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Jules Verne bei Null Papier Komplett neu überarbeitet; reichhaltig illustriert und kommentiert Transsilvanien, das Land der Vampire. Ein eher ungewöhnlicher Verne: eine romantische Schauergeschichte. Ein verlassenes Schloss, das niemand betreten darf, scheint plötzlich wieder bewohnt – aber von wem? Als es dem Förster Nic Deck und dem Doktor Patak gelingt, in das Schloss einzudringen, wird ihnen das Fürchten gelehrt: Unsichtbare Stimmen erklingen und ein geisterhaftes Spukbild scheint im Raum zu schweben. Ist es tatsächlich der Geist der legendären Opernsängerin "la Stilla", die bei ihrem Abschiedskonzert auf der Bühne starb? Wer Verne kennt, weiß, dass es sich hier nur um raffinierte, technische Gerätschaften handeln mag, die ein Geheimnis verbergen sollen – nur, welches? Null Papier Verlag
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Seitenzahl: 279
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Jules Verne
Das Karpatenschloss
Jules Verne
Das Karpatenschloss
(Le Château des Carpathes)Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]: Léon BenettÜbersetzung und Fußnoten: Jürgen Schulze EV: A. Hartleben, Leipzig, 1893 2. Auflage, ISBN 978-3-962815-19-6
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Inhaltsverzeichnis
Jules Verne – Leben und Werk
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Ein Nachwort
Danke, dass Sie dieses E-Book aus meinem Verlag erworben haben.
Jules Verne gehört zu den Autoren, die jeder schon einmal gelesen hat. Eine Behauptung, die man nicht über viele Schriftsteller aufstellen kann. Die Geschichten von Verne sind unterhaltend, lehrreich und immer sehr atmosphärisch.
In unregelmäßiger Folge wird mein Verlag die Werke von Verne veröffentlichen – die bekannten wie die unbekannten. Immer in der überarbeiteten Erstübersetzung, um den (sprachlichen) Charme der Zeit beizubehalten.
Korrigiert und kommentiert werden Orts- und Personennamen oder offensichtlich falsche Angaben. Sie finden die Erläuterungen in Fußnoten.
Ich habe es mir auch nicht nehmen lassen, die ursprünglichen Namen zu verwenden: Aus dem Johann wird so wieder der ursprüngliche Jean, aus Ludwig wieder Louis und aus Marianne wieder Marie. Ich denke, das tut den Geschichten nur gut.
Sollten Sie Hilfe benötigen oder eine Frage haben, schreiben Sie mir.
Ihr Jürgen Schulze null-papier.de/kontakt
Reise um die Erde in 80 Tagen
Michael Strogoff - Der Kurier des Zaren
Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer
Eine Idee des Doktor Ox
Eine Überwinterung im Eis
Schwarz-Indien – Oder: Die Stadt unter der Erde
Fünf Wochen im Ballon
Robur der Eroberer
Der Herr der Welt
Von der Erde zum Mond
und weitere …
Beinahe wäre Klein-Jules als Schiffsjunge nach Indien gefahren, hätte eine Laufbahn als Seemann eingeschlagen und später unterhaltsames Seemannsgarn gesponnen, das vermutlich nie die Druckerpresse erreicht hätte.
Jules Verne
Verliebt in die abenteuerliche Literatur
Glücklicherweise für uns Leser hindert man ihn daran: Der Elfjährige wird von Bord geholt und verlebt weiterhin eine behütete Kindheit vor bürgerlichem Hintergrund. Geboren am 8. Februar 1828 in Nantes, wächst Jules-Gabriel Verne in gut situierten Verhältnissen auf. Als ältester von fünf Sprösslingen soll er die väterliche Anwaltspraxis übernehmen, weshalb er ab 1846 in Paris Jura studiert.
Viel spannender findet er schon zu dieser Zeit allerdings die Literatur. Verne freundet sich sowohl mit Alexandre Dumas als auch mit seinem gleichnamigen Sohn an. Gemeinsam mit Vater Dumas verfasst er Opernlibretti und erste dramatische Werke. Nach dem Abschluss seines Studiums beschließt er, nicht nach Nantes zurückzukehren, sondern sich völlig der Dramatik zu widmen.
Zwar schreibt er nicht ganz erfolglos – drei seiner Erzählungen erscheinen in einer literarischen Zeitschrift. Doch zum Leben reicht es nicht, weshalb der junge Autor 1852 den Posten eines Intendanz-Sekretärs am Théâtre lyrique annimmt. Immerhin wird diese Arbeit zuverlässig vergütet und Verne darf sich als Dramatiker betätigen. In seiner Freizeit verfasst er weiterhin Erzählungen, wobei ihn abenteuerliche Reisen am meisten interessieren.
Als er 1857 eine Witwe heiratet, die zwei Töchter in die Ehe mitbringt, muss sich der Literat nach einer besser bezahlten Einkommensquelle umsehen. Während der nächsten zwei Jahre schlägt er sich als Börsenmakler durch, wobei er genug Zeit findet, längere Schiffsreisen zu unternehmen, bevor 1861 sein Sohn Michel geboren wird.
Verliebt ins literarische Abenteuer
Letztlich ist es einer besonderen Begegnung im Jahr 1862 geschuldet, dass alles, was der Autor bisher »geistig angesammelt« hat, in seinen künftigen Romanen kulminieren darf: Der Jugendbuch-Verleger Pierre-Jules Hetzel veröffentlicht Vernes utopischen Reiseroman »Fünf Wochen im Ballon«. Dieses von ihm ohnehin bevorzugte Sujet wird den Schriftsteller nie wieder loslassen – die abenteuerlichen Reisen, auf welcher Route auch immer sie absolviert werden. Hetzel verlegt Vernes noch heute beliebteste Schriften: 1864 »Reise zum Mittelpunkt der Erde«, im folgenden Jahr »Von der Erde zum Mond«, 1869 »Reise um den Mond« und »Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer«. Mit »Reise um die Erde in 80 Tagen« erscheint 1872 Jules Vernes erfolgreichster Roman überhaupt.
