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Betty Andrews ist nicht nur Hollywoodschauspielerin, sie schreibt auch erfolgreich Kinderbücher. In den Unterlagen ihrer Großmutter stößt sie auf farbenfrohe Zeichnungen, die wunderbare Illustrationen für ihre Bücher wären. Doch ihre Oma ist nicht bereit, darüber zu sprechen, woher sie stammen, und über den Künstler E. Smith ist nur bekannt, dass er oder sie in einem Dorf an der Südwestküste von Schottland lebt. Kann dieses Dorf Swinton-on-Sea sein? Gerade hat Betty eine Einladung für das dortige Book Festival erhalten, und obwohl sie normalerweise öffentliche Auftritte meidet, reist sie nach Schottland, um Nachforschungen anzustellen. Bereits kurz nach ihrer Ankunft wird sie enttarnt und von Fans verfolgt. Der Buchhändler Eliyah hilft ihr und bringt sie ins B&B seiner Oma Nanette. Bei den Recherchen über den geheimnisvollen Künstler kommen die Schauspielerin und der zurückhaltende Bücherwurm sich näher. Dann macht Eliyah in der Bibliothek eine Entdeckung, die ihm zeigt, dass seine tragische Familiengeschichte eng mit der Bettys verknüpft ist.
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Seitenzahl: 383
Katharina Herzog
Roman
Wer bist du, wenn du niemand sein musst?
Betty Andrews ist Hollywoodschauspielerin und erfolgreiche Kinderbuchautorin. In den Sachen ihrer Großmutter stößt sie auf farbenfrohe Zeichnungen, die perfekt für ihr neues Buch wären. Doch ihre Oma ist nicht bereit, darüber zu sprechen, woher sie stammen, und über den Künstler E. Smith ist nur bekannt, dass er oder sie in einem Dorf an der Südwestküste von Schottland lebt. Kann dieses Dorf Swinton-on-Sea sein? Gerade hat Betty eine Einladung für das dortige Book Festival erhalten, und obwohl sie normalerweise öffentliche Auftritte meidet, reist sie nach Schottland, um Nachforschungen anzustellen. Bereits kurz nach ihrer Ankunft wird sie von Fans verfolgt. Der Buchhändler Eliyah hilft ihr und bringt sie ins B&B seiner Oma Nanette. Bei den Recherchen über den geheimnisvollen Künstler kommen die Schauspielerin und der zurückhaltende Bücherwurm sich näher. Dann macht Eliyah eine Entdeckung, die ihm zeigt, dass seine tragische Familiengeschichte eng mit Bettys verknüpft ist.
Katharina Herzog ist die deutsche Autorin für Liebesromane mit Fernweh-Garantie. Sie liebt es, ihre Leser:innen an Sehnsuchtsorte wie Amrum, die Amalfiküste, Juist oder Kent zu entführen und diese Schauplätze auch selbst zu bereisen. Mit ihren Romanen schrieb sie sich nicht nur in die Herzen ihrer Leser:innen, sondern eroberte auch die Bestsellerlisten. «Herbstleuchten» ist der dritte Band einer Serie rund um das kleine Bücherdorf Swinton-on-Sea, die bezaubernde Liebesgeschichten mit einem einzigartigen Schauplatz verbindet.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2023
Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Redaktion Anne Fröhlich
Songtext «Du erinnerst mich an Liebe», Adel Tawil, Text: Annette Humpe
Covergestaltung FAVORITBUERO, München
Coverabbildung Sabina Wieners
ISBN 978-3-644-01375-9
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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www.rowohlt.de
Du erinnerst mich an Liebe
Ich kann sehen, wer du wirklich bist
Du erinnerst mich daran
Wie’s sein kann
(Adel Tawil, Du erinnerst mich an Liebe)
«Gefällt dir dein neues Zuhause?»
«Ja, sehr.» Helena lächelte die zierliche Frau an, die wunderschön war und die Figur eines Mannequins hatte. Dann legte sie wieder den Kopf in den Nacken und schaute hingerissen an dem prächtigen Herrenhaus hinauf. Swinton Manor. Mit seinen Türmen und Erkern sah es aus wie ein Schloss, und genauso königlich war seine Lage. Es thronte auf einem Hügel oberhalb eines kleinen Dorfes, Swinton-on-Sea. Die Nebelschwaden, die zart wie Feenflügel an den alten Steinmauern hinaufkletterten, taten ihr Übriges, um den verwunschenen, märchenhaften Charakter des Hauses zu verstärken.
