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Eigentlich wollte Esther nur etwas gegen ihre vielen Pickel unternehmen. Stattdessen wird sie – nach der Einnahme eines dubiosen chinesischen Tranks aus dem Internet und einem ausgiebigen Nickerchen auf einer uralten Sonnenbank – plötzlich unsichtbar! Für andere ein Herzenswunsch, für Esther der absolute Albtraum. Doch dann überschlagen sich die Ereignisse und Esther erkennt: Nur wenn sie sich in dieses unfassbare Abenteuer stürzt, kann sie sich endlich gegen die miesen Knight-Zwillinge zur Wehr setzen, wird sie ihrem nerdigen Kumpel Boyd eine echte Freundin sein … und nur so kann sie das größte Geheimnis überhaupt aufdecken: Wer sie in Wirklichkeit ist.
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Seitenzahl: 335
Für meine Mutter, in Liebe.
eISBN: 978-3-649-62906-1
© 2018 für die deutschsprachige Ausgabe
Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG, Hafenweg 30, 48155 MünsterAlle Rechte vorbehalten, auch auszugsweiseOriginally published by HarperCollins Publishers under the title:What not to do if you turn invisible© Ross Welford 2017Translation © Petra Knese and Nora Lachmann 2017translated under licence from HarperCollins Publishers LtdRoss Welford asserts the moral rights to be identifiedas the author of this work.Aus dem Englischen von Petra Knese und Nora LachmannCovergestaltung © HarperCollins Publishers 2017Coverillustration © Tom Clohosy ColeLektorat: Jutta KnollmannSatz: Sabine Conrad, Bad Nauheimwww.coppenrath.de
Teil 1
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
Teil 2
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
58. Kapitel
59. Kapitel
60. Kapitel
61. Kapitel
Teil 3
62. Kapitel
63. Kapitel
64. Kapitel
65. Kapitel
66. Kapitel
67. Kapitel
68. Kapitel
69. Kapitel
70. Kapitel
71. Kapitel
72. Kapitel
73. Kapitel
74. Kapitel
75. Kapitel
76. Kapitel
77. Kapitel
78. Kapitel
79. Kapitel
80. Kapitel
81. Kapitel
82. Kapitel
83. Kapitel
84. Kapitel
85. Kapitel
86. Kapitel
87. Kapitel
88. Kapitel
89. Kapitel
90. Kapitel
91. Kapitel
92. Kapitel
93. Kapitel
94. Kapitel
95. Kapitel
96. Kapitel
Bevor ich einschlief, konnte ich mich noch sehen. Ich war sichtbar vom Kopf bis zu den Füßen und wusste genau, wer ich war.
Vorher.
Ich weiß nicht, was mich geweckt hat: das grelle UV-Licht der Sonnenbank oder das Scheppern von Ladys Schüssel an der Tür zur Garage.
Selbst wenn ich die Augen zukneife, blendet mich das Licht, so hell ist es.
Bin ich eingeschlafen?
Warum hat der Timer nicht geklingelt?
Wie lange liege ich schon hier?
Ein schrecklicher Durst verdrängt all diese Fragen. Meine Zunge klebt nicht nur am Gaumen, sie kratzt regelrecht daran. Ich kann gerade noch genug Spucke sammeln, damit sie sich löst.
Dann schiebe ich den Deckel der Sonnenbank nach oben und stelle mit Schwung die Beine auf den Boden. Auf der Liege bleibt eine Pfütze Schweiß zurück – ich habe »transpiriert«, wie Granny sagen würde. Das Licht blendet mich immer noch und ich blinzle wie verrückt; vor meinen Augen flackern grelle Punkte und Blitze, doch dunkler wird es eigenartigerweise überhaupt nicht.
Ich drehe am Schalter der Sonnenbank und endlich geht das Licht aus. Das ist ein wenig besser, aber ich fühle mich immer noch schlecht.
Hätte ich bloß vorher ausprobiert, ob der Timer in Ordnung ist. Ich sehe auf die alte Digitaluhr an der Garagenwand; sie springt von 11:04 Uhr auf 11:05 Uhr.
Oh. Mein. Gott.
Ich habe fast neunzig Minuten auf der Sonnenbank gelegen. Hallo, Sonnenbrand. Blasse Haut, rotes Haar (gut, kastanienbraun), sprießende Akne und schwerer Sonnenbrand: als Kombi einfach unschlagbar.
Langsam gewöhnen sich meine Augen wieder an das staubige Dämmerlicht der Garage. Da liegt der alte Dielenteppich aufgerollt neben meinem Kinderfahrrad und einem Stapel Pappkartons mit Kleidern für den Kirchenbasar. Regen spritzt an die kleine Scheibe in der Tür, die zum Garten hinter dem Haus führt.
Mein Handy klingelt. Es liegt auf dem Boden, und ich sehe auf dem Display, dass es Elliot Blödmann Boyd ist – so heißt er natürlich nicht wirklich. Meistens habe ich keine Lust, mit ihm zu sprechen, deshalb greife ich auch jetzt nach dem Handy, um das Klingeln abzustellen.
Diesen Augenblick werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Es ist eigenartig und beängstigend und wahnsinnig schwer zu beschreiben, aber ich werde mein Bestes geben.
Zuerst fällt mir gar nicht auf, dass ich unsichtbar bin.
Dann aber schon.
Hinuntergreifen, das klingelnde Handy aufheben, es leise stellen und auf das Display starren, während das Handy noch einen Moment vibriert … das alles ist so vollkommen normal und alltäglich, dass mein Hirn wohl einfach ergänzt, was im Bild fehlt.
Handfläche und Finger zum Beispiel.
So wie beim Anschauen von Zeichentrickfilmen. Man weiß doch, dass Zeichentrickfilme – im Prinzip eigentlich alle Filme – aus einer Reihe von Standbildern bestehen. Lässt man sie schnell genug hintereinander ablaufen, werden im Kopf die Lücken ausgefüllt und man merkt gar kein Ruckeln.
Ich glaube, genau das übernehmen Kopf und Augen in den paar Sekunden, die ich brauche, um das Klingeln abzuschalten. Sie sehen die Hand, weil sie erwarten, dass dort eine Hand ist.
