Das Kind vom anderen Stern - Ross Welford - E-Book

Das Kind vom anderen Stern E-Book

Ross Welford

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Beschreibung

Ein kleines verschlafenes Dorf in der Wildnis von Northumberland wird erschüttert, als die zwölfjährige Tammy spurlos verschwindet. Nur ihr Zwillingsbruder Ethan weiß, wo seine Schwester sich in Wirklichkeit befindet und dass sie in Sicherheit ist. Doch er muss dieses Geheimnis für sich bewahren, denn sonst wird er seine Schwester niemals wiedersehen. In einem Raumschiff macht sich Ethan zusammen mit seinem Freund Iggy, der mysteriösen (und sehr haarigen) Hellyann und dem dressierten Huhn Suzy auf den Weg, um seine Schwester zurückzuholen. Eine außergewöhnliche Suche beginnt, die Ethan weiter bringt, als je ein Mensch gekommen ist.

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Seitenzahl: 317

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Bisher sind von Ross Welford erschienen:

eISBN 978-3-649-64011-0

© 2021 für die deutschsprachige Ausgabe

Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG, Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise

Originally published by HarperCollins Publishers under the title:

The kid who came from space

© Ross Welford 2020

Translation © Petra Knese 2020 translated under licence from

HarperCollins Publishers Ltd

Ross Welford asserts the moral rights to be identified

as the author of his work.

Aus dem Englischen von Petra Knese

Umschlaggestaltung © HarperCollins Publishers 2020

Umschlagillustration © Tom Clohosy Cole 2020

Lektorat: Jutta Knollmann

Satz: Sabine Conrad, Bad Nauheim

www.coppenrath.de

Die Print-Ausgabe erscheint unter der ISBN 978-3-649-63778-3.

Ross Welford

Aus dem Englischen von Petra Knese

Inhalt

1. Teil

HELLYAN 1. Kapitel

ETHAN 2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

Vier Tage zuvor

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

2. Teil

HELLYANN 15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

3. Teil

ETHAN 29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

HELLYANN 53. Kapitel

ETHAN 54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

4. Teil

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

HELLYANN 60. Kapitel

ETHAN 61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

72. Kapitel

73. Kapitel

74. Kapitel

75. Kapitel

76. Kapitel

77. Kapitel

78. Kapitel

79. Kapitel

Suche nach vermisstem Mädchen geht weiter

Kielder, Northumberland, 27. Dezember

Bei der Suche nach einem zwölfjährigen Mädchen, das am Heiligabend aus Kielder verschwunden ist, bittet die Polizei die Bevölkerung um Mithilfe.

Tamara »Tammy« Tate wurde zuletzt am 24. Dezember um 18 Uhr gesehen, als sie ihr Elternhaus in der Nähe der Gaststätte Stargazer verließ. Sie war mit dem Fahrrad unterwegs.

Tamara hat helle Haut, ist etwa 1,60 m groß und von mittlerer Statur. Sie hat blondes Haar und braune Augen. Bei ihrem Verschwinden trug sie eine Jeans und eine rote Daunenjacke von North Face.

Suchtrupps aus Polizei und Freiwilligen haben in den letzten Tagen die umliegenden Wälder und Moore an der Grenze zu Schottland durchkämmt.

Wer Tamara gesehen hat oder Aufschluss über ihren aktuellen Aufenthaltsort geben kann, wird dringend gebeten, sich bei der Polizei zu melden.

Sachdienliche Hinweise werden unter der Nummer 131411 oder anonym unter 1800 333 000 entgegengenommen.

HELLYAN

1. Kapitel

Noch einmal lese ich das leuchtende Schild vor mir:

Gattung: Mensch, weiblich

Herkunft: Erde

Alter: etwa zwölf Jahre

Dieses brandneue Exponat wird in die Ausstellung Erd-zone überführt, sobald eine emotionale Stabilität erreicht wurde.

Beim Anblick des verwahrlosten Wesens möchte ich am liebsten durch die unsichtbare Barriere fassen und seine Hand halten. (Was weder erlaubt noch möglich ist, denn die Barriere würde mir sofort einen schmerzhaften Schock versetzen.)

Sein Haar …

Okay. Ich darf nicht die ganze Zeit »es« und »sein« sagen. Auf dem Schild steht, dass es weiblich ist, also »sie« und »ihr«.

Ihr Haar ist lockig. Wie es wohl gewaschen aussieht? Ihre blasse, haarlose Haut ist mit winzigen dunklen Flecken überzogen (Sommersprossen nennt man das in ihrer Sprache). Ihre Kleidung gleicht der der anderen Bewohner aus der Erdzone: eine Hose aus derbem Stoff, oben herum ein dick wattiertes Kleidungsstück in einem helleren Ton und an den Füßen große Schuhe, die mit verschlungenen Schnüren zugebunden sind.

Ihr Gesicht ist schmutzig und tränenüberströmt, ihre Augen sind feucht und gerötet. Sie hat geweint (das ist normal, das tun Menschen andauernd), obwohl die atomare Auto-Medikamentierung ihre kognitiven Funktionen zum Großteil lahmgelegt hat …

(Moment mal. Klingt das zu kompliziert? Philip meint, ich soll lieber schreiben: »Ihr Gehirn funktioniert nur noch langsam, weil sie Medikamente bekommen hat.« Und das trifft es auch, so gut wie. Entscheidet selbst.)

Dennoch funkeln ihre Augen voller Leben. Vielleicht ist die Dosis nicht richtig berechnet worden oder ihr Körper ist in der Lage, die Wirkung der Medikamente abzuschwächen.

Jedenfalls sieht sie mich an. Und ich bin erstaunt, wie ausdrucksstark so ein menschliches Gesicht sein kann.

Als sie die Hand auf die Brust legt, glaube ich für einen Moment, dass sie die Geste der Herzler macht, aber natürlich tut sie das nicht.

