlstand auf. Machten sogar ihren Lebensraum zu ihrer neuen Heimat. Doch sie wurden zu Gefangenen des totalitären Systems. Und mussten letztlich durch hässliche innere und außenpolitische Unruhen und Handlungen der Herrschenden alles verlieren. Ihre nationale Eigenart und Identität wurden ihnen zum Verhängnis.

2024 Bad Nauheim

Inhalt

Vorwort

Prolog

Was trieb sie her?

Warum die Massenauswanderung?

Die Bauern, die Leidtragenden

Was trieb Russland zur Einwanderungspolitik?

Beginn der massenhaften Ansiedelung in Russland

Einwanderung in Gebieten Österreich-Ungarn

Ansiedlungen in Preußen

Anwerbung und Umsiedlung nach Russland

Was erwartete die Neusiedler an der Wolga?

Konflikte mit Einheimischen

Ansiedlung in Südrussland / Neu-Russland

Besonderheiten, Struktur der angelegten Kolonien

Periode des Wohlstandes und Stabilität

Periode der Stabilität bis zum Ersten Weltkrieg

Bildungswesen

Starke Politisierung des Landes

Juden im Klassenkampf

Finanzierung der bolschewistischen Partei: Mäzene, Bankräuber

Russlanddeutsche zwischen den Fronten. Liquidationsgesetz

Verlauf des Ersten Weltkrieges

Lenin,Trotzki, Stalin. Revolution 1917

Die Deutschen Kolonisten während des Krieges

Bolschewistischer Terror, die Tscheka

Bürgerkrieg

Das System des Kriegskommunismus

Die Russlanddeutschen in der Revolution und Bürgerkriegszeit

Hungersnot 1921/1922

Lenins Neue Ökonomische Politik (NEP) (1921-1927

)

Kollektivierung

Entkulakisierung, Aussiedlung

Kollektivierung, Pause

Weitere Verarmung, Golodomor

Massenabwanderung, persönliche Inlandspässe

Zweite Hälfte der 30er Jahre. „Die Kader entscheiden alles“

Der XVII. Parteitag der KPdSU (Bolschewiki

)

Der große Terror in den Jahren 1937 bis1938

NKWD-Befehl 00447

Aus meinen persönlichen Erkenntnissen

Historiker zu den stalinistischen Gräueltaten

Europa, Deutschland, Versailler Vertrag

Inflation 1922/1923. Dawes- und Young-Plan

Wie stand Deutschland militärisch 1933 da?

Zusammenarbeit Deutschlands mit UdSSR vor dem 2ten Weltkrieg

Die Diplomatie in Europa vor dem 2ten Weltkrieg

Deutsch-polnische Beziehungen vor dem 2ten Weltkrieg

Zur polnischen Geschichte. Polnisch-Sowjetischer Krieg

Der Deutsch-Sowjetische Nichtangriffspakt

Deutsche Besatzungspolitik in Polen

Besatzungspolitik der Sowjetunion in 1939 - 1941

Hitlers Deutschland Überfall auf die UdSSR. Die Deutschen im Lande

Konferenzen in Teheran und Jalta

What to do with Germany? Was tun mit Deutschland?

Nachkriegszeit, Reparationen, Jagd um die Trophäen

Potsdamer Konferenz

Vertreibung, Flüchtlinge

Vergewaltigungen während und nach dem Krieg

Die Tragödie der Kriegsgefangenen

Aufbau Deutschlands nach dem Krieg, Trümmerfrauen

UdSSR: Repressalien gegen nationale Minderheiten

Widerstand der Westukrainer

Die Litauische antisowjetische Widerstandsbewegung

Das Problem der Repatriierung DPs, Westzone

Deutsche Zwangsarbeiter aus der SBZ in der Sowjetunion

Einverleibung deutscher Fachleute nach dem Zweiten Weltkrieg

Die DPs der SBZ (sowjetische Besatzungszone

)

Russland im Rausch der Erfolge

Nachwort

Vorwort

Ach die Weltordnung! Frieden!. Frieden für Menschen, Frieden für Nationen, Frieden auf Erde! Pathetisch? Der Sinn dieses Wortes ist es gar nicht.

Die weltgrößten Imperien wie Römisches Reich, Osmanisches Reich und, wie sie auch alle hießen, entstanden nach dem gleichen Schema: Eroberung, Etablierung und Aufrechterhaltung. Die Imperien verschwanden und danach entstanden neue. Bei allen war Frieden nur am Rande. Es kamen immer neue Kriege. Was hat die Welt daraus gelernt?

Nach den zwei schlimmsten Kriegen der Geschichte, die im 20. Jahrhundert tobten, hat man sich international auf ein neues Friedenskonzept geeinigt – anfangs auf den „Völkerbund“ -League of Nations“. Ein System der kollektiven Sicherheit sollte es nach dem ersten Weltkrieg werden. Mit dem Ergebnis - den Zweiten Weltkrieg konnte der Völkerbund nicht verhindern. Unmittelbar nach Ende 1945 entstanden die Vereinten Nationen (UNO). Eine neue Friedensmission, ein neuer Weg beim Versuch, den Frieden abzusichern. In der UNO waren nun tatsächlich praktisch alle Staaten auf der Welt ihre Mitglieder. Auch die UNO wird mit Skepsis wegen beschränkten Erfolges angesehen. Und dennoch ist es ein Fortschritt, ist eine wichtige Etappe bei der internationalen Zusammenarbeit.

Jetzt macht es Europa vor. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten seine führenden Staaten, trotz früheren Konfrontationen und Feindseligkeiten, sich auf ein ganz neues Bündnis-Konzept verständigt– die Europäische Union (EU). Die EU wird heute als eine vielversprechende Bemühung angesehen, friedliche Entwicklung auf dem Kontinent zu fördern. Mit großer Hoffnung. Und das trotz Kritik und Fehlern. Nicht umsonst streben auch die ehemals verfeindeten jugoslawischen Nachfolgestaaten heute in diesen Bund.

Wenn man berücksichtigt, dass noch nicht lange her die größten europäischen Mächte auch die größten Kolonialmächte und nicht selten verfeindeten Gegner waren, ist die EU heute ein Meilenstein in der Absicherung des Friedens. Wir wissen, die hässliche Kolonialzeit, das verflochtene koloniale System mit unbegrenzter Gewalt im kolonialen Alltag, gehören heute zu Geschichte. Sind dabei alle kolonialen Großmächte der führenden europäischen Staaten gemeint?

Der russische kommunistische Anführer und marxistische Theoretiker, Vladimir Lenin stellte 1914 und 1915 in seinen Schriften „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ und „Über die Lösung der Vereinigten Staaten von Europa“ Russland als zweitgrößte Kolonialmacht hinter England dar. „Die Welt ist aufgeteilt unter einem Häuflein von Staaten, die in der großangelegten Ausplünderung und Unterdrückung der Nationen die größten Erfolge zu verzeichnen haben. Die vier Großmächte Europas: England, Frankreich, Russland und Deutschland verfügen über Kolonien fast über den halben Erdball.“, so Lenin auch über sein Land noch während des Ersten Weltkrieges. Russland erweiterte systematisch seit dem 16. Jahrhundert seine Herrschaft über großen Territorien durch Eroberungen nicht in großen und reichen Überseeländern, so wie Westmächte, sondern militärisch-politisch aggressiv direkt im europäischen westlichen und asiatischen Nachbarterritorium, so wie die Ausbreitung der USA auf dem nordamerikanischen Kontinent.

Durch die gezielte Expansionspolitik entstand in Russland ein Imperium, ein Vielvölkerstaat, wo mehr als 190 Völker und ethnische Gruppen zusammen leben. Hierher siedelten einst Ende der 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts Deutsche aus zersplittertem, kleinstaatlichem Deutschland. Sie wurden von den russischen Zaren angeworben und in neu eroberten und angeschlossenen Territorien angesiedelt, um die Grenzen zu sichern und sie wirtschaftlich aufzubauen. Die Deutschen waren dort von Anfang an privilegiert, wurden unterstützt, das allerdings, solange man sie besonders gebraucht hat. Als Bürger Russlands galten sie offiziell jedoch als „Fremdstämmige“ („Инородцы“) wie die Nomadenvölker.

Ohne besondere politische Ambitionen doch friedlich, arbeitstüchtig, mit festen Einstellungen für ihre Sprache, Kultur, Religion und Traditionen. In der langen Zeit bildete sich ein Volk heraus, dass friedlich mit den nicht deutschen Nachbarn zusammenlebte. In ihren besten, politisch stabilen Zeiten schufen diese Menschen durch Fleiß und besondere Fähigkeiten aus den wilden Gegenden Oasen, blühenden Landschaften. Zu erwähnen sind auch andere Deutsche, die ähnlich massenweise in mehreren Jahrhunderten außerhalb Deutschlands kompakte Kolonien bildeten und ebenfalls mit Erfolg vorbildliche Ländereie bewirtschafteten. Wir reden nicht von den Staaten des nord- und südamerikanischen Kontinents. Nicht von den USA, wo Deutsche zusammen mit anderen Nationen die amerikanische Nation konstituierten. Gemeint sind einige Staaten in Ost- und Südosteuropa. Man nannte sie «Auslandsdeutsche», «Auslandsund Grenzlanddeutsche» auch „Angehörige deutscher Minderheiten". Noch heute gut bekannt sind die sog. Rumäniendeutsche - eine Sammelbezeichnung für die traditionellen, regional weitgehend getrenntlebenden ehemals etwa 800.000 Menschen. Unter ihnen die Siebenbürger Sachsen in Mittelrumänien und die Banater Schwaben, oder die übergeordnete Volksgruppe der Donaudeutschen – Donauschwaben, die Ende des 17. bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die Länder der ungarischen Krone siedelten. Die Siebenbürger Deutschen wurden vom Ungarischen König noch im 12. Jahrhundert ins Land geholt. Sie lebten eine Zeitlang im Osmanischen Reich, dann in Österreich-Ungarn und nach dem Ersten Weltkrieg letztlich in verschiedenen Regionen Rumäniens, auch Jugoslawiens, je nachdem wie sich die Grenzverschiebungen nach den Kriegen vollzogen haben. Zu erwähnen sind auch die Rund 850.000 Deutsche, die sich nun innerhalb der Grenzen des polnischen Staates bis Ende des Zweiten Weltkrieges lebten. Wesentlich stärker mit 3,3 Millionen (1930) war die deutsche Minderheit in der 1918 gegründeten Tschechoslowakei. Oder auch zusammen etwa 250.000 Deutsche, die bis zum Zweiten Weltkrieg in den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen lebten. Doch deren einzigartige Geschichte ist nicht Ziel des heutigen Berichtes.