Eine frische Brise trieb einen salzigen Geruch in Helenas Nase, und der Wind streichelte ihr Gesicht und spielte mit ihren Haaren. Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen, und in diesem Moment fühlte sie sich so frei und schwerelos, als müsste sie nur die Arme ausbreiten, um sich wie eine Möwe in die Luft zu erheben. Tief sog sie die würzige kühle Meeresluft ein, und Atemzug für Atemzug ließ die Beklemmung nach, die sie in den letzten Jahren zunehmend verspürt hatte. Genauso wie das Gefühl, im falschen Leben festzustecken.
«Lass uns reingehen und eine Tasse Tee trinken!», sagte die Frau. Sie hatte ihr gleich am Flughafen vorgeschlagen, sie Nanette zu nennen, aber noch fiel Helena die vertraute Anrede schwer. «Elsie kann jeden Moment aus dem Mittagsschlaf aufwachen, und dann ist es mit der Ruhe vorbei. Sie ist so ein Wirbelwind.» Nanette schenkte ihr ein warmes Lächeln. «Ich bin dir wirklich sehr dankbar, dass du mich in den nächsten Monaten ein bisschen unterstützt.»
Es hatte lange gedauert, bis es Helena gelungen war, ihre Eltern davon zu überzeugen, ihr dieses eine Jahr als Au-pair-Mädchen zu erlauben. Sie hatten ihre Zustimmung nur unter der Bedingung gegeben, dass sie ihr Cello mitnahm und ihnen hoch und heilig versprach, jeden Tag zu üben. Mit einem Gefühl von Abneigung schaute Helena auf das Instrument, das sicher verwahrt in einem Instrumentenkasten neben ihrem Koffer stand und das sie als Sperrgepäck hatte aufgeben müssen. Sie wusste noch, wie unglaublich stolz sie gewesen war, als sie ihr erstes Cello bekommen hatte, fast größer als sie selbst war es gewesen. Sie hatte es geliebt, ihm mit dem Bogen Töne zu entlocken, die sich auf wundersame Weise zu den schönsten Melodien zusammensetzten. Doch nachdem ihr mehrere Lehrkräfte bescheinigt hatten, ein musikalisches Wunderkind zu sein, hatte es sich zunehmend wie eine Fußfessel angefühlt. Während sich ihre wenigen Freundinnen und Freunde nach der Schule zum Spielen trafen, blieb sie zu Hause und übte, an den Wochenenden fuhr sie zu Auftritten. Und als sie nach dem College ein Stipendium für die renommierte Juilliard School in New York bekommen hatte, war ihr Weg endgültig vorgezeichnet.
«Was ist mit meinem Gepäck?», fragte sie Nanette.
«Lass es ruhig stehen!», antwortete sie. «Ich kümmere mich darum, dass es jemand zu dir hinaufbringt. Du wirst im Erkerzimmer im zweiten Stock wohnen.»
Das Haus war von innen genauso wunderschön wie von außen. Helena konnte sich gar nicht sattsehen an den großen, hellen Räumen, den massiven Echtholzböden, den fein geschnitzten Verzierungen an der Wandtäfelung, den funkelnden Lüstern, die von kunstvollen Stuckdecken hingen, den Kaminen …
Eine Katze mit langem cremefarbenem Fell und auffällig blauen Augen erhob sich aus einem Weidenkorb, der auf einem geblümten Sofa stand, streckte sich und schritt dann majestätisch auf Helena zu. Helena bückte sich, um sie zu streicheln.
«Das ist Miss Pompadour, die heimliche Herrscherin über Swinton Manor», erklärte Nanette mit einem Augenzwinkern. «Und da sind ja auch Frank und Reggie. Schön, dass ihr euch auch mal blicken lasst, um unseren Gast zu begrüßen.»
Ein großer, schlanker Mann mit leicht melancholischen Augen und ein kleiner, ein wenig fülliger Junge in Reitkleidung hatten den Salon betreten. Ein bunt gefleckter Jagdhund mit Schlappohren folgte ihnen, der Helena sofort begeistert begrüßte.