Sie blickt mich eindringlich an und sagt: »Ta-mii.«

Mehr nicht, bloß diese beiden Silben.

Und wieder: »Ta-mii.«

Rasch vergewissere ich mich, dass mich niemand beobachtet, halte meinen PM hoch und filme. Mit den Exponaten zu kommunizieren, ist zwar nicht ausdrücklich verboten, aber man wird auch nicht dazu ermuntert.

Ta-mii. Ist das ihr Name?

Ich wiederhole die Silben, obwohl ich mich mit den Lauten schwertue.

»Ta-mii«, sage ich.

Sie nickt und verzieht das Gesicht, als wollte sie lachen und gleichzeitig weinen. Ich begreife nicht, warum. Menschen sind seltsame Wesen.

Wie sie lege auch ich eine Hand aufs Herz und sage meinen Namen. Das Menschenmädchen versucht, ihn zu wiederholen, aber es klingt kein bisschen nach meinem Namen. Beim nächsten Versuch geht es schon etwas besser. Ich probiere ein wenig hin und her und spreche meinen Namen dann so aus, dass sie ihn vielleicht wiederholen kann.

»Helly-ann«, sage ich und ihr Mund verformt sich ganz langsam zu einem Lächeln.

Sie blinzelt ein paarmal und spricht mir nach. Unwillkürlich muss auch ich lächeln.

Dann blickt sie wieder ernst und sie sagt zwei weitere Silben: »Ii-sen.«

Plötzlich ertönt aus dem Lautsprecher über mir eine Stimme: »Ihre Zeit ist um. Gehen Sie weiter. Hinter Ihnen hat sich eine Schlange gebildet, auch andere wollen das neue Exponat besichtigen. Beanspruchen Sie nicht mehr als die Ihnen zustehende Zeit. Der Nächste.«

Das Menschenmädchen sieht mir nach, dann zieht es sich in die hinterste Ecke seines Geheges zurück und setzt sich auf den Boden. Da rücken auch schon zwei neue Besucher an.

»Ta-mii«, sage ich vor mich hin, während ich an dem HM vorbeigehe, der am Rand des Ausstellungsraums steht.

»Das ist Ihr drittes Mal hier, wenn ich mich recht erinnere«, sagt der HM. »Und dann kommunizieren Sie auch noch mit den Exponaten? Ich behalte Sie im Auge.«

Natürlich sagt er das nicht laut. Das braucht er auch gar nicht, sein scharfer Blick genügt.

So läuft das bei uns. Alle halten sich an die Regeln. Keiner tanzt aus der Reihe.

Auf dem Weg zu meinem Podhaus muss ich mich zusammenreißen, um nicht weinend zusammenzubrechen. Die Leute hier weinen nicht, und lachen tun sie übrigens auch nicht.

Stattdessen wiederhole ich in Gedanken immer wieder ihren Namen: Ta-mii. Ta-mii. Ta-mii.

Zu Hause spiele ich den Teil der Aufnahme ab, die ich von dem Menschenmädchen gemacht habe, als es seinen Namen und diese anderen Laute von sich gegeben hat.

Was ist denn Ii-sen? Das hat sie doch gesagt: Ii-sen.

Vielleicht finde ich es irgendwann heraus.

Denn ich werde Ta-mii zur Erde zurückbringen.

Das wird gefährlich. Wenn ich scheitere, werde ich für den Rest meines Lebens in Tiefschlaf versetzt.

Und wenn es mir gelingt? Dann werde ich es wahrscheinlich fürs nächste Exponat wieder tun müssen.

Das ist der Fluch, wenn man Gefühle hat.

ETHAN

2. Kapitel

Meine Zwillingsschwester Tammy wird jetzt schon seit vier Tagen vermisst. Als es an der Tür klingelt, denke ich also erst mal, es ist die Polizei oder wieder irgendein Journalist.

»Ich geh schon«, sage ich zu Mam und Dad.

Gran ist in ihrem Trainingsanzug im Lehnstuhl neben dem Weihnachtsbaum eingeschlafen, ihr Mund steht offen. Die Lichter am Baum sind schon seit Tagen nicht mehr angeknipst worden.

Als ich die Tür öffne, steht da Ignatius Fox-Templeton – Iggy genannt, weil es kürzer ist und nicht so schräg klingt – in Wintermantel, Schiebermütze und Shorts (obwohl draußen Schnee liegt). In einer Hand hält er eine Angel, unter den anderen Arm hat er Suzy geklemmt, sein zahmes Huhn. Überm Rücken trägt er eine große Tasche und sein verrostetes Rad liegt neben ihm auf dem Boden.

Eine Weile sehen wir uns einfach bloß an. Iggy und ich sind keine besten Freunde oder so was. Und zuletzt hatten wir ein ziemlich unangenehmes Erlebnis. Das war Heiligabend, als Tammy verschwunden ist. (Ich hätte seiner Mutter mit dem Klavierdeckel beinahe alle Finger gebrochen. Sie fand’s aber gar nicht so schlimm.)

»Ich, ähm … ich dachte … ob du vielleicht, na ja, ob du … ähm …« So ist Iggy normalerweise gar nicht, aber er ist ohnehin nicht im normalen Sinn normal, und überhaupt ist im Moment gar nichts normal.

»Wer ist es denn?«, ruft Mam matt.

»Schon gut, Mam. Ist nichts!«, rufe ich zurück.

Mam geht es immer schlechter. Keiner von uns schläft zurzeit gut, aber ich fürchte, dass sie überhaupt nicht schläft. Unter den Augen hat sie blaugraue Ringe, als wäre ihre Wimperntusche verlaufen. Dad hat sich in die Arbeit im Pub gestürzt und Suchtrupps organisiert, aber allmählich gehen auch ihm die Projekte aus. Alle sind so versessen darauf, uns zu helfen, dass für uns am Ende nichts anderes übrig bleibt, als untätig rumzusitzen und vor lauter Sorge ganz verrückt zu werden. Sandra, die bei der Polizei für Familien wie unsere zuständig ist, meint, das wäre »zu erwarten gewesen«.

