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Ein Kinderroman ab 10 Jahren um Mut, Geschwisterzusammenhalt und die Kraft der Freundschaft – tiefsinnig, berührend und fesselnd erzählt von Ross Welford Als Malcolm und sein Bruder Seb in den Besitz zweier »Trauminatoren« gelangen, beginnt für sie ein unglaubliches Abenteuer. Schnell finden sie heraus, dass sie ihre Träume mithilfe dieser Maschinen selbst bestimmen und sich sogar gegenseitig darin besuchen können. In einen Vanille-See springen, über die höchsten Baumwipfel schweben, mit spanischen Galeonen über die Ozeane segeln – nichts scheint unmöglich. Doch eines Morgens wacht Seb nicht wieder auf. Und Malcolm hat nur eine Chance, um seinen kleinen Bruder zu retten: Er muss zurück in die Welt der Träume, um Seb aus den Fängen einer Horde Steinzeitmenschen zu befreien. Und dabei beginnen die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit mehr und mehr zu verschwimmen …
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Seitenzahl: 345
eISBN 978-3-649-67125-1
© 2023 für die deutschsprachige Ausgabe
Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG, Hafenweg 30, 48155 Münster
Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise
First published in English in Great Britain by HarperCollins Children’s Books, a division of HarperCollinsPublishers Ltd under the title: When we got lost in Dreamland
Text Copyright © Ross Welford 2021
Translation © Petra Knese 2022 translated under licence from HarperCollinsPublishers Ltd
Ross Welford asserts the moral right to be identifie d as the author of this work.
Aus dem Englischen von Petra Knese
Umschlagillustration © Verena Körting
Lektorat: Jutta Knollmann
Satz: Sabine Conrad, Bad Nauheim
www.coppenrath.de
Die Print-Ausgabe erscheint unter der ISBN 978-3-649-64082-0.
Wenn ein Mensch im Traum das Paradies durchwandern könnte und bekäme als Zeichen dafür, dass er wirklich da war, eine Blume, und er wachte mit eben dieser Blume in der Hand auf – tja, was dann?
– Samuel Taylor Coleridge (1772–1834)
Auf meinem Arm sieht man immer noch die Bissspuren eines riesigen Krokodils namens Friedbert, das es außer in meiner Fantasie nie gegeben hat. Tja, was sagt ihr dazu?
– Malcolm Gordon Bell (11 Jahre)
Bevor alles losging
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Kapitel 82
Kapitel 83
Kapitel 84
Kapitel 85
Kapitel 86
Kapitel 87
Kapitel 88
Kapitel 89
Danksagung
Erst einmal muss ich euch von einem schlimmen Traum erzählen. Wobei … es ist mehr als nur ein Traum. Es ist zugleich auch wirklich. Verwirrend, ich weiß. So richtig habe ich das auch nie verstanden.
Als ich klein war, habe ich immer wieder von einem Krokodil geträumt, das über die Bahngleise kam und mich durch den Garten gejagt hat. (Bevor Dad uns verlassen hat, haben wir am Bahndamm gewohnt. Da war mein Bruder noch ein Baby.)
Dann bin ich aufgewacht und habe nach Mam geschrien. Sie kam angelaufen und sagte: »Sch! Du weckst Sebbie noch auf. Du hast nur schlecht geträumt.« Sie hat sich zu mir aufs Bett gesetzt, mir übers Haar gestrichen und dieses Lied gesungen. Das ging so: »Let it be, let it be, let it be, let it be …«
Aber das Krokodil ließ mich einfach nicht in Ruhe.
Irgendwann hatte Mam die Idee, mir ein Stoffkrokodil zu kaufen und ihm einen lustigen Namen zu geben, so kamen wir auf Friedbert. »Einer, der Friedbert heißt, kann gar nicht zum Fürchten sein«, meinte sie.
Eines Nachts, da war ich vielleicht sechs, träumte ich wieder, dass das Krokodil mich durch unseren alten Garten verfolgt. Doch diesmal blieb ich einfach stehen, deutete auf das Krokodil und rief: »Friedbert!«
Und in Sekundenschnelle begann das Ungeheuer, sich vor meinen Augen zu verwandeln. Im Star-Wars-Schlafanzug stand ich da, in unserem Garten, und sah gebannt zu, wie sich die hornige, schuppige Haut in das weiche Plüsch meines Schmusetiers formte und aus den rasiermesserscharfen gelben Zähnen weiße Filzdreiecke wurden. Das Krokodil schrumpfte zu einem Plüschtier zusammen.
In meinem Traum.
Mam sagt, am nächsten Morgen bin ich mit Friedbert im Arm aufgewacht. Kurz darauf hörten die Albträume auf.
Das war das erste Mal, dass ich einen Traum beeinflusst habe, wie mir später klar geworden ist. Danach kam der Trauminator ins Spiel und Friedbert kehrte zurück, also der richtige Friedbert, nicht das Plüschtier. Mein Bruder Seb war auch dabei, als dieses Untier aus dem Kofferraum des Wagens plumpste, der dem größten Bösewicht aller Zeiten gehörte.
Da hätte ich aufhören müssen. Habe ich aber nicht.
Und so bin ich an einen Ort geraten, den ihr euch selbst mit der lebhaftesten Fantasie nicht vorstellen könnt, so groß, geheimnisvoll und gruselig. Die meisten würden wohl Land der Träume dazu sagen. Und genau dort habe ich Seb verloren.
Wut und Angst, das ist das Erste, was ich spüre, als ich wieder in diesen Traum eintauche.
Wut, weil das eigentlich gar nicht hätte passieren dürfen, und Angst, weil ich jetzt doch wieder hier bin. Das ist alles Sebs Schuld. Wieso hat er nicht auf mich gehört?
Dabei lief doch gerade alles ziemlich gut zwischen uns. Seb und ich hatten seit Wochen nicht gestritten. Mam war gut drauf. Ich hatte in der Schule Freunde gefunden. (Na ja, eine Freundin, ihr werdet sie noch kennenlernen, aber immerhin …) Und Dad hatte nach Ewigkeiten auch mal wieder angerufen.
Ich sehe mich um. Wieder einmal stehe ich vor dieser Höhle. Über mir am wolkenlosen Himmel kreist eine fette Möwe. In der Ferne, am Strand, mampft dasselbe wollige Mammut-Pärchen träge an demselben überdimensionalen Geburtstagskuchen wie die letzten Male.