Die Zusammenarbeit mit Hetzel, der gleichzeitig als sein Mentor fungiert, sorgt in den späten 1860er Jahren dafür, dass der höchst produktive Schriftsteller seiner Familie einigen Wohlstand bieten und sich selbst »jugendtraumhafte« Reisewünsche erfüllen kann. Sein Verleger stellt ihn namhaften Wissenschaftlern vor – in Kombination mit den erwähnten Reisen entsteht auf diese Weise ein ungeheurer Fundus der Inspiration: Jules Vernes Zettelkasten enthält angeblich 25.000 Notizen!
Zwar ist er seit »Reise um den Mond« gleichermaßen wohlhabend und geachtet; er engagiert sich seit den späten 1880er Jahren sogar als Stadtrat in Amiens, wohin er 1871 mit seiner Familie übergesiedelt war. Der »Ritterschlag« aber bleibt aus: In der Académie française möchte man den Jugendbuchautor nicht haben, er gilt als nicht seriös genug.
Den Zenit seines Schaffens hat der Literat bereits überschritten, als er 1888 bleibende Verletzungen durch den Schusswaffen-Angriff eines geistesgestörten Verwandten davonträgt. Dennoch arbeitet der Autor ununterbrochen weiter. Als Jules Verne im März 1905 stirbt, hinterlässt er ein gewaltiges Gesamtwerk: 54 zu Lebzeiten erschienene Romane, weitere elf Manuskripte bearbeitet sein Sohn Michel nach dem Tod des Vaters. Ergänzt wird Vernes Œuvre durch Erzählungen, Bühnenstücke und geografische Veröffentlichungen.
Geliebt und missachtet
Jenes zwiespältige Verhältnis, das sich bereits in der Ablehnung der Akademiemitglieder äußert, kennzeichnet die akademische Rezeption bis heute: Jules Verne ist eben »nur ein Jugendbuchautor«. Weniger befangene Rezipienten freilich schreiben ihm eine ganz andere Bedeutung zu, die dem Visionär und leidenschaftlichen Erzähler besser gerecht wird.
Wenngleich der alternde Literat zum Ende seines Schaffens durchaus nicht mehr in gläubiger Technikbegeisterung aufgeht, bleiben uns doch genau jene Werke in liebevoller Erinnerung, in denen technische und menschliche Großtaten die Handlung bestimmen: »Reise um die Erde in 80 Tagen« oder »Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer« beispielsweise. Wer als Kind von Nemo und seiner Nautilus liest, wird unweigerlich gefangen von diesem technischen Wunderwerk und dessen Kapitän. Vernes Romane gehören zu jenen Jugendbüchern, die man als Erwachsener gerne nochmals zur Hand nimmt – und man staunt erneut, erinnert sich, lässt sich wiederum einfangen und fragt sich, warum man eigentlich so selten Verne liest…
So wie der Autor sich selbst durch Reisen und Wissenschaft inspirieren lässt, dienen seine Werke seit jeher der Inspiration seiner Leserschaft. Wie präsent dieser exzellente Unterhalter in den Köpfen seiner Leser bleibt, belegen Benennungen in See- und Raumfahrt: Das erste Atom-U-Boot der Geschichte ist die amerikanische USS Nautilus. Ein Raumtransporter der Europäischen Raumfahrtagentur heißt »Jules Verne«, ein Asteroid und ein Mondkrater tragen ebenfalls den Namen des Schriftstellers. Die »Jules Verne Trophy« wird seit 1990 für die schnellste Weltumsegelung verliehen, was dem begeisterten Jachtbesitzer Verne gewiss gefallen hätte.
Der kommerzielle Literaturbetrieb sowie die Filmwirtschaft betrachten den französischen Vater der Science-Fiction-Literatur ebenfalls mit Wohlwollen: Unzählige Neuauflagen der Romanklassiker, Hörbücher und Verfilmungen der rasanten, stets mitreißenden Handlungen sprechen Bände. Mittlerweile gelten die ältesten Verfilmungen selbst als kulturelle Meilensteine, die keineswegs nur ein junges Publikum erfreuen.
Jules Vernes Bedeutung für die Literatur
Der Einfluss Vernes auf nachfolgende Science-Fiction-Autoren ist gar nicht hoch genug einzuschätzen: Aus heutiger Sicht ist er einer der Vorreiter der utopischen Literatur Europas, der noch vor H. G. Wells (»Krieg der Welten«) und Kurd Laßwitz (»Auf zwei Planeten«) das neue Genre begründet. Seinerzeit gibt es diesen Begriff noch nicht, weshalb Hetzel die Romane seines Erfolgsschriftstellers als »Außergewöhnliche Reisen« vermarktet
Der Franzose sieht, anders als Wells und ähnlich wie Laßwitz, im technischen Fortschritt das künftige Wohl der Menschheit begründet. Trotzdem ist Jules Verne vor allem Erzähler: Er will weder warnen wie Wells noch belehren wie Laßwitz, sondern in erster Linie unterhalten. Im Vergleich zum spröden Realismus eines Wells wirken seine Romane für moderne Leser ausufernd, vielleicht sogar geschwätzig. Dennoch sind sie leichter zugänglich als das stilistisch ähnliche Schaffen des Deutschen Laßwitz, weil sie Utopie und Technikbegeisterung nicht zum Zweck ihres Inhalts machen, sondern lediglich zu dessen Träger: Schließlich ist es einfach aufregend, in einem Ballon eine Weltreise anzutreten oder Kapitän Nemo in sein geheimes Reich zu folgen.