Nach 100 Jahren russischer Revolution, Umsturz, Lüge und Gewalt lag der bolschewistische Staat auf der Müllkippe. Er hinterließ in dieser Zeit Millionen Opfer.

Wir bleiben bei Russland und den Deutschen in diesem Lande. Russland war und blieb ein besonderer Staat. Lenin nannte Russland zu seiner Zeit ein „Völkergefängnis“. Wer konnte es sonst besser wissen. Unter seiner Führung hat die bolschewistische Partei 1917 gesiegt. Entschlossen, mit Gewalt, und aggressiv etablierten sie ihr neues System. Sie haben kurz danach die nationale Unabhängigkeit einiger im Wirbel des Bürgerkrieges kurzfristig entstandenen selbst ausgerufenen Republiken niedergeschlagen. Und organisierten schließlich 1922 eine Staatenunion - die Sowjetunion (UdSSR) - mit 16 Republiken, die zwar im Bund offiziell souverän, doch politisch, ökonomisch, kulturell und natürlich militärisch fest an Russland angedockt waren. Etabliert wurde ein Schein der Nationalen Einheit, in dem die nationale Identität durch die zentrale Macht kontrolliert und portionsweise erlaubt wurde. Immer dominierend im Lande war der russische Großmachtchauvinismus. Die kolonialen, Expansions- / Eroberungsbestrebungen lebten im sozialisierten Staat und bestehen auch heute noch weiter fort. Die UdSSR nutzte ihre günstige militärische Lage nach Ende des Zweiten Weltkrieges und annektierte etwa 700 Tausend km2 fremdes Territorium, größer als die Fläche Frankreichs, welches allerdings „nur“ etwa 3% ihrer ganzen Territorien ausmachte. Dieses riesige Konglomerat zerfiel durch innere Spannungen und Misswirtschaft. Nach Auflösung der Sowjetunion Ende 1991 erlangten weite Teile dieser binnenkolonialen Territorien und Einflusssphären ihre Unabhängigkeit, sie haben sich endgültig dem Druck des „Sozialistischen Staates“ entzogen. Eduard Schewardnadse, ihr letzter Außenminister, gab in seinen Erinnerungen an: "Es zerbrach das letzte Imperium des 20. Jahrhunderts, die Sowjetunion, dieses blutige, utopische, gegen den Willen Gottes und die Gesetze der Natur entstandene Reich.“

Anders reagierte auf die territorialen „Verluste“ der verbliebene Nachfolgestaat, die Macht in Moskau, mit ihrem Präsidenten Putin heute. Es hat Tradition. Seine fixe Idee, gibt ihm keine Ruhe. Der sinnlose Krieg in der Ukraine heute ist eine wahnwitzige Vorstellung eines Geisteskranken schizophrenen Diktators – den sich wiederholenden Traum des Regimes über die „Sammlung der Russischen Erde“. Traum von einem totalitären Staat in alten Grenzen.

Postsowjetische Staaten nach Nummerierung:

1. Aserbaidschan; 2. Armenien;

3. Weißrussland; 4. Georgien; 5. Kasachstan; 6. Kirgistan; 7. Lettland; 8. Litauen;

9. Moldawien; 10. Russland;

11. Tadschikistan;

12. Turkmenistan;13 Usbekistan;

14. Ukraine; 15. Estland

Und die Deutschen im Lande waren über ihre 200jährige lange Geschichte fest und unzertrennlich an das Land angeschlossen. Ihre Höhen und Tiefen hingen unmittelbar von den Beziehungen zwischen den russischen und deutschen Staaten ab, hatten schmerzhaften Einfluss auf ihre Existenz. Sie waren gleichzeitig Zeitzeugen und Mitleidende deren Entwicklungen. Sie mussten alle irreführenden Abläufe im russischen Reich miterleben. Hier geschah die bolschewistische Revolution, die die 300jährige Zarendynastie wegfegte, der brutale Bürgerkrieg, die darauf folgende bolschewistische Diktatur mit Millionen vernichteten Menschenleben. Die Deutschen hier wurden trotz des Versuchs, neutral zu bleiben, ungewollt in den Wirbel hineingezogen. Welchen Spielraum hatte denn die deutsche Volksgruppe? Ihnen blieb nur der Schrei im tiefen Inneren „Lasst uns in Frieden!“…. In „Frieden“ leben sie heute in ihrer historischen Heimat in Deutschland. Ihre Erfahrungen haben in der heutigen massiven russischen kriegerischen Propaganda großen Wert. Lasst uns zurückblicken.

Prolog

Здравствуй, племя младое, незнакомое!

Не я увижу твой могучий поздний возраст,

Когда перерастешь моих знакомцев

И старую главу их заслонишь от глаз прохожего…

Wohl Dir, Du junges, mir doch so fremdes Volk!..

Die Zeiten, die nach mir vergehen,

Die werde ich leider nicht mehr sehen!“

Ein Zitat aus Alexander Puschkin „Wieder besuchte ich…“

Diesen Gruß richtete der große russische Dichter an die zukünftigen Generationen, an die Nachkommen. Eben seine Jahre waren reich an großen Ereignissen. In den Zeiten herrschte Napoleon über Europa. Es vergingen wenige Jahre und der Imperator wagte seinen Eroberungskrieg gegen Russland. Wenige Jahre vor seiner Invasion, kamen Tausende Andere, auch Fremde, ins Land, doch sie waren, im Gegensatz zu Napoleon, willkommen, sie wurden sogar hierher eingeladen. Ob das für sie eine gute Entscheidung war, das hätten auch sie damals gerne gewusst. Wie es Napoleon erging, wissen wir, bald kam auch sein Ende. Die Anderen, und das waren unsere Vorfahren, blieben dauerhaft hier, über 200 Jahre lang unterstützten sie den Staat. Hier erlebten sie auch Höhen und Tiefen. Ungewollt wurden auch sie in den Wirbel der dramatischen Zeiten hineingezogen - verfolgt, entwurzelt, durch die Welt getrieben. Und sie bauten die Straßen, auf denen unsere Generation hier heute angekommen ist. Wir kamen eben dorthin, von wo die Reise unserer Vorfahren vor über 200 Jahren erst begonnen hatte. Wir sind die Heimkehrer, die es erleben durften, wieder in die alte Heimat nach Deutschland zurückzukommen. Der Kreis hat sich geschlossen. Wir sind wieder daheim.

Landsleute nach fast genau 200 Jahren. Zwei Reinbolds in Elsass: beim Empfang von Herrn Krämer - Bürgermeister von Selz, heute Seltz

Puschkins Botschaft erreichte nach einer ganzen Epoche unsere Generation. Lasst uns seinen Gruß annehmen, lasst uns einen Blick in die vergangenen Zeiten werfen. Lasst uns heute gemeinsam an den Weg erinnern, den die Einwanderer von damals in diesen Jahrhundert-Jahren zurückgelegt hatten, sowohl an Personen, als auch an die Ereignisse, die in dem großen Zeitraum die Welt prägten. Eine lange Geschichte, an der auch meine Generation teilnehmen durfte.

Wir versetzen uns zurück in das Jahr 1808. Doch nicht auf dem Rücken von Pegasus. Nicht Puschkins Dichtung treibt uns an – es ist die reine Prosa. Denn wir befinden uns inmitten der unendlichen ukrainischen Steppe, wohin unter mehreren Zeitgenossen auch mein Ur-, Ur-...Urgroßvater, mit gerade einmal 17 Jahren mit seinem Vater und seiner Stiefmutter eben angekommen sind. Hinter ihnen lag eine rund 2.000 km lange Reise. Frisch in Erinnerung waren die Strapazen des schweren Landweges auf gegen Unwetter gedeckten Pferdewagen, anschließend zusammengepresst in primitiven Booten, getrieben in Gewässern des Donaustromes. Konfrontiert mit Krankheiten, Quarantäne, Begegnungen mit nicht immer freundlichen Menschen in Transitländern. Mehrere von den Reisenden sind auf der Strecke geblieben, haben das Ziel nicht erreicht. Ob die Angekommenen in die weite Zukunft, wie es Puschkin träumte, schauen wollten? Keiner von ihnen wusste, was in Kürze geschehen wird, geschweige denn in 200 Jahren.

Die Vorfahren meines Vaters und meiner Mutter kamen aus dem vertrauten Seltz, bzw. Schirrhein in Elsass (heute Frankreich), die Anderen trieb es aus dem Schwabenland, aus Baden oder anderswoher in die Fremde - alles deutsche Südwestländer mit einigen Ausnahmen. Es war die Zeit der Masseneinwanderung nach Russland. Sie waren nicht die ersten und nicht die letzten Einreisenden.

Hier, in der ukrainischen Steppe, sollte jetzt ihre zukünftige Heimat werden. Angekommen, begleiten sie immer wieder die Gedanken an ihre verlassenen Heimatorte. Wie groß die Opfer auch immer sein werden, es gibt kein Zurück. Zu Deutschland bestand kaum eine Postverbindung, die das Heimweh hätte lindern können. Im Ankunftsland wurden sie sofort von alltäglichen Sorgen überwältigt. Es ging Ihnen nur ums tägliche Brot, ums Überleben von heute auf morgen. Sie mussten ihre Bleibe einrichten, zuerst ihre Notunterkünfte. Doch sie verzagten nicht. Sie trieb der Glaube an die bessere Zukunft. Sonst wären sie nicht hierhergekommen. Keiner hat sie ja dazu gezwungen. Und so mobilisierten sie alle ihre Kräfte.

Rheinfähre Plittersdor, bei Seltz

Ob Badener, Elsässer, Schwaben, Hessen - in Russland spielte es keine Rolle mehr. Sie alle blieben jetzt nur allgemein Deutsche. Ihre neue Heimat Russland entwickelte sich in ihrer Geschichte zu einem komplizierten Staatskonstrukt. Mehr als 100 Völker lebten schließlich im Imperium; 57% der Bevölkerung gehörten nicht dem russischen Stamm an. Ein multinationales Land, wo Ukrainer, Kasachen, Tataren und viele andere Nationen zwar ihre eigene Mundart sprachen, doch keiner einen eigenen Nationalstaat hatte. Erst viel später wurden Grenzen gezogen.