Warum muss Seb immer alles vermasseln? Das regt mich echt auf!
Einfach aufwachen, das wäre doch jetzt die richtige Strafe für ihn, beschließe ich.
»He, Stinksocke!«
Als ich mich umdrehe, tritt mein kleiner Bruder in seinem grünen Torwarttrikot aus der dunklen Höhle.
»Was ist passiert?«, blaffe ich ihn an. »Ich hatte die Trauminatoren doch abgeschaltet.«
»Weiß ich. Aber warum?«, quengelt er. »Ich konnte nicht schlafen, da hab ich sie wieder angemacht. Unser Schlafrhythmus ist irgendwie aus dem Takt.«
Unfer Flafrhythmuf ift irgendwie auf’m Takt. Nicht so leicht auszusprechen, wenn einem vorn drei Milchzähne fehlen. Jedenfalls schreibe ich es nicht jedes Mal extra so hin, wenn Seb was sagt, trotzdem wisst ihr jetzt, dass er sich anhört wie ein Gartensprenger.
Ich reiße mich zusammen, um ihn nicht gleich anzuschreien. »Mann, Seb, das ist gefährlich! Da stimmt was nicht. Lass uns lieber …«
»Womit stimmt was nicht?«
»Mit den Trauminatoren. Überhaupt … mit allem …«
»Menno, Malky. Du hast es aber versprochen!«
Habe ich gar nicht.
»Seb … glaub mir doch, da stimmt was nicht.«
Er stellt sich taub. »Wo sind denn die anderen?«, fragt er schniefend. »Die sind hier gewesen. Ist noch nicht lange her.« Er zeigt auf die Feuerstelle, wo noch Glut schwelt. Ein schneidender Wind zerrt an den Seegrasbüscheln, die wie grau-grüne Flaggen am Höhleneingang zum Trocknen hängen.
»Die sind los, Essen klauen«, entgegne ich mürrisch. »Du kennst doch den Ablauf.« Ich seufze.
Ein letzter gemeinsamer Traum? Na gut, warum nicht? Danach ist aber endgültig Schluss.
»Wie? Ohne uns?«, fragt Seb. »Das ist gemein. Komm schon, Malky. Wir können ja jederzeit aufwachen.«
Irgendwo blinkt ein Warnsignal bei mir, vielleicht kommt es von meinem wachen Bewusstsein, wo auch immer es gerade steckt. Wie war das noch gleich? Die Welt in deinem Kopf ist größer als die Welt da draußen, Malky …
»Malky!«, brüllt Seb. »Komm schooooon!«
Ich gebe mich geschlagen. In einer Hinsicht hat er ja recht, wir können den Traum jederzeit verlassen. Sobald Friedbert auftaucht, machen wir einen Abgang.
»Na schön«, sage ich schnell, bevor ich es mir anders überlegen kann. »Wir holen die anderen noch locker ein. Die sind höchstens bis zum See gekommen. Aber eines musst du mir versprechen: Wenn ich sage, wir verlassen den Traum, verlassen wir den Traum. Okay?«
»Okay«, antwortet Seb. Keine Ahnung, ob er mir überhaupt zugehört hat.
Jeder von uns schnappt sich einen Speer mit scharfer Steinspitze und eine Holzkeule, an der mit Lederbändern ein faustgroßer Stein festgeschnürt ist, dann traben wir los.
Am Ende vom Strand – er sieht genau aus wie unser Strand in Tynemouth (nur eben mit Mammuts) – laufen wir den Hügel hoch. Von da können wir die weite Ebene überblicken, wo in etwa zehntausend Jahren an einer breiten Straße ein Pub mit Live-Musik und Apartmenthäuser stehen werden. Jetzt ist da gar nichts, jedenfalls nichts von Menschen Gemachtes, außer einem altmodischen Luftschiff, das wie ein riesiger Goldfisch am Himmel schwebt. Ich habe keinen Schimmer, was es da macht. Solche seltsamen Sachen gibt es in Träumen immer wieder, daran gewöhnt man sich.
Von unseren Freunden weit und breit keine Spur.
»Bereit für einen Supersprint?«, frage ich.
Seb schenkt mir ein Zahnlückenlächeln, und im nächsten Augenblick sausen wir über die windige Ebene wie zwei Sprinter, die sich auf der Zielgeraden einen erbitterten Wettkampf liefern. Eine Weile sind wir gleichauf, dann schiebe ich mich eine Nasenlänge vor, doch als der Soßensee in Sicht kommt, schließt Seb auf. Kurz darauf zieht er an mir vorbei. Und bleibt auch in Führung, als wir die Vanille-Schlucht hinunter zum grünen Minzcremefluss (ein Traum, schon vergessen?) rennen und über die Felsen im Fluss zur anderen Seite hüpfen.
Ich lasse ihm einen deutlichen Vorsprung, damit er sich in Sicherheit wiegt. Mit größeren Schritten kann ich ihn leicht wieder einholen, aber erst kurz vor Schluss, damit ich knapp gewinne, sonst will er nie wieder mit mir um die Wette laufen.
Als wir uns dem Soßensee nähern und ich unsere Freunde am Ufer ausmachen kann, strenge ich mich ein wenig mehr an. Mache größere, meterlange Schritte, stoße mich kräftiger ab … doch Seb führt immer noch. Ich lasse die Waffen fallen, setze die Arme ein, strecke das Kinn vor und laufe schneller. Und schneller.
Doch es passiert schon wieder: Mein Traum macht nicht, was ich will.
Was ist da los? Ich hole überhaupt nicht auf.
Keine Ahnung, wie schnell wir sind, jedenfalls fliegt der Boden nur so unter meinen Füßen davon, trotzdem komme ich nicht an Seb heran.
Das dürfte eigentlich gar nicht sein. Ich kapiere es nicht.
Auf einmal sind Kobi und die anderen direkt vor uns und ich kann nicht rechtzeitig bremsen. Ich habe so viel Tempo drauf, dass ich an ihnen vorbei in den eiskalten See rase. Ich stürze kopfüber hinein und schnappe beim Auftauchen nach Luft. Die anderen lachen sich kaputt über mich, während Seb umherspringt und die Arme triumphierend in die Luft reißt.
Die Kälte der Soße hat mir einen Schock versetzt.