Das Karpatenschloss
Die nachfolgende Erzählung ist nicht fantastischer, sie ist nur romantischer Art. Es würde ein Irrtum sein, wegen ihrer Unwahrscheinlichkeit zu glauben, dass sie nicht wahr wäre. Wir leben in einer Zeit, wo alles möglich … ja man wäre berechtigt zu sagen, wo alles schon vorgekommen ist. Wenn unsere Erzählung heute auch nicht wahrscheinlich sein sollte, so ist sie es vielleicht schon morgen, dank der wissenschaftlichen Hilfsmittel, die sich der Zukunft bieten, und dann würde es niemandem in den Sinn kommen, sie als sagenhaft zu bezeichnen. Heute, nahe dem Abschluss des so praktischen, so positiven neunzehnten Jahrhunderts, entstehen übrigens keine Sagen mehr, weder in der Bretagne, dem Gebiet der wilden Korrigans, noch in Schottland, der Heimat der Brownies (Heinzelmännchen) und der Gnomen; weder in dem sagenumwobenen Norwegen, dem Vaterland der Asen, Elfen, Sylphen und Walküren, noch auch in Transsilvanien (Siebenbürgen), wo die mächtige Kette der Karpaten für Geisterbeschwörungen und Geistererscheinungen einen so günstigen Boden bietet, obwohl wir hierzu die Bemerkung nicht unterdrücken dürfen, dass gerade im transsilvanischen Land der Aberglaube früherer Zeiten noch in üppiger Blüte steht.
Gerando hat dieses entlegene Gebiet Europas beschrieben, Elisée Reclus hat es besucht. Beide erwähnen nichts von den Vorkommnissen, worauf unsere Erzählung beruht. Vielleicht hatten sie davon Kenntnis, wollten ihnen aber keinen Glauben beimessen. Das ist schon deshalb zu bedauern, weil der eine diese Ereignisse mit der Verlässlichkeit des Geschichtsschreibers wiedergegeben, der andere sie mit dem unbewussten poetischen Schwung geschildert hätte, der seine Reiseberichte so vorteilhaft auszeichnet.
Da das also beide unterlassen haben, will ich versuchen, es für sie zu tun.
Am 29. Mai eines der letzten Jahre hütete ein Schäfer seine Herde am Rande eines grünen Wiesenplans am Fuß des Retezat, der ein mit geradästigen Bäumen besetztes und mit reichen Ackerfeldern geschmücktes Tal überragt. Über jene offene, ganz schutzlose Hochfläche streichen zur Winterszeit die Galernen, das sind die scharfen, schneidenden Nordwestwinde, wie das Messer des Barbiers. Man sagt dann auch dort zu Lande, dass die Höhe sich – und zuweilen sehr glatt – »rasiert«.
Jener Schäfer zeigte in seinem Äußeren nichts Arkadisches1 und auch nichts Bukolisches2 in seiner Haltung. Es war kein Daphnis, Amyntas, Tityros, Lycidus oder Meliböus. Der Lignon murmelte nicht zu seinen mit plumpen Holzschuhen beschwerten Füßen; die walachische Sil war es, die mit ihrem klaren, frischen Gewässer würdig gewesen wäre, durch die Windungen des mazedonischen Asträus zu fließen.
Frik, Frik, aus der Dorfschaft Werst – so nannte sich der ländliche Hirt – von Person ebenso vernachlässigt wie seine Tiere, schien wie geschaffen, mit in dem am Eingang des Dorfes errichteten schmutzigen Nest zu wohnen, in dem auch seine Schafe und Schweine in empörendem Schlamm und Unrat hausten, wie das übrigens für alle Schäfereien des Komitats3 gleichmäßig zutrifft.
Das immanum pecus4 weidet also unter der Obhut des genannten Frik … immanior ipse.5 Auf einem Haufen zusammengetragenen Grases ausgestreckt, schlief er mit dem einen und wachte mit dem anderen Auge, immer die dicke Tabakspfeife im Mund; nur dann und wann rief er seine Hunde an, wenn sich ein Lamm zu weit von dem Weideplatz verirrte, oder ließ er einen schrillen Pfiff ertönen, den das Echo von den Bergwänden vielfach wiederholte.
Es war jetzt vier Uhr nachmittags. Die Sonne begann zu sinken. Einzelne Felsengipfel im Osten, deren Fuß sich in wallenden Dunstwolken badete, erglänzten schon im Abendlicht. Nach Südwesten zu ließen zwei Lücken der Bergkette ein schräges Strahlenbündel hereinfallen, so wie ein Lichtstreifen durch wenig geöffnete Türen dringt.
Das Gebirgssystem der Gegend gehörte zu dem wildesten Teil Transsilvaniens, der im Komitat Klausenburg oder Kolosvar zu suchen ist.
Ein merkwürdiges Bruchstück des österreichischen Kaisertums, dieses Transsilvanien, das »Erdely« in magyarischer Sprache, d.h. »das Land der Wälder«. Nach Norden und nach Westen zu wird es von Ungarn begrenzt; im Süden berührt es die Walachei und im Osten die Moldau. Bei einer Oberfläche von sechzigtausend Quadratkilometern oder sechs Millionen Hektaren – das ist fast der zehnte Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie – erscheint es als eine Art Schweiz, ist aber, obwohl um die Hälfte größer als der helvetische Staatenbund, doch nicht volkreicher als jene. Mit seinen dem Ackerbau erschlossenen Hochebenen, den üppigen Weideflächen, den nach allen Richtungen hin streichenden Tälern und seinen schroff aufstrebenden Felsriesen, wird Transsilvanien, das die vielen plutonischen Höhenzüge der Karpaten fast überall streifig bedecken, von zahlreichen Wasserläufen durchzogen, von Zuflüssen der Theiß und der stolzen Donau, in der das sogenannte Eiserne Tor wenige geografische Meilen weiter im Süden den Abfall der Balkankette zwischen der Grenze Ungarns und des osmanischen Reiches verschließt.