Die Untertanen des Russischen Reiches nicht slawischer Abstammung aus Zentralrussland und Ostgebieten, Einwohner Zentralasiens, Kasachstans, Kaukasus, Sibirien, Nomadenvölker u.a. Regionen unterordnete man in eine besondere Kategorie der „Fremdstämmigen“ – (Инородцы). Sie unterschieden sich in den Rechten und Verwaltungsmethoden von der anderen Bevölkerung des Reiches. Nach der Volkszählung von 1897 gab es etwa 55,667 Mio. Russen. Die hier lebenden Ukrainer (22,4 Mio.) und Weißrussen (5,9 Mio. Menschen) wurden einfach auch zu den Russen angerechnet. Und so bewohnten Russland bis Anfang des 20. Jahrhunderts Polen, Juden, Armenier, Deutsche, Tataren, Finnen als zahlreichste der „Andersstämmigen“.

Das Territorium des Russischen Reiches wuchs kontinuierlich in seiner Geschichte immer weiter. Bereits Peter I wandelte im Jahr 1720 Provinzen und Regionen in Gouvernements um. Ein Teil davon wurde zu Generalgouvernements vereinigt (Warschau, Irkutsk, Kiew, Moskau, Amur, Turkestan, Finnland). Es waren Verwaltungseinheiten bestehend aus mehreren Gouvernements, denen ein Generalgouverneur vorstand. In der Regel waren sie mit einem Militärbezirk deckungsgleich. Dessen Kommandeure hatten zugleich das Amt des Generalgouverneurs inne. Die administrativ-territoriale Struktur wurde in Laufe der Jahre oft neu durchgemischt bzw. festgelegt. Die gesamte Bevölkerung galt als Untertanen des Russischen Reiches, die männliche Bevölkerung (ab 20 Jahren) schwor dem Zaren die Treue.

Der offizielle Titel der russischen Herrscher begann mit "Imperator und Selbstherrscher (Самодержец) von ganz Russland, Moskau, Kiew, Wladimir, Nowgorod". Der Zarentitel blieb in Bezug auf eroberte Territorien und Nationen ausgedehnt. Nikolaus II. nannte sich "Zar von Kasan", "Zar von Astrachan", "Zar von Polen", "Zar von Sibirien", "Zar des Taurischen Chersonesos", "Zar von Georgien" und noch mehr. Der Kürze halber verwendete Nikolaus II. in seinen Manifesten die Formel: "Der Kaiser und Autokrat von ganz Russland, der Zar von Polen, der Großherzog von Finnland." Dies war verständlicher als der vollständige Titel, da alle Länder mit Ausnahme von Polen und Finnland administrativ vollständig Teil des Russischen Reiches waren. Auch Finnland und Polen waren beileibe keine souveränen Staaten, genossen aber eine gewisse Autonomie.

Wie schon angedeutet, wurden auch die Deutschen bei ihrer Ansiedlung im Lande offiziell russische Staatsbürger, aufgeteilt als „Andersstämmigen“. Sie wurden jetzt von den anderen und untereinander nach ihren jetzigen Wohnorten unterschieden. Es gab ab jetzt Schwarzmeerdeutsche, Wolgadeutsche, Krimdeutsche, Kaukasiendeutsche u.a., also Deutsche nach den Orten, wo sie sich niedergelassen haben. Mit der Besonderheit, auch verstreut im riesigen Land blieben sie deutsch.

Das sog. Neu-Russland

Die Vorfahren meines Vaters und meiner Mutter (Reinbold und Scherer) – Schwarzmeerdeutsche - waren Mitbegründer der Dörfer im Kutschurganer Tal bei Odessa im südwestlichen Teil des Russischen Reiches am Schwarzen Meer. Es waren Gebiete, die den Türken kurz bevor entrissen und als Neu-Russland benannt wurden. Dazu gehörten Territorien zwischen den Mündungen von Dnjestr und Dnjepr, administrativ dem Gouvernement Cherson unterstellt. Das Gouvernement wurde 1802 gegründet. Heute gehört diese Gegend größtenteils zur Ukraine, ein kleinerer Teil bildet heute die selbsternannte Republik Transnistrien (Moldawien). Es hatte eine Fläche von 71,284 km2, Hauptstadt war damals Cherson, später Nikolaew.

Eingeteilt war das Gouvernement in sechs Ujesdy (уезды =Kreise):

Ujesd Alexandrija (ukr. Oleksandrija)

Ananjew (ukr .Ananjiw)

Cherson

Jelisawetgrad (heute Kropywnyzkyj)

Odessa

Tiraspol

Der Hauptverwaltungsort des Gebietes lag ursprünglich in der Stadt Nikolajew, danach in Odessa. Es entstand das Gouvernement Odessa. In der Zeit besiedelten mehrere Nationalitäten das Gebiet. Viel später, im Jahr 1897 hatte das Gouvernement 2.733.612 Einwohner. Bedingt durch seine Geschichte als Kolonisationsgebiet war die ethnische Zusammensetzung des Gouvernements besonders bunt. Von den Einwohnern waren 1.462.039 Kleinrussen (Ukrainer), 575.375 Russen, 322.537 Juden, 147.218 Rumänen bzw. Moldawier (Moldauer), 123.453 Deutsche, 30.894 Polen, 25.685 Bulgaren, 22.958 Weißrussen sowie in kleinerer Anzahl Griechen, Armenier und Tataren.

Was trieb sie her?

Man fragt sich: „Was trieb diese Menschen von ihren seit Generationen ansässigen Orten in die Ferne, in die Fremde?“ Und noch in ein damals so besonders raues Land wie Russland?“ War das vielleicht der angeborene Trieb fürs Risiko? Unter ihnen waren bestimmt auch einzelne Abenteurer bzw. Glücksuchende. Noch bevor die Masseneinwanderung begann, waren viele in den Diensten der Russland Herrschenden. Sie leisteten sozusagen „Entwicklungshilfe“. Das relativ isolierte Russland lud sie ein, um seinen Anschluss an Westeuropa auszubauen. Die Beziehungen zwischen den Deutschen und Russen waren bei weitem nicht nur durch Kriege und Auseinandersetzungen geprägt – wie man es aus der jüngsten Vergangenheit kennt. Gerade die Deutschen spielten in der Entwicklung Russlands eine hervorragende Rolle. Viele bekannte Politiker, Feldherren, Wissenschaftler, Dichter, Schriftsteller, Geographen und Entdecker hatten deutsche Wurzeln und hinterließen tiefe, ruhmreiche Spuren. Aus der Geschichte dieses Landes sind sie nicht wegzudenken. Nicht wenige von ihnen assimilierten sich in der Gesellschaft. Solchen herausragenden Personen wurde die vierbändige „Enzyklopädie Russlanddeutsche“ (ЭРН, Москва, 2006) gewidmet. Nur halt in russischer Sprache. Viel mehr sind da Informationen über die Russlanddeutschen Kolonisten gesammelt.

Die russischen Herrscher griffen auf dieses „Deutsche Potenzial“ immer dann zurück, wenn ihr Land vor großen Herausforderungen stand. Da waren die tüchtigen Deutschen herzlich willkommen. Sie hatten durch ihr Wissen und Abenteuerwillen neues Glück gesucht und dabei große Leistungen erbracht. Letztlich, wer hat denn die großen Regionen an der Wolga, in der Ukraine, in Bessarabien und vielen anderen damals Randgebieten in den schlimmsten Jahren zivilisiert und aufgebaut? Wir sprechen von den deutschen Einwanderern. Es ist nicht die Schuld dieser Menschen, dass Russland später bei weitem nicht immer mit Anerkennung darauf reagierte. Vielmehr versuchte man dort die Rolle der Deutschen zu relativieren, klein zu reden oder gar als negativ darzustellen („Засилье немцев“- deutsches Übergewicht). Es herrschen, leider, immer noch heute starke Vorurteile auf beiden Seiten. Jeder nimmt sich das Recht, besser über die „dunklen Seiten“ des Anderen Bescheid zu wissen. Darauf kommen wir noch. Lasst uns zurückschauen auf die Zeiten, als große Menschenmassen der Deutschen dieses Land ab Ende des 18. Jahrhunderts dauerhaft besiedelt und Jahrzehnte bzw. Jahrhunderte lang ihre deutsche Identität bewahrt haben.

Warum die Massenauswanderung?

Wanderungsbewegungen gab es schon immer. Wir erinnern uns gleich an die sog. „Völkerwanderung“ - im engeren Sinne die Migration vor allem germanischer Völker in Mittel- und Südeuropa durch Druck der aus den zentralasiatischen Steppen westwärts drängenden hunnischen Nomaden, die den Abwanderungs-Dominoeffekt nach Europa in Jahren von ca. 375 bis 568 auslösten. Viel später im 17. Jahrhundert während des 30jähtigen Krieges sind massenweise Menschen aus Süddeutschland in die Schweiz geflüchtet. Einige Orte verloren über vier Fünftel ihrer Bewohner. Nach dem Frieden konnten sie wieder in ihre Heimat zurückkehren. Mit ihnen kamen auch mehrere Eidgenossen.

Die erzwungene Emigration war mehr verbreitet als die freiwillige Auswanderung. Ganze Bevölkerungsgruppen, als Beispiel die Juden, mussten in ihrer Geschichte massenweise sowohl aus muslimischen als auch christlichen Ländern fliehen. In dem Zeitraum der Reformation und Gegenreformation (1550– 1750) mussten viele Menschen ihre Heimat aus Glaubensgründen verlassen: So wie die Protestanten in Böhmen von 1620 bis etwa 1680. In mehreren Emigrationswellen verließen Hugenotten Frankreich Richtung England, Niederlande, Preußen und außerhalb Europas.

Die massenhafte Auswanderung aus Deutschland in die östlichen Gebiete und nach Russland ab Ende des 18. Jahrhunderts begann und verlief parallel zu der nach Amerika. Nur der Prozess ging zuerst überwiegend Richtung Osten. Erst später im 19. Jahrhundert beschleunigte er sich sprunghaft nach Westen, nach Nord- und Südamerika, nach Australien. Die Vorteile der Migration nach Amerika, wo die relativ dünn besiedelten Gegenden geradezu zur Einwanderung einluden und die einheimische Bevölkerung bei der Bildung neuer Staatengemeinschaften auf Ihren Territorien eine untergeordnete Rolle spielte und unterdrückt wurde, ist den Meisten sicherlich nachvollziehbar. Andersrum sind die Ursachen für die massenhafte Migration in andere Richtung, nach Osten, zuerst nicht so ganz klar. Warum gingen unsere Vorfahren in die Weite nach Osten? Hier existierten bereits fremde und oft raue Kulturen und Nationen. Und warum zog es dorthin ausgerechnet Deutsche und überwiegend solche aus Mittel- und Südwestdeutschland?