Doch noch größer ist der Schock darüber, dass Seb mich in meinem Traum geschlagen hat.
Als ich schon am flachen Ufer bin, mustere ich unsere Freunde: Da ist die kleine Erin, die alte Farook und natürlich Kobi, der Höhlenjunge, der haargenau so aussieht wie in Sebs Bilderbuch. Im Grunde ist er eine sprechende Zeichnung auf zwei Beinen. Kobi trägt ein Tierfell, das nur eine Schulter bedeckt, in der Hand hält er genauso eine Keule, wie ich sie gerade weggeworfen habe.
Beim Anblick des Fells friere ich noch mehr, denn ich habe nur einen klatschnassen Schlafanzug an. Ich mache die Augen zu, sage: »Tausche Schlafanzug gegen Fell«, und warte.
Nichts geschieht. Ich versuche es erneut, aber ohne viel Hoffnung.
Seb hat davon nichts mitbekommen. Er steht ein Stückchen entfernt von mir und unterhält sich mit den anderen. Als ich ihn rufe, schlendert er zu mir herüber, glühend vor Stolz, weil er mich besiegt hat.
»Was willst du, Loser?«, fragt er großspurig. »Frierst du nicht?«
»Seb, es geht schon wieder los.«
»Was meinst du?«, fragt er.
»Ich hab dir doch erzählt, dass der Traum irgendwann nicht mehr macht, was ich sage. Schau mal!« Ich zeige zum Himmel. »Werde grün!« Der Himmel wird nicht grün. Ich will Seb damit keine Angst machen, deshalb sage ich schnell: »Wollen wir nicht lieber aufwachen?«
Seb zieht die Nase kraus und schmollt. »Will ich aber nicht. Was hast du bloß, Malky? Du hast doch selbst gesagt, dass wir nicht viel Zeit haben. Ich will wenigstens noch zu der Stelle kommen, wo ich auf dem Mammut reite!«
Seb ist so gut gelaunt und wahrscheinlich hat er ja auch recht. Selbst wenn ich nicht mehr alles unter Kontrolle habe, den Traum verlassen können wir jederzeit. In ungefähr zwanzig Minuten wachen wir ganz normal in unseren Betten auf. Und der Schlafanzug trocknet auch gleich wieder.
Ich versuche mir einzureden, dass alles gut ist. Let it be …
»Komm schon, Malky«, sagt Seb. »Wir wollen doch jetzt was zu essen ergattern. So wie im Buch!«
»Schon gut, du hast gewonnen«, seufze ich.
Ich trete an die Felskante, wo der See in die Tiefe stürzt – ein Wasserfall wie im Kobi-Buch. Jetzt atme ich tief durch die Nase und richte sie direkt auf den Horizont.
Dort verleiht die untergehende Sonne dem Soßensee einen rötlichen Glanz und genau aus der Richtung kommt der Duft von geröstetem Fleisch. Mammut? Ich wende mich wieder den anderen zu. »Fleisch«, sage ich. Kobi verzieht den Strich-Mund zu einem breiten Grinsen und streckt vor Freude die Zunge aus. Er fürchtet sich nicht vor dem, was da kommt. Tut er nie. Neben ihm steht Erin auf und will der alten Farook hochhelfen, doch die stemmt sich mit leisem Ächzen allein auf die Beine.
(Die meisten Namen hat sich übrigens Seb ausgedacht, Erin heißt ein Mädchen aus seiner Klasse.)
Hinter den Bäumen erhebt sich ein großer Felsen und dahinter schimmert matt ein Feuer.
Von einem anderen Stamm Fleisch zu stehlen, ist riskant. In Sebs Buch geht alles gut aus: Der Stamm teilt das Fleisch am Ende mit Kobi und seiner Familie, weil sie hungrig sind, dann darf Kobi auf einem Mammut reiten. So weit sind wir im Traum bislang noch nicht gekommen, irgendwas geht immer vorher schief. Deshalb will Seb den Traum auch nicht verlassen, er möchte unbedingt mal auf dem Mammut reiten. Kann ich verstehen.
Ich kaure mich hinter den Felsen, hebe einen Erdklumpen auf und rieche daran. Hundekacke, igitt!
»Hunde«, flüstere ich und wische mir die Hände am Gras ab. Über Erins Gesicht huscht Angst. Neu sind uns die Hunde nicht. Der andere Stamm zieht mit ihnen umher. Sie reden mit ihnen, geben ihnen Namen und Kommandos, so wie wir im richtigen Leben auch. Auf Befehl greifen die Hunde an. Selbst im Traum sind sie noch Furcht einflößend.
Plötzlich knurrt es hinter mir. Erschrocken drehe ich mich um: vor mir ein alter schwarzer Hund mit rotbraunen Flecken und grauer Schnauze. Wie zum Sprung senkt er den Kopf. In der tief stehenden Sonne glühen seine Augen bernsteinfarben. Er hebt eine Pfote, die von einer Verletzung verunstaltet ist, und knurrt erneut.
Da kommt noch ein Hund und noch einer. Hunde, wohin wir uns auch wenden. Seb, Kobi, Erin, Farook und mir ist der Rückweg abgeschnitten.
Wir sitzen in der Falle.
Irgendwo raschelt es, der Schatten einer brennenden Fackel fällt auf uns. Und da sehen wir sie: fünf Männer mit aufgerissenen Mäulern, stinkenden Fellen um die Hüften, alle größer als wir, viel größer. So groß, wie Männer nur im Traum sein können.
Jetzt ist vielleicht der geeignete Moment aufzuwachen.
Ich suche Blickkontakt zu Seb.
Als einer der Männer pfeift, machen die Hunde zwei Schritte auf uns zu und knurren noch lauter. Erin neben mir wimmert vor Angst. Nach einem weiteren Pfiff rücken uns die Hunde noch dichter auf die Pelle und zwingen uns zurückzuweichen, direkt auf den größten Mann zu, einen richtigen Hünen. Auf seinen Befehl hin bleiben die Hunde stehen. Der Hüne grinst und nickt. Ohne sich umzuschauen, sagt er etwas zu den anderen in seiner Sprache, woraufhin sie lachend die Speere auf uns richten. Einer hat auch einen kleinen Bogen dabei. Als er ihn spannt, knarzt die Sehne.