«Wir waren bei den Pferden», erklärte der Mann, bevor er sich Helena zuwandte, ihr die Hand schüttelte und sich als Frank vorstellte. Der kleine Junge hieß Reginald, wurde aber von allen nur Reggie genannt.
«Kannst du reiten?», fragte er.
Helena schüttelte den Kopf. Als kleines Mädchen war sie einmal auf einem Jahrmarkt geritten, und es hatte ihr durchaus gefallen. Aber ihre Eltern wollten nicht, dass sie Stunden nahm. Schließlich war die Gefahr viel zu groß, dass sie sich bei einem Sturz an der Hand verletzte, ganz zu schweigen davon, dass sie für ein solches Hobby gar nicht die Zeit gehabt hätte.
«Ich kann reiten», sagte der Junge. «Aber noch viel lieber als Pferde mag ich Autos.» Er grinste sie an, und Helena wusste bereits jetzt, dass sie das Jahr in Schottland in vollen Zügen genießen würde.
Reggie zeigte ihr ihr Zimmer. Ein Bett, ein Sofa, ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen und ein Schreibtisch standen darin. Die vorderen Fenster gingen auf den Park hinaus, die seitlichen auf den Parkplatz. Als Helena hinunterblickte, sah sie, wie ein junger Mann zu ihrem Gepäck ging. Er war ganz in Schwarz gekleidet, und nahezu schwarz waren auch seine schulterlangen Haare, die im Wind flatterten. Das musste der Sohn der Haushälterin sein! Nanette hatte auf dem Weg vom Flughafen erzählt, dass er und seine Mutter ebenfalls auf dem Anwesen wohnten.
Der junge Mann schaute mit seinen dunklen Augen zum Erker hoch, und ihre Blicke trafen sich. Schüchtern hob Helena die Hand. Sein Mundwinkel wanderte nach oben, und er nickte ihr zu. Ob er ihr Gepäck nach oben bringen würde? Bei dem Gedanken, ihm gleich gegenüberzustehen, fing Helenas Herz unwillkürlich an, schneller zu schlagen.
Katherines Art zu klingeln spiegelte ihren Charakter wider: ungeduldig und nervtötend. Einmal lang und dreimal kurz, wobei der letzte Ton etwas länger war als seine beiden Vorgänger. Bist du denn immer noch nicht da?
Grandma streckte den Kopf aus der Küche. «Soll ich ihr sagen, dass du ausgegangen bist?», fragte sie.
Betty schüttelte den Kopf. «Du kennst doch Katherine. Spätestens morgen steht sie wieder auf der Matte.»
Wenn sie gewusst hätte, dass unangekündigte Besuche für Katherine zum Agenturservice gehörten, hätte sie sich keine Literaturagentur gesucht, die ihren Sitz in Boston hatte, sondern eine in Kalifornien – dem Bundesstaat, der von Massachusetts am weitesten entfernt lag.
Kaum hatte Betty die Tür geöffnet, flitzte Max, der kniehohe schokofarbene Hund ihrer Agentin, an der Kürbisparade vorbei, mit der Grandma jedes Jahr im Herbst den Eingangsbereich des eleganten viktorianischen Stadthauses im Bostoner Stadtteil Beacon Hill dekorierte, in dem sie gemeinsam lebten. Sein halblanges Fell sah aus, als hätte er Dreadlocks. Aufgeregt hechelnd lief er an Betty vorbei zu ihrer Großmutter in die Küche. Seit Helena den Fehler begangen hatte, ihm bei seinem ersten Besuch ein Stückchen Wurst zu geben, betrachtete er ihr Zuhause als Imbissbude.
«Bleib mir vom Leib, Max!», schimpfte Grandma, weil der Hund sich so fest an sie presste, dass sie auf ihren hohen Absätzen ins Schwanken geriet.
Mit ihrer kerzengeraden Haltung, dem immer tadellos frisierten kinnlangen blonden Haar und der eleganten Kleidung (selbst bei der Gartenarbeit war sie immer piekfein angezogen) war Helena eine durchaus Ehrfurcht einflößende Erscheinung. Auch Betty hatte zuweilen Respekt vor ihr – nicht aber Max, und genauso wenig Katherine.