So erscheint das Bild des alten Daciens, das Trajan im ersten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung eroberte. Die Unabhängigkeit, deren es sich unter Johann Zapoly und dessen Nachfolgern bis zum Jahre 1699 erfreute, hatte ein Ende mit Leopold I., der das Gebiet dem der österreichischen Kronländer einverleibte. Trotz veränderter politischer Verhältnisse ist es aber stets der Wohnsitz verschiedener Rassen geblieben, die hier miteinander in Berührung stehen, doch nicht verschmelzen, die Heimat von Walachen oder Rumänen, von Ungarn, Zigeunern, Szeklern moldauischer Abstammung, und auch von Sachsen, die durch Zeit und Umstände sich zugunsten der transsilvanischen Einheit doch schließlich »magyarisieren« dürften, so hartnäckig sie bisher auch ihre Stammeseigentümlichkeit behaupteten.
Welchem Typus der Schäfer Frik angehörte und ob er etwa ein entarteter Nachkomme der alten Dacier war, das hätte man angesichts seines wirren Haarschopfes, des nicht gerade sauberen Antlitzes, des struppigen Bartes, der dichten, wie aus rötlichen Borsten gebildeten Augenbrauen und der zwischen grün und blau schillernden, stechenden, doch am Hornhautrand schon den sogenannten Greisenbogen zeigenden Augen des Mannes nur schwer bestimmen können. Dass er bereits fünfundsechzig Jahre zählte, konnte man schon leichter sehen. Dabei war er groß, sehnig und hielt sich straff unter dem weichen Filzhut, der freilich weniger Haare zeigte als seine halb entblößte Brust – kurz, ein Maler würde ihn, wenn er so, auf den langen Stab mit Krähenschnabelgriff gestützt, unbeweglich wie ein Felsen dastand, gewiss gern als Modell benutzt haben.
Als die Sonnenstrahlen sich durch die Berglücke im Westen Bahn brachen, drehte Frik sich um; dann formte er aus der halb eingeschlagenen Hand eine Art Fernrohr – ganz wie er diese hätte als Sprachrohr verwendet, wenn er sich weithin vernehmbar machen wollte – und blickte aufmerksam in jener Richtung hinaus. Am hellen Hintergrund des Horizontes erhoben sich in der Entfernung einer Meile und deshalb stark verkleinert die Umrisse einer Burg. Dieser altertümliche Schlossbau nahm auf einem einzelnstehenden Seitengipfel des Berges Vulkan den mittleren Teil eines Hochplateaus ein, das den Namen des Plateaus von Orgall führte. Bei dem schimmernden Licht hoben sich die Umrisse des Ganzen deutlich und mit derselben Schärfe wie stereoskopische Bilder vom Himmel ab. Nichtsdestoweniger musste das Auge des Hirten mit seltener Sehschärfe ausgestattet sein, um irgendeine Einzelheit der entfernten Gegenstände unterscheiden zu können.
Plötzlich rief er, den Kopf in die Höhe werfend:
»Altes Schloss! … Altes Schloss! … Immer stütze dich nur auf deine Grundfeste! … Noch drei Jahre, und es ist zu Ende mit dir, denn deine Buche hat nur noch drei Äste!«
Die betreffende, nahe am Rand einer der Bastionen der Burg wurzelnde Buche erschien am Himmelsgrund wie ein feiner Papierausschnitt, und in dieser Entfernung möchte sie schwerlich für jemand anders als den Schäfer Frik sichtbar gewesen sein. Die Deutung jener geheimnisvollen Worte, die mit einer das Bergschloss betreffenden Sage in Beziehung stand, wird an passender Stelle nachfolgen.
Nachdem er also seine Herde zusammengerufen …
»Ja!« wiederholte der Mann, »nur drei Äste! … Gestern waren es noch vier; der vierte ist aber im Laufe der letzten Nacht abgefallen … jetzt steht nur noch ein Stumpf des stolzen Baumes da … Ich zähle nur noch drei über dem starken Stamm … nur noch drei, alte Burg … nur noch drei lebende Äste!«
Stellt man sich einen Hirten von seiner idealen Seite vor, so erscheint er einem gewöhnlich als Denker oder Träumer; er unterhält sich mit den Planeten; er spricht mit den Sternen und versteht sich darauf, die Schrift des Himmels zu lesen. In Wirklichkeit ist er im Allgemeinen ein unwissender, vernagelter Bursche. Trotzdem dichtete ihm die Leichtgläubigkeit so oft übernatürliche Fähigkeiten an; er versteht sich auf Hexerei je nach Laune; er wendet Verzauberungen durch Besprechen ab oder verzaubert selbst Mensch und Tier – was in diesem Fall ja fast auf eines hinauskommt; er handelt mit sympathetischen Pülverchen; man kauft von ihm Liebestränke und Zaubersprüche. Ja, es geht so weit, dass er die keimende Frucht der Ackerfurche tötet, indem er verhexte Kieselsteine hineinwirft, oder dass er die Schafe unfruchtbar macht, indem er sie mit dem linken Augen ansieht. Ein derartiger Aberglaube findet sich in allen Ländern und fand sich zu allen Zeiten. Selbst in mehr zivilisierten Ländern gehen gar viele Leute nicht an einem Schäfer vorüber, ohne diesem ein paar freundliche Worte zuzurufen, ohne ihm einen hergebrachten Gruß zu bieten, indem er speziell »Hirt« genannt wird, worauf der Mann besonderen Wert legt. Ein Abnehmen des Hutes schützt bereits gegen manches Übel, und in Transsilvanien ist man deshalb damit nicht sparsam.
