Das Jahr - Tomas Espedal - E-Book

Das Jahr E-Book

Tomas Espedal

0,0

Beschreibung

Tomas Espedals neues Buch beginnt an einem 6. April, dem Tag, an dem Petrarca seine Laura zum ersten Mal sah. Ausgehend von dieser unerfüllten Liebe, der Quelle für Petrarcas Liebesgedichte, geht Espedal der Frage nach, ob eine solch große, einzigartige Liebe, die alle Zeiten überdauert, heute noch möglich ist, ob sie überhaupt jemals möglich war. Gemeinsam mit seinem gebrechlichen Vater unternimmt er eine Kreuzfahrt durchs Mittelmeer und bemerkt erst dort, als der Vater aufzublühen scheint, dass er auch ihn bald verlieren wird. In der Liebe seines Vaters für seine verstorbene Mutter wie auch in seiner eigenen Liebe für Janne, die ihn bereits vor Jahren verlassen hat, erkennt Tomas etwas ähnlich Bedingungsloses und Andauerndes wie bei Petrarca. Am Ende waren sie dennoch alle allein. Nicht nur die Erfahrung einer so tiefen Liebe ist lebensverändernd, sondern auch deren Verlust. Wie ist es möglich, angesichts einer so umfassenden Erfahrung weiterzuleben wie bisher? Das Jahr ist Tomas Espedals bisher poetischstes Buch. Es handelt von den großen und einschneidenden Erfahrungen: Liebe, Verlust, Krieg, Tod, von Altern und Verzweiflung, von Stagnation und der ewigen Wiederholung des Immergleichen. Und von der Kraft der Literatur, die es vermag, uns durch die dunkelsten Zeiten zu retten. "Ein Jahr kann ein ganzes Leben enthalten und es kann völlig leer sein." - Tomas Espedal "Tomas Espedal mag schmale Bücher schreiben und mit wenigen Sätzen auskommen. Literarisch ist er ein Schwergewicht." - Christian Mückl, Nürnberger Zeitung

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 152

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



TOMAS ESPEDAL

DAS JAHR

Aus demNorwegischenvonHinrichSchmidt-Henkel

Frühling Herbst

Inhalt

Frühling

Herbst

Frühling

Ich würde gern ein Buch über die Jahreszeiten schreiben

Frühling Herbst Sommer Winter

die hellen Tage im April und Juni

die Dunkelheit im August

die Monate beschreiben die Woche die Tage

die Stunden des Tages

und die Veränderungen, die dasselbe wiederholen

immer wieder immer neu.

Gerade jetzt fährt der Wind durch die Kronen

des Kiefernwaldes

und die Bäume biegen sich fügsam gen Boden

um sich dann wieder aufzurichten

den neuen Windstößen entgegen

wie sie es immer getan haben

doch einer der Bäume bricht

ein kurzes trockenes Geräusch

wie wenn der Atem aus der Lunge fährt.

Das Geräusch eines Endes

übertönt vom Wind

eine neue Jahreszeit ich will sie

beschreiben jeden einzelnen Tag

ein ganzes Jahr lang

doch wo und wann beginnt das Jahr

in der Küche oder im Wohnzimmer

im September oder November?

Warum beginnt das Jahr nicht heute

am Sonntag dem sechsten April?

Es ist gesagt worden

es ist geschrieben worden

dass der erste Mensch

am 6. April zur Welt kam.

Das ist unschwer vorstellbar

die Welt ist schon da

mit Flüssen und Meeren

Ländereien und Gebirgen

Wiesen und Bäumen

Pflanzen und Tieren

alles ist da

und er

der erste Mensch

kommt den Fluss entlanggegangen.

Wo kommt er her?

Wir wissen es nicht

er weiß es selber nicht

vielleicht sucht er nach einem Ort

nach jemandem der ihm ähnlich ist

er folgt dem Fluss und kommt auf eine Lichtung

eine Öffnung im Wald

wo der Fluss schmaler wird er mündet

in einen kleinen See.

Hier will er ausruhen

er legt sich in eine Sandkuhle

spürt die Wärme des Sandes

und schläft ein.

Wie lange hat er geschlafen?