Ich wende mich wieder Iggy zu.

»Was willst du?« So unfreundlich wollte ich gar nicht klingen.

»Hast du … ähm, hast du Lust, angeln zu gehen?«, fragt er fast flüsternd. Seine Augen blinzeln rasch hinter den dicken Brillengläsern.

Falls ihr keine Ahnung habt, wie schräg ich das gerade finde, müsst ihr wissen, dass meine Welt seit Tagen nur noch aus quälenden Sorgen und vielen, vielen Tränen besteht, aus geschäftigen Polizisten und Journalisten, die uns mit Kamera und Notizblock belagern; aus Leuten vom Dorf, die Essen anschleppen, obwohl wir im Pub doch selbst eine riesige Küche haben (in der sich inzwischen zwei Shepherd’s Pies und eine überdimensionale Baisertorte türmen); aus Sandra, Dad und Mam, die das alles gemeinsam mit Gran zu managen versuchen; und auch noch aus Tante Annikka und Onkel Jan, die gestern aus Finnland eingeflogen sind, um … ja, um was eigentlich? Wahrscheinlich um für uns da zu sein.

All das, weil Tammy seit vier Tagen wie vom Erdboden verschluckt ist. Und nichts mehr so ist, wie es war.

Mein erster Gedanke, als Iggy hier so auftaucht und mit mir angeln gehen will, ist also: Hast du sie noch alle?! Aber dann dämmert es mir.

»War das Sandras Idee?«, frage ich. Die Haustür halte ich so weit wie möglich zu, damit die Kälte nicht reinkommt.

Iggy nickt freimütig. Sandra und er kennen sich schon eine ganze Weile. Bei ihm zu Hause ist immer was zu tun für eine Familienverbindungsbeamtin. Das ist die offizielle Bezeichnung für ihren Job.

»Ja, Sandra meinte, vielleicht willst du mal raus. Um auf andere Gedanken zu kommen. Eine kleine Abwechslung und der ganze Mumpitz.«

Mumpitz. Typisch Iggy. Er hat keinen besonders ausgeprägten Dialekt, wie die anderen hier, wobei er auch nicht sonderlich gehoben spricht. Mir kommt es vor, als könnte er sich nicht entscheiden, wie er klingen will, und benutzt deshalb seltsame Wörter als Lückenbüßer.

»Da bin ich also!« Iggy hält seine Angel hoch. »Besser gesagt, da sind wir also.« Mit dem Kinn deutet er auf Suzy.

Ich weiß nicht so richtig, was ich von Iggy halten soll. Dad kann ihn nicht leiden, denn kurz nachdem wir hergezogen sind, hat er Iggy dabei erwischt, wie er aus unserem Lagerhaus eine Tüte Chips geklaut hat. Daraufhin meinte seine Mutter, das Lagerhaus sollte eben abgeschlossen sein, deshalb ist Dad auch nicht sonderlich gut auf Iggys Mutter zu sprechen. Sie hält Bienen. Und hat sich von Iggys Vater scheiden lassen, glaube ich zumindest.

Trotzdem muss ich zugeben, es ist irgendwie nett von Iggy vorbeizukommen, auch wenn es nicht seine Idee war. Wobei ich nicht sonderlich gern angle …

Suzy reckt mir den Kopf entgegen, damit ich sie kraule. Gehorsam versenke ich die Finger tief in ihrem weichen Gefieder. Ehrlich gesagt, die Sache mit Suzy ist mir ebenfalls suspekt. Wer bitte schön hält sich schon ein Huhn als Haustier?

Während ich Suzy noch am Hals kraule, überlege ich: Was soll schon groß schiefgehen?

Also stecke ich den Kopf ins Wohnzimmer, um mich abzumelden. Dad ist zum Telefonieren in die Küche gegangen und Mam starrt stumpf zum Fernseher, der gar nicht läuft. Gran schnarcht ein bisschen. Im Zimmer ist es viel zu heiß, die Asche im Holzofen glüht weiß und hellrot.

»Ich geh mal ’ne Weile raus, Mam«, sage ich. »Bisschen frische Luft schnappen.«

Sie nickt, aber ich weiß nicht, ob sie mir überhaupt zugehört hat. In Gedanken ist sie die ganze Zeit bei Tammy.

Tammy, meiner Zwillingsschwester, die wie vom Erdboden verschluckt ist.

3. Kapitel

Das Absperrband ist noch da: POLIZEIABSPERRUNG. BETRETEN VERBOTEN. Es ist quer über den Weg gespannt, wo Tammys Fahrrad lag, aber die Polizei hat den Waldweg und den schmalen Uferstreifen schon ein Dutzend Mal abgesucht. Jetzt ist keiner mehr da. Ich bin seit Heiligabend nicht mehr hier gewesen, und als wir uns der Stelle nähern, schnürt sich mir die Kehle zusammen.

»Kommst du klar?«, fragt Iggy. »Tut mir leid, daran hab ich gar nicht gedacht … der See und so …«

»Schon okay.« Man könnte auch noch anders ans Wasser kommen, aber das wäre von hier ein Umweg.

Wir lassen unsere Räder oben im Wald und steigen die steile Uferböschung hinab. Dabei denke ich unentwegt: Da ist Tammy vielleicht auch gelaufen …

Schließlich gelangen wir an den schmalen Uferstreifen. Iggy redet pausenlos von einem riesigen Hecht, der sich in der Nähe des Wehrs herumtreiben soll, wo sich das überschüssige Wasser aus dem Stausee sammelt.

»Wenn es draußen richtig kalt ist, zieht es die Hechte in flachere Gewässer … Mit einem Laserköder lässt der sich hundertpro anlocken … die Angelschnur hat eine Tragkraft von 40 Kilo …«

Genauso gut könnte Iggy in einer Fremdsprache mit mir reden, aber ich mache mit, weil ich einfach nur froh bin, mal an was anderes als an Tammy zu denken.