Frik wurde nun als ein solcher Hexenmeister betrachtet, der Geistererscheinungen hervorzuzaubern vermochte. Nach Aussage der einen gehorchten ihm die Vampire und die Stryges; nach der anderer konnte man ihn bei abnehmendem Mond in halbfinsteren Nächten, wie in anderen Gegenden das Gespenst des Großen Schalttages, auf dem Schutzdach von Mühlrädern reiten sehen, von wo aus er mit den Wölfen schwatzte oder träumerisch zu den Sternen hinaufstarrte.
Frik ließ die Leute reden, denn er stand sich ganz gut dabei. Er verkaufte Zaubermittel ebenso wie Schutzmittel gegen solche. Doch war er, wohl zu bemerken, nicht weniger gläubig als seine Kundschaft, und wenn er vielleicht auch an seinen eigenen Zauberkräften zweifelte, so galt ihm doch der Inhalt der landläufigen Sagen als unbestreitbare Wahrheit.
Hiernach kann es nicht Wunder nehmen, dass er sich jene, das baldige Verschwinden der Burg betreffende Vorhersage zurechtlegte – da die Schicksalsbuche jetzt bis auf drei Äste zusammengebrochen war – und dass er sich beeilte, diese Neuigkeit in Werst bekanntzugeben.
Nachdem er also seine Herde zusammengerufen, indem er mit vollen Backen eine aus weißem Holz geschnitzte Schäferpfeife anblies, schlug Frik den Heimweg nach dem Dorf ein. Die Tiere in Ordnung haltend, folgten ihm seine Hunde – zwei Terrier-Bastarde, bissige, wilde Köter, die mehr geschaffen schienen, Lämmer zu zerfleischen als solche zu beschützen. Die Herde bestand aus etwa hundert Widdern und Schafen; darunter etwa einem Dutzend Lämmern, sonst aber aus drei- bis vierjährigen Tieren mit vier und mit sechs Zähnen.
Diese Herde gehörte dem Ortsrichter von Werst, dem Biró Koltz, der der Gemeinde einen tüchtigen Weidepacht bezahlte und seinen Schäfer Frik hoch schätzte, weil er ihn als ebenso brauchbar bei der Schur, wie erfahren in der Behandlung der Schafkrankheiten, der Drehkrankheit, des Leberwurmes, der Trommelsucht, der Pocken, der Unfruchtbarkeit und anderer ähnlicher Störungen kannte.
Die Tiere zogen in geschlossenem Haufen dahin, voran der Leithammel mit der Glocke und ein altes Mutterschaf mit Schellenhalsband, die beide inmitten des Geblökes »den Ton angaben«.
Von dem Weideplatz aus schlug Frik einen breiten, von ausgedehnten Feldern umgebenen Fußweg ein. Hier wogten die prächtigen Halme eines Getreides, das ebenso hoch im Stroh, wie lang in den Ähren war; dort wucherten üppige Kulturen von »Kukuruz«, dem Mais des Landes. Der Weg führte nach dem Saum eines aus Fichten und Tannen bestehenden Waldes, der in seinem Schatten erquickende Kühle bot. Weiter unten schlängelte sich das spiegelnde Band der Sil hin, deren Wasser sich an den Kieseln des Grundes klärte, und auf der Stämme und Klötze aus den stromaufwärts liegenden Sägemühlen hinabschwammen.
Hunde und Schafe machten am rechten Ufer des Flusses halt und stillten gierig ihren Durst am steilen Rand, dessen Rosengebüsch sie durchbrochen hatten.
Werst lag nur wenige Flintenschuss weit von hier entfernt, und zwar jenseits eines dichten, halbhohen Weidebusches mit natürlich entwickelten Bäumen, nicht solchen verkrüppelten Kopfweiden,6 deren Zweigruten nur wenige Fuß über der Wurzel ausstrahlen. Dieses Weidengebüsch erstreckte sich bis zu den Abhängen des Vulkan, auf dem das gleichnamige Dorf den Vorberg eines nach Süden verlaufenden Zweiges des Plešagebirges7 einnimmt.
Die Landschaft war jetzt menschenleer. Die Feldarbeiter kehrten erst mit einbrechender Dunkelheit nach ihrem häuslichen Herd zurück, und Frik hätte jetzt wohl kaum Gelegenheit gefunden, den althergebrachten Guten Tag! mit ihm begegnenden Leuten zu wechseln. Nachdem seine Tiere sich gesättigt, wollte er eben nach einem verschlungenen Talweg einbiegen, als ihm, etwa fünfzig Schritte stromabwärts der Sil, ein dort auftauchender Mann in die Augen fiel.
»He! Guter Freund!« rief dieser dem Hirten zu.
Es war einer jener fremden Händler, die alle Märkte des Komitats besuchen und die man dazwischen in Städten, Flecken und selbst in den geringsten Dörfern antrifft. Sich den Leuten verständlich zu machen, ist ihnen eine Kleinigkeit, sie sprechen eben alle Mundarten. Niemand hätte sagen können, ob der hier Erschienene ein Italiener, Sachse oder Walache sei; man erkannte aber leicht, dass er Jude, polnischer Jude war, an seiner langen hageren Gestalt, der gebogenen Nase, dem spitz auslaufenden Vollbart, wie an der vorspringenden Stirn und den lebhaften Augen darunter.