Als er aufwacht sitzt dort ein Wesen

im Sand und starrt ihn an

es ist kein Tier

nichts was er schon gesehen hätte

und dennoch erkennt er die Gestalt wieder

diese Augen diesen Blick

es könnte sein eigener sein

wie wenn er sich im Wasser spiegelt

doch es ist etwas anderes

das Gesicht ist schmaler

der Mund breiter

der Körper runder

die Brust weicher

der Hals lang

dünne Arme kleine Hände

sie beugt sich vor

schnuppert an ihm

er spürt keine Angst

nur eine starke neue Unruhe

sein Herz schlägt schneller

das Blut strömt durch seinen Leib

wie Wärme

wie Freude

er lacht.

Sie legt ihm den Mund auf den Bauch

drückt ihre Lippen auf seine Haut

und streckt vorsichtig die Zunge heraus

schleckt prüfend über die Haut

und er sieht sein Fleisch sich aufrichten

zum ersten Mal.

Sie setzt sich über ihn

schaut ihm in die Augen

und ab diesem Augenblick

sind sie unzertrennlich

Mann und Frau.

Am Montag dem 6. April

im Jahre 1327

sieht Francesco Petrarca

Laura

zum ersten Mal.

Im sogenannten Laura-Notat

das Petrarca auf einem losen Doppelblatt verfasste

schrieb er: Laura

berühmt durch ihre eigenen Tugenden

und lange in meinen Gedichten gefeiert

erschien meinen Augen zum ersten Mal

in meiner frühen Jünglingszeit

im Jahre des Herrn 1327

am sechsten Tag des Monats April

bei der Frühmesse in der Kirche der heiligen Klara

zu Avignon.

Und in derselben Stadt

im gleichen Monat April

ebenfalls am sechsten Tag

zur gleichen Morgenstunde

jedoch im Jahre 1348

wurde das Licht ihrer Augen

der Welt geraubt.

So lebte Laura

in Petrarcas Gedächtnis

vom sechsten April

bis zum sechsten April

sie wurde vierunddreißig Jahre alt.

Als er sie zum ersten Mal sah

war sie dreizehn

ab diesem Tage

liebte er keine andere mehr

als sie.

Petrarca war dreiundzwanzig Jahre alt

und die nächsten zweiundvierzig Jahre über

sollte er seine Gesänge an sie richten

doch auch nach Lauras Tod

zu ihrem Gedächtnis

in seinem großen Werk Canzoniere

das bezeichnet wurde als

ein langes unvergleichliches Gespräch

über das Wesen der Liebe.

Der Canzoniere enthält 366 Gedichte

eines für jeden Tag des Jahres

vom sechsten April bis zum sechsten April.

Heute

am Sonntag dem sechsten April

fahre ich mit dem Zug von Nizza nach Avignon

um an der Straße entlangzugehen

nach L’Isle-sur-la-Sorgue

und weiter zu Fuß nach Fontaine-de-Vaucluse

wo Petrarca sich ein Haus bauen ließ

in das er sich zurückzog

um zu schreiben.

Ich flog nach Nizza

bezog ein billiges Hotelzimmer

beim Bahnhof.

Das Zimmer ähnelte einer Gefängniszelle

ein blaugrauer enger Raum mit einer Pritsche

die man von der Wand abklappte

ein Waschbecken ein Fenster

zum Hinterhof.

Öffnete man es, so schlugen Dampf

und Bratfett aus der Hotelküche

ins Zimmer

und nach wenigen Minuten waren die Wände

von kleinen schwarzen Flecken besetzt

sie bewegten sich

mal flogen sie durchs Zimmer

zu der nackten Glühbirne über dem Waschtisch

mal setzten sie sich aufs Handgelenk oder hinters Ohr

dabei versuchte er zu schlafen.

Das unverkennbare Sirren von Mücken

ich erschlug so viele wie möglich

hieb mit einer zusammengefalteten Zeitung an die Wand

die schwarzen Flecken wurden rot

dünne blutrote Flecken über dem Bett

es war nicht mein eigenes Blut

wessen Blut mochte es sein

das eines Mannes einer Frau

bald sollte ihr Blut

sich mit meinem mischen.