Obwohl es mitten am Nachmittag ist, wird es schon dunkel. Weit und still liegt Kielder Water vor uns – in der Dämmerung hat der See eine tieflila Farbe angenommen. Mir verschlägt es den Atem. »Wow«, raune ich leise.

Iggy stellt sich neben mich und blickt übers Wasser.

»Glaubst du, dass sie noch am Leben ist, Tait?«

Puh! Wie kann er bloß so direkt sein? Im ersten Moment ärgere ich mich, aber dann wird mir klar, dass er im Grunde das fragt, was alle gern fragen würden. Nur schleichen die anderen wie die Katze um den heißen Brei herum oder schweigen aus Angst, das Falsche zu sagen.

Ich seufze. Diese Frage hat mir bisher noch keiner gestellt, deshalb bin ich überrascht, wie überzeugt ich bin. »Ja. Das spür ich genau. Hier.« Ich greife mir an die Brust. »Wir sind doch Zwillinge.«

Iggy schiebt die Unterlippe vor und nickt bedächtig, als würde er es verstehen, aber das kann bloß ein Zwilling.

»Psst«, mache ich. »Sei mal still.«

Ich hoffe darauf, dass ich wieder dieses Heulen höre, so wie an dem Abend, als Tammy verschwand. Doch die einzigen Geräusche kommen von den winzigen Wellen, die alle paar Sekunden ans Ufer schwappen, und von dem leuchtend orangen Kanu, das rhythmisch gegen den weit in den See hineinragenden Holzsteg rumst.

Als wir auf den Steg treten, ächzen die alten Planken unter unserem Gewicht. Iggy packt seine Anglertasche aus.

Ich glaube, das letzte Mal war ich mit Tammy auf dem Steg. Zum Steinweitwurf. Im Grunde geht es dabei nur darum, wer den Stein am weitesten in den See werfen kann. Aber wir haben natürlich Regeln: nur gleich große Steine, fünf Runden zum Sieg und so weiter. Dummerweise gewinnt Tammy fast immer. Im Werfen ist sie richtig gut.

Iggy brabbelt unbeirrt vor sich hin …

»So. Da haben wir also zwei achtfach geflochtene Angelschnüre, je 100 Meter lang mit Stahldrahtverstärkung … vier Drillingshaken, zehn Zentimeter lang … eine kurze Rute und meine gute alte Hechtrolle, dazu einen Johnson-Laserköder.«

Iggy, dessen Schulnoten man als schwankend bezeichnen könnte, hätte in Anglerlatein sicher eine Eins plus! Dann zieht er noch ein kleines Päckchen aus der Tasche. Er öffnet die Plastikfolie und hält mir den Inhalt unter die Nase. Bei dem Gestank wird mir kotzübel.

»Was ist …?«

»Hühnchen. Habe ich im Mülleimer hinterm Pub gefunden.« Und schnell schiebt er noch nach: »Ist ja nicht geklaut, wenn’s im Müll lag!«

Während er auf dem Steg kniet und seine vierteilige Steckrute montiert, geht er noch mal alles mit mir durch, obwohl er es mir schon unterwegs erklärt hat.

»Die Hähnchenbrust ist der Köder. Wir fahren etwa dreißig Meter raus und werfen ihn mit der Boje ins Wasser.« Iggy zeigt auf eine rote fußballgroße Boje im Kanu. »Der Köder darf nicht zu tief sinken. Deshalb hängt er an der Bojenleine und der Angel. Wir paddeln ans Ufer zurück und warten. Der Hecht kommt, wittert das köstliche Fleisch …« Iggy macht es vor, kneift die Augen zusammen und zieht die Nase kraus. »Und kann einfach nicht widerstehen! Bäm! Er schnappt zu und hängt am Haken. Wir sehen die Boje auf und ab hüpfen, ziehen ihn an Land, wo du schon das Handy bereithältst, um Fotos zu machen. Dann lassen wir ihn wieder frei und radeln zurück zu Ruhm und Reichtum, ein Foto im Hexam Courant springt allemal dabei raus!«

Wird schon schiefgehen, rede ich mir ein, als wir das Kanu beladen. Beim Einsteigen schwappt mir das eiskalte Wasser in die Turnschuhe, das sich im Boot angesammelt hat. Suzy folgt uns, ich könnte wetten, dass sie mir einen seltsamen Blick zuwirft. Nachdem sie einmal kurz am vergammelten Hähnchen gerochen hat, nimmt sie Abstand und lässt sich am anderen Ende des Kanus nieder.

Zu Mam habe ich nicht gesagt, dass wir aufs Wasser wollen, denn bis eben wusste ich es ja selbst nicht. Ich habe also ein reines Gewissen. Aber trotzdem …

»Iggy? Haben wir … ähm, zufällig Rettungswesten dabei?« Ich komme mir blöd vor, erst recht, als Iggy mich voller Verachtung anschaut. »Vergiss es«, schiebe ich schnell nach. »Ich kann ja schwimmen.«

Wir machen das Kanu los und paddeln schweigend auf den See hinaus.

Irgendwie ist mir übel, vielleicht von der Schaukelei. Oder von dem toten Huhn. Der Gestank klebt mir an den Händen, seit ich es gerade mitsamt der Boje über Bord geworfen habe.

Als ich mich vorbeuge, um mir die Hände im eiskalten Wasser zu waschen, schrecke ich mit einem Aufschrei zurück. Das Kanu schwankt.

»Hey! Pass doch auf!«, ruft Iggy empört.

Habe ich mir das nur eingebildet? Ja, bestimmt.

Ich beuge mich noch mal vor. Es ist bloß ein Baumstamm. Einer der Äste sieht aus wie ein Arm. Und in meiner Fantasie wurde daraus ein Körper, der im Wasser treibt, natürlich dachte ich sofort an Tammy. Aber sie ist es nicht. Nur ein Baumstamm unter Wasser.