Der Hüne, offenbar ihr Anführer, steht mit drei gewaltigen Schritten vor mir. Seine Fackel stinkt nach verbranntem Fett, um die Spitze ist irgendwas gewickelt, das gehörig knistert. Als er mich damit ableuchtet, weiche ich zurück.
»Seb«, raune ich. »Mach dich bereit zum Aufwachen. Die Sache gefällt mir nicht.«
Ich halte dem Blick des Anführers stand. Seine großen Augen sind wie die der anderen Männer fast schwarz, die Augenbrauen darüber ein einziger buschiger Balken und unter der Hakennase wuchert ein struppiger Bart.
Auf einmal hält er mir die Flamme der Fackel direkt vors Gesicht und fährt mir mit der Hand über die Brust bis zum Kinn. Vor Angst quieke ich.
»Seb, der hat mich angefasst. Nichts wie weg hier!«
Der Mann knurrt leise, dann sagt er drei Worte, diesmal in unserer Sprache, bei denen mir das Blut in den Adern gefriert.
»Schnappt sie euch.«
Während seine Gefährten zustimmend murmeln und nicken, lässt der Anführer die Fackel sinken, sodass ihr Schein nun auf Seb trifft. Im nächsten Moment hat er meinen kreischenden Bruder auch schon am Schopf gepackt und ihn zu seinen Männern gezerrt, die ihn brutal festhalten.
»He, aufhören!«, brüllt Seb. Wir sehen uns an und wissen, was zu tun ist.
»Aufwachen!«, rufen wir gleichzeitig.
Aber es passiert nichts.
»Nein!«, schreit Erin und macht einen Schritt auf die Männer zu. Sofort richten sie ihre Speere auf sie. Der Anführer ruft die Hunde zu sich. Gehorsam scharen sie sich um ihn und lassen uns dabei keine Sekunde aus den Augen. Dann fesselt er Sebs Hände mit einem derben Seil aus Efeuranken. Dabei entdecke ich an seinen muskulösen, haarigen Oberarmen ein verwaschenes Hakenkreuz-Tattoo.
Wie ist das möglich?
Jetzt bekomme ich richtig Angst.
»Aufwachen!«, rufen Seb und ich wieder im Chor.
Der Anführer bleckt die Zähne, lässt von Seb ab und stellt sich so dicht vor mich, dass er mir beim Lachen seinen stinkigen Atem ins Gesicht bläst.
»Zu spät«, sagt er. »Du hast ja alle Warnungen in den Wind geschlagen! Versuch’s ruhig noch mal, du neuzeitlicher Schlafanzug-Junge, haha!«
»Aufwachen!«, brülle ich nun zum dritten Mal. Als das nicht hilft, atme ich ganz tief ein und puste ihm die Luft nach ein paar Sekunden mit lautem Ha! ins Gesicht.
Er schnuppert. »Zahnpasta, was?«, höhnt er. »Trotzdem bist du noch immer hier. Wie beruhigend. Jedenfalls für mich. Willkommen in meiner Welt, in der Platz ist, für alles, was du dir so vorstellen kannst. Nur kann ich mir auch was vorstellen! Pech für dich.« Er baut sich zu voller Größe auf – wirklich gewaltig – und befiehlt seinen Gefährten: »Schafft den Kleinen weg!«
»Nein, Malky! Hilf mir! Weck mich auf!«
»Kann ich nicht, Seb! Halt die Luft an! Aufwachen!«
Seb bläht die Wangen, doch weiter kann ich nicht hinsehen, denn jetzt kommt der Hund mit der verletzten Pfote wankend auf mich zugestürmt, und mir bleibt nichts anderes übrig, als wegzulaufen.
Das ist doch bloß ein Traum, sage ich mir immer wieder. Was kann schon passieren? Seb wacht bald von allein auf.
Atemlos hetze ich zwischen den Bäumen hindurch, der Hund mir nach, erst an den Klippen werfe ich einen Blick über die Schulter und sehe das riesige Biest mit der grauen Schnauze auf mich zurasen. Unter mir ist …
… nichts. Überhaupt nichts.
Weder Meer noch Felsen noch eine Schlucht, nicht einmal etwas traumhaft Albernes wie ein Trampolin oder ein Laubhaufen, bloß eine verschwommene graue Leere wie beim Fernseher, wenn kein Kanal eingestellt ist. Als wäre dem Traumland der Saft ausgegangen. Beim nächsten Blick zurück segelt der Hund mit ausgestreckten Läufen auf mich zu, trifft mich am Oberkörper und wir stürzen beide in dieses große graue Nichts …
Mich überfällt ein Zittern, ein richtiges Schlottern mit Zähneklappern. Ich werde von Krämpfen geschüttelt, mein Magen zieht sich zusammen, und ich habe das Gefühl, als müsste ich mich gleich übergeben, und schon halte ich mich an einer weißen Toilettenschüssel fest und kotze.
Wieder.
Und wieder.
Keine Ahnung, wie lange ich da auf dem Badezimmerboden hocke und mich in meinem noch immer nassen Schlafanzug über das kühle Porzellanbecken beuge.
Irgendwann beruhigt sich mein Atem wieder. Ich spucke noch den letzten Rest in die Schüssel, spüle und drehe mich blitzschnell um, nur für den Fall, dass das Krokodil wieder auftaucht.
Tut es nicht. Ich träume nämlich nicht mehr.
Ich boxe gegen die Wand.
Aua!
Ich befinde mich zu Hause in unserem Badezimmer. Ob ich schweben kann? Ich springe hoch, lande aber mit der üblichen Wucht am Boden. Ich bin wach.
Ich träume … ganz bestimmt … nicht!
Noch immer zittere ich vor Angst, ansonsten ist alles, wie es sein soll. Meinem Spiegelbild werfe ich ein zerknittertes Lächeln zu, dann spüle ich mir den Mund und ziehe den Schlafanzug aus.
Jetzt reicht es! Nie wieder! Das war der pure Horror. Ich bin total sauer auf Seb und auch auf mich, dass ich mich mal wieder habe breitschlagen lassen. Ist sowieso gleich Zeit zum Aufstehen.
»Seb!«, fauche ich, als ich wieder in unserem Zimmer bin. »Seb. Hey, Seb! Wach auf!«
Da liegt er in seinem grünen Torwarttrikot und wirft den Kopf hin und her. Auf sein Gesicht fällt das bläuliche Licht der Trauminatoren, die ich vor dem Einschlafen aus- und die Seb später einfach wieder eingeschaltet hatte.