Spricht man von den Gründen der Auswanderung der Deutschen, so

waren es vor allem die Kriege, die in Regionen des Mittel- und Südeuropas dauerhaft geführt wurden. Sie vernichteten nicht nur Existenzen, sondern auch Menschenleben, sie forderten immer neue Tribute, frisches Kanonenfutter. Bei Kriegen ging es immer um Macht, Ehrgeiz und vor allem um Territorium und Lebensraum. Gerade diese Umstände herrschten in den Jahren der massenhaften Auswanderung aus den deutschen Gebieten. Die Chronik der Auseinandersetzungen und die Machtverhältnisse in Europa machen es deutlich. Ein Krieg trieb den anderen, baute die Basis für eine Reihe weiterer Konflikte. Schauplatz dieser, nur als Teil aller erwähnten blutigen Auseinandersetzungen, war der deutsche Boden.

Nach dem zerstörerischen Dreißigjährigen Krieg und folgenden Pestepidemien waren es Zeiten des Siebenjährigen Krieges zwischen Preußen, das durch England unterstützt wurde, gegen Frankreich, Österreich, Dänemark, Schweden, Sachsen und Russland (1756-1763), mehrere Erbfolgekriege. Es kamen die Französische Revolution 1789 mit Aufstieg Napoleons und dann seinen Kriegen. Schließlich brachten die Kriege von Napoleon katastrophale Folgen. So enthusiastisch die französischen Truppen am Anfang besonders von den polnischen Bauern begrüßt worden waren, so schnell wurden diese jedoch auch mit dem gnadenlosen französischen Requirierungssystem konfrontiert, denn die französische Armee ernährte sich von dem Land, auf dem sie sich bewegte. Sogar in den fruchtbaren Regionen Norditaliens oder Süddeutschlands war die Armeeversorgung für die Bevölkerung eine große Belastung. Und der Bevölkerung auf den mageren preußischen bzw. polnischen Böden kaum möglich, die zigtausend Mann starken französischen Truppen zu ernähren, denn sie hatten nicht mal genug, um sich selbst zu ernähren, geschweige denn noch eine große Armee. Mit den andauernden Kriegen waren zusätzliche Steuerlasten, Vorspann und Einquartierungen beim Durchzug der Armeen verbunden. Dazu kamen Plünderungen und Vergewaltigungen seitens der französischen Truppen. Die Bauern flüchteten von ihrem Land. Sobald sich ein Truppendurchzug ankündigte, wurden oft ganze Dörfer verlassen.

Die kreuz und quer durchs Land ziehenden Armeen der Feldzüge der Jahre 1806 bis 1809 führten zu einer erheblichen Zunahme der Zahl landloser Bauern. Die dann sich höchstens noch als Wanderarbeiter auf Gütern etwas verdienen oder sich eine Stelle als Dienstpersonal in den Städten suchen. Vielen blieb nichts anderes übrig, als sich zu den Armeen von Landstreichern und Bettlern zu gesellen, die sich im Herzogtum herumtrieben. Zu wirtschaftlicher Depression kamen dürrebedingte schlechte Ernten hinzu, die in den Jahren 1808 und 1811/1812 zu regelrechten Hungersnöten führten.

Die Bauern, die Leidtragenden

Wer war der Leidtragende in all diesen Konflikten? Nun wer denn? Es war die einfache Bevölkerung und besonders die Bauern. Ihr Lebensraum wurde ohne Rücksicht geplündert. Gleich rücksichtslos wurden die Bürger in verschiedene Armeen, auch in ausländische rekrutiert. Deutsche Soldaten wurden von ihren Landesherren aufgrund von Verträgen an England zum Kampf vergeben, die gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen in Amerika kämpften; auch die im Westen mit napoleonischem Frankreich verbündeten deutsche Kleinstaaten lieferten kriegerischen Nachschub in Form von Soldaten für seine expansiv agierte Armee.

Die wirklichen Interessen der Bauern lagen, wie auch immer, nicht auf den Schlachtfeldern, sondern in ihren Bauernhöfen, Kornfeldern und Gärten. Das aber mit der Annahme, dass sie dieses Land hatten. Denn ihre wirtschaftliche und rechtliche Lage war schwer, oft trostlos. Viele hatten hart um Ihre Existenz zu kämpfen.

Betrachtet man die ländliche Sozialstruktur vom 16. bis in das 18. Jahrhundert im Ganzen, so gab es auf dem Land in der Regel folgende soziale Klassen und Schichten: den Adel als Großgrundbesitzer, Bauern als Untertanen und ländliches Proletariat. Es gab auch vereinzelte frühkapitalistische Unternehmer. Im Laufe der Jahrhunderte nahm auch eine weitere soziale Schicht der Geschulten zu, die man als eine Frühform der späteren Schicht der Intellektuellen, des Bildungsbürgertums auffassen kann (z.B. Pfarrer, Verwalter, Lehrer). Die Geschulten waren jedoch eine kleine Minderheit. Der Anteil der Landhandwerker, Handarbeiter, Händler vermehrte sich erst im 18. Jahrhundert. In diesem Bild dominierte die Landbevölkerung mit ihren Bauern.

In Zeiten der massenhaften Auswanderung herrschte in deutschen Gebieten noch das feudale Wirtschaftssystem, geprägt durch Naturalwirtschaft mit der Produktion zum eigenen Verzehr. Ihr Anfang lag im 9. Jahrhundert und erreichte bis zum 12. Jahrhundert eine hochmittelalterliche Wandlung. Im 16. Jahrhundert zeichnete sich eine neue Phase mit anderen Herrschaftsverhältnissen ab, die sich durch mehr oder weniger ausgeprägte Macht der Landesherren und Adeligen über die Bauern kennzeichnete.

Die materielle, wirtschaftliche Lage der Bauern in deutschen Gebieten, aus denen überwiegend Auswanderer kamen, in den Jahren vor und während der Auswanderung war anders als in den anderen Ländern Westeuropas. Die wirtschaftliche Entwicklung der Länder westlich und südwestlich von Deutschland (England, Holland, Frankreich, Spanien, Portugal, Italien) und die ihrer Bauern besserte sich im 17. und 18. Jahrhundert wegen des ausgeprägten Handels, der Ausweitung und Intensivierung gewerblicher Produktion sowie auch durch die Kolonialwirtschaft viel schneller. In diesen Ländern hat das kapitalistische System viel früher Fuß fassen können. In England setzte sich der moderne Kapitalismus durch die industrielle Revolution und schließlich bürgerliche Revolution bereits ab etwa 1750 durch. England nahm auch eine Vorreiterstellung in der landwirtschaftlichen Revolution ein. Es entwickelte sich zur Weltmacht, hatte auch in Amerika große Interessen und Einfluss. Englische Seekräfte waren mit riesigem Profit massiv im Sklavenhandel beschäftigt. Es waren Blütezeiten der Kolonisierung, der wirtschaftliche Ausbeutung der Kolonien, die die europäischen Nationen unter sich aufteilten. Deutschsprachige Länder hatten wenig Anteil an dieser Entwicklung und dem Profit. Sie liefen den westeuropäischen Staaten und auch Amerika hinterher. Die Agrarrevolution mit ihrer Produktivitätssteigerung durch Intensivierung des Ackerbaus, Zuchtverbesserung und Ertragssteigerung des Viehbestandes, Mechanisierung durch technische Erfindungen, Einsatz von natürlichen und agrochemischen Mitteln und der damit verbundene Beginn der Düngerwirtschaft warteten in diesen Jahren in Deutschland noch auf sich. Die Ursachen des Rückstands bei den Deutschen waren komplex. Vor allem, die Zersplitterung des Landes in mehrere Grafschaften und Fürstentümer war eine große Bremse. Der Status und das Rechtsverhältnis der Bauern in deutschsprachigen Ländern waren durch starkes Abhängigkeitsverhältnis der Bauern von der Grundherrschaft geprägt. Von Land zu Land waren auch wesentliche Unterschiede zu verzeichnen. Auch nach dem Sieg gegen Napoleon wurde noch immer kein einheitlicher Deutscher Staat gegründet. Stattdessen kreierte man im „Wiener Kongress“ 1815 unter Großmachtstellung Österreichs einen lockeren Bund unabhängiger deutscher Staaten (37 Fürsten und vier Städte) mit wenig wirksamem „Bundestag“ in Frankfurt. Und das zog sich…bis zur Gründung des Deutschen Kaiserreiches1871 hin.

Die Bauern damals, ihre rechtliche Stellung als Erbbesitzer oder nur Pächter war von Dorf zu Dorf sehr verschieden. Es gab Vollbauern, Kleinbauern, auch Hausbesitzer mit einem kleinen Stück Land. Sie unterschieden sich vor allem nach Größe ihres Besitzes. Anderseits gab es in deutschsprachigen Gebieten freie, halbfreie und unfreie Bauern. Auch Leibeigenschaft war bis zum Ende des 18. Jahrhunderts kein Fremdwort.

Die Freibauern besaßen eigenes Stück Land. Frei waren auch viele Bauern, die von einem Grundherrn Land gepachtet haben oder sich auch von sämtlichen Verpflichtungen "halbfrei" kaufen konnten, es gab auch freigelassene Untertanen. Beim Freibauern bestand kein direktes Abhängigkeitsverhältnis zu seinen Grundherren. Ihren Status und ihr Land hatten sie von Generation zu Generation vererbt. Es waren meist die wohlhabendsten und wichtigsten Personen des Dorfes.