»Wollen wir umkehren?« Ich gebe mir Mühe, ganz locker zu klingen.

Wir paddeln zurück, die schwere Leine hängt im Wasser.

Dann warten wir auf dem Steg. Und warten. Ich schaue nach oben, der Himmel ist schon ganz dunkel, ich sollte nach Hause gehen.

Ein Blick aufs Handy sagt mir, dass wir bereits über eine Stunde hier sind. Mir ist echt langweilig, außerdem friere ich und mir sitzt noch der Schreck in den Knochen von dem Etwas, das sich am Ende bloß als Baumstamm entpuppte.

Und dann bewegt sich die Boje plötzlich.

»Hast du das gesehen …«

»Ja.«

Wir springen auf und schauen hinüber zur Boje, die wieder ruhig im Wasser liegt, aber winzige Wellen breiten sich in alle Richtungen aus.

»Was meinst du?«, frage ich. Iggy zieht sich bloß die Mütze vom Kopf und fährt sich nachdenklich durchs rote Zottelhaar.

Ein paar Minuten lang rühren wir uns nicht, dann sagt er: »Wir gucken mal nach«, und macht sich daran, die Leine einzuholen. »Vielleicht hat sich was anderes den Köder geschnappt oder er ist abgefallen. Mist!« Die Leine hängt fest. »Könnte sich im Schilf verfangen haben oder an einem Stamm.«

Je stärker Iggy zieht, desto weniger tut sich. »Komm«, stöhnt er und steigt ins Kanu, »wir müssen die Leine freikriegen.«

»Wir?«, murmele ich, steige aber trotzdem ein.

Iggy pfeift Suzy wie einen Hund zu sich. Gehorsam hüpft sie zu uns ins Kanu. Dann setzt sich Iggy die Mütze auf, schiebt sich die Brille hoch und wir paddeln zur tanzenden Boje zurück.

Bevor wir da ankommen, gibt es auf einmal diese riesige Fontäne. So gigantisch, als hätte jemand von der anderen Seite des Stausees aus großer Höhe ein Auto ins Wasser geschleudert.

Natürlich ist es kein Auto. Und genauso wenig glaube ich in dem Moment, dass es ein unsichtbares Ufo ist. Ich bin ja nicht verrückt geworden.

Aber es wird sich herausstellen, dass es genau das ist.

4. Kapitel

Ein paar Sekunden später schießt eine zweite, etwas kleinere Fontäne in die Höhe, aber sie ist immer noch gewaltig. Im Licht des aufgehenden Mondes glitzern unzählige herabfallende Wassertropfen. Kurz darauf folgt eine dritte, dann eine vierte Fontäne, jedes Mal ein Stückchen näher, als würde ein riesiger unsichtbarer Stein auf der Wasseroberfläche zu uns herüberspringen. Die fünft e Fontäne schießt nur noch wenige Meter vor uns hoch und bringt das Kanu heftig ins Schwanken.

»Was ist da los?«, rufe ich mit schriller Stimme.

Dann trifft uns das Spritzwasser und wir ducken uns schutzsuchend ins wild schaukelnde Boot. Auch wenn ich nichts sehe, spüre ich, dass etwas knapp über unsere Köpfe hinwegfegt. Suzy kreischt alarmiert auf.

»Was ist das?«, brülle ich.

Iggy reagiert nicht.

Als ich den Kopf hebe, schießt die sechste Fontäne jenseits des Kanus hoch. Die siebte ist schon viel kleiner. Was auch immer das ist, es verliert an Kraft. Mit der achten Fontäne schwappt eine Wasserwelle über den Steg und dann … ist da nichts mehr. Nur noch der dunkle Himmel, der lila See und der schwarz-grüne Wald ringsherum …

… und Stille, die lediglich von den kleinen kräuseligen Wellen durchbrochen wird, die gegen das Kanu klatschen.

Schließlich richtet Iggy sich auf. »Mein Gott! Hast du das gesehen?« Aber weil ich nicht weiß, was überhaupt, bewege ich bloß wortlos die Lippen.

Jetzt ist nichts mehr auszumachen. Was immer diese Fontänen verursacht hat, muss etwa zehn Meter vorm Ufer gesunken sein, da wo das Wasser flacher und klarer ist.

Gemeinsam paddeln Iggy und ich zu der Stelle. Ob wir in der Dunkelheit was erkennen werden? Vielleicht wenn wir mit einer Lampe ins Wasser leuchten?

Als wir uns nähern, habe ich so ein Surren im Ohr. Wir ziehen die Paddel ein und lassen uns treiben. Ich lausche.

»Hör mal«, zische ich. »Das ist es! Das Geräusch habe ich auch gehört, als Tammy verschwunden ist.«

Da ist es wieder. Ein tiefes, kaum vernehmbares Surren, wie bei einer Biene hinter einer Fensterscheibe.

Mir kommt die Wasseroberfläche vorm Steg irgendwie anders vor, so seltsam glatt, als läge eine große Glasscheibe darüber. Aber vielleicht bilde ich mir das nur ein, im Licht des Halbmonds ist das nicht gut zu erkennen.

Langsam treibt das Kanu auf die Stelle zu. Auf einmal stoßen wir mit der Spitze irgendwo gegen. Im ersten Moment denke ich, es ist wieder ein Baumstamm, doch ich sehe keinen. Nicht mal einen Felsen. Ich schnappe mir das Paddel und ziehe es durchs Wasser, aber es gibt nur wieder einen Rums und wir kommen nicht weiter. Etwas ist uns im Weg. Dem Geräusch nach zu urteilen, ragt das Ding vor uns aus dem See, aber das ist eigentlich unmöglich, denn es ist nichts zu sehen, bloß Luft.

»Was ist das? Warum kommen wir nicht weiter, Tait? Wo stoßen wir gegen?«

Als das Kanu zum dritten Mal gegen das Nichts prallt, ändere ich die Richtung und paddle außen um dieses Dreieck aus glattem Wasser herum. Kurz vorm Ufer bremse ich ab.