«Gib ihm ruhig ein Leckerchen, Helena!», sagte die Agentin, nachdem sie Betty zur Begrüßung das übliche Luftküsschen neben das rechte Ohr gehaucht hatte. Sie trug ihr Golfoutfit, weißes Poloshirt und pinkfarbene Dreiviertelhose mit Bundfalte. Ihre schulterlangen brünetten Haare waren zu einem so straffen Pferdeschwanz zusammengebunden, dass ihre Haut aussah wie geliftet. «Und für mich bitte einen Espresso. Ohne Zucker!»
«Den kann ich auch machen», protestierte Betty.
«Nein, nein, lass nur!» Grandma winkte ab. «Unterhalte du dich mit Katherine, und ich bringe euch alles!»
«Wunderbar!» Katherine strahlte und hängte sich bei Betty ein. «Ich habe tolle Neuigkeiten. Sollen wir uns raussetzen? Das Wetter ist so schön.»
Betty nickte, obwohl sie sich ärgerte, dass sie sich mal wieder von Katherine überrumpeln ließ. Wieso hatte sie ihr nicht gesagt, dass sie keine Zeit hatte? Sie führte die Agentin auf die Terrasse.
Die Gärten in Beacon Hill waren von außen nicht einsehbar, und wohl kaum jemand hätte vermutet, welch kleines Paradies sich hinter den leuchtend roten Backsteinfassaden der meisten Stadthäuser versteckte. Grandma war Mitglied des Beacon Hill Garden Clubs, den engagierte Damen 1928 gegründet hatten, um dem damaligen Verfall des Viertels entgegenzuwirken. Spatenstich für Spatenstich verwandelten sie die schmutzigen Hinterhöfe in prächtige Oasen voller Efeu, Rosen und Buchsbaum. In Grandmas Garten waren im Lauf der Jahre sogar exotische Pflanzen wie zwei japanische Ahornbäume, Azaleen und ein paar Stechpalmen eingezogen.
Katherine steuerte direkt auf die Hollywoodschaukel zu. «Ach, wie schön, du arbeitest gerade!», rief sie mit Blick auf den Laptop, der darauf lag. «Hoffentlich am nächsten Band. Ich bin so gespannt, worum es darin geht! Dass du aber auch so ein Geheimnis darum machen musst!» Sie zog einen Flunsch. «Ich weiß nicht, wie lange ich den Verlag noch hinhalten kann.»
Betty nahm den Laptop und legte ihn auf den Boden, bevor Katherine ihn noch aufklappte. Zuzutrauen war es ihr. «Ich mache kein Geheimnis daraus. Ich weiß es noch nicht.»
Sie hatte wirklich keine Ahnung, denn sie arbeitete gar nicht an Fabulous Farah, sondern an einer anderen Geschichte. Was Katherine wiederum nicht wissen musste.
Grandma kam mit dem Espresso heraus. «Sonst noch ein Wunsch, Katherine? Ein Cupcake, ein Sandwich, ein Stück Schokolade?», fragte sie den ungebetenen Gast, und im Gegensatz zu Katherine entging Betty die leise Ironie in ihrer Stimme nicht.
«Nein, danke. Ich bin nachher noch zum Lunch im Golfclub verabredet, und vorher habe ich noch einen Termin bei Max’ Therapeutin.» Katherine ließ sich so schwungvoll in die Hollywoodschaukel fallen, dass diese erschrocken ächzte.
«Max geht zur Therapie?» Grandmas Augenbrauen wölbten sich nach oben.
«Ja, dem Ärmsten fehlt es an Selbstbewusstsein.» Katherine schaukelte hin und her. «Ich muss dringend etwas dagegen unternehmen. Letzte Woche ist er im Park vor einem Chihuahua davongerannt.»
Dass es Max an Selbstsicherheit mangelte, war Betty bisher nicht aufgefallen. Gerade saß er auf den Spitzen von Grandmas Pumps und schaute mit schmelzendem Hundeblick zu ihr auf, in der Hoffnung, dadurch noch einen Leckerbissen zu ergattern. Und dass er vor einem dieser ewig kläffenden Taschenhunde geflohen war, war ihrer Meinung kein Zeichen von mangelndem Selbstbewusstsein, sondern von Klugheit.