Wie das nervige kleine Brüder eben so machen.
»Seb, hör auf mit dem Scheiß! Seb? Sebastian. Sebastian! Wach auf!« Ich schüttle ihn kräftig. »Seb! Seb!«
Er wacht einfach nicht auf. So als wäre er tot, bloß dass er noch atmet. Ich schüttle ihn wieder, gebe ihm sogar Ohrfeigen.
»Wach auf!«
Mir wird schlecht. Wenn ich mich nicht schon übergeben hätte, würde ich es jetzt tun. Ich packe ihn an den Schultern und schüttle ihn wieder. Nichts. Ich rufe lauter, ohrfeige ihn noch fester, zu fest. Auf seiner Wange sind die roten Abdrücke meiner Finger zu sehen.
»Tut mir leid, das wollte ich nicht«, schluchze ich. »Aber wach doch endlich auf!«
Vom Flur höre ich Mam verschlafen rufen: »Jungs? Malky? Was ist da los?«
Ich sinke zurück ins Bett und vergrabe das Gesicht in den Händen. Mam kommt herein.
Was habe ich bloß getan?
Kann man sich von seinem kleinen Bruder scheiden lassen? Blöde Frage, ich weiß, aber bis vor Kurzem wollte ich das noch. Wie das praktisch aussehen soll, hatte ich mir dabei nicht überlegt. Wir können ja schlecht in verschiedenen Häusern leben, oder? Natürlich könnte Seb bei Dad und seiner Freundin wohnen und an ihrem Fruchtparfüm ersticken, aber da würde er bloß jammern: »Das ist unfair!«, und dann würden Tränen fließen und am Ende würde ich wieder den Kürzeren ziehen und säße bei Dad und Melanie in Middlesbrough fest.
Auf dem Fensterbrett in der Küche steht ein gerahmtes Foto von Seb und mir, da habe ich den Arm um ihn gelegt. Das Foto wurde in unserem alten Garten aufgenommen. Hin und wieder sieht Mam es an, macht ein trauriges Gesicht und seufzt: »Früher wart ihr ein Herz und eine Seele.« Danach versuche ich eine Weile, nett zu Seb zu sein, aber er macht es einem wirklich schwer.
Und dann habe ich ihn einmal geschlagen. Okay, okay … aber hört erst einmal zu, wie es dazu kam. Es war nämlich nicht meine Schuld. Habt ihr schon mal jemanden geschlagen? Ich meine, so richtig vor Wut? Etwa wenn euch einer den Controller aus der Hand reißen will, während ihr gerade dabei seid, bei Street Warrior das nächste Level zu erreichen?
Mit einem Controller kann man ganz leicht härter zuschlagen als beabsichtigt. Das könnt ihr mir glauben.
Mam und Dad hatten sich kurz vorher getrennt und wir waren in das winzige Haus in Tynemouth gezogen. Mam hatte versucht, es uns schmackhaft zu machen. Eltern eben!
»Hier haben wir es besser, Jungs!«, meinte sie, bloß weil Tynemouth im Vergleich zu Byker etwas schicker ist. Aber das war eine Mogelpackung. In unserem alten Haus hatte ich mein eigenes Zimmer, jetzt musste ich es mir mit einer popelnden Heulboje teilen. So hatte ich mir den Aufstieg nicht vorgestellt. Und als ich mich beschwert habe, dass alle meine Freunde in Byker wohnen, sagte Mam nur: »Wenn sie echte Freunde sind, dann kommen sie dich auch besuchen, Malky.«
Es kam kein einziger. Wir haben kein Auto, und Mam hat mich nicht allein mit der Metro fahren lassen, und als ich mit zehn endlich durfte, hatte ich Zack, Jordy und Ryan schon Ewigkeiten nicht mehr gesehen.
Ich musste also auf eine neue Schule, fast zwei Kilometer von unserem Haus entfernt, in der die Kinder anders sprachen und im Sommerhalbjahr Rugby statt Fußball spielten (Rugby nervt). Aber damit wäre ich schon klargekommen.
Mam, Valerie, die Schulpsychologin, und Mrs Farroukh, die Rektorin, glaubten, dass meine »Verhaltensauffälligkeiten« von der Trennung und dem Umzug herrühren. Stimmt aber nicht.
Es ist alles Sebs Schuld. Und ohne ihn wäre auch die Sache mit den Träumen nicht schiefgegangen und all die schlimmen Dinge – das mit dem Krokodil, der Steinzeit und Adolf Hitler – wären nie passiert. Er wäre ganz normal aufgewacht, so wie jeden Morgen.
Und der Trauminator? Na gut, an dem war ich selber schuld, aber ohne Seb wäre ich garantiert nicht in diesen ganzen Schlamassel geraten.
Wenn ich es euch erkläre, versteht ihr es bestimmt. Dazu muss ich zu dem Moment zurück, als ich die Trauminatoren gefunden und zusammen mit Seb das Land der Träume entdeckt habe.
Aber ihr dürft mich nicht gleich verurteilen, okay? Ihr habt bestimmt auch schon mal was Verbotenes getan. Und mit einem nervigen kleinen Bruder an der Seite wird alles gleich noch viel komplizierter.
So, nachdem wir das geklärt hätten, kann’s losgehen.
Es ist Anfang September. Ein Tag, bevor die Schule wieder beginnt. Kez Becker und ich befinden uns in der Gasse hinter den großen Reihenhäusern, die einen Blick auf die Tyne haben. Außer uns ist dort niemand unterwegs. Es ist so gegen sieben und noch immer ziemlich hell. Unter uns gesagt, mag ich Kez nicht besonders, aber sie ist mal eine Abwechslung zum ewig quengelnden Seb.
Um »das Ende des Sommers zu feiern«, will sie mich zu einem Diebstahl erpressen.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie das mit dem »Diebstahl« nicht ernst meint, doch leider weigert sie sich irgendwie, mir mein Handy zurückzugeben, das mir Dad erst letzten Monat zum Geburtstag geschickt hat. Kez ist zwar so was wie eine Freundin von mir, und ich bin überzeugt, dass ich das Handy irgendwann zurückbekomme, aber sie ist auch das schrägste Mädchen der ganzen Schule, und sicher kann man bei ihr nie sein.