Es war unmöglich zu schlafen

in dem kleinen Raum ich

lag da und lauschte dem Verkehr

der in der Nacht summte

in der Stadt

Autos und Motorräder

Stimmen und Rufe

sie verstummten mit dem Licht

das gegen Morgen kam

und die völlige Stille

in dem abgeschlossenen Zimmer

war fast schlimmer.

Ich musste doch ein paar Stunden geschlafen haben

denn als ich aufzustehen versuchte

waren meine Hände und Füße rot

von zahllosen Stichen

die am ganzen Körper blühten

so viele Beulen und Stiche

dass ich liegen blieb mit dem Gefühl

mein Körper hätte Fieber

und dann kam das Fieber tatsächlich

ich war krank geworden.

Ich war krank

hätte aber am sechsten April

in Avignon sein sollen

so war es entschieden.

Mehr als ein Jahr lang hatte ich

Petrarcas Gesänge an Laura gelesen

und wollte jetzt den Ort sehen

an dem Petrarca Laura zum ersten Mal sah

wollte das Haus besuchen das er sich

im engen Vaucluse-Tal hatte bauen lassen:

Rund fünfzig Kilometer von Avignon entdeckte ich

ein kleines abgelegenes Tal namens Vaucluse

in dem die schönste aller Quellen

die Sorgue

entspringt.

Gefangen von der Schönheit des Ortes

ließ ich mich hier nieder

mit meinen Büchern.

In diesem Haus wohnte Petrarca

allein mit seinem Hund

und schrieb sein Buch

über das Leben in Abgeschiedenheit

De vita solitaria: Als ich mich dem vierzigsten Jahre näherte

und noch im Besitz meiner jugendlichen Kraft

und Feuer war

brach ich so vollständig mit dem Trieb

dass ich sogar die Erinnerung

daran löschte

und es war als hätte ich nie

eine Frau angesehen.

War es möglich allein zu leben

war es möglich eine einzige Frau zu lieben

sein ganzes Leben lang

auch nach ihrem Tod

und wenn es möglich war

war es möglich ohne andere Frauen zu leben

und ohne Sexualität

war es möglich zölibatär zu leben

und wäre es jetzt möglich

heute

sich zu dem zu verhalten was Petrarca schrieb

vor bald siebenhundert Jahren.

Heute

Sonntag den sechsten April

im Jahre zweitausendvierzehn

habe ich Fieber

bin müde und matt nach einer schlaflosen Nacht

stehe aber vor zwölf Uhr auf

verlasse durchgeschwitzt das Hotel

und gehe die drei Häuserblocks im kalten Tageslicht

durch die Straßen zum Bahnhof

von wo der Zug mich nach Avignon bringen wird.

Sonntag der sechste April:

Es ist natürlich dass Petrarca Laura

mit der Sonne vergleicht sie ist ein Kalender

der die Zeit überwindet

so kann sie auf ewig hier sein

die Laurasonne.

Ah sie scheint die Sonne

ins Zugfenster hinein ich vermisse dich immer mehr

jeden Tag der vergeht

jeden Monat

jedes Jahr

das vergeht.

Der Zug rollt rast vorbei an den Stränden

die blaue Küste entlang im TGV-Tempo vorbei

an den Azurstädten Cagnes Antibes Golfe-Juan

Cannes man sieht sie nicht

diese vorbeifliegenden Städte.

Den Himmel sehen wir und das Meer

und die Sonne sehen wir

sie folgt dem Zug und strahlt durchs Fenster

trifft das Gesicht es schwillt in verdoppeltem Fieber

brennende Hitze auf der Haut im Abteil: IST ES MÖGLICH

EIN FENSTER ZU ÖFFNEN?

Nein

ist es nicht nicht bei dem Tempo

nicht in diesem Ikaruszug.

Gleich verbrenne ich

kriege keine Luft verliere das Bewusstsein

gleich wird es dunkel.

Das Fieber hat sich im Körper festgesetzt

alles Innere will hinaus und hier kommt es:

Ich spucke in eine Plastiktüte und sehe zur Sonne

sie sticht in den Augen und projiziert ein Negativbild

hinter den Lidern: Dein Gesicht.