Aber das hält nicht lange vor.
Ich blinzle und schaue auf das Handy. Dann schaue ich auf meine Hand. Ich halte die Hand vor meine Augen und drehe sie hin und her.
Sie ist nicht da.
Okay, stopp mal kurz. Halt dir mal die Hand vor die Augen. Ich warte so lange.
Sie ist da, oder? Die Hand ist da. Natürlich.
Nun dreh sie und schau dir den Handrücken an. Genau das habe ich vor ein paar Sekunden auch getan, nur war meine Hand NICHT da.
In diesem Stadium habe ich noch keine Angst. Ich bin eher verwirrt.
Ich denke: Das ist verrückt. Hat mein Verstand auf der Sonnenbank gelitten? Als wäre ich noch im Halbschlaf oder würde träumen oder halluzinieren oder so was Ähnliches.
Ich schaue auf die Beine. Sie sind auch nicht da, aber ich kann sie anfassen. Das Gesicht ebenfalls. Ich kann alles an mir anfassen, kann es spüren, doch sehen kann ich es nicht.
Keine Ahnung, wie lange ich so sitze und immer nur dorthin schaue, wo eigentlich mein Körper sein sollte. Ein paar Sekunden vielleicht, aber bestimmt keine Minute. Mal überlegen: Ist mir das schon mal passiert? Ist das normal? Liegt es an den Augen – hat mich das UV-Licht vorübergehend blind gemacht? Aber warum kann ich dann alles andere sehen – nur mich nicht?
Nun kommen die Angst und die Atemnot. Ich stehe auf und gehe in die Ecke der Garage, wo über einem Waschbecken ein kleiner Spiegel hängt.
Kaum bin ich dort, schreie ich auf. Ganz kurz nur – eigentlich ist es mehr ein Schnappen nach Luft.
Stellt euch vor, ihr steht vor einem Spiegel und seht nichts. Euer Gesicht blickt nicht aus dem Spiegel zurück. Alles, was ihr seht, ist das Zimmer hinter euch. Oder die Garage wie in meinem Fall.
Dann wird mir klar, was los ist. Kopfschüttelnd grinse ich und lache sogar leise. Ich denke mir: Okay, ich träume. Und – wow – was für ein lebhafter Traum. Kommt mir ganz real vor. Ihr kennt doch diese Träume, bei denen man schon im Traum weiß, dass man träumt. Nicht so bei diesem hier. Noch nie hatte ich einen dermaßen realen Traum und so langsam macht mir die Sache sogar Spaß. Nichtsdestotrotz gehe ich die Checkliste für Träume durch: Ich blinzle, kneife mich und sage mir: Aufwachen, Esther, du schläfst noch.
Doch danach stehe ich immer noch in der Garage. Was für ein hartnäckiger Traum! Ich wiederhole es, einmal und noch einmal.
Nein, kein Traum. Ganz sicher.
Das Grinsen vergeht mir.
Ich schließe die Augen und nichts passiert. Das heißt, ich spüre, wie meine Lider sich schließen, aber ich sehe noch immer den Spiegel und das Waschbecken. Ich sehe alles, was in der Garage ist, obwohl ich weiß, dass ich die Augen fest geschlossen habe – richtig zusammengekniffen habe ich sie.
Mein Magen zieht sich in einer schrecklichen Kombination aus Angst, blankem Entsetzen und Panik zusammen. Ich kotze ins Waschbecken, sehe die Kotze aber nicht, sondern höre nur ihr Aufklatschen im Becken und habe den Geschmack im Mund. Erst im Waschbecken nehmen die halb verdauten Cornflakes vom Morgen ihre unansehnliche Gestalt an.
Ich lasse das Wasser laufen, halte die Hand unter den Strahl. Das Wasser fließt um die Finger herum, nimmt ihre Form an. Vollkommen verblüfft sehe ich zu, wie eine Halbkugel Wasser vor mir in die Höhe steigt, als ich die Hand zum Mund führe. Beim Trinken schaue ich wieder in den Spiegel. Schemenhaft tauchen die Lippen auf, als das Wasser sie berührt, und kurz sehe ich noch, wie das Wasser die Kehle hinuntergleitet. Dann ist es fort.
Ein Grauen erfasst mich, stärker als alles, was ich jemals gefühlt habe.
Vor dem Spiegel, die unsichtbaren Hände ans Becken geklammert, den Kopf ganz heiß vom Versuch, das alles zu verarbeiten … dieses … dieses Merkwürdige, tue ich, was wohl jeder in dieser Lage tun würde.
Was auch ihr tun würdet.
Ich rufe um Hilfe.
»Oma! Granny!«
Ihr sollt erfahren, wie ich unsichtbar geworden bin und was ich sonst noch alles rausgefunden habe.
Doch vorher braucht ihr noch ein paar »Hintergrundinformationen«, wie mein Lehrer Mr Parker es nennen würde. Eben alles, was dazu geführt hat, dass ich unsichtbar wurde.
Haltet ein paar Kapitel durch. Ich fasse mich kurz und danach sind wir bald wieder zurück in der Garage und ich bin unsichtbar.
Auf alle Fälle will ich euch schon mal warnen: Ich bin keine »Rebellin«.
Das sage ich nur für den Fall, dass ihr gehofft habt, ich wäre so eine, die pausenlos Ärger am Hals hat und Erwachsenen gegenüber ständig »frech« ist.
Es sei denn, unsichtbar sein zählt für euch zu »Ärger am Hals haben«.
Und Mrs Abercrombie habe ich übrigens ganz aus Versehen beschimpft, wie ich schon tausendmal versichert habe. Ich wollte »zicken« sagen, was schon unhöflich genug ist, das gebe ich zu, aber nicht so schlimm wie das Wort, das mir rausgerutscht ist, weil es sich darauf reimt. Hat mir eine Menge Ärger mit Granny beschert. Bis heute hält mich Mrs Abercrombie für extrem unhöflich, obwohl es schon drei Jahre her ist und ich mich schriftlich entschuldigt habe, auf Grannys bestem Briefpapier.