Aus verschiedenen Gründen wie Missernten, Krankheitsfällen oder Verwicklung in kriegerische Auseinandersetzungen der Fürstenhöfe, Herzogtümer und Königshäuser, durch die auch die Bauern in Mitleidenschaft gezogen wurden, konnten viele Bauern ihr Land nicht mehr halten und verkauften es an den Grundherrn. Dadurch verloren viele Bauern den freien Status und wurden zu Halbfreien oder gar zu Unfreien. Die Letzteren wurden, als ehemals Besitzende und zu diesem Land gehörig, sogar auch als Hörige (vom Grundherrn abhängige) bezeichnet. Der Status der halbfreien Bauern bedeutete für den Betroffenen, dass er als Person zwar frei war, jedoch für das Land, das er bewirtschaftete, an den Grundherrn einen Zins oder eine Pacht entrichten musste. Der Zinsbauer bildete in der neuesten Zeit die wichtigste und zahlreichste Gruppe der Hörigen. Ihre Abhängigkeit war jetzt nur bedingt, sie näherte sich vielfach den freien Bauern. Ein Zinsbauer war zwar ein höriger Bauer, doch er war zu Abgaben eines Zinses, nicht aber zu Fronarbeit auf den Fronhöfen verpflichtet.

Die härteste Form der Hörigen war die Leibeigenschaft. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Handhabung und Zwecksetzung bildete auch die Leibeigenschaft keinen einheitlichen Rechtsbegriff. Leibeigene waren im Allgemeinen zu Abgaben und Dienstleistungen (Fron) verpflichtet. Wenn die Abhängigkeit der freien Hörigen gutsbezogen war, so waren die Leibeigenen ortsgebunden. Sie durften nicht vom Gutshof des Leibherrn wegziehen.

Alle diese Verhältnisse waren freilich in den verschiedenen Gegenden Deutschlands durchaus nicht gleichmäßig geregelt, sondern wichen sehr voneinander ab. Die Abhängigkeit von den Grundherren auf dem altdeutschen Boden in Westdeutschland war im Allgemeinen wesentlich geringer als in den Gegenden östlich der Elbe. Die Last der bäuerlichen Dienste und Abgabepflicht reichten von vergleichsweise geringen Forderungen in Gebieten der mittel- und südwestdeutschen Grundherrschaft bis zu wesentlich härteren im Osten des Landes. Im ostdeutschen sog. Kolonialland dehnte sich die Abhängigkeit besonders stark aus. Hier waren die eigentlich unfreien auf den Fronhöfen selbst in voller Abhängigkeit vom Grundherrn tätig. Auf den ostelbischen Junkergü-tern waren unbeschränkte Arbeiten üblich, die fünf und mehr Wochentage beanspruchen konnten. Die Gutsherren brauchten die Bauern als billige Arbeitskräfte und die Landesherren verhinderten deren Abwanderung durch Verbote und Rechtskonstruktionen wie Schollenpflichtigkeit und Erbuntertänigkeit (wirtschaftliche und persönliche Abhängigkeit des Bauern vom Grundherrn).

Unter den Bauern, die feudalen Grundherren untertan waren, die aber frei und vererbbares Land besaßen, gab es eine starke soziale Differenzierung nach Besitzgröße und rechtlicher Stellung. Die Besitzstruktur entwickelte sich regional unterschiedlich, je nachdem, ob der Landbesitz geteilt oder nicht geteilt werden durfte (Anerbenrecht). Entsprechend änderte sich die soziale Struktur des Dorfes. Nach sächsischem Recht etwa war Grundbesitz unteilbar und wurde auf einen Sohn vererbt. Nach fränkischem Recht wurde Grundbesitz dagegen unter den Söhnen geteilt.

In Nordwestdeutschland galt bei der Vererbung meist das Anerbenrecht, in dem der erstgeborene Sohn (seltener die Tochter) den Hof übernahm (Ältestenrecht). Die Nachgeborenen wurden abgefunden. Ihnen blieb die Möglichkeit, in eine andere Hofstelle einzuheiraten, einen Hof durch Kauf zu erwerben oder eine Arbeit als Knecht oder Magd anzutreten. Mit der letzten Möglichkeit sanken sie jedoch gesellschaftlich zum Gesinde ab, das kaum mehr einem Stand zuzuordnen war. Sie hatten weder Eigentum noch gesicherte Rechte und schlugen sich oft mit Saisonarbeit durch oder versuchten mit Abwanderung in Siedlungsgebiete oder ins städtische Handwerk eine neue Existenz aufzubauen. In Südwestdeutschland dagegen galt fast überall das Minorats- oder Jüngstenrecht. Das heißt, nur der jüngste Sohn erbte den Hof (Minorat) im Falle des Todes oder des Auszuges (Ruhestand) des Vaters.

Bei den Bauern, sowie bei Adligen, wurde aber auch eine sog. Realteilung praktiziert (in Württemberg, Baden; Franken, Pfalz). Dadurch kam es zu einer Zersplitterung des Ackerlandes und einem starken Zerfall in ineffizienten Kleinstparzellen. Es entstanden statt größerer, gut arrondierter Höfe kleinere und kaum lebensfähige Betriebe. So wuchs immer mehr die Zahl der landlosen Bauern, verarmten Dorfbewohner. Sie verloren Land und damit ihre Existenzgrundlage, wurden als Tagelöhner unterwegs. Vorab sollte man erwähnen, dass diese Besitzstruktur, besser gesagt diese Unterschiede, auch die Umsiedler nach Russland mitbrachten.

Im Laufe der Jahre entstand ein Markt für „freigesetzte“ Arbeitskräfte, ein „Arbeitsmarkt“. Die Basis für die Entwicklung einer neuen kapitalistischen Formation wurde geschaffen. So entstand die Klasse der Lohnarbeiter. Sie sollte die entscheidende Grundlage der flächendeckenden Industrialisierung des ausgehenden 18. Jahrhunderts werden. Nach Karl Marx entstand somit eine „industrielle Reservearmee“.

In Deutschland wurde die Hörigkeit (persönliche Verpflichtungen gegenüber ihren Grund- und Leibherren) durch die Bauernbefreiung seit hunderten von Jahren, besonders durch die Revolution von 1848 abgeschlossen. Infolge dieser Maßnahme wurden viele Hörige zu Pächtern, konnten aber auch selbst das Land in Eigenbesitz erwerben.

Die Befreiung der Leibeigenen kam von oben. Allerdings wurden sie im Laufe der Zeit durch mehrere bäuerlichen Aufstände, Gerichtsprozesse und besonders durch die Französische Revolution Ende des 18. Jahrhunderts dazu gezwungen. Die reformwilligen Fürsten unter Einfluss der Aufklärer als Ideengeber wie Voltaire, Montesquieu oder Rousseau wagten diese Ideen in ihren Ländern umzusetzen. Freier Bauernstand wurde langsam Staatsziel. Erst im 19. Jahrhundert vollzog sich die Bauernbefreiung bzw. die Ablösung von der Abhängigkeit zu Grundherrschaft. Die Aufhebung der persönlichen Leibeigenschaft geschah in zersplittertem Deutschland unterschiedlich. So hat sich der österreichische Kaiser Franz-Josef persönlich dafür eingesetzt. In Baden folgte der badische Markgraf Karl Friedrich 1783 dem Vorbild Kaiser Josephs II. aus Österreich und hob die Leibeigenschaft in der Grafschaft auf. Im Großherzogtum Hessen wurde die Aufhebung der Leibeigenschaft per Gesetz vom 25. Mai 1811 verordnet. Im Königreich Bayern erfolgte die Aufhebung der Leibeigenschaft 1783 und wurde in der Verfassung von 1808 festgelegt. Mit dem Ende der Leibeigenschaft schwanden nicht gleich die bäuerlichen Lasten. Schon viel früher war der Grundherr zum Schutz der Hörigen und zu ihrer Fürsorge verpflichtet. Vom Gesetz her durften sie von ihren Herren nicht willkürlich behandelt werden. Ob das immer und überall so war? Zumeist verfolgten sie ihre eigenen Interessen.

Wesentlich dynamischer entwickelte sich die feudale Ordnung in England. Die Bauernbefreiung in England begann schon in der frühen Neuzeit, als am Ende des 15. Jahrhunderts den Bauern die persönliche Freiheit gewährt wurde.

Die Bauernbefreiung, die Umwandlung zu Pachtverträgen sowie die Erfindung des Mineraldüngers durch Justus von Liebig Mitte des 19. Jahrhunderts bewirkten in Deutschland geradezu eine Agrarrevolution. Die Entdeckung des Chemikers, durch Düngen fehlende Pflanzennährstoffe im Boden zu ersetzen, veränderten die Landwirtschaft nachhaltig. Nun konnten die Bauern jährlich die Ernteerträge deutlich erhöhen. Doch dies fanden erst überwiegend nach der Massenauswanderung nach Russland statt.

Was trieb Russland zur Einwanderungspolitik?

Die massenhafte Einwanderung aus dem Ausland, der Deutschen, konnte natürlich auch in damaligen Zeiten nicht ohne rechtliche Grundlage stattfinden. Bereits im Juli 1763 hatte die russische Zarin Katharina II. in ihrem zweiten Manifest die "Erlaubnis für alle nach Russland kommenden Ausländer" erteilt, sich in Gouvernements ihrer Wahl niederzulassen" und ihnen ökonomische und politische Sonderrechte gewährt. Diese Privilegien umfassten u.a.:

Religionsfreiheit,

Befreiung vom Militärdienst, Selbstverwaltung auf lokaler Ebene mit Deutsch als

Amtssprache, finanzielle Starthilfe und Darlehen, sowie

30 Jahre Steuerfreiheit.

Die Privilegien, hier kurzgefasst, hatten aber gewaltigen Inhalt, ihre Anziehungskraft bot große Möglichkeiten. So fanden sie auch hohe Resonanz.

Denkmal zu Katharina II. in St. Petersburg

Grundlegend waren es Folgen der Jahrhunderte andauernden territorialen Ausdehnung Russlands, ihrer Expansionspolitik.

Allein die Zunahme der Landfläche in ihrer Geschichte spricht für sich. Um 1300 n. Chr. betrug die Fläche des damals noch kleinen Moskauer Teilfürstentums etwa 28.000 km2. 1460 hatte das Großfürstentum Moskau bereits eine Fläche von 430.000 km2erreicht. Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte das Russische Imperium eine Fläche von 21 Millionen Quadratkilometern.

Das Wachstum des Großfürstentums Moskau zwischen 1300 und 1525

Während der Herrschaft des Ivan IV. Ende des 16. Jahrhunderts zählte das Land etwa acht bis zehn Millionen Einwohner. Im Jahre 1897 nach der Volkszählung wohnten dort 129 Mio. Menschen. Und 1914, vor dem Ersten Weltkrieg, waren es bereits rund 178 Mio. In Zeiten von Peter I. (Zar von 1682 bis 1721) existierten in Russland, wie bereits erwähnt, acht Provinzen - Gouvernements (Verwaltungsbezirke) -, während der Herrschaft der Zarin Ekaterina II. (1762-1796) bereits 50 und 1917 stieg ihre Zahl auf 78 Gouvernements.