«Hast du denn wirklich gar keine Idee, worum es in der nächsten Geschichte gehen soll?», fragte Katherine nicht ohne Vorwurf in der Stimme, nachdem Grandma wieder im Haus verschwunden war. «Lass uns doch mal gemeinsam überlegen!» Sie nippte an ihrem Espresso. «Im aktuellen Band ist Farah gerade in die Schule gekommen. Wie wäre es, wenn sie in der nächsten Geschichte Urlaub auf einer Farm macht? Sie träumt doch schon so lange davon, Reitstunden zu nehmen.»
Betty unterdrückte ein Stöhnen. Die liebe Farah … Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie viel Spaß es ihr anfangs gemacht hatte, das freche Mädchen mit den Sommersprossen und dem unordentlichen Haarknoten all die Abenteuer erleben zu lassen, die sie selbst nicht hatte erleben können, weil von klein auf jeder ihrer Schritte überwacht worden war. Und wie stolz sie gewesen war, als sie das erste gedruckte Buch in den Händen gehalten hatte. Ihr Buch! Aber dann war der erste Band der Reihe direkt nach seinem Erscheinen an die Spitze der New York Times-Bestsellerliste geklettert, und alles hatte sich verändert. Auch die Folgebände hatten die Bestsellerlisten gestürmt, die Reihe war in mehrere Sprachen übersetzt worden, schaffte es in die Top Ten der erfolgreichsten Kinderbuchreihen …
Katherine sagte immer, Betty sei wie König Midas: Alles, was sie anfasste, würde zu Gold. Ja, und genau das war Betty, genau wie dem König aus der Sage, zum Verhängnis geworden! Denn nun konnte sie nicht einmal mehr über ihre Geschichten frei entscheiden.
Außerdem blieb da immer dieser nagende Zweifel, der sich einfach nicht abschütteln ließ: Wäre Fabulous Farah auch so erfolgreich geworden, wenn sie nur Betty Andrews, die Kinderbuchautorin, wäre, und nicht auch Betty Andrews, die Hollywoodschauspielerin – und außerdem die Tochter von Georgina (Gigi) Andrews, einem der Topmodels der Neunzigerjahre? Hätte sie wetten müssen, wäre ihre Antwort Nein gewesen – ein Wort, das sie übrigens viel zu selten sagte.
Nachdem Katherine eingesehen hatte, dass Betty ihr nichts von ihrer neuen Idee erzählen würde, platzte sie endlich mit der tollen Neuigkeit heraus, die sie bereits angekündigt hatte.
«Ich habe eine Einladung erhalten.» Katherine zog einen Umschlag aus ihrer Designerhandtasche. «Für ein Literaturfestival in Schottland. Du sollst dort als Stargast für Fabulous Farah geehrt werden! Ist das nicht wunderbar? Du haderst doch schon länger ein wenig damit, dass die Presse dich immer noch nur als Schauspielerin wahrnimmt!»
Betty verdrehte die Augen. «Ich glaube nicht, dass der Besuch eines Literaturfestivals daran etwas ändern würde.» Immer, wenn sie sich in den letzten Jahren zu Interviews hatte überreden lassen, waren die Fragen zu ihrer Buchreihe in wenigen Minuten abgehandelt gewesen, und dann hatten sich die Journalisten auf das konzentriert, was sie wirklich interessierte: Welche Kosmetika benutzte Betty, welche Designerstücke hingen in ihrem Kleiderschrank, welcher ihrer Schauspielkollegen hatte ihr den heißesten Filmkuss beschert? Und wieso hatte sie sich vor ein paar Jahren nicht nur aus dem Filmbusiness zurückgezogen, sondern wurde auch auf keiner einzigen Veranstaltung mehr gesehen?
Betty spürte, wie sich ihre Schultern verkrampften, was auch Katherine nicht entging. «Lies sie dir doch erst einmal durch, bevor du ablehnst», sagte sie, zog einen Briefbogen aus dem Umschlag und reichte ihn ihr.
Widerwillig griff Betty danach.
Swinton-on-Sea stand ganz oben auf dem Briefkopf, und darunter: Schottlands nationale Bücherstadt.
«Davon habe ich ja noch nie gehört.»