(Ich weiß, dass Mrs Abercrombie immer noch sauer auf mich ist, weil mich ihr Hund jedes Mal anknurrt. Geoffrey knurrt jeden an, doch dann sagt Mrs Abercrombie immer: »Ruhig, Geoffrey«, nur bei mir sagt sie nichts.)
Egal, normalerweise sitze ich in der Schule ganz still in der letzten Reihe, kümmere mich um meinen eigenen Kram und meine Aufgaben – so nach dem Motto: Tu mir nichts, ich tu dir auch nichts.
Aber ihr kennt ja die oberschlauen Kommentare der Erwachsenen: »Stille Wasser sind tief«.
Ich bin eine von den Stillen. Ganz still, beinahe unsichtbar.
Wenn man’s recht bedenkt, ist das schon fast zum Lachen.
Wie weit soll ich zurückgehen?
Ich glaube, angefangen hat es mit dem Pizzading. Das hat mich so getroffen, dass ich ein wenig den Kopf verloren habe, was damit endete, dass ich noch eine ganze Menge mehr verlor.
Und das kam so:
Jesmond Knight – wer auch sonst – rief: »Pizzaservice!«, als ich in die Klasse kam, und alle lachten. Es war kein lautes Gelächter, eher leises Gekicher. Die meisten in meiner Klasse sind nicht wirklich gemein.
Zuerst hab ich’s gar nicht geschnallt. Ich hatte keine Ahnung, dass es irgendwas mit mir zu tun hatte, dachte, ich sei mitten in einen Witz hereingeplatzt, und lachte mit, wie man es eben macht, wenn man dazugehören will. Im Nachhinein betrachtet, muss das ziemlich eigenartig gewirkt haben.
Als ich mich ein paar Tage später vor dem Chemieraum mit anderen Mädchen unterhielt, kam Jarrow mit Jesmond und noch ein paar anderen vorbei und fragte laut: »Hast du die Pizza Peperoni bestellt, Jez?« Und dann klatschten sie sich ab und Kirsten und Katie sahen betreten zu Boden.
Kapiert?
»Pizzaservice« bezieht sich auf mein Gesicht.
Mein Gesicht sollte also einer Pizza ähneln. Zum Totlachen. Außerdem stimmt es gar nicht. So schlimm ist es nicht.
Akne mit zwölf? Ein wenig früh, ich weiß. Selbst Doktor Kemp meint, ich gehöre in den »frühen Bereich der Norm«, was aber nicht ungewöhnlich ist. Ungewöhnlich ist die Form der Akne, die eher zum »ernsten Bereich der Norm« tendiert. Das ist ein netter Arztausdruck für: »Dich hat’s aber übel erwischt.«
Genaue Beschreibungen erspare ich euch. Vielleicht esst ihr gerade was und die Einzelheiten sind wirklich nicht sehr appetitlich.
Die Sache mit dem »Pizzaservice« ist jetzt drei Monate her und seitdem ist mir einiges klar geworden:
1.Mein Versuch, mich in der Schule unauffällig zu verhalten, war nicht von Erfolg gekrönt. Alle, wirklich alle kennen das Aknemädchen. Davor richteten sich die Gemeinheiten hauptsächlich gegen Elliot Boyd, was mich nicht weiter störte. Doch nun war auch ich Zielscheibe des Spotts.
2.Manche glauben wohl tatsächlich, man könnte sich mit Akne anstecken. Ich bin jetzt kein Trauerkloß und hocke den ganzen Tag allein da, während unablässig Leute auf mir rumhacken. Aber die Sache mit der »besten Freundin« dauert einfach länger, als ich gedacht habe, und ich frage mich schon, ob es an der Akne liegt. Granny sagt immer, ich soll »einfach ich selbst sein«, was sich wie ein guter Rat anhört. Ich glaube, das ist es auch, wenn man einigermaßen weiß, wer man ist – und das weiß ich. Oder ich wusste es zumindest, bis alles schiefgelaufen ist. Granny sagt auch gern: »Wenn du einen richtig guten Freund haben willst, sei selbst eine richtig gute Freundin.« Sie hat viele solcher Sprüche auf Lager, manchmal glaube ich, sie hat eine ganze Sammlung. Das Problem mit diesem Vorschlag von ihr ist nur, dass mir die Leute fehlen, denen ich eine Freundin sein kann.
3.Jarrow Knight ist ein einziger Albtraum. Das ist keine wirklich neue Erkenntnis, doch zusammen mit ihrem Zwillingsbruder sind die beiden pures Gift.
4.Ich muss unbedingt was mit meiner Haut machen.
Die Akne hat vor etwa einem Jahr mit einem kleinen Pickel auf der Stirn angefangen. Ich stelle mir oft vor, dass es die Vorhut der Akne-Armee war. Der Späher hat dem Hauptquartier Meldung erstattet, und innerhalb von ein paar Wochen hatte ein ganzes Regiment von Pusteln und Mitessern mein Gesicht eingenommen, und nichts, was ich tat, konnte sie zurückschlagen.
Dann stürzte sich die Armee auch auf andere Körperteile. In meinem Nacken machte sich ein Zug Eiterbeulen breit, ziemlich groß, glänzend und äußerst schmerzhaft. Auf meiner Brust siedelte ein Bataillon Mitesser, die sich ab und zu entzündeten und zu gelben Pusteln wurden. Zwei Monate später hatten Pioniere meine Beine erobert.
Aber am schlimmsten war, dass Granny mich nicht ernst nahm.
»Pickel, Spatz? Du armes Ding. Ich hatte die auch, deine Mama ebenso. Das geht vorbei. Es wächst sich aus.«
Schon vor dem Pizza-Vorfall hatte ich auf der Schule viel weniger Spaß als in der Grundschule. Zufällig war Flora McStay – meine beste Freundin – gerade nach Singapur gezogen und Kirsten Olen war in eine andere Klasse gekommen und hatte sich mit den Knight-Zwillingen angefreundet. (Zu denen später mehr.)
Was ich sagen will: Ich suchte nach Methoden, die Akne loszuwerden, und so kamen die Sonnenbank und die chinesische Medizin ins Spiel.
Und nein, unsichtbar zu werden stand nicht auf meinem Plan. Das gehörte definitiv ans »äußerste Ende der Norm«.
Elliot Boyd näher als notwendig zu kommen gehörte auch dorthin – falls das noch extra betont werden muss.