»Gib mir mal den Laserköder«, sagt Iggy.

Vorsichtig, um nicht in die scharfen Haken zu greifen, nimmt er mir das spitze Ding ab und drückt den winzigen Knopf, mit dem man das Blinklicht einschaltet, das die Fische anlocken soll. Dann richtet er den Strahl vor uns auf das unsichtbare Ding.

»Ich glaub’s nicht. Sieh dir das an!«

Das grüne Licht strahlt auf den See hinaus, wird aber nach links abgelenkt und beschreibt eine Kurve, bevor es weiter geradeaus leuchtet. Das bleibt auch so, als Iggy den Laserköder hin und her schwenkt, das Licht wird von etwas gebrochen, das wir nicht sehen können.

Im Kanu liegt ein Stein, den werfe ich auf das Ding. Es macht pling. Der Stein springt zurück und landet im Wasser, als hätte ich eine Glasscheibe getroffen. Nur ist da keine Scheibe.

Ich werfe einen weiteren Stein. Wieder dieses Pling. Nun krame ich aus Iggys Anglertasche ein Bleigewicht hervor und schmeiße das, diesmal härter. Gleiches Ergebnis.

Iggy und ich sind schon kurz vorm Durchdrehen. Da wird aus dem Surren auf einmal ein Brummen, das Wasser wird aufgewirbelt und das unsichtbare Etwas bewegt sich auf unser Kanu zu.

»Schnell weg!«, brüllt Iggy.

Als wir beide nach demselben Paddel greifen, kentert das Kanu. In einer einzigen Bewegung werden Iggy und ich ins dunkle Wasser gekippt. Nicht mal mehr schreien können wir.

Die Kälte spüre ich nicht sofort, doch als ich untergehe, schlucke ich Wasser. Prustend tauche ich wieder auf, die schweren Klamotten ziehen mich hinab. Nur mit Mühe und Not kann ich den Kopf über Wasser halten. Da erst trifft mich die Kälte, sie raubt mir fast den Atem.

Immer wieder schnappe ich nach Luft und rufe: »Ig-Iggy!«

Wir tragen keine Rettungswesten, denke ich voller Angst.

Neben mir taucht erst ein roter Haarschopf und dann Iggys erschrockenes Gesicht auf.

»Ah … ah … Hier bin ich.« Er hält sich an mir fest. »Los … los, weg hier. Das Dingsbums ko-ko-kommt näher.« Vor Kälte kann er kaum sprechen. Er macht ein paar Züge aufs Ufer zu, hält inne. »W-wo ist Suzy?«

Da rumst es unter dem gekenterten Kanu.

»Suzy!«, schreit Iggy verzweifelt. Und bevor ich einen Ton rausbringe, ist er schon untergetaucht.

Die Sekunden verstreichen, meine Klamotten werden immer schwerer. Ich habe panische Angst.

»Iggy!«, brülle ich und schwimme im Kreis. »Iiiiiggyyyy!«

Da taucht Iggy endlich neben dem Kanu auf, mit ihm die verstörte Suzy. Ihr braunrotes Federkleid ist triefnass.

Ich bin näher am Steg als Iggy und mir fällt das Schwimmen auch leichter, denn ich habe ja nicht noch ein Huhn im Schlepptau. Schwerfällig hieve ich mich die glitschige Eisenleiter hoch. Als ich zurückschaue, sehe ich, dass das seltsame durchsichtige Etwas Iggy fast erreicht hat.

Iggy ist bloß noch fünfzehn Meter vom Steg entfernt. Ihm steht das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben, als er merkt, was vor sich geht.

»Schwimm, Iggy. Schwimm! Dreh dich nicht um. Schwimm einfach!«, brülle ich aus Leibeskräften.

Er dreht sich trotzdem um und erstarrt für einen Moment vor Schreck. Dann beginnt er mit seinem freien Arm, wild um sich zu schlagen, die Beine strampeln hilflos, Suzys Kopf hält er weiterhin über Wasser.

»Los, Iggy! Das schaffst du!«

Noch zehn Meter. Fünf. Wieder höre ich das Surren. Das Ding bewegt sich übers Wasser und kommt mit jedem Zug, den Iggy macht, näher. Ich lege mich flach auf den Stegboden und strecke ihm die Hand hin.

»Du schaffst es! Komm!«

Dann schreit Iggy auf, lässt Suzy los und verschwindet unter der schwarzen Wasseroberfläche.

5. Kapitel

Kurz darauf taucht Iggy wieder auf und kreischt: »Es … es … hat … hat …« Anscheinend kämpft er mit irgendetwas im Wasser, als würde er mit den Beinen festhängen.

Wie durch ein Wunder hat er noch immer seine Brille auf dem Kopf. Er schnappt sich Suzy und rudert einarmig zum Steg. Ich ziehe ihn rauf.

»Mein … mein Bein«, stöhnt er. »Mich hat’s … erwischt.«

Iggys Fahrradlicht liegt noch auf dem Steg. Ich hole es, und als der Strahl sein Bein trifft, weiche ich entsetzt zurück.

»Ist … ist es sehr schlimm?«, fragt er.

Ich nicke. Der Drillingshaken steckt tief in seiner Wade und hat durch das Strampeln schon ein großes Stück Fleisch rausgerissen. Iggy muss sich beim Schwimmen in seiner Angelschnur verfangen haben, die ihn jetzt wie einen Fisch am Haken hat. Ein rotes Rinnsal aus Blut und Wasser strömt zurück in den See. Als Iggy sich ans Bein fasst, stöhnt er erneut auf.

»Ruf meine Mutter an«, krächzt er.

»Klar, mach ich. Halte durch. Alles wird gut.«

Ich zerre mein Handy aus der klitschnassen Jeans.