Dieser Hausierer handelte mit Brillen, kleinen optischen Instrumenten, Thermometern, Barometern, geringwertigen Wanduhren u. dgl.
Was nicht in seinem, an starken Achselgurten hängenden Warenkasten untergebracht war, das hing ihm am Hals und am Leibgürtel – ein richtiger wandelnder Kramladen.
Wahrscheinlich hegte auch dieser Jude die Achtung, vielleicht die stille Scheu, die nun einmal alle Schäfer anderen Leuten einflößen. So begrüßte er denn Frik zunächst mit einer Handbewegung. Dann begann er in rumänischer Sprache, diesem Gemenge aus Latein und Slavisch, mit fremdem Tonfall:
»Es geht Euch doch nach Wunsch, guter Freund?«
»Jawohl … je nach der Witterung«, antwortete Frik.
»Dann geht’s Euch heute also gut, denn es ist schönes Wetter.«
»Und morgen desto schlechter, denn da wird’s regnen.«
»Regnen …?« rief der Händler. »Regnet’s in Eurem Land auch ohne Wolken?«
»Nun, Wolken werden diese Nacht schon kommen … und zwar von da draußen … von der schlimmen Seite des Berges.«
»Woran erkennt Ihr das?«
»An der Wolle meiner Schafe, die starr und trocken wie gegerbte Haut ist.«
»Das ist freilich eine schlimme Aussicht für die, die draußen im Freien ihre Arbeit haben.«
»Und desto angenehmer für die, die in ihrem Haus unter Dach bleiben können.«
»Gewiss, Schäfer; doch dazu muss man auch ein Haus besitzen.«
»Habt Ihr Kinder?« fragte Frik weiter.
»Nein.«
»Seid Ihr verheiratet?«
»Nein.«
Die Fragen stellte Frik, weil sie hier landesüblicherweise an jeden gerichtet werden, dem man auf der Landstraße begegnet.
Dann fuhr er fort:
»Woher kommt Ihr, Hausierer?«
»Von Hermannstadt.«
Hermannstadt ist eine der bedeutendsten Städte Siebenbürgens. Von dieser aus gelangt man in das bis nach Petroseny herabreichende Tal der ungarischen Sil.
»Und Ihr geht …?«
»Nach Kolosvar.«
Um nach Kolosvar (Klausenburg) zu kommen, hat man sich weiterhin im Tal des Maros zu halten und erreicht dann über Karlsburg, längs der ersten Ausläufer der Bilarberge hingehend, die Hauptstadt des Komitats. Die Wegstrecke beträgt etwa zwanzig Meilen (150 Kilometer).
Diese Händler mit Thermometern, Barometern und allerhand Kleinkram erscheinen immer wie Gestalten besonderer – nur nicht hofmännischer – Art. Das liegt in ihrem Geschäft. Sie verkaufen Zeit und Wetter, in jeder Form, die Zeit, wie sie verfließt, das Wetter, wie es eben ist und wie es sein wird, wie andere »zweibeinige Ballentiere« Körbe, Strick- und Baumwollwaren verhandeln. Man wäre versucht, sie Reisende des Hauses Saturn & Cie. – mit dem »Goldenen Stundenglas« als Warenschutzmarke – zu nennen. Zweifelsohne machte der Handelsjude diese Wirkung auf den biederen Frik, der verwundert diese Menge von Gegenständen betrachtete, die ihm so gut wie ganz neu waren und deren Bestimmung er nicht kannte.
»He, Hausierer«, fragte er, den Arm vorstreckend, »wozu dient das Ding da, das wie die Zähne eines alten Gehenkten an Eurem Gürtel klappert?«
»Oh, das sind lauter wertvolle Sachen«, erwiderte der Fremde, »lauter Dinge, die all’ und jedem nützlich sind.«
»All’ und jedem«, entgegnete Frik mit den Augen zwinkernd … »auch für einen Schäfer?«
»Auch jedem Schäfer und Hirten.«
»Und das lange glänzende Ding da …?«
»Dies Instrument«, belehrte ihn der Jude, indem er ein Thermometer in der Hand auf und ab gleiten ließ, »sagt Euch, ob es warm oder kalt ist.«
»Aber, guter Freund, das weiß ich doch allein, wenn ich unter der dünnen Jacke schwitze oder unter dem dicken Flausrock friere.«
Offenbar genügten solche Wahrnehmungen einem Schäfer, der sich um das Warum? dabei nicht kümmerte.
»Und die alte dicke Uhr dort mit dem einen Zeiger dran?« erkundigte er sich weiter, auf ein Aneroïdbarometer8 weisend.
»Das ist keine alte Uhr, sondern ein Instrument, das Euch vorhersagt, ob’s morgen schön sein oder regnen wird …«
»Ist das wahr …?«
»Gewiss, darauf könnt Ihr Euch verlassen.«
»Na, ’s mag ja sein; ich möchte das Ding aber doch nicht, und wenn’s nicht mehr als einen Kreuzer kostete. Ich brauche ja nur nachzusehen, wie die Wolken durch die Berge ziehen oder ob sie hoch über deren Gipfeln hingehen, da weiß ich das Wetter auch für vierundzwanzig Stunden im voraus. Da draußen, Ihr seht wohl den Nebel, der fast auf der Erde hinschleicht? … Na, wie ich Euch sage, das bedeutet für morgen Wasser.«
Der Schäfer Frik, ein langgeschulter Wetterbeobachter, konnte in der Tat jedes Barometer entbehren.
»Da ist wohl die Frage überflüssig, ob Ihr vielleicht eine Uhr braucht?« nahm der Handelsjude wieder das Wort.