Wir sind immer noch bei den Hintergrundinformationen und ihr seid noch dabei. Gut so.
Elliot Boyd? Alle nennen ihn »Stinker«, weil irgendwer das mal gesagt hat und der Name nun an ihm hängt wie sein vermeintlicher Gestank.
Der Junge, den niemand leiden kann.
Liegt es an der Größe? Am Gewicht? An den Haaren? Am komischen Akzent?
Oder tatsächlich am Geruch?
Es könnte etwas davon sein oder auch alles zusammen. Er ist riesig, schon so groß wie manche Lehrer, hat einen dicken Bauch und am Kinn ein Büschel blonden Bart, womit er vergeblich versucht, sein Doppelkinn zu verstecken.
Und was den Geruch angeht, mal ehrlich, so schlimm scheint es nicht zu sein, auch wenn ich seine Nähe auf Biegen und Brechen meide und somit nicht feststellen kann, ob ihm, wie allgemein behauptet, Seife und Deo fremd sind.
Ich glaube eher, dass sich die Leute an seinem Auftreten stören. Super selbstsicher, aufdringlich und dreist, dazu laut und – dieser Ausdruck gefällt mir am besten – blasiert. Er stammt von Mr Parker, der kann sich gut ausdrücken.
Und wisst ihr was? Hauptsächlich liegt es wohl daran, dass Elliot Boyd aus London kommt. Echt jetzt. Es fing damit an, dass er über Newcastle United herzog (er selbst ist Arsenal Fan, sagt er jedenfalls). Man muss schon einen sehr guten Grund haben, wenn man hier bei uns nicht für Newcastle ist. Sunderland oder Middlesbrough sind auch noch okay, aber keinesfalls eine Mannschaft aus London – nicht einmal, wenn man tatsächlich aus London kommt.
Boyd stieß zu Beginn der achten Klasse zu uns. Niemand kannte ihn, was Grund genug war, sich erst mal zurückzuhalten, aber keine Spur. Er dachte wohl, es wäre lustig, was er da am ersten Tag veranstaltete – ihr wisst schon, frech und ein wenig unverschämt, aber es kam ganz anders rüber.
Mr Parker unterrichtet uns nicht nur in Physik, sondern ist auch Klassenlehrer, führt das Klassenbuch und so. Er klatschte in die Hände und räusperte sich. »Und wieder willkommen, ihr Glücklichen, willkommen im prächtigsten Tempel der Gelehrsamkeit im Nordosten Englands. Erfrischt und gut erholt aus den Ferien zurück? Bestens.«
So redet Mr Parker oft. Er war mal Schauspieler und trägt ein Halstuch, was ziemlich cool bei ihm aussieht, kaum zu glauben, nicht wahr?
»Wir haben einen Neuzugang. Direkt aus dem sonnigen London … Vielen Dank, Mr Knight, nur der Pöbel buht … begrüßen Sie mit mir Mr Elliot Boyd.«
Normalerweise hätte die Klasse nach dieser Aufforderung – wie schon etliche Male bei anderen Neuankömmlingen – geklatscht und der Neue hätte schüchtern gelächelt, wäre ein wenig rot angelaufen und damit hätte es sich gehabt.
Doch nicht so Elliot Boyd. Er stand auf, reckte beide Fäuste triumphierend in die Luft und rief laut: »Arsenal, Arsenal!« Der Applaus erstarb. Und um die Sache noch schlimmer zu machen, legte er im besten Londoner Akzent nach: »Was’n? Noch nie vonner echten Fußballmannschaft gehört?«
Wow, dachte ich, damit bist du auf einen Schlag unten durch.
Von da an hasste ihn mindestens die Hälfte der Klasse.
Doch das schreckte ihn offenbar nicht ab, er war nicht im Mindesten weniger aufdringlich. Wie diese großen, struppigen Hunde, die sich im Park auf die kleinen Hunde stürzen und sie in Angst und Schrecken versetzen.
Und am schlimmsten war, dass er nach der Schule vor meinem Spind herumlungerte, als würden wir automatisch Freunde sein, nur weil wir fast den gleichen Heimweg hatten.
Vergiss es!
Ich hätte ihn weiterhin ignoriert, wenn er nicht eine Rolle in den nun kommenden Ereignissen gespielt hätte, in deren Folge ich schließlich unsichtbar wurde.
1.Die gute alte Wasser-und-Seife-Methode. Das hat Granny als Erstes vorgeschlagen. »Hat bei mir geholfen«, sagte sie. Und ich musste mich sehr zurückhalten, um nicht zu antworten: »Aber das war im tiefsten 20. Jahrhundert.« Außerdem liegt dieser Methode die Annahme zugrunde, man würde Pickel bekommen, weil man sich nicht richtig wäscht, was einfach Quatsch ist.
2.Reinigungslotionen und Kosmetiktücher. Hat nur dazu geführt, dass die Pickel wie Leuchtbojen in einem absolut reinen Gesicht herausstachen. Manchmal frage ich mich, ob dadurch nicht alles nur noch schlimmer geworden ist.
3.Fettes weglassen. Das war ein schrecklicher Monat. Auf die Idee bin ich gekommen, weil ich manchmal ziemlich fettige Haut habe (immer trifft es wohl besser). Falls ich also weder Butter noch Käse oder Milch oder etwas Gebratenes oder Salatsoße oder überhaupt irgendetwas Schmackhaftes essen würde, dürfte meine Haut auch nicht fettig sein. Hat nicht funktioniert. Und ich hatte ständig Hunger.
4.Knoblauch und Honig. Jeden Morgen drei klein gehackte Knoblauchzehen mit einem Esslöffel Honig verrühren. Echt eklig und völlig nutzlos.
5.Pickelcreme. Ich musste mir abends eine Creme aufs Gesicht schmieren. Eigenartigerweise war sie sehr fett, sodass man befürchten konnte, es würde alles noch schlimmer werden. Ist es aber nicht. Besser aber auch nicht.
6.Die gute alte Frischluftmethode. Das kam auch von Granny. Zusammen mit Wasser und Seife. Davon hat nur Lady profitiert, die etwa einen Monat lang mehr Auslauf hatte, bis mir dann auffiel, dass sich nichts veränderte. Sorry, Lady.