So schlimm ist es auch wieder nicht, sage ich mir. Iggy wird schon nicht gleich hier auf dem Steg verbluten.

Ich versuche, das Handy einzuschalten. Nichts.

Handys und Wasser sind keine gute Kombi. Ich probiere es wieder und wieder.

»Wo ist denn deins?«, frage ich Iggy.

Sein Atem geht schnell und stoßweise. »Meine Mumeine Mutter hat es einkassiert.«

Das glaube ich jetzt nicht.

In meiner Verzweiflung springe ich auf und brülle: »Hilfe! Hilfe!« Iggy liegt flach auf dem Steg, er keucht und ächzt.

»Hört … hört dich ja doch keiner«, presst er hervor und stöhnt vor Schmerz auf.

»Ich renn hoch zum Weg. Wenn ein Wagen vorbeikommt, halte ich den an. Du wartest hier.«

Was denke ich mir bloß dabei? Da fährt doch nie einer lang, höchstens alle Jubeljahre mal ein Waldarbeiter. Kann ich in meiner Panik nicht mehr klar denken? Als ich halb die Böschung hoch bin, wird mir klar, dass ich einen Verletzten, triefnass und unterkühlt, ganz allein in der Dunkelheit zurückgelassen habe. Total daneben.

Nur kurz hüpfe ich unschlüssig von einem Bein aufs andere, dann kehre ich um und renne zurück zum Ufer. Ich sehe Iggy da unten am Steg liegen, genau wie ich ihn verlassen habe. Doch plötzlich … Ich bleibe stehen und schnappe nach Luft.

Aus dem Nichts ist noch jemand aufgetaucht.

Ich weiß, wie verrückt das klingt, wie nach einem Zaubertrick oder einem Spezialeffekt. Zuerst liegt da bloß Iggy. Und im nächsten Moment … steht da eine Gestalt vor ihm. Woher soll die denn gekommen sein? Es gibt doch nur diesen einen Weg zum Steg.

Als ich unten angelangt bin, höre ich diesen Jemand sprechen. Er oder sie steht mit dem Rücken zu mir und hat mich noch nicht bemerkt, auch Iggy scheint mich noch nicht gesehen zu haben. Na ja, er friert und blutet sich ja halb zu Tode, da hat er andere Sorgen. Immer noch flach atmend liegt er da, den Kopf Richtung See gewandt. Die Person gibt erst eigenartige quiekende Laute von sich. Dann kann ich auf einmal Worte ausmachen.

»Ich habe dich gehört. Ich helfe dir.«

Iggy fährt herum und weicht sofort erschrocken zurück, dabei glitscht er in seinem eigenen Blut aus.

Ich eile ihm zu Hilfe, vorbei an dieser Person, die einen zotteligen Pelzmantel zu tragen scheint. Mehr nehme ich im ersten Moment nicht wahr, denn ich habe nur Augen für Iggy.

»Alles okay?«, frage ich. »Tut mir leid, dass ich dich allein gelassen habe. Aber nun ist ja jemand da, der uns helfen kann, gut, was?« Iggy schielt durch die verschmierten Brillengläser an mir vorbei zu der Gestalt hinter mir. Keine Ahnung, warum er so panisch aussieht.

»Tai-Tait. Was … was …?« Iggy bekommt kaum einen Ton raus.

Seine Augen sind noch immer auf die fremde Person geheftet, also drehe ich mich um. Was ich da sehe, ist so schrecklich, dass ich nach hinten stolpere und der Länge nach hinfalle. Panisch krabble ich rückwärts bis ans Ende des Stegs. Ich kann den Blick nicht abwenden und will doch nur so schnell wie möglich weg.

Iggy verrenkt sich fast den Hals nach mir, kann aber nicht so rasch weg wie ich und liegt da, keuchend vor Angst.

Das Wesen hat eine schimmernde silberne Mähne und ein Gesicht. Ein menschliches Gesicht. Oder zumindest menschenähnlich. Es ist geformt wie ein Gesicht, nur ist es behaart, mit weit auseinanderstehenden blassen Augen und einer riesigen Nase, die wie bei einem Hamster zuckt.

Wäre ich noch ein bisschen jünger, hätte ich mir jetzt glatt in die Hose gemacht, solche Angst habe ich. Aber das tue ich zum Glück nicht.

Irgendwie ähnelt das Wesen einem Menschen. Es hat zum Beispiel zwei Arme und zwei Beine. Abgesehen von der langen Mähne auf dem Kopf ist der übrige Körper mit einem hellen gräulichen Flaum überzogen, wie aufgeplustert. Hinten hat es einen langen Schwanz, der sich geschmeidig wie der einer Katze bewegt. Also beides: Es ist irgendwie menschlich und irgendwie ganz und gar nicht menschlich.

Es sieht mich eine Weile mit seinen großen Augen an, bevor es sich zum Wald umdreht, die Nase in die Höhe reckt und schnuppert. Dann wendet es sich wieder um und macht einen Schritt auf uns zu. Als Iggy und ich uns wegducken, bleibt es stehen und schnüffelt erneut. Schließlich schüttelt es sich so heftig, dass sein Fell in Bewegung gerät. Es zieht die Oberlippe zurück und ein paar lange gelbe Zähne kommen zum Vorschein.

Jemand wimmert. Im ersten Moment merke ich nicht mal, dass ich das bin.

6. Kapitel

Iggy findet als Erster die Fassung wieder. »Wer … wer bist du?

Was willst du? Bitte, tu mir nicht weh.«

Wortlos schreitet das Wesen zu uns und wir weichen weiter von ihm ab, bis wir am Ende des Stegs angelangt sind. Von da geht es jetzt bloß noch in den See. Sogar Suzy hat den Rückzug angetreten, nachdem sie sich das Wasser aus dem Gefieder geschüttelt hat.