Dann verlösche ich. Es wird dunkel. Es wird kalt.

Ich erwache auf dem Boden des Gangs

jemand hat mich hier hingelegt wie gut

wie gut es tut zu liegen

wie gut es tut weg gewesen zu sein

wie gut es tut ganz still zu liegen und

rasend schnell durch die Landschaft getragen zu werden

zum Ort zu dem du willst.

Avignon. Sonntag der 6. April ich finde ein Hotel

mitten in der Stadt ein helles einfaches Zimmer

mache die Klimaanlage an ziehe die Gardinen vor

es ist dunkel und kühl im Zimmer wie beruhigend

und still nur das Summen des Ventilators das kühle

frische Geräusch

fast wie Wind fast wie Regen fast wie zu Hause

fast als wärst du hier

ein Tagtraum Fieberfantasie: Du stehst am Fenster

ziehst die Gardine auf wirst umstrahlt vom Licht

verschwindest beinahe

als du dich zu mir umdrehst

und bist weg.

Was wir lieben ist ein fliehender Traum

schreibt Petrarca

im ersten Sonett des Canzoniere

und die Zeile ist eine Wahrheit

in derselben Weise wie der Satz: Die Bedeutung

eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.

Petrarcas Zeile ist so präzise und wahr

wie eine wissenschaftliche Feststellung

oder eine mathematische Formel: Wen man liebt

den kann man nicht festhalten.

Was wir lieben ist ein fliehender Traum

das ist eine politische Wahrheit

wir können sie mit all unseren Erfahrungen nachprüfen.

Die Liebe wird nicht dauern

sie kann nicht dauern unglücklicherweise

sie wird nicht dauern glücklicherweise

am Grunde jeder Trauer findet sich eine Freude

am Grunde jeder Freude findet sich eine Trauer.

Das Leben selbst drückt sich in Petrarcas

Zeile aus sie ist objektiv und hart

unbeeindruckt durch die Veränderungen der Zeit

ein Stück Natur

in den Menschen gelegt

wie ein Satz.

Es ist Morgen Montag ich habe elf Stunden geschlafen.

Es gibt nichts Besseres

für den der allein ist

als zu schlafen.

Du bist nie allein wenn du schläfst.

Der Schlaf ist ein Geschenk

wie Liebe wie Vergessen

der Schlafende liebt und manchmal

im tiefen Schlaf

hat er die Liebe verloren

und sich selbst:

Fort ist der Name

fort die Adresse

fort sind Geld und Eigentum

fort sind Stiefel und Kleider

fort sind Stadt und Lärm

fort sind das Hotel und der Park

fort sind Plagen und Sorgen

fort sind Krankheit und Fieber.

Ich wache auf

und bestelle mir Frühstück aufs Zimmer

ein Croissant

schwarzen Kaffee

ein Glas Orangensaft.

Ein schmaler Lichtstreif durch den Gardinenspalt erstickte

Sonne das blasse Gelb verbreitet sich im Zimmer wie

an einem neuen Sonnentag ich frühstücke und gehe

ins Bett.

Am Dienstag packe ich meinen Rucksack

fülle Wasser in die Flaschen

gehe aus dem Hotel und

durch die Stadt und aus der Stadt hinaus.

Kaufe an einer Tankstelle eine Landkarte

und gehe die Straße entlang

Richtung L’ Isle-sur-la-Sorgue die Insel im Fluss

jemand sagt es ist gefährlich an der Straße zu gehen

am Straßenrand die Autos hier fahren schnell

wie Todesmaschinen für Landstreicher und Tiere:

Tote Hasen und Füchse am Straßenrand platt gefahrene

Frösche überfahrene Vögel zermatschte Igel

auf der Fahrbahn ermordete streunende Hunde

in Stücke gerissene Katzen ermordet

von den Alltagsmördern am Steuer von Autos

und Lastern sie weichen keinen Zentimeter hier

auf der schmalen Straße ich gehe

auf dem Grasstreifen zwischen Fahrbahn und Kornfeldern

den frühlingsgrünen Wiesen mit Sonnenblumen

und Klatschmohn einem dichten blühenden Gebüsch

Wildblumen am Straßenrand

kleine gelbe orange rote

Blumen links schwarz silbergrau blank

Autos rechts eine dünne Linie

zwischen Leben und Tod zwischen Asphalt und den Hecken

den Bäumen Bächen und dem klaren Fluss

unter der Straßenbrücke

es ist ein großer Unterschied zwischen einem Menschen

in einem Auto und einem Menschen in einem Haus.