(Ihr fragt euch vielleicht, wie ich das mit dem »schräg« meine? Also Kez’ Vater ist Bestatter, und sie hat jedem zehn Pfund geboten, der nach Einbruch der Dunkelheit eine halbe Stunde in seinem Bestattungsinstitut verbringt, wo es von Leichen garantiert nur so wimmelt. Ist so eine von Kez’ Mutproben. Sie nennt es Halloween-Challenge. Also für mich klingt das ziemlich schräg.)
Kez ist im Jahrgang über mir. Und warum hat sie sich jetzt mein Handy geschnappt?
Aus Spaß.
Jedenfalls behauptet sie das. »Ist bloß Spaß, Bell! Bleib mal locker!« (Kez nennt mich immer beim Nachnamen. Finde ich blöd, aber ich habe mich noch nie beschwert.)
Wir trafen uns zufällig an der Treppe, die zum Strand runterführt, da saß sie auf der obersten Stufe und inspizierte die lila Spitzen ihrer blonden Haare.
»Alles klar, Bell?«, murmelte sie, ohne richtig aufzuschauen. Auf einmal faselte sie was von einem »schönen Abend« und dem Sonnenuntergang, der die Flussmündung in die schönsten Farben taucht. Da hätte ich gleich hellhörig werden sollen, denn das sah ihr so gar nicht ähnlich. Doch als sie meinte: »Komm, ich mach mal ein Foto von dir! Da freut sich deine Mutter bestimmt!«, habe ich ihr nichtsahnend mein Handy gereicht …
… und zehn Minuten später hat sie es immer noch.
»Bitte, Kez. Gib’s mir zurück. Meine Mam bringt mich um!«
Ich halte inne. Bitte? Und das bei Kez Becker? Das kann ich vergessen. Sie hat mich in der Hand, das weiß ich, und sie weiß, dass ich es weiß.
»Los, Bell. Du musst es machen. So sind die Regeln. Sonst kriegst du das Handy nicht wieder. Vertraust du mir etwa nicht?« Kez steht an die hohe Mauer gelehnt, die Arme vor der massigen Brust verschränkt, in der Faust hält sie mein neues Handy fest umklammert.
Ein Stück weiter steht das Tor zu einem fremden Hinterhof einen Spalt auf. Mir klopft das Herz bis zum Hals.
»Ist ’n Kinderspiel«, sagt Kez. »Geh einfach rein, krall dir was und komm wieder raus.«
»Aber was soll ich mir denn krallen?« Meine Stimme klingt unnatürlich schrill, obwohl ich mir Mühe gebe, meine Angst zu überspielen. Kez will – verlangt –, dass ich etwas aus einem fremden Hinterhof klaue. Dabei habe ich noch nie was geklaut, also nichts von Belang.
»Irgendwas, egal was. Was da so rumliegt. Bestimmt haben die ’n Fahrrad. Das nehmen wir uns. Jetzt guck nicht so, wir bringen’s ja zurück. Mal ehrlich, wir sind doch keine Diebe. Wir leihen es uns nur. Das ist ’ne Mutprobe. Zum Beweis, dass du kein Kind mehr bist. Früher musste man dafür durch ’nen Fluss mit Krokodilen schwimmen. Da hast du’s jetzt besser. Ich steh so lange Schmiere. Geh schon.«
»Aber …«
Kez kommt mir so nah, dass ich ihren Kaugummi-Atem riechen kann. »Aber was, du Weichei? Hast du etwa Schiss? Gut. Dann stell dich deinen Ängsten! Willkommen in der Welt der Erwachsenen.«
Sie stößt mir ihren dicken Zeigefinger mit dem abgeknabberten Nagel in die Brust. »Los jetzt!«
Ich schiebe das quietschende Holztor nur so weit auf, dass ich mich gerade hindurchquetschen kann. Da zischt Kez plötzlich: »Ich lass dich erst wieder raus, wenn du was geklaut hast.« Dann versetzt sie mir einen kräftigen Stoß und knallt das Tor so laut zu, dass eine Möwe erschrocken von einem Schuppen aufflattert.
Ich sehe mich auf dem Grundstück um. Hier gibt es nichts zu klauen. Zum Glück.
Ich gehe jetzt einfach zurück und sage Kez, dass es hier nichts zu holen gibt.
Das glaubt sie mir nie.
Ich schaue mich noch einmal um. Da steht eine große grüne Mülltonne, daneben eine kleinere schwarze mit einem Recycling-Symbol darauf, einige Müllsäcke und gefaltete Kartons. Sonst gibt es nur ein paar Quadratmeter sauber gefegten, rissigen Beton.
Ich werfe einen Blick zu dem kleinen Küchenfenster hinüber und zu der Hintertür vom Haus. Nichts regt sich. Rechts von mir befindet sich ein schmaler Schuppen. Die Tür ist unverschlossen. Drinnen ist es zwar dunkel, aber da lagert nur alter Krempel, das sieht man sofort. Kez meinte ja, ich soll »irgendwas, egal was« mitbringen, also …
Ich taste mich vor. Spinnenweben springen mir ins Gesicht. Auf dem Boden steht eine Papiertüte mit Griffen. Das muss reichen. Darin ist ein Karton oder so, aber ich nehme mir nicht die Zeit, genauer hinzuschauen, ich will bloß weg hier. Ich stopfe mir die Tüte unter die Kapuzenjacke und ziehe den Reißverschluss bis oben zu.
Als ich die Schuppentür hinter mir schließe und mich gerade aus dem Staub machen will, geht plötzlich das Licht in der Küche an. Ich drücke mich gegen die Schuppenwand in den Schatten und hoffe, nicht gesehen zu werden. Da geht die Hintertür auf.
Von drinnen ertönt eine Frauenstimme. »Raus mit dir, du alter Stinker.«
Der wohl größte Hund aller Zeiten kommt aus dem Haus geschlurft und schnüffelt umher. Das Licht in der Küche geht wieder aus und drinnen wird irgendwo eine Tür geschlossen. Offenbar hat sich die Person, die den Hund herausgelassen hat, wieder zurückgezogen.
Das Riesenvieh hat lockiges schwarz-rötliches Fell, das um die Schnauze schon ein bisschen grau ist. Erst nimmt es mich gar nicht wahr. Es schnuppert am Boden und hockt sich hin, um einen Riesenhaufen zu machen. Mittendrin dreht es den Kopf zu mir.