7.Homöopathie. Circa fünf homöopathische Mittel im Reformhaus behaupten von sich, sie würden bei Akne was bringen. Mir brachte keins was.
8.Brennnesseltee. Schmeckt genauso scheußlich, wie es klingt. Eigentlich noch schlechter.
9.Vitamin B5. Das »Zaubermittel« im Internet. Weiter zum Nächsten.
10. Ein Antibiotikum. Das hat mir Dr. Kemp schließlich bei meinem zweiten Besuch verschrieben, als ich ihm die Liste zeigte. Eine Tablette täglich führte zum großartigen Ergebnis von … gar keiner Veränderung.
11. Der neueste Versuch: Dr. Changs Haut-So-Klar. Im Internet erstanden. Granny fand die Anzeige dubios und weigerte sich, etwas zu bestellen, deshalb musste ich eine List anwenden. Wie Elliot Boyd spielt auch Dr. Chang eine große Rolle bei den Ereignissen, die zu meiner Unsichtbarkeit führten.
Granny hat mir erzählt, dass Mum in meinem Alter auch Akne gehabt hatte und dennoch eine »so hübsche junge Frau« geworden war.
Das war sie tatsächlich. Auf dem Foto in meinem Zimmer hat sie kurzes rotblondes Haar und große, etwas traurige Augen. Manchmal glaube ich, sie wusste, dass sie jung sterben würde, doch wenn ich sehe, wie sie auf anderen Bildern lacht, denke ich, dass sie gar nicht traurig war. Nur – keine Ahnung – vielleicht ein wenig … durchgedreht?
Ich kann mich kaum an sie erinnern. Ihr braucht euch also keine Sorgen zu machen, dass mich das aufregt. Ich war drei, als sie starb. An Krebs.
Mein Dad war da schon weg. Einfach nicht mehr da, verschwunden. »Drei Kreuze, dass wir den los sind.« Das ist Grannys Meinung. Sie kann es kaum ertragen, seinen Namen auszusprechen (er heißt Richard, aber für mich sieht er mehr aus wie Rick), und das einzige Bild, das ich von ihm habe, ist ein grobkörniger Schnappschuss kurz nach meiner Geburt, auf dem Mum mich im Arm hält und Dad lächelnd danebensteht. Er ist dünn, hat einen Bart und längere Haare als Mum und er trägt eine dunkle Sonnenbrille wie ein Rockstar.
»Er kam betrunken ins Krankenhaus«, sagte Granny bei einem unserer (sehr) seltenen Gespräche über ihn. »Das war er meistens.«
Mum und Dad waren noch nicht verheiratet, als ich geboren wurde, das haben sie erst später gemacht. Ich trage Mums Nachnamen, Leatherhead, genau wie Granny. So steht es auf meiner Geburtsurkunde.
Geburtsdatum: 29. Juli
Geburtsort: St. Mary’s Hospital, London
Name der Mutter: Lisa Anne Leatherhead
Beruf: Lehrerin
Name des Vaters: Richard Michael Malcolm
Beruf: Student
Und so weiter.
Das ist die Kurzfassung. Viel mehr weiß ich sowieso nicht. Granny redet nicht gern darüber, wahrscheinlich regt es sie zu sehr auf.
Granny kam noch als Kind nach London und ist dort aufgewachsen. Großvater und sie haben sich irgendwann in den Achtzigerjahren getrennt. Er lebt jetzt in Schottland mit seiner zweiten Frau (Morag? Hab ihren Namen vergessen). Mum hat mich mit dreiundzwanzig bekommen. Dad und sie wollten gar keine Familie gründen, sagt Granny. Ich bin einfach so passiert.
Mein Dad ist verschwunden, als ich ganz klein war. Es wurde keine Polizei eingeschaltet oder so. Es gab keinen Fall, der aufgeklärt werden musste. Er ist »einfach von der Bildfläche verschwunden« und laut Granny gab es kürzlich ein Lebenszeichen aus Australien.
Erst vor ein paar Wochen haben wir das letzte Mal beim Tee über ihn gesprochen.
Seit ich sieben bin, trinken Granny und ich immer Tee, wenn ich aus der Schule komme. Ich weiß, die meisten Siebenjährigen trinken eher Saft oder Milch, ich aber eben nicht. Tee und richtigen Kuchen, keine Kekse. Und nicht etwa aus einem Becher, nein, auf dem Tisch stehen eine Teekanne aus Porzellan, Teetassen, Untertassen und sogar eine Zuckerdose, obwohl wir beide keinen Zucker nehmen. Nur, damit es gut aussieht. Am Anfang mochte ich keinen Tee, er war mir zu heiß. Aber jetzt mag ich ihn.
Wir hatten an dem Tag in Gemeinschaftskunde bei Mr Parker über Berufe gesprochen. Wie immer hatte ich ganz still in der letzten Reihe gesessen, als von den Berufen der Eltern die Rede war und dass manche dieselbe Laufbahn wählen. Von meinem Vater wusste ich nur, dass er »Student« gewesen war, denn so stand es ja in meiner Geburtsurkunde.
Zwei Tage überlegte ich, wie ich herausbekommen könnte, was er denn studiert hat. Als Aufhänger fragte ich Granny beim Teeeinschenken, warum Dad damals verschwunden war.
Sie ging nicht direkt auf die Frage ein, sondern sagte: »Dein Vater hatte ein wildes Leben.«
Ich nickte, obwohl ich nicht wusste, was das bedeutete.
»Er hat schlimm getrunken. War immer viel zu waghalsig. Er wollte wohl frei von jeder Verantwortung leben.«
»Aber warum?«
»Das weiß ich wirklich nicht, Liebling. Vielleicht eine Charakterschwäche. Er war schwach und verantwortungslos. Manche Männer sind den Anforderungen der Vaterschaft einfach nicht gewachsen.« Grannys Brille war etwas heruntergerutscht und sie sah mich über den Rand an. »Vielleicht gehörte dein Vater auch dazu.«
Das war das Netteste, was sie je über ihn gesagt hatte. Meist nannte sie ihn nur »den Trinker« oder »Kindskopf«. Ihre Schultern wurden steif, die Lippen ganz schmal, und ich wusste genau, dass ihr jedes andere Thema lieber gewesen wäre als mein Dad.