»Eine Uhr? … Ach, ich habe eine, die geht ganz allein und hängt mir, wo ich gehe und stehe, über dem Kopf – das ist die Sonne da oben. Seht Ihr, Freundchen, wenn die sich über die Spitze des Roduk da drüben stellt, dann ist es Mittag, und wenn sie durch das Loch des Egelt guckt, ist es sechs Uhr abends. Das wissen meine Schafe ebenso gut wie ich; die Schafe und die Hunde erst recht. Da behaltet nur Euren Kram.«
»Freilich«, bemerkte der Händler, »wenn ich nur Schäfer zu Kunden hätte, da würd’ es mir schwer werden, etwas zu verdienen. Ihr braucht also gar nichts von meinen Waren?«
»Nicht das Geringste!«
Die billigen Ramschwaren des Juden waren übrigens auch wirklich nicht viel wert; die Barometer zeigten gerade dann nicht auf Schön Wetter oder Veränderlich, wenn es ihre Pflicht gewesen wäre, und die Uhrweiser bezeichneten die Stunden zu lang oder die Minuten zu kurz – mit einem Wort, der Jude trug den reinen Ausschuss trödeln. Den Schäfer mochte auch ein gewisses Misstrauen beschleichen, denn er machte gar keine Miene, den Beutel zu ziehen. Da, als er schon den langen Stab zum Weitergehen bewegte, tippte er noch auf eine Art Röhre, die am Traggurt des Hausierers hing, und sagte:
»Wozu dient denn die kleine Röhre hier?«
»Diese Röhre ist keine simple Röhre.«
»Na, ’s ist doch auch kein Ofenrohr?«
Der Schäfer verstand darunter eine Art altmodischer Pistole mit erweiterter Mündung.
»Nein«, erklärte der Jude, »das ist ein Fernrohr«.
Es war in der Tat eines jener Jahrmarkt-Instrumente, die die betrachteten Gegenstände fünf- bis sechsmal vergrößern oder sie um ebensoviel näher zu bringen scheinen, was ja in der Wirkung auf dasselbe hinauskommt.
Frik hatte das Fernrohr losgebunden; er besah es sich genau, drehte und wendete es nach allen Seiten und verschob die Einzelzylinder übereinander.
Dann richtete er wie ungläubig den Kopf hoch auf.
»Ein Fernrohr?« fragte er.
»Ja, Schäfersmann, und zwar ein ganz vorzügliches, das Euch befähigt, viel weiter als gewöhnlich zu sehen.«
»Oho, ich habe sehr gute Augen, Freundchen. Bei klarer Luft erkenne ich die entlegensten Felsen bis zur Spitze des Retezat9 und die letzten Bäume im Grunde des Talweges des Vulkans.«
»Ohne die Augen halb zu schließen?«
»Ohne solche Kunststückchen. Das verdank’ ich dem heilsamen Tau, wenn ich vom Abend bis zum Morgen unter freiem Himmel schlafe. Glaubt nur, das wäscht die Pupille rein.«
»Was … der Tau?« erwiderte der Hausierer. »Der macht ja die Leute weit eher blind …«
»Nur die Schäfer nicht!«
»Mag sein! Doch wenn Ihr auch gute Augen habt, so sind meine doch noch besser, sobald ich sie ans Ende meines Fernrohres bringe.«
»Das müsst’ ich erst sehen.«
»Werft doch einmal selbst einen Blick, durch das Fernrohr.«
»Ich?«
»Versucht’s nur.«
»Und das kostet nichts?« fragte Frik, der von Natur etwas misstrauisch vorsichtig war.
»Nichts … gar nichts, wenigstens wenn Ihr das Fernrohr nicht kauft.«
In dieser Hinsicht beruhigt, nahm Frik das Instrument, das der Hausierer für ihn passend einstellte. Nachdem er dann das linke Auge geschlossen, brachte er das rechte nahe an das Ocular.
Erst blickte er in der Richtung des Vulkans und aufwärts nach der Pleša hinaus. Nachher senkte er das Instrument und richtete es nach dem Dorf Werst hinab.
»Wahrlich«, rief er, »’s doch richtig! Das trägt weiter als meine Augen … Da die Landstraße … ich erkenne darauf die Leute! … Richtig, Nic Deck, der Forstwächter, der, die Flinte auf dem Rücken, vom Rundgang heimkehrt, mit …«
»Wie ich’s Euch sagte!« unterbrach ihn der Hausierer.
»Ja … richtig … das ist Nic!« fuhr der Schäfer fort. »Und wer ist das Mädchen im roten Rock und schwarzen Leibchen, das aus dem Haus des Meisters Koltz tritt, wie um jenem entgegenzugehen?«
»Seht nur ordentlich hin, Schäfer, und Ihr werdet das Mädchen ebenso gut erkennen, wie den jungen Mann …«
»Ja … wirklich … das ist Miriota … die schöne Miriota! – Oh, diese verliebten Leute! Jetzt mögen sie aber auf ihrer Hut sein, denn ich habe sie hier deutlich am Ende des Fernrohres, und es entgeht mir keine Zärtlichkeit.«
»Sieht aus wie Rauch.«
»Nun, was sagt Ihr jetzt von dem Instrument?«
»Was soll ich sagen? – Dass man damit weiter sehen kann als sonst.«
Wenn Frik in seinem Leben noch niemals durch ein Fernrohr geblickt hatte, musste das Dorf Werst doch wohl zu den Ortschaften des Komitats Klausenburg gehören, die am weitesten hinter der Zeit zurückgeblieben waren. Und dass es an dem war, wird der Leser bald selbst erkennen.