Das Wesen beugt sich vor, sodass es mit dem Kopf nicht mehr als eine Armlänge entfernt ist. Erst schnüffelt es und dann grunzt und quiekt es wieder, bevor es sagt: »Du hassst dirrr ja schon selbssst wehgetan.«

Seine Stimme klingt eigenartig, schrill und kehlig zugleich. Das Etwas spricht scharf und überdeutlich wie die alte Sheila aus dem Dorf. Vielleicht hat es die Sprache erst neu erlernt. Mit seinem dünnen, haarigen Finger zeigt es auf Iggys Wunde.

Iggy bringt vor lauter Angst keinen Ton heraus.

»Sssoll ich helfen?«, fragt es nach kurzem Schnüffeln und Quieken.

Sein Atem ist wie bei einem Hund, sauer und ein bisschen fischig. Von Zeit zu Zeit leckt es sich die Lippen mit einer langen grauen Zunge.

Es will uns helfen? Das bezweifle ich. Ich überlege, ob ich aufspringen, es ins Wasser stoßen und dann hoch zu den Rädern stürmen sollte … Nur ist Iggy nicht in der Verfassung wegzurennen. Ich müsste ihn dann diesem … Geschöpf überlassen. Das würde er mir niemals antun, ganz sicher nicht.

Iggy blickt das Wesen fest an und nickt.

Wir zucken zusammen, als das Geschöpf beide Hände hebt, um eine Tasche vom Rücken zu nehmen, einen kleinen Rucksack.

Das ist also mit Tammy passiert, schießt es mir durch den Kopf. Jetzt sitzen wir in der Falle. Das ist kein Monster, sondern ein Mensch. Ein Verrückter in einer schrägen Verkleidung, gleich zieht er ein Messer oder eine Knarre …

Ich sehe ganz genau hin. Wenn das ein Kostüm ist, wo sind dann die Nähte? Gibt es da irgendwo einen Reißverschluss? Die Nase ist doch nie im Leben echt! Im Fernsehen habe ich schon mal gesehen, wie Visagisten solche künstlichen Teile aus Latex ankleben. Bloß führt jemand, der hier im Dunkeln so rumläuft, doch nichts Gutes im Schilde. Zu Halloween wär’s okay, aber das ist ja schon zwei Monate her.

Langsam zieht das Wesen einen Stock oder etwas Stockähnliches aus dem Rucksack, eine Art Besenstiel, glatt und dunkel, ungefähr dreißig Zentimeter lang. Es hält ihn in der Faust und betrachtet ihn, während Iggy und ich vor Kälte und blanker Angst schlottern. Iggy nimmt meine Hand, ich drücke seine. Wenn ich schon sterben muss, dann nicht allein.

»Vielleicht funktioniert es, vielleicht nicht«, sagt der Kostümierte (inzwischen bin ich überzeugt, dass sich da jemand verkleidet hat). »Unsere Zellstrrruktur ist fast identisch. Strrreck dein Bein ausss.«

Iggy weicht zurück, zieht das Bein zu sich heran.

»Dasss tut nicht weh.« Das Wesen wartet. »Losss jetzt!«

Langsam wie eine Schildkröte, die unter ihrem Panzer hervorkommt, streckt Iggy das blutige Bein aus. Er wimmert ängstlich.

Ein heiseres Schnüffeln ist zu hören, dann: »Licht!«

Das Etwas sieht mich an.

Ich greife nach der Fahrradlampe. In Iggys Wade klafft nicht nur eine lange Wunde, der Haken steckt auch noch tief im Fleisch. Blut rinnt auf den Steg.

Das Wesen kommt näher und schwenkt den Stock über Iggys Bein. Vor unseren Augen kommt die Blutung zum Stillstand und die Wunde schließt sich. Der Drillingshaken mit der Angelschnur wird von dem heilenden Fleisch herausgeschoben und landet mit einem Plumps auf den Planken. Die Kruste wird erst braun, dann schwarz, alles innerhalb von etwa dreißig Sekunden. Zum Schluss verstaut das Wesen den Stock wieder im Rucksack und schnippt mit seinem langen Finger die Kruste weg. Darunter kommt frische rosa Haut zum Vorschein.

Als es sich aufrichtet, schaue ich mir seine bloßen Füße an. Sie sind haarig, garantiert keine künstlichen Überzieher. Er – oder sie? – ist zierlich, nicht winzig, aber auch nicht so groß wie ich. Das Wesen läuft nicht gekrümmt und ist auch sonst nicht so gruselig wie Gollum aus Der Herr der Ringe, gar nicht. Und obwohl es splitternackt ist, scheint es sich nicht zu schämen.

Ohne den Blick von dem Geschöpf zu nehmen, sagt Iggy zu mir: »Das ist ein Mädchen.«

»Woher weißt du das?«

»Tss, komm schon, Tait. Keine, ähm … Jungsteile.«

War mir gar nicht aufgefallen, aber er hat recht. Jetzt ist es mir richtig peinlich, es oder besser sie so anzustarren. Ich werde rot.

In der kühlen, windstillen Luft nehme ich ihren Geruch wahr. Verstopftes Abflussrohr? Saure Milch? Ohrenschmalz? All diese Gerüche zusammen ergeben einen satten fauligen Gestank. Und es ist nicht bloß ihr Atem.

»Puh, Iggy. Die stinkt vielleicht!«, flüstere ich.

Iggy hat sich die Mütze abgenommen und hält sie vor die Nase.

»Ich hatte schon dich im Verdacht«, sagt er mit erstickter Stimme.

Langsam rappeln Iggy und ich uns auf, dann stehen wir drei schweigend im Kreis und sind einfach nur baff. Iggy bewegt das frisch verheilte Bein.

Dann setzt er sich mit einem Ruck die Mütze wieder auf und klopft sich zweimal auf die Brust. »Ich, Iggy.«

Die Kreatur blinzelt ein paarmal.

Wetten, dass sie denkt: Was redet der wie ein Schwachkopf?

Trotzdem eifere ich Iggy nach und zeige auf mich: »Ich, Ethan.«