Zur Frage, was er denn studiert hatte, sind wir gar nicht erst gekommen, denn Granny hat sofort das Thema gewechselt und mir erzählt, wie sie einen jungen Mann in der U-Bahn zusammengestaucht hat, weil er seine Füße auf den Sitz gestellt hatte.
Auf alle Fälle gibt es nun nur noch Granny und mich, wieder an Grannys Geburtsort, in Whitley Bay an der Nordostküste Englands. Sie besteht aber darauf, dass wir nicht in Whitley Bay wohnen, sondern in Monkseaton, das ein wenig schicker ist und für die meisten Leute erst drei oder vier Straßen weiter westlich beginnt. Für mich ist es weiterhin Whitley Bay. So leben wir glücklich miteinander in demselben Haus, aber offensichtlich an unterschiedlichen Orten.
Und außer uns beiden gibt es auch noch meine Uroma, die Mutter von Granny. Sie ist eigentlich nicht mehr richtig hier. Hundert ist sie schon und »bereits im Feenland«, sagt Granny. Aber das ist nicht fies gemeint. Uroma hatte vor ein paar Jahren einen Schlaganfall. Da blutet einem das Gehirn, und es gab »Komplikationen«, von denen sie sich nicht mehr richtig erholt hat. Sie lebt in Tynemouth, etwa zwei Meilen von hier. Sagen tut sie nie viel. Als ich das letzte Mal bei ihr war, waren die Pickel richtig schlimm, da hat sie ihre kleine Hand gehoben und mein Gesicht gestreichelt. Ihre Lippen öffneten sich, als wollte sie etwas sagen, doch es kam nichts.
Manchmal frage ich mich, was wohl wäre, wenn sie tatsächlich etwas gesagt hätte. Hätte es etwas geändert an dem, was kurz darauf geschah?
Er klebte mir an den Fersen. Schon wieder. Das dritte Mal in dieser Woche.
(Das war nur ein paar Tage, bevor ich unsichtbar wurde, wir sind also fast schon wieder am Anfang der Geschichte.)
»Alles in Ordnung, Essa?«, fragte er mit seinem Londoner Akzent. »Auf ’m Weg nach Hause? Gehn wir zusammen?«
Er ließ mir keine andere Wahl, wie er da plötzlich vor mir stand, als hätte er nur darauf gelauert, dass ich den Spind abschließe.
(Übrigens habe ich »blasiert« nachgeschlagen. Es bedeutet »aufgeblasen«, was Elliot Boyd ziemlich gut beschreibt. Es gibt noch mehr, was mich an ihm aufregt. Zum Beispiel, wie er meinen Namen sagt, es klingt wie »Essa«. Ich weiß, dass es an seinem Akzent liegt, aber wenn man schon wie ich mit einem Namen geschlagen ist, der vor hundert Jahren modern war, wäre es ganz schön, wenn die Leute ihn wenigstens richtig aussprechen würden.)
Wir gingen also zusammen nach Hause. Boyd quatschte quasi ununterbrochen über sein augenblickliches Lieblingsthema: den Leuchtturm von Whitley Bay. Zumindest eine willkommene Abwechslung zu den Kartentricks, die er mir im vergangenen Monat dauernd gezeigt hatte.
Der Leuchtturm steht am Ende des Strands. Und abgesehen davon, dass er auf Postkarten erscheint, tut er rein gar nichts. Er leuchtet nicht oder sonst was und das macht Elliot Boyd kirre. (Nur ihn, soweit mir bekannt ist.)
Und daher weiß ich nun Folgendes, ohne dass ich es jemals hätte wissen wollen:
1.Der Leuchtturm wurde achtzehnhundert-und-noch-was gebaut, aber eigentlich gab es da schon immer einen Leuchtturm.
2.Früher einmal war er der hellste Leuchtturm Englands. (Könnte sein, dass das irgendwen interessiert.)
3.Man kommt durch eine Hintertür hinauf, die niemals verschlossen ist.
Elliots Begeisterung ist schon irgendwie rührend. Vielleicht liegt es daran, dass er nicht von hier ist. Für alle anderen ist es bloß ein stillgelegter Leuchtturm am Ende des Strands. Er ist einfach … da.
Doch für Elliot Boyd ist es eine Chance, sich beliebt zu machen. Ich glaube, er tut nur so, als wäre es ihm egal, was die anderen denken, und heimlich ist es ihm gar nicht egal, und er hofft, sein Interesse an hiesigen Dingen könnte ein Weg sein, ihnen näherzukommen.
Mit der Vermutung könnte ich natürlich auch falschliegen. Er könnte ebenso gut:
a)nur ein langweiliger Nerd sein. Oder
b)versuchen, hinter dem Geschwafel irgendwas zu verbergen. Er redet nie von sich oder seinen Eltern, immer nur über irgendwelche Dinge. Vielleicht täusche ich mich auch. Es ist nur so ein Gefühl. Ich werde ihn bei nächster Gelegenheit nach seinen Eltern fragen. Mal schauen, wie er reagiert.
Auf alle Fälle habe ich seinem Gequatsche irgendwann nicht mehr zugehört, weil rechts vor uns ein Laden auftauchte, den ich schon seit Wochen im Auge hatte.
Auf der Whitley Road liegt eine ganze Reihe halb leerer Cafés, Dritte-Welt-Läden, Nagelstudios (»ziemlich gewöhnlich« laut Granny) und direkt nebeneinander noch zwei Bräunungsstudios: Geordie Bronze und der Whitley Bay Tanning Salon, der eindeutig den Preis für den fantasielosesten Namen verdient.
Mich zog das Schaufenster von Geordie Bronze an. Auf einem großen handgeschriebenen Schild stand: RÄUMUNGSVERKAUF. Wenn Läden lächeln könnten, dann hätte man ein fettes Grinsen auf dem der Konkurrenz gleich nebenan gesehen.
Ich brachte es einfach nicht übers Herz, Elliot Boyd zu sagen, er solle die Klappe halten/abhauen/mich mit dem Leuchtturm und seinen Plänen in Ruhe lassen.