Die Entstehung eines solchen Riesenreiches ist in der Geschichte einmalig.

Russische Expansion innerhalb von 3,5 Jahrhunderten

Wie, auf welche Weise ist das den Herrschern gelungen? Die heutigen Machtträger in Russland versuchen die Geschichte an ihre Denkweise anzupassen. Und so erklärt heute, im Jahr 2022, Peskow, der Pressesprecher des heutigen russischen Präsidenten Putin: „Die Russische Föderation hat in ihrer gesamten Geschichte noch nie jemanden als Erste angegriffen.“ Aus selben Regierungskreisen wird erstaunlicher Weise behauptet, “Wir sind ein friedliches Land, vom Territorium Russlands ist nie ein Krieg ausgegangen, immer musste sich das Land verteidigen“. Man sollte glauben, dass das Land nur durch Verteidigung kontinuierlich wuchs. Doch das ist offensichtlich eine ganz große Geschichtsverfälschung. Schaut man nur genau die Expansion des Landes innerhalb ihrer ganzen Geschichte an. Da kommt man zum Gegenteil. Das Land organisierte ihre ganze Entstehung mehrere Eroberungskriege. Die Herrscher stellten sich ein Eroberungsziel nach dem Anderen und verfolgten es kontinuierlich, konsequent, lange Jahre, oft sehr aggressiv, brutal bis zum Erreichen des angestrebten Zieles. Das Land „schluckte“ ein Opfer nach dem Anderen.

Wir nutzen hier das Wort „Expansion“. Gemeint ist hier nichts anderes als „Eroberung“. Russlands Jahrhundertgeschichte bestand aus fast andauernden Kriegen. Und das waren alles Eroberungskriege und beileibe keine Verteidigungskriege. Stick für Stick kamen neue Ländereien an den Staat. Ein Krieg trieb den anderen.

Der Abgeordnete der Staatsduma der Russischen Bundesversammlung vom Jahr 2000 Sergej Proschtschin (Сергей Прощин ) – Regimekritiker - benennt die Tatsachen beim Namen (in Russian.City, Internet-Plattform Russia24.pro, 17. Jan. 2022) mit Listennachweis. „Wenn wir uns die bekannten historischen Fakten ansehen, erfahren wir, dass - angefangen von den Zeiten des Großfürstentums Moskau (Moskauer Russ) - Russland seit Mitte des 16. Jahrhunderts an mindestens 75 verschiedenen Kriegen, Konflikten und Militäroperationen teilnahm. D.h. jeder fand durchschnittlich in etwa alle 7 bis 8 Jahre statt. Fast 70% davon hat Russland selbst begonnen. Und das ist noch nicht die vollständige Liste. Russland erweiterte im Laufe des 19. Jahrhunderts seine staatliche Macht nach Sibirien bis ans Japanische Meer, nach Zentralasien und in den Kaukasusraum aus. Russland wurde damit ein Vielvölkerstaat. Gleichzeitig begann die Russifizierung der einheimischen Bevölkerung.

Schon Iwan III. (1440-1505) erweiterte das Territorium bis zum Ural und zum Eismeer. Sein Sohn Wassilij III. setzte die "Sammlung der russischen Erde" fort.

In Zeiten des Zaren Ivan IV. (der Schreckliche) von 1552 bis 1582 expandierte das Zarentum Russland nach Osten und Süden durch die Eroberung von Gebieten an der Wolga: das Khanat von Kasan, dann 1554 das Khanat von Astrachan, das Zentrum der Macht der Nogaischen Horde und das Baschkirien. Der Kosakenführer Jermak Timofeewitsch erreichte 1582 das tatarische Khanat Sibir und besiegte es. Dadurch wurde das sibirische Territorium bis zum heutigen Nowosibirsk russisch.

Zar Peter der Große setzte sich danach Ende des 18. Jahrhunderts als Ziel, einen ganzjährigen Zugang zu den Weltmeeren über einen eisfreien Hafen im Norden zu schaffen (Прорубить окно в Европу) – „ein Fenster nach Europa zu öffnen“. Erreicht wurde das durch siegreiche Nordkriege von 1700 bis 1721 gegen Schweden und die Gründung von St. Petersburg- in langen 20 Jahren.

Ende des 17. Jahrhunderts wurde mit China der Vertrag von Nertschinsk geschlossen, der die Grenzen der Einflussgebiete zweier Staaten am Amur festlegte.

Im Laufe des 18. Jahrhunderts brachte Russland ganz Sibirien – Fernosten - bis zur Beringstraße unter Kontrolle und begann mit der Ausdehnung auf dem nordamerikanischen Kontinent (Alaska, Fort Ross). Im Jahr 1867 entledigte sich Russland aus Sorge vor Überdehnung der amerikanischen Besitzungen (Verkauf von Alaska, für 7,2 Millionen Dollar - entspricht etwa einem heutigen Gegenwert von 130 Millionen Dollar - an die Vereinigten Staaten (Alaska Purchase - Kauf), erweiterte jedoch seinen Einfluss im Fernen Osten auf Kosten Chinas (Vertrag von Aigun). Weiteres russisches Vordringen in die Mandschurei und die Gründung von Häfen Port Arthur und Dalian (Дальный) lösten Spannungen mit Japan aus und führten zum Verlust des Einflusses in Korea und der Mandschurei.

Ein weiteres Ziel der russischen Expansionspolitik war es, den Bosporus und damit den Zugang zum Mittelmeer in den eigenen Herrschaftsbereich zu bringen. Von 1568 bis 1878 wurden elf Kriege zwischen dem russischen Imperium und dem Osmanischen Reich geführt. In drei entscheidenden Kriegen von 1768 bis 1812 kam die Halbinsel Krim an Russland. Und der Zugang durch die Meerenge bei Konstantinopel zum Mittelmeer, sowohl für Handels- als auch für Kriegsschiffe, war gesichert. Die südlichen Gebiete am Schwarzen Meer sowie Bessarabien wurden von den Türken an Russland abgetreten. Weiterhin suchte man, die slawischen „Brudervölker" auf dem Balkan von der türkischen Herrschaft zu befreien. Das christlich-orthodoxe Russland verstand sich nach dem Zerfall des Byzantinischen Reiches und der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen als dessen Nachfolger und religiöses Zentrum der Orthodoxen.

Die langandauernden kriegerischen Handlungen haben die europäischen Mächte stark beunruhigt. Russland wurde immer mehr bei vielen als Gendarm Europas verhasst. Es unterdrückte nicht nur Völker im eigenen Lande sondern bekämpfte auch im Rest Europas Freiheitsbewegungen - die Niederschlagung des polnischen Aufstandes 1830/1831 und der Einmarsch in Ungarn 1849. Die geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen im mittleren Osten, Süden Europas und in Asien geraten immer mehr in Konflikt mit Frankreich und Großbritannien. Im Zehnten Russisch-Türkischen Krieg (1853 bis 1856), griffen die westeuropäischen Mächte ein, um eine Gebietserweiterung Russlands auf Kosten des geschwächten Osmanischen Reichs zu verhindern. (der sog. Krimkrieg). Russland verlor den Krieg, musste Gebiete abtreten und Einfluss einbüßen.

Dieser Krieg gehörte zu wenigen Ausnahmen. Weitere Eroberungskriege kompensierten die wenigen Niederlagen. Nach dem Vertrag von Turkmenchay, der den Fünften Russisch-Persischen Krieg in der Zeit zwischen 1651 und 1828 beendete, trat Persien einen Großteil seines transkaukasischen Territoriums an das Russische Reich ab. Danach war Nordkaukasus dran. Erst nach dem Ende der Kriege gegen Napoleon konnte die russische Regierung die vollständige Eroberung von ganz Kaukasus intensiv angehen. Die Hoffnungen auf einen schnellen Sieg erfüllten sich nicht. Die ungewöhnlichen Bedingungen des Gebirgskrieges, der Widerstand der lokalen Bevölkerung, das Fehlen einer einheitlichen Strategie und Taktik der Kriegsführung zogen diesen Krieg über mehr als dreißig Jahre in die Länge. 1816 begann damit General Jermolow, ein Held des Krieges von 1812, einen systematischen Angriff auf die Regionen Tschetschenien und Dagestan, durch Vormarsch der russischen Armee gleichzeitig mit der Zerstörung ungehorsamen Bergsiedlungen – der „Aule“. „Der Kaukasus“, sagte Jermolow, „ist eine riesige Festung, die von einer halben Million Garnison verteidigt wird. Es ist notwendig, es entweder zu stürmen oder im Grabenkrieg zu erobern. Stürmen wird teuer. Also lasst uns belagern.“ Hartnäckig wurde das bis zum Ziel durchgesetzt. Es waren Zeiten der russischen Dichter Puschkin und Lermontow. In ihren Werken beschreiben sie den Kaukasen Krieg nebenbei, ohne ihn zu beurteilen oder negativ darzustellen. Es waren für sie die Orte der „Kriegshandlungen“, nicht mehr. Vergebens suchte man eine Verurteilung des Eroberungskrieges. Von dem Leiden der einheimischen Bevölkerung war kaum was zu lesen.