»Jetzt, Schäfer«, fuhr der Fremde fort, »schaut noch einmal hindurch, aber weiterhin als nach Werst. Das Dorf liegt viel zu nahe. Sehr darüber hinaus, weit, weit hinaus!«
»Und das kostet auch nicht mehr?«
»Keinen Heller mehr.«
»Gut. Ich will mich einmal in der Gegend der ungarischen Sil umsehen. Aha … da ist der Kirchturm von Livadzel! Den erkenn’ ich an dem Kreuz, woran der eine Arm fehlt. Da … und weiter draußen seh’ ich den Turm von Petroseny, auch seinen Weißblech-Wetterhahn mit geöffnetem Schnabel, so als wollte er seine Glucken rufen! … Und ganz unten … das muss der Turm von Petrilla sein … Doch, nicht wahr, Hausierer, Ihr sagtet, das kostet deshalb immer nicht mehr …«
»Das Hindurchsehen kostet nichts, Schäfer.«
Frik wendete sich jetzt nach dem Plateau von Orgall hin; dann folgte er mit dem Fernrohr den Waldmassen im Schatten der Abhänge der Pleša, und schließlich trat die Burg in das Gesichtsfeld des Glases.
»Richtig!« rief er. »Der vierte Ast liegt zu Boden … ich hatte doch recht gesehen! Na, den wird auch keiner aufheben, um ihn am Johannisfest als hübsche Fackel zu gebrauchen … Nein, keiner … nicht einmal ich selbst! Das hieße ja Leib und Seele der Hölle verschreiben! Doch keine Sorge; einen gibt’s doch, der ihn noch diese Nacht in seiner Höllenküche verbrennen wird … das ist der Chort!«
Der Chort – so heißt der Teufel, wenn er hier im Land gesprächsweise erwähnt wird.
Der Jude hätte vielleicht nach einer Erklärung dieser Worte gefragt, die für jeden unverständlich sein mussten, der nicht aus Werst oder dessen Nachbarschaft herstammte, doch schon rief Frik wieder mit einer aus Schrecken und Erstaunen gemischten Stimme:
»Da … was ist denn das? … Ein Dunst, der über dem alten dicken Turm schwebt? … Ist’s denn wirklich nur Dunst? … Nein, das könnte man für Rauchwolken halten! … Unmöglich! Seit langen, langen Jahren haben die Schornsteine der Burg nicht mehr geraucht!«
»Wenn Ihr da draußen Rauch seht, Schäfer, so wird’s schon Rauch sein.«
»Nein, Hausierer … nein! Wahrscheinlich ist nur das Glas Eures Instrumentes angelaufen.«
»So wischt es doch ab.«
»Und wenn ich das täte.«
Frik drehte das Fernrohr um und setzte es, nachdem er die Gläser mit dem Ärmel abgerieben hatte, wieder vor das Auge.
Es war tatsächlich eine Rauchsäule, die dort aus dem Wartturm aufwirbelte. Bei der ganz stillen Luft stieg sie kerzengerade empor und verschwamm schließlich im Dunst der Höhe.
Frik stand wie versteinert und sprach kein Wort. Seine ganze Aufmerksamkeit wandte er der Burg zu, nach der schon der Schatten der Täler unter dem Plateau von Orgall langsam emporschlich.
Plötzlich ließ er das Fernrohr herabsinken, griff nach dem kleinen Quersack, der unter seiner Jacke hing und fragte:
»Was soll Euer Rohr kosten?«
»Anderthalb Gulden«, antwortete der Händler.
Er hätte das Fernrohr auch schon für einen Gulden weggegeben, wenn Frik sonst Lust zum Kauf gezeigt hätte. Der Schäfer feilschte aber nicht. Offenbar unter dem Druck einer ebenso plötzlichen wie unerklärlichen Verblüffung, senkte er die Hand in den Quersack und brachte das verlangte Geld hervor.
»Kauft Ihr das Fernrohr für Euch selbst?« fragte der Hausierer.
»Nein … für meinen Herrn, den Ortsrichter Koltz.«
»Dann gibt er Euch zurück, was …«
»Jawohl, die zwei Gulden, die es mich gekostet hat.«
»Wie … die zwei Gulden, sagt Ihr?«
»Natürlich … Nun übrigens Gute Nacht, Freundchen.«
»Gute Nacht, Schäfersmann!«
Frik pfiff die Hunde heran, ließ diese die Herde zusammentreiben und zog rasch in der Richtung nach Werst davon.
Der Jude, der ihm nachschaute, schüttelte leicht den Kopf, als ob er es mit einem halben Narren zu tun gehabt hätte.
»Hätte ich das gewusst«, murmelte er vor sich hin, »dann würd’ ich ihm das Fernrohr etwas teurer verkauft haben!«
Nachdem er dann seine Waren am Gürtel und auf den Schultern wieder geordnet, schlug er, am rechten Ufer der Sil hinabwandernd, den Weg nach Karlsburg ein.
Wohin er ging, hat für uns keine weitere Bedeutung. Er taucht nur dieses einzige Mal in unserer Erzählung auf. Der Leser wird ihn nicht wieder zu sehen bekommen.
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Komitat ist die deutsche Bezeichnung für eine regionalen Verwaltungseinheiten Ungarns. <<<
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Als Kopfweide bezeichnet man eine Weide, deren Stamm als Jungbaum auf einer Höhe von etwa 1 bis 3 Metern eingekürzt wurde und deren Zweige in der Folge regelmäßig beschnitten werden. <<<
Die Pleša ist ein 1262 m. i. J. hoher Berg im Nanos in Südwest-Slowenien. <<<
bestimmte Konstruktionsart eines Barometers; auch sog. Dosenbarometer <<<
Das Retezat-Gebirge ist der Hauptgebirgsstock der Retezat-Godeanu-Gruppe, des westlichsten Teils der Südkarpaten in Rumänien. <<<