Ich gehe an den Häusern vorbei sie liegen dort so still

diese sandfarbenen Häuser

sie ähneln der Natur aus der sie kommen.

Häuser Gärten Äcker

auf denen Gemüse angebaut wird Obst und Beeren

man sieht Nordafrikaner arbeiten

Tiere und Afrikaner auf den Feldern.

Die Männer grüßen als ich vorbeigehe

es ist ein alter Gruß fremd

wie wenn man einen Freund grüßt

oder ein Gespenst aus einem bekannten Land

oder einer anderen Zeit ich

kann nicht anders ich denke wie schön sie sind

die Arbeiter die Afrikaner

wie alle Armen schön sind

in meinen Augen ich

sehe wie sie über die Felder kriechen

wie Tiere Schafe Kühe Ziegen Pferde

sie weiden hier in einer Kurve

und ich werde zum Stehenbleiben gezwungen

von einem Hund einem Hütehund.

Der alte Mann er ähnelt einer Vogelscheuche

er geht hinter einer großen Schafherde her

eine Trillerpfeife im Mund

ein breitkrempiger Hut Lodenmantel

dicke Stiefel ein hartes unrasiertes Gesicht

er hat drei große Hunde zum Schutz

gegen Raubtiere drei kleinere Hütehunde

die die Herde rennend zusammenhalten

eine so schöne Choreografie

dass ich stehenbleibe verzaubert

von der Schönheit dieser Vorstellung

die Natur ist

verzaubert und ängstlich weil die großen Hunde

in mir eine Gefahr wittern

und mich zurücktreiben ich

muss zurückgehen in die Richtung aus der ich kam

und jetzt treiben der Hirte und die Hunde

die Herde von der Weide über die Fahrbahn

zu dem Hof auf einem Hügel

am Fluss direkt südlich von L’ Isle-sur-la-Sorgue.

Ich gelange am Abend dorthin hungrig

durstig müde auf die gute Weise

es ist dunkel und das kleine Städtchen leuchtet

Lampengirlanden hängen

über den Restaurants am Fluss Sorgue.

Ich finde einen Tisch weißes Tischtuch

weiße Servietten im Halbdunkel

gefüllt von Stimmen fließendem Wasser

der Fluss so klar und durchsichtig

Quellwasser aus der Vaucluse

und hier am Flussufer bestelle ich

Kalbfleisch und Kartoffeln eine Flasche Wein.

Ich frage den Kellner wo ich

wohl schlafen kann

hier können Sie schlafen sagt er

in einem Zimmer über dem Restaurant

es ist eine Pension.

Der Reisende der Wanderer spürt eine tiefe

Zufriedenheit Dankbarkeit das Fleisch

wird aufgetragen er trinkt Wein

schreibt in seine Notizbücher raucht

eine Zigarette und schreibt die Strecke auf

die ich gegangen bin.

Die Petrarca-Strecke.

Mittwoch neunter April: Erwache beim Geräusch von Wasser Wasser

das die Nacht über durch meine Träume gelaufen ist

und dich Jüngere älter gemacht hat.

Der erste Fluss lief direkt durch dich hindurch

und der Traum erinnerte sich an etwas Vergessenes.

Die junge Frau deine Mutter sitzt auf einer Decke

im Gras direkt neben der Vertiefung einer Badestelle

im Fluss

sie zieht den Pullover aus zieht sich den Pullover

über den Kopf er verfängt sich in ihren Haaren

und sie kämpft mit ihm reißt und zerrt an

dem Pullover der sie erwürgen will ihr die Arme um den

Hals schlingt und festhält nicht loslassen will

sie kämpft jetzt um ihr Leben dann reißt sie mit

einem kräftigen Ruck der Pullover geht kaputt in Fetzen

und du siehst sie nackt.