Erinnern wir uns an den Krieg zwischen dem Russischen Kaiserreich und Schweden um die Vorherrschaft im damals schwedischen Finnland. Im Februar 1808 überquerten Einheiten der russischen Armee unter dem Kommando von General Fjodor Buxgevden die russisch-schwedische Grenze und starteten einen Angriff auf die Hauptstadt des Fürstentums Abo (der schwedische Name für Turku). Erst im März wurde offiziell der Krieg erklärt. Gleichzeitig wurden Proklamationen an die Bevölkerung verteilt, die Versprechen enthielten, die alte Religion zu erhalten, sowie Gesetze und Privilegien zu garantieren. Dies war eine bekannte Praxis bei der Annexion neuer Ländereien. Ihr Ziel war es, mit der Bevölkerung des annektierten Territoriums eine Art Abkommen abzuschließen, wonach der Eroberer die Loyalität der Bevölkerung erhielt und im Gegenzug den Erhalt ihres gewöhnlichen Lebensstils bestätigte. Und so wurde am 10. März die finnische Hauptstadt Abo kampflos eingenommen. Doch die Kämpfe mit der Schwedisch-Finnischen Armee gingen zeitweise weiter. Eine Woche später, am 16. März, wurde eine Erklärung Alexanders I. veröffentlicht: „Seine kaiserliche Majestät gibt allen europäischen Mächten bekannt, dass von nun an der Teil Finnlands, der bisher schwedisch war, jetzt von russischen Truppen nach mehreren Gefechten besetzt ist. Es wurde von russischen Waffen erobert und schloss sich für immer dem Russischen Reich an.“

Das gleiche Schicksal erwartete das Königreich Polen - bekannt als Kongresspolen –, ebenfalls ein künstliches russisches Staatenkonstrukt. Herzogtum Warschau war ein 1807 von Kaiser Napoleon als Satellitenstaat errichtet. Der existierte bis 1815. Nach der Niederlage Napoleons stellte 1815 der Wiener Kongress die polnische Monarchie, „Kongresspolen“, wieder her, wurde nun dem russischen Reich eingegliedert. Zar Alexander I. wurde König von Polen. Das Land galt scheinbar als autonom, doch es war praktisch unter russischer Kontrolle. Die Beschlüsse des Wiener Kongresses wurden durch zaristischen Machthalter ständig missachtet. Faktisch konzentrierte der Zar die Macht dort in seiner Hand und regierte autokratisch. Kongresspolen war zwar der liberalste Teil des Russischen Reiches mit eigenem Parlament, Verwaltungs- und Schulsystem. Dennoch bei weitem nicht wirklich liberal. Am 28. November 1830 brach in Warschau der Novemberaufstand aus, und im Januar 1863, erhob sich Polen ein letztes Mal gegen das Zarenreich. Beide Male wurden die Unabhängigkeitsaufstände brutal niedergeschlagen mit Hinrichtungen und Verbannung nach Sibirien der beteiligten Patrioten. Zar Nikolaus I. kündigte in einer Rede in Warschau 1835 an: „Wenn Ihr darauf besteht, an Euren Träumen von einer besonderen Nationalität und einem unabhängigen Polen und allen diesen Chimären festzuhalten, so werdet Ihr großes Unheil über Euch heraufbeschwören. Bei der geringsten Unruhe werde ich die Stadt beschießen lassen.“ Soweit so gut, bzw. soweit so schlimm.

Die Annexion Zentralasiens erfolgte erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, obwohl diese Region lange Zeit in der Außenpolitik des Reiches präsent war. Der Eroberungsprozess war langwierig, da dort starke feudale nationale Strukturen existierten, die ihre Unabhängigkeit nicht einfach aufgaben. Die Umgebung der Region war in jeder Hinsicht komplex. Es war immer schwer für Truppen, sich durch unerschlossenes, schlecht erforschtes Gebiet zu bewegen. Zentralasien war dem Russischen Reich praktisch unbekannt, wissenschaftlich nicht erforscht, die lokale Bevölkerung nahm keinen Kontakt mit Fremden auf. Daher war die Eroberung langsam und stieß ständig auf Probleme. Es waren eine Reihe von Feldzügen der russischen Armee gegen die zentralasiatischen Khanate und Stämme in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts notwendig. Zuerst nach der endgültigen Annexion Kasachstans in den 1840er Jahren und der Liquidierung der kasachischen Zhues (Hauptabteilungen des Königreiches – früheren kasachischen Khanats) im Rahmen der Großen Konfrontation mit Großbritannien um die Vorherrschaft in der Region. Russland annektierte nach einer Reihe von Feldzügen die Khanate Kokand und Chiwa, sowie das Emirat Buchara. Das Khanat von Kokand wurde liquidiert, das Khanat von Chiwa und das Emirat Buchara wurden zu Vasallen des Russischen Reiches gemacht. Mit der Eroberung Taschkents wurde das Zarenreich 1865 zur Ordnungsmacht in diesem Gebiet und erreichte seine südlichste Ausdehnung im mittelasiatischen Steppengebiet. Durch Turkmenistan, den Pamir und andere weitere Regionen wurden Russlands Grenzen bis Afghanistan, an die Gebiete mit direktem britischem Einfluss ausgedehnt. In den 1890er Jahren war die Aneignung gesamt Zentralasiens (Turkestan) abgeschlossen.

Es wäre zu viel, weiter auf Einzelheiten bei diesem Thema einzugehen. Die russischen Mächte haben es gut verstanden, ihr Land fast unendlich zu erweitern. So dass letztlich weite Gegenden fast menschenleer waren. Es war an der Tagesordnung, diese Gebiete zu sichern und zu kultivieren. Die Bevölkerung Russlands war damals bei weitem nicht so zahlenreich wie heute. Die Anzahl der eigenen Staatsbürger zu gering, um die Gebiete auch irgendwann besiedeln zu können. Gemäß den statistischen Angaben der Volkszählung „Revision“ (in Russisch bekannt als „Ревизские сказки“) lebten im Jahr 1762 über 23 Mio. und 1782 bereits über 28 Mio. männliche Bürger im damaligen Russland. Es war auch nicht einfach, die eigene Bevölkerung umzusiedeln. Die Leibeigenschaft wurde erst 1861 abgeschafft, etwa 50 Jahre später als in Westeuropa. Und auch danach folgte keine echte Freiheit für die Bauern. Sie fielen oft in die sog. Schuldenfalle, die eine verschärfte wirtschaftliche Abhängigkeit bedeutete, sie genossen auch keinen echten Rechtsschutz. Die Lage der Bauern wurde nie wesentlich verbessert, später hat es auch zur Revolution 1917 beigetragen.

Das russische Dorf im 18.-19. Jahrhundert

Die Grenzen dieses riesigen Gebietes mussten zuerst dringend gesichert werden. Es stellte sich heraus, dass der Zarenhof nicht einmal über eine detaillierte Landkarte verfügte. Nun erging der „allergnädigste Befehl“, das Imperium zu erforschen. Die Zarin hatte die 1724 gegründete Petersburger Akademie, namhafte Wissenschaftler beauftragt, wissenschaftliche Forschungsreisen, „besondere Expeditionen“, zu unternehmen, von denen sie sich mehr versprach als nur wissenschaftliche Erkenntnisse.

Ende des 18. Jahrhunderts waren an der Peripherie die slawischen „Kosaken“ präsent, die am Rande des Imperiums siedelten und quasi eine Absperrgrenze bildeten. Kosaken waren Gemeinschaften freier Reiterverbände, zu denen sich flüchtige russische und ukrainische Leibeigene, manchmal auch nur Abenteurer oder anderweitig Abtrünnige, in den südlichen Steppengebieten zusammenschlossen. Hauptsiedlungsorte der Kosaken waren Gebiete an den Flüssen Don, Dnjepr und Ural. Sie gründeten ab dem 16. Jahrhundert eigene Siedlungen und Gemeinschaften und wurden zu Wehrbauern (Bauern, die in Grenzgebieten mit bestimmten Privilegien angesiedelt wurden oder selbst siedelten und lebten). Sie übernahmen Landverteidigungsaufgaben, mussten sich gegen die häufigen Überfälle asiatisch stämmiger Reiternomaden verteidigen. Übernahmen selbst räuberische Feldzüge in die Nachbarländer. Die Kosaken wurden traditionell kriegerisch erzogen, waren oft auch als Söldner angeworben. Sie waren die Stütze des zaristischen Regimes. Und während des Bürgerkrieges 1918-1922 leistete eine große Zahl von Kosaken großen Widerstand gegen die Rote Armee der Bolschewiki. Ihre Rechte wurden während der Stalin-Zeit beschnitten. Heute versuchen die Kosaken wieder ihren alten Stolz, ihre militärische Lebensstruktur und ihre Traditionen aufzubauen. Sie fühlen sich immer noch bereit, sich in fremde Angelegenheiten und für russische Ehre einzumischen. Gemessen an den unendlichen Weiten des neuen Reiches war aber damals, Ende des 17. und 18. Jahrhunderts, die Zahl der Kosaken nur als gering einzuschätzen. Sie konnten die großen neuen Gebiete auch nicht besiedeln.

Beginn der massenhaften Ansiedelung in Russland

Mitte des 18. Jahrhunderts, zwischen 1751 und 1760, siedelte die Zarin Elisabeth I., Tochter von Peter des Großen, zur Sicherung gegen die Tataren und Türken in Süd- und Südostgebieten zwischen Dnjepr und Bug, in der Nähe von Dnjepr Kosaken, Serben, Rumänen, Moldawier an, die aus dem Militärregiment der Österreicher stammten, etwa 38.000 Menschen, die 122 Dörfer gründeten. Sie kamen aus den österreichischen Gebieten, waren orthodoxen Glaubens und siedelten in diesem Sinne gerne zu den orthodoxen russischen Brüdern um. Diese Gebiete wurden Neuserbien genannt mit der Hauptstadt Novomyrhorod. Es wurden Reibungen zwischen den Bevölkerungsgruppen registriert. Letztendlich haben sich die Serben hier vollständig assimiliert.

Dann kamen die Zeiten der Katharina II. Im Unterschied zu den bis dahin vorherrschenden Niederlassungen der Ausländer in den Städten handelte es sich bei den Bemühungen Katharinas II. nunmehr um eine Kolonisierung von ländlichen Gebieten durch Bauern und Handwerker. Das Land brauchte dringend einen Aufschwung der Wirtschaft und ein Bevölkerungswachstum.

Diese Zeiten sind in Westeuropa bekannt für progressive Freiheitsideen von Philosophen Rousseau, Voltaire und Diderot. Solche Ideen waren auch für die Herrscher Europas anziehend. Friedrich II. sah sich als „Diener des Volkes“, Franz II. von Österreich mit seiner Steuer für Reiche, setzte sich ein gegen die Leibeigenschaft in seinem Lande, für Abschaffung der Folter, Einschränkung der Todesstrafe und Erweiterung von Rechten nicht nur für katholische Untertanen. Dies waren für damals progressive Taten.

Die Zarin Katharina II. setzte während ihrer Herrschaft umfangreiche Reformen im Staatsgebiet in Gang. Das Zentrale in ihren Reformideen war der Begriff und die Ansichten der „Glückseligkeit des Staates“. Nicht das einzelne Individuum inmitten der grauen Masse stand im Zentrum, im Streben des Staates, sondern das Russische Vaterland. Ziel war es, ein zufriedenes Leben für die Gemeinschaft zu erreichen. Sie übernahm diesen Begriff aus den Texten des preußischen Staats- und Wirtschaftstheoretikers Justi, die um 1760 auch in Russland verbreitet waren.