Wenn man Angst riechen kann, stinke ich zum Himmel.
Nachdem der alte Hund sein Geschäft beendet hat, erhebt er sich gemächlich und kommt auf mich zugezottelt. Ob er wohl auch zu jedermann freundlich ist, so wie der Collie von Tony und Lynn, unseren Nachbarn von gegenüber? Ich will ihn gerade streicheln, da bleckt er die Zähne und gibt ein Knurren von sich, bei dem mir das Blut in den Adern stockt.
R-r-r-r-r-r-r-r-r-r!
Der Hund senkt den Kopf, als wollte er sich jeden Moment auf mich stürzen. Zu allem Unglück versperrt er mir auch noch den Rückweg.
»Kez! Kez!«, rufe ich zugleich gedämpft und eindringlich. Aber sie reagiert nicht.
Als das Licht in der Küche wieder angeht und die Hintertür geöffnet wird, bleibt mir nichts anderes übrig, als im großen Bogen um den Hund herumzulaufen. In meiner Panik trete ich auch noch mitten in seinen Riesenhaufen. Fast wäre ich ausgerutscht, aber es gelingt mir, an ihm vorbei zum Tor zu rennen. Auch wenn er jetzt laut bellt, ist er bestimmt viel zu alt und lahm, um mich zu verfolgen.
Da sollte ich mich leider täuschen.
»Was bellst du denn, Dennis?«, ruft die Frau vom Haus. »Was ist los?«
Mit einiger Verzögerung nimmt der Hund die Verfolgung auf und knurrt, als ich das Tor aufreiße. Schon ist er mir dicht auf den Fersen. Verzweifelt versuche ich, das Tor zuzuziehen, doch irgendwas klemmt da, und so zerre ich immer kräftiger an der Klinke, bis es knackt und der Hund vor Schmerz aufheult. Erst da merke ich, dass ich dem Hund die Vorderpfote eingeklemmt habe, und jetzt ist eine Kralle unnatürlich verbogen.
Erschrocken lasse ich die Klinke los, das Tor springt wieder auf, aber ich kann nicht stehen bleiben. Denn Dennis bleibt auch nicht stehen, sondern humpelt kläffend und zähnefletschend hinter mir her. Nach wenigen Metern wird mir klar, dass der Hund mich trotz seiner Verletzung gleich eingeholt hat.
Kez ist wie vom Erdboden verschluckt. (Später erfahre ich, dass sie verduftet ist, als sie die Hintertür vom Haus hat aufgehen hören. »Mutprobe.« Alles klar!) Und mein Handy hat sie auch noch.
Als ich über die Schulter schaue, ist hinter dem Hund nun auch noch die Frau aufgetaucht, die mich ebenfalls verfolgt. »Hey! Bleib stehen! Du kleiner …«, flucht sie.
Die Gasse macht eine Kurve, sodass die beiden mich einen kurzen Augenblick nicht sehen können. Im Laufen ziehe ich den Reißverschluss meiner Jacke auf und werfe die Papiertüte über die Mauer. Ich will das belastende Beweismaterial möglichst schnell los sein. Die Tüte segelt durch die Luft und landet irgendwo auf der anderen Seite. Ich höre, wie Dennis sich unaufhaltsam nähert, wahrscheinlich will er sich für die eingeklemmte Pfote rächen. Ganz eindeutig habe ich keine Chance gegen ihn, er ist schneller.
Als ich zu zwei großen Mülltonnen gelange, klettere ich drauf. Hinter der Mauer liegt der Garten von einem Haus, das schon ewig leer steht, deshalb wuchte ich mich schnell hinüber …
… und falle ziemlich tief. Das T-Shirt und die Kapuzenjacke rutschen hoch, und als ich hinter einen großen Busch hechte, schramme ich mir Brust und Bauch ziemlich übel auf. Auf der anderen Seite der Mauer bellt dieser Dennis, seine Besitzerin steht offenbar neben ihm.
»Wo ist er nur hin, der Lümmel? O mein Gott, Dennis, du Ärmster. Armer, armer Dennis!« Beim nächsten Satz bleibt mir das Herz stehen: »Den finden wir schon!«
Die finden mich?
Ich versuche, mich zu beruhigen.
Es gibt doch massig blonde Jungs!
Außerdem wird es immer dunkler.
Und dass ich was geklaut habe, kann die Frau gar nicht gesehen haben, denn ich hatte es ja unter der Jacke.
Sie wird sicher nichts gegen mich unternehmen.
Es klappt. Mein Atem beruhigt sich. Außer dem Verkehrslärm ein paar Straßen weiter ist nun alles still.
Moment mal.
Ich fasse mir ins Haar. Natürlich gibt es noch andere blonde Jungs auf unserer Schule … aber die haben fast alle kurz geschorenes Haar. Da falle ich mit meinem Wuschelkopf auf.
Doch jetzt habe ich erst einmal andere Probleme.
Die Schürfwunden auf der Brust brennen wie verrückt. Und auf einmal bemerke ich ein leises, hektisches Knattern. Ängstlich spähe ich durch den Busch. Vor mir liegt ein großer verwilderter Garten mit einer Fahnenstange in der Mitte. Daher kommt auch das Knattern, von unzähligen wehenden Fähnchen. Sie sind an Schnüren befestigt, die sich vom Mast aus wie ein buntes Zirkuszelt zu Boden ziehen. Daneben liegt ein Kleiderbündel.
Plötzlich springt das Bündel hoch, bekommt zwei kurze, dünne Beinchen und einen Kopf. Mit Augen, die auf mich gerichtet sind. Ich weiche zurück, aber zu spät. Man hat mich entdeckt. Vor mir steht eine winzige alte Dame mit einem dunklen Gesicht voller Falten. Ihr glattes, glänzend schwarzes Haar ist von weißen Strähnen durchzogen. Als sie den Stoff über die Beine fallen lässt, erkenne ich, dass sie so einen langen geblümten Rock, einen Sarong, trägt.
Während sie auf mich zugetrippelt kommt, spricht sie sehr schnell in einer mir fremden Sprache. Offenbar ist sie sauer. Dann ertönt eine zweite Stimme. Unter dem Fahnenzelt taucht ein Mädchen auf und hält meine zerfledderte Papiertüte in der Hand.