Wen. Kümmert. Das?
»Ohne Scheiß, Essa, wär gar nicht schwer. Müssen uns nur zusammentun, eine Seite ins Netz stellen, all so was. Die nennen wir: Light the Light. Den Song kennste doch.«
Er fing tatsächlich an zu singen. Mitten auf der Straße und keineswegs leise. »Light up the light. I need you tonight! Lalalala oder so … love you tonight!«
Die Leute drehten sich um.
»Is doch ein Wahrzeichen, oder? Der sollte leuchten, Signale in die Welt senden. Wozu steht er sonst da?«
Und so weiter und so fort. Er hatte das Leuchtturm-Ding schon vor ein paar Tagen im Unterricht vorgestellt. Niemand hatte sich groß dafür interessiert. Allgemein hielt und hält man ihn für bekloppt.
Im Geordie Bronze brannte kaum Licht, aber am Tresen saß eine Frau und las in einer Zeitschrift.
»Ich geh da rein«, sagte ich. »Musst nicht auf mich warten.«
»Ach, schon gut. Ich warte. Ist was … für Mädchen, oder?«
Ich wusste genau, was er meinte. Bräunungsstudios sind ebenso wie Nagelstudios oder Friseursalons nicht der natürliche Lebensraum eines Jungen.
Was mich betrifft, so glaubt Granny, dass es ungemein wichtig ist, mit Fremden reden zu können. Zwar hat sie nie gesagt, dass sie Schüchternheit für »gewöhnlich« hält, so verrückt ist sie auch wieder nicht, aber auf jeden Fall meint sie, man sollte »sich ihr nicht hingeben«.
»Mit zehn«, sagte sie mir an meinem zehnten Geburtstag, »sollte jeder gelernt haben, hocherhobenen Hauptes klar und deutlich zu sprechen, auf diese Weise bist du jedem ebenbürtig.«
Also streckte ich den Rücken durch und trat ein. Als die Türglocke läutete, sah die Frau auf.
Sie hatte superblonde Extensions und kaute Kaugummi. Ihr weiß(licher) Kittel war an der Seite geknöpft wie bei Zahnarzthelferinnen und gegen das Weiß wirkte ihr gebräuntes Gesicht noch dunkler.
Lächelnd ging ich zum Tresen. »Hallo.«
(Grannys Vorschlag für Begrüßungen ist zwar: »Wie geht es Ihnen?«, aber sie ist auch über sechzig und ich nicht.)
Auf dem Anstecker am Kittel stand der Name der Frau: Linda. Sie nickte und hörte kurz mit dem Kauen auf.
»Sie verkaufen die Einrichtung?«, fragte ich.
Sie nickte wieder. »Ja.«
Darauf folgte ein kurzes Gespräch, bei dem ich erfuhr, dass drei Bräunungskabinen verkauft wurden, weil Geordie Bronze in einen »Preiskampf« mit dem Salon nebenan getreten war und verloren hatte. Geordie Bronze war aus dem Geschäft ausgestiegen oder so was in der Art.
Die Kabinen könnte ich für »zweitausend pro Stück« erwerben. Zweitausend Pfund.
»Aha«, sagte ich. »Vielen Dank.« Ich ging zur Tür.
»Warte, Süße«, sagte Linda. »Ist für dich, oder?«
»Ähm … ja.«
»Für die …?« Und sie beschrieb mit dem Zeigefinger einen Kreis um ihr Gesicht, was bedeuten sollte: »Für deine Pickel?«
Ich nickte und dachte: Frechheit!
Sie schenkte mir ein schmales Lächeln, und erst in dem Augenblick bemerkte ich unter dem dicken Make-up und der Bräune, dass ihre Wangen so hubbelig waren wie die Schale einer Grapefruit. Aknenarben.
»Ach, Süße, dich hat’s aber schwer getroffen, oder? Ging mir auch so in deinem Alter.« Sie legte den Kopf schräg, musterte mich und sagte: »Allerdings … ganz so schlimm war’s nicht.«
Toll, vielen Dank. Sie bat mich, ihr nach hinten zu folgen. Dort zog sie ein Laken von einer weißen Sonnenbank und hob den Deckel.
Ihr habt doch bestimmt schon mal eine Sonnenbank gesehen? Man legt sich rein, zieht den Deckel runter und ist dann in einer Art riesigem Toaster eingesperrt. Über und unter einem helle UV-Leuchtstoffröhren, das ist alles.
»Alt und etwas kaputt«, sagte Linda und rieb über einen Kratzer im Deckel. »Geht aber noch. Wir dürfen sie nur nicht mehr im Geschäft benutzen. Neue Vorschriften. Verkaufen dürfen wir sie auch nicht. Morgen kommt das Teil auf den Müll.«
Um es kurz zu machen, ich bekam das alte Modell umsonst (jaja, ich weiß!) und fünf Minuten später trug ich das Ding mit Elliot Boyd die Straße runter. Auf halbem Weg machten wir eine Pause. Er keuchte viel mehr als ich.
»Ich war noch nie braun«, sagte er. »War noch nie aus England weg.«
Falls das eine Andeutung war, dass er gern kommen und die Sonnenbank benutzen würde, stellte ich mich lieber dumm. Nicht mal er war so krass drauf, direkt darum zu bitten.
»Ich meine, da ich dir nun schon dabei helfe, das Ding nach Hause zu kriegen, könnte ich vielleicht mal vorbeikommen und mich drauflegen.«
Hmm. Wie subtil. Ich konnte nicht einfach Nein sagen. Das wäre unhöflich gewesen, und er freute sich so und brabbelte weiter – schlug sogar Zeiten vor, an denen er kommen konnte, und beschrieb, wie braun er werden würde – ich schaltete einfach ab und schleppte die schwere Sonnenbank.
Fünfzehn Minuten später schaffte ich Platz in der Garage. Ich stellte die Sonnenbank aufrecht hin und deckte sie ab, sodass sie neben dem alten Schrank und dem Stapel Kisten und anderem Ramsch für den Kirchenbasar nicht weiter auffiel.