Justis zentrale Fiktion war es, die größeren Territorien des Heiligen Römischen Reiches soweit zu reformieren, dass sie politisch, militärisch und wirtschaftlich mit den Großmächten England und Frankreich mithalten konnten. Despotismus, so Justi, führe zwangsläufig zur Verarmung und militärische Schwächung eines Landes. Er diskutierte über die Vor- und Nachteile verschiedener Regierungsformen. Die einzig plausible Regierungsform wäre die moderne Monarchie, die durch zahlreiche Reformmaßnahmen weitreichende wirtschaftliche Reformen zentral koordinieren und durchsetzen kann. Zentral wichtig für einen modernen Staat wären Maßnahmen zum Bevölkerungswachstum, Wettbewerb, zur Industrialisierung und Ankurbelung des Außenhandels, privaten Konsums, der Landwirtschaft, Steuerreform und Erziehung. Nicht zufällig griff Katharina II. als Herrscherin eines aufstrebenden, immens großen und wenig entwickelten Landes mit geringer Bevölkerungszahl und hohem Reformbedarf die Ideen Justis zu ihren eigenen Reformzielen auf.

Die Idee der Kolonisierung der neuen Gebiete in Russland hing in der Luft. Im gleichen Jahr nach dem Aufstieg auf den Thron erließ die Katharina II. 1762 das erste Einwanderungsmanifest mit Aufruf an alle Ausländer zur Einwanderung ins Land. Anschließend wurde 1763, bereits oben erwähnt, durch ihren persönlichen Einsatz das zweite Manifest erlassen, wo die Einreisebedingungen und Privilegien konkreter und attraktiver proklamiert wurden ("Manifestes von Gottes Gnaden"), siehe Bild rechts.

Die Auswanderungswilligen konnten sich bei der „Vormundschaftskanzlei für

Ausländer“ (Концелярия опекунства иностранных) melden, sich an die Grenzbehörden wenden oder auch bei den ausländischen Vertretern Russlands vorsprechen. Dies war der Wendepunkt in der Sache. Von da an wurden hunderttausende Menschen in Bewegung gebracht. Die ersten Jahre der Besiedlung liefen schwierig, es wurden bei der Einwanderung Missstände gemeldet. Die Ansiedlungsschwierigkeiten in verschiedenen Regionen Russlands wurden offensichtlich. Eine außergewöhnlich hohe Sterberate unter den ersten Siedlern war besorgniserregend. Einige fehlerhafte Entwicklungen mussten korrigiert werden, wodurch auch viele Umänderungen im täglichen Leben „bisher schutzloser Siedler“ gemacht wurden. Das Land brauchte aber neue Siedler. Manches wurde korrigiert als Katharinas Sohn Paul als Zar den Thron bestieg.

Um den zusammenhängenden Auswanderungsprozess der Deutschen im ganzen Umfang besser zu verstehen, sollte auch kurz die Ansiedlung in Gebieten von Österreich und Preußen erwähnt werden.

Einwanderung in Gebieten Österreich-Ungarn

In den Zeiten vom 18. Jahrhundert an setzte die verstärkte Auswanderungswelle (Ansiedlung von neuen eroberten Gebieten) nicht nur nach Russland, sondern auch in Kolonialpreußen und kaiserlichem Österreich ein. Wie oben bereits beschrieben, fand eine mittelalterliche auch hochmittelalterliche deutsche Ostsiedlung bzw. Landesausbau in Ungarn, Galizien, Baltikum, Rumänien und Moldawien statt. Es war nur zum Teil eine gewaltsame Missionierung. Überwiegen aber durch die Initiative einheimischer Grundherren eine eher friedliche Besiedlung. Dieser Prozess erreichte seinen Höhepunkt im 13. Jahrhundert und dauerte bis zum Anfang des 14. Jahrhunderts.

In diesen Zeiten siedelten die Siebenbürger Sachsen im südlichen Karpatenraum (Transsylvanien), das heute im Zentrum Rumäniens liegt. Die neu erworbenen Territorien waren wegen der verheerenden Kriege, Pest und Flucht fast menschenleer. Die Siedler kamen nicht als Eroberer, sie wurden vom ungarischen König als dem Landesherrn zum Schutze der Krone gerufen. Die Ansiedlung erfolgte auf Königsboden in teilweise unbewohnten Wäldern, Sümpfen und Wüsten. Die Grenzen Österreichs erweiterten sich kontinuierlich auch im 17. und 18. Jahrhundert, vor allem nach erfolgreichen Kriegen gegen das Osmanische Reich. und Eingliederung der eroberten Gebiete. Diese Expansionskriege gingen parallel zu den Kriegen, die Russland gegen die Türken führte. Dadurch entstand die Vorherrschaft auf dem Balkan, in Gebieten an der mittleren Donau zwischen Alpen und Karpaten. Die Besiedlung der Gebiete an den Flüssen Drau, Donau und Theiss ging voran. Angetrieben wurde die Ansiedlung von Banat und Batschka (Siedlungsgebiete längs des Mittellaufs der Donau) durch Donauschwaben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Beide befinden sich heute in den Staaten Rumänien, Serbien und Ungarn. In der Zeit näherten sich die Beziehungen zwischen Ungarn und Österreich an, die zu einer engen wirtschaftlichen und politischen Kooperation führten.

Die Ansiedlung im südosteuropäischen Raum wurde gefördert und gelenkt durch Aufrufe und Werbung der Grundherrschaften Ungarns, unter denen das Haus Habsburg lange der größte Grundeigentümer war. Ungarische Magnaten, aber auch einzelne adlige Grundherren, begannen mit kaiserlicher Genehmigung für ihre Gebiete Siedler anzuwerben. Auch der Habsburger Kaiser (römisch-deutscher Kaiser Karl VI.) wandte sich selbst an den Kurfürsten in Mainz, um in seinen kaiserlichen Domänen im Banat und in der Batschka Deutsche anzusiedeln. Es wurden auch durch kaiserlichen Erlass zahlreiche Vergünstigungen für die Ansiedler wie Steuererlass verkündet. Und so verstärkten die Habsburger selbst seit 1736 die Anwerbung von Kolonisten für ihre eigenen Ländereien. Bevorzugt bei der Einwanderung waren zuerst Einsiedler katholischen Glaubens, was gewisse Nachteile beim Siedlungsprozess brachte im Vergleich zu diesem in Preußen, wo die Religion keine Rolle spielte.

Ansiedlungen in Preußen

Bereits im 12. und 13. Jahrhundert wurden wegen steigender Bevölkerungszahl zunehmend deutsche Innengebiete „Altdeutschgebiete“ - sog. Binnenkolonisation - (Küsten-, Sumpf-, Moorgebiete) besiedelt, kultiviert und ausgebaut. Es waren Gebiete um Moselraum, Köln, Trier, Lüttich, Baden und Karlsruhe, später in Hessen und Württemberg.

Gleichzeitig fand auch eine Ostkolonisation statt, bekannt auch als mittelalterliche deutsche Ostsiedlung oder auch hochmittelalterlicher Landesausbau. Es handelte sich dabei um die überwiegend slawisch und teilweise baltisch bewohnten Gebiete östlich von Saale und Elbe sowie in Niederösterreich, bis hin ins Baltikum, nach Böhmen, Polen. Und dies begann nach dem Dreißigjährigen Krieg schon ab etwa 1650 von den Kurfürsten als das Land weitgehend entvölkert war. Am Anfang wurden überwiegend Pfälzer und Hessen angeworben, später Menschen aus dem ganzen Südwesten. Systematische Kolonisationspolitik entstand aber erst nach dem Siebenjährigen Krieg 1756– 1763 und den Teilungen Polens. Die Auflösung des Doppelstaates, der polnischlitauischen Adelsrepublik, wurde schrittweise Ende in den Jahren 1772, 1793 und 1795 unter den Nachbarmächten Russland, Preußen und Österreich vollzogen. Und zwar auf folgende Weise. Außer Polen lebte im Lande historisch bedingt eine große Schicht an slawischer Bevölkerung mit orthodoxem Glauben. Die Zarin Katharina II. forderte eine Gleichstellung ihrer Glaubensbrüder. Der Widerstand des polnischen Adels wurde von Russland nicht geduldet und wurde als Vorwand für das tiefgreifende Eingreifen in den Status des Landes selbst benutzt. Schließlich gelang es Zarin Katharina der Großen, König Friedrich II. und unter Einbeziehung Österreichs mit rein diplomatischen Mitteln, eine Annexion großer Gebiete Polens durch Österreich, Russland und Preußen zu erreichen. Preußens lange verfolgtes Ziel, eine Landbrücke nach Ostpreußen zu schaffen, wurde auf diese Weise 1772 erreicht. Polen-Litauen wurde schließlich vollständig aufgeteilt. Seither, über 120 Jahre bis zum Ende des Ersten Weltkriegs 1918, existierte kein eigenständiger polnischer Nationalstaat mehr. Nur kurzzeitig schaffte Napoleon aus den polnischen Besitzungen Preußens und Österreich-Ungarns wieder einen Staat - ein Herzogtum Warschau.

Hugenoten: Einwanderung nach Preußen im 17. Jahrhundert. Empfang durch Kurfürst Friedrich Wilhelm

Bereits 1661, 1667 und 1669 wurden in Preußen erste Einwanderungsedikte (so viel wie öffentliche Erklärungen, obere Gesetze der Herrscher) erlassen, um Bürger als Kolonisten ins Land zu holen. Sie erhielten wiederum u. a. mehrjährige Befreiung von Steuern, unentgeltliche Unterstützungen bei Bauvorhaben u.ä. In diesen Jahren wurden mit Erfolg französische Protestanten - die Hugenotten - als Kolonisten angeworben. Die Hugenotten gehörten zu den wohlhabenden und gebildeten Bevölkerungsschichten. Sie brachten handwerkliche und wirtschaftliche Fähigkeiten mit, gründeten Manufakturen, eigene Kolonien. Sie durften auch höhere Positionen in der Verwaltung annehmen. Die Hugenotten kamen auch später nach Preußen und auch in die Pfalz, teils nach Hessen, haben sich gut integriert.