Der Fluss fließt unter dem Haus in dem ich geschlafen habe

der Fluss fließt in einem Tunnel oder einer Schleuse unter dem Boden

des kleinen Zimmers mit einem Fenster zum Wasser

zum Fluss es ist wie in einem Boot zu schlafen das Bett schwimmt

von dannen in der Dunkelheit die erleuchtet wird

von Träumen

über Orte.

Orte an denen du gewesen bist und Orte die du nie gesehen hast

jetzt bist du alt an einem fremden Ort

und der ist hier: Du sitzt gebeugt im Rollstuhl

im Restaurant am Fluss und isst mit einer Frau.

Wer ist sie? Gerade will sie ihren Namen sagen

und du wachst mit einem Ruck auf sitzt im Bett

und rufst NEIN.

Du wachst auf beim Geräusch von Wasser Wasser

das unter dem Haus hindurchfließt in dem du wohnst

für eine Nacht.

Heute gehst du in die Vaucluse zur Quelle dem Ort

wo Petrarca sein Haus baute an einer kleinen Stelle

wo der Fluss sich teilt und in kräftigen Stromschnellen

am Haus vorbeiströmt als ob der Dichter im Fluss wohnte

der durch das Haus und sein Schreiben hindurchfloss: Die Natur

um diesen Ort herum muss man preisen denn hier kam sie zur

Welt die schöne Frau.

Man kann sich unschwer vorstellen

wie Petrarca von Avignon herangeritten kam

auf einem schmalen Karrenweg am Fluss entlang

wenn wir die Straße und die Häuser daran wegdenken

wenn wir den Blick das Tal hinauf und zu den Bergen heben.

Zwei Pferde zwei Esel ein Karren voller Bücher

die Bibliothek die Bücher die Petrarca seine Töchter nannte

zwei Männer die Brüder Francesco und Gherardo zu Pferde

am Fluss entlang ungefähr eine Tagesreise

zwei Esel in langsamem Schritt auf dem schlammigen Weg

der dem Fluss folgt und langsam in Kurven ansteigt

zu den Bergen zunächst nur Hügel

Steigungen und Gefälle in der Landschaft wogend grün

weich fast bevor die Gipfel geradezu wachsen

zu schärferen Kanten und auf eine Bergkette stoßen

zwei- dreihundert Meter hohe Berge sie umkränzen

und versperren das Städtchen am Fluss Sorgue

unfern der Quelle in der Vaucluse.

Petrarca hat sich selbst beschrieben: Nicht besonders hübsch

ein rundes Gesicht die Nase groß dünne Lippen ein harter

Mund und stechende Augen aber ein goldener Haarschopf

und kräftiger Körper stark so sitzt er gerade auf dem Pferd

stolz ist er Dichter Poet Gelehrter Historiker Philosoph

Freund von Königen und Päpsten hervorragenden Männern

Briefschreiber Politiker Italiener Freund Boccaccios Bewunderer

Vergils Büchersammler verliebt in Laura.

Jetzt ist er Avignons müde das Stadtleben leid

er sucht etwas anderes das sucht er er hat

eine Vorstellung von Abgeschiedenheit und Einsamkeit

einem stillen zurückgezogenen Leben

in der Vaucluse.

Petrarca will ein schlichtes Leben führen

lesen schreiben

das will er.

Er will sein Leben um Lesen und Schreiben

herum organisieren

er will etwas Wichtiges schreiben etwas Großes

etwas von Bestand das nach ihm bestehen bleibt

wie die Aeneis von Vergil geblieben ist

und um etwas Derartiges zustande zu bringen

ja um das Unmögliche zu erlangen

muss er die Stadt mit ihren Störungen verlassen

muss sich zurückziehen

muss sich isolieren

muss er eine Einsamkeit konstruieren

in der Vaucluse.

Francesco Petrarca reitet aus Avignon davon

mit seinem Bruder Gherardo

verlässt Laura

um über sie schreiben zu können ich gehe

die Straße entlang etwas vom Fluss entfernt am Straßenrand

eine dünne Linie zwischen Vergangenheit und Gegenwart

zwischen Leben und Tod