Granny war mit Lady unterwegs. Die Garage haben wir immer nur als Lagerraum benutzt. Und da Granny so gut wie nie in die Garage ging, hoffte ich, dass ich ihr vielleicht gar nichts erzählen musste. Denn ich wollte bestimmt nicht, dass sie mir die Benutzung der Sonnenbank verbot, weil es in ihren Augen entweder zu »gewöhnlich« oder zu gefährlich war oder zu viel Strom verbrauchte oder zu … was weiß ich. Granny kann manchmal recht sonderbar sein. Da weiß man nie.
Boyd schwitzte und hatte ein hochrotes Gesicht.
»Da wirst du schön braun werden«, sagte er.
Er wollte ein Gespräch anfangen, und es war ja auch nett von ihm gewesen, mir zu helfen, also sagte ich: »Ja. Ähm … danke für, du weißt schon …«
Es trat eine dieser unangenehmen Pausen ein.
Dann sagte er: »Okay, ähm … ich werd … ähm … bis dann.«
Und weg war er.
Als Granny die Vordertür aufschloss, war ich gerade dabei, im Bad meine tägliche Dosis Dr. Changs Haut-So-Klar zu schlucken, ohne mich zu übergeben (in drei Wochen hatte es nicht die kleinste Spur einer Veränderung gegeben).
»Hallo, Granny«, sagte ich, als ich zu ihr in die Küche kam.
Sie sah mich mit einem Blick an, den man gut als misstrauisch deuten konnte. Hatte ich zu euphorisch geklungen?
Aber vielleicht machte ich mir auch zu viele Gedanken.
Später fiel mir Elliot Boyds rundes, schweißbedecktes Gesicht wieder ein, und da ging mir auf, dass ich ihm ganz nah gewesen war, ohne was Unangenehmes zu riechen.
Am nächsten Tag war Samstag, und ich brannte darauf, die Liege auszuprobieren, doch das ging nicht, weil ja Uromas 100. Geburtstag war und in ihrem Altenheim eine kleine Party stattfand.
Party klingt jetzt wild, aber das war es natürlich nicht, schließlich sind Granny und ich die einzigen Verwandten. Es gab einen Kuchen, ein paar Leute von der Kirche waren da und auch die Mitbewohner und das Personal vom Klosterblick. Das war’s auch schon.
Uroma ist in dem Heim, solange ich denken kann. Als Granny wieder herzog, wohnte Uroma aber noch ganz allein in dem großen alten Haus in Culvercot. Mein Uropa war da schon ein paar Jahre tot und eines Tages fiel Uroma in der Küche hin. (Granny sagt immer »sie stürzte zu Boden«, was ich seltsam finde. Wenn ich hinfalle, stürze ich nicht zu Boden, ich falle einfach nur hin.)
Das Haus wurde verkauft und Uroma zog ins Heim. Von dort blickt man auf einen kleinen Strand und eine Klosterruine am Rand der Klippen.
Es ist sehr still und sehr warm im Heim. Sobald man durch die große Eingangstür kommt, wird aus der kühlen Seebrise schwüle, stickige Luft, die sowohl supersauber als auch ein bisschen schmutzig riecht. Das Saubere sind Desinfektionsmittel, Holzpolitur und Lufterfrischer; das weniger Saubere riecht nach Schulkantine und etwas anderem, von dem ich nicht genau weiß, was es ist, und es vielleicht auch gar nicht wissen will.
Am Ende des mit dickem Teppichboden ausgelegten Flurs liegt Uromas Zimmer. Die Tür stand einen Spalt auf. Von drinnen hörte ich die laute fröhliche Stimme einer Schwester in breitem Dialekt.
»So, alles schick, Lizzie-Schätzchen. Nun kommt der Besuch fürs Geburtstagskind. Schön brav sein, hörst du? Ich pass auf wie’n Schießhund.«
Die Schwester winkte uns zu, als sie aus der Tür kam. Warum durften die hier so mit Uroma reden? Ich wollte der Frau nach und sie fragen: »Meine Uroma ist hundert. Warum reden Sie mit ihr wie mit einer Sechsjährigen?«
Aber genau wie die vielen Male zuvor tat ich das natürlich nicht.
Uromas voller Name ist Mrs Elisabeth C. Freeman. Granny hat allen gesagt, dass niemand Uroma je Lizzie genannt hat und dass sie Mrs Freeman als Anrede sicher vorziehen würde, aber ich glaube, die Leute hier halten Granny für arrogant.
Ich weiß, dass ich meine Uroma gern besuchen sollte, aber ich komme nicht gern hierher. Es liegt nicht an ihr. Sie ist eine nette, harmlose alte Dame. Aber ich mag mich nicht, wenn ich da bin. Ich finde es schrecklich, dass der Besuch nur eine unangenehme Pflicht für mich ist, die mich langweilt.
Noch schlimmer war es an diesem Tag, weil es etwas Besonderes sein sollte. Hundert Jahre. Das ist ziemlich beeindruckend. Ich wünschte mir damals ein wenig mehr Begeisterung meinerseits.
Granny eröffnete das Gespräch. Der größte Teil läuft meist als Monolog ab. Uroma sagt nur sehr selten was, schaut eher aus dem Fenster und nickt ab und zu, manchmal lächelt sie auch oder schläft sogar ein. In dem großen Sessel, gestützt von vielen Kissen, wirkt sie ganz klein; aus der Wolldecke schaut nur der winzige Kopf mit dem feinen weißen Schopf heraus.
»Wie geht es dir, Mum? Warst du heute schon draußen? Es ist ziemlich stürmisch, nicht wahr, Esther?«
»Ja, sehr windig.«
Normalerweise muss ich nicht viel sagen, sitze nur auf einem Stuhl am Fenster, schaue hinaus auf die Wellen und zähle die Minuten auf der tickenden Uhr am Bett. Ab und zu gebe ich einen Kommentar ab und manchmal setze ich mich neben meine Uroma und halte ihre Hand. Ich glaube, sie mag das, denn ich spüre den schwachen Druck ihrer Finger.
So war es auch dieses Mal, nur dass am Ende etwas Seltsames passierte.
Nach ein paar Minuten meinte Granny, die Brötchen müssten aufgebacken werden, und dann ging sie in die Küche, um dort Bescheid zu sagen.