»Ist das deine?«, fragt sie.
Natürlich ist das nicht meine, denn ich habe sie ja gerade geklaut, aber das kann ich schlecht sagen, oder? Das Mädchen wirft mit ihren schmalen, fast schwarzen Augen erst einen flüchtigen Blick auf mich und dann auf die inzwischen ziemlich ramponierte Tüte.
Ob das Mädchen den ganzen Tumult, das Gebell und Gebrüll mitbekommen hat? Wenn ja, lässt es sich nichts anmerken.
»Ähm … nö. Das heißt, j-ja doch. Ist meine«, stammle ich. Lächelnd hält es mir die Tüte hin. Die alte Dame im Sarong wechselt ein paar Worte mit dem Mädchen, die irgendwie chinesisch klingen.
Dann zeigt die Frau auf mich. Ich schaue an mir hinunter. Die Schrammen auf der Brust brennen richtig fies. Habt ihr euch schon mal das Knie aufgeschürft? So ähnlich fühlt sich das an, bloß hundertmal schlimmer. Im Wind klappt meine Kapuzenjacke auf und auf meinem T-Shirt sind Blutflecken zu sehen.
»Hast du dir was getan?«, fragt das Mädchen besorgt. Mit seinem vornehmen Akzent ist es garantiert nicht von hier. Es zieht eine Brille aus der Rocktasche und setzt sie auf, um mein blutiges T-Shirt zu inspizieren. »Meine Großmutter meint, du sollst reinkommen. Wir können da etwas drauf tun. Eigentlich haben wir gerade meditiert, aber das können wir auch kurz unterbrechen.«
Meditiert?
Ich will nur noch weg, deshalb sage ich: »Nein danke. Mir fehlt nichts. Echt nicht.« Tapfer lächle ich. »Ist bloß ein Kratzer.«
Das Mädchen nickt und sieht mich durchdringend an. »Was hast du überhaupt gemacht?«
»Ähm … eigentlich gar nichts. Weißt du, ich … ähm … ich war auf dem Nachhauseweg, da kam plötzlich dieser Hund, und ich musste wegrennen, deshalb habe ich die Tüte weggeworfen, damit ich schneller bin, und dann bin ich bei euch über die Mauer gesprungen … Tut mir echt leid, dass ich einfach so reingeplatzt bin …«
Hör auf zu labern, Malky!
»… na jedenfalls muss ich jetzt los. Danke. Haha!«
Ich wende mich um und will den kleinen Weg nehmen, der einmal um den Garten herumführt. Die ganze Zeit über hat mich das Mädchen einfach reden lassen. Lächelnd, als könnte es nichts schocken. Sein Haar ist schwärzer als schwarz, wie bei der alten Dame, bloß länger, und seine Haut strahlt, als wäre es gerade aus der Badewanne gestiegen. Überhaupt sieht alles an ihm neu aus: der frisch gebügelte Schottenrock, die weißen Kniestrümpfe, der schlichte blaue Pulli. Als hätte es seine besten Klamotten aus dem Schrank geholt, nur um im Garten unter ein paar Fähnchen zu sitzen.
Inzwischen macht die alte Dame kein böses Gesicht mehr, sondern schaut wie das Mädchen. Gelassen würde man wohl sagen. (Genauso gut könnte man es auch verstörend oder nervtötend nennen.)
»Du läufst in die falsche Richtung.« Das Mädchen zeigt auf ein mit Unkraut überwuchertes Eisentor. »Komm mit, ich lass dich raus. Aber sieh besser erst nach, ob der Hund wirklich weg ist.«
Ich folge ihm. Das Mädchen tippt einen Code in das Tastenfeld neben dem Tor ein, und es springt auf, jedenfalls so weit es das rankende Unkraut zulässt. Ich schlüpfe hinaus und schaue nach rechts und links. Von Dennis und seinem Frauchen keine Spur. In der Abenddämmerung entdecke ich Blutflecken, die zurück zu dem anderen Haus führen. Sie stammen vermutlich von Dennis.
Das Mädchen hält mir die Tüte hin. »Vergiss die nicht.«
»Oh, ähm … danke.«
»Was ist denn da so Wertvolles drin?«, fragt es.
Ich schaue auf die Tüte. »Ach … du weißt schon, einfach … Zeugs. Irgendwelches Zeugs. Das hab ich gefunden.«
Das Mädchen nickt, als würde mein Gestammel irgendeinen Sinn ergeben. »Zeugs? Na, dann tschüss. Wir sehen uns in der Schule. Du gehst doch auf die Marden Middle School?«
»Woher weißt du das?«
Es zeigt auf meine Kapuzenjacke, ein verwaschenes Teil mit dem Wappen der Schule. Mam hat sie letztes Jahr secondhand gekauft.
Wie eine Erwachsene hält das Mädchen mir die Hand hin. »Susan«, sagt es. »Susan Tenzin. Ich bin in Mrs Farroukhs Klasse.«
Weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll, schüttle ich seine Hand.
»Hi! Ich meine, sehr erfreut. Malcolm Bell.«
Das »sehr erfreut« ist vielleicht ein wenig übertrieben, aber Susan erwidert bloß: »Hoffentlich hört es bald auf zu bluten.«
Ich gehe raus auf die Gasse und sie will das Tor gerade schließen, da kommt die alte Dame angelaufen. Sie ist auf ihren kurzen Beinchen erstaunlich schnell unterwegs. Susan lässt die Schultern hängen und murmelt kaum hörbar: »O nein.«
Die alte Dame überreicht mir ein kleines, in Packpapier eingewickeltes Päckchen.
Misstrauisch nehme ich es entgegen. Ihr rundes Gesicht verzieht sich zu einem Lächeln und gelbe Zähne kommen zum Vorschein, dann reibt sie sich über die Brust. Verständnislos sehe ich Susan an.
»Es … ist ein Heilmittel. Du sollst es dir auf die Brust schmieren, sagt sie, auf die Wunde.« Susan klingt skeptisch.
»Oh, ähm … danke. Was ist es?« Sobald ich mir das Päckchen unter die Nase gehalten und daran geschnuppert habe, bereue ich es auch schon wieder. Mir schlägt ein Geruch von Käsefüßen entgegen.
»Wir nennen es dri. Es ist Yak-Butter. Ähm … ranzige Yak-Butter.« Susan klingt ein wenig beschämt.