«Das wundert mich nicht.» Katherine verzog das Gesicht. «Das Dorf liegt irgendwo in der schottischen Provinz, und es hat kaum mehr als tausend Einwohner. Dafür aber über zehn Buchläden, und das Book Festival ist tatsächlich international bekannt.»
«Es ist schon in zwei Wochen!» Betty traute ihren Augen kaum, als sie das Datum auf der Einladung erblickte.
«Ich weiß, es ist ungewöhnlich kurzfristig, aber …», Katherine senkte ihre Stimme. «Ich habe ein bisschen recherchiert und herausgefunden, dass 2013 Joanna Lumley dort Stargästin war. Joanna Lumley! Sie ist nach Schottland geflogen, hat ihr neues Buch vorgestellt und sich mit Schulkindern fotografieren lassen. Sie war sogar mit den Einheimischen im Pub und hat Karaoke mit ihnen gesungen! Das musst du natürlich nicht», fügte sie schnell hinzu, als sie Bettys erschrockenen Blick bemerkte. «Es reicht sicher schon, wenn du ein bisschen liest und vielleicht ein oder zwei Fotos von dir mit den Einheimischen machen lässt – oder zumindest mit einer Kuh oder einem Schaf. Das würde dir sicher eine ganze Menge Aufmerksamkeit bringen. Internationale Aufmerksamkeit! Und überleg doch nur, in welche Fußstapfen du treten würdest: Joanna Lumley!»
Betty streichelte Max, der es sich inzwischen auf ihren Füßen bequem gemacht hatte, über die störrischen Locken. Sie hatte kein Problem mit Schulkindern oder Einheimischen, und auch nicht mit Kühen oder Schafen, aber sie hatte ein Problem mit Menschenmengen – was Katherine genau wusste.
Einen Moment zögerte sie. Auf den ganzen Hollywoodzirkus hatte sie keine Lust mehr, darin hatte sie gesteckt, seit sie vierzehn war. Aber Filmdrehs, die vermisste sie schon. Genauso wie Lesungen. Es war immer schön gewesen, direkt vor ihren kleinen Zuhörerinnen und Zuhörern zu sitzen, manchmal auch in ihrer Mitte, in ihre leuchtenden Augen zu schauen und zu spüren, wie sie mit Farah mitfieberten.
Aber dann dachte Betty an die Book Fair in New York, und an die Mutter mit dem kleinen Mädchen an der Hand, die sich in der Signierschlange rücksichtslos nach vorne gedrängt hatte, sie dachte an Hände, die nach ihr gegriffen hatten, und an Mason Archer. Das warme Gefühl, das sie gerade noch verspürt hatte, verschwand so jäh, wie es gekommen war.
«Es tut mir leid, aber es geht wirklich nicht.» Betty gab Katherine die Einladung zurück.
«Betty! Hallo! Darf ich rüberkommen?», schallte eine helle Stimme aus dem Nachbargarten auf die Terrasse herüber.
Betty, die sich gerade wieder mit ihrem Laptop auf die Hollywoodschaukel verzogen hatte, spürte, wie ihre Gesichtszüge sich entspannten, und sie musste lächeln.
«Natürlich! Ich habe schon den ganzen Morgen auf dich gewartet!», rief sie und sprang auf.
Ihr Garten war von dem der Nachbarn durch einen Zaun getrennt. Aber ganz hinten, am Ende des Grundstücks, war vor drei Jahren bei einem Sturm ein Baum darauf gefallen. Jamie, der kleine Sohn der Nachbarn, hatte zugeschaut, als die Arbeiter den Stamm in Stücke gesägt und abtransportiert hatten. Der Kleine hatte in seinem Rollstuhl, der viel zu groß für seinen schmächtigen Körper wirkte, so verloren ausgesehen, dass Betty ihn gefragt hatte, ob er zu ihr herüberkommen wollte, um mit ihr einen Cupcake zu essen und eine Tasse Kakao zu trinken. Die kaputten Latten im Zaun hatte Betty nach diesem Besuch nie ersetzen lassen, und über die letzten Jahre war zwischen ihr und dem mittlerweile achtjährigen James eine Freundschaft entstanden.
Jamie war auch der Einzige, der von der Mutmachgeschichte wusste, an der sie gerade arbeitete. Schließlich war er es gewesen, der sie zu Pete Pinguin möchte fliegen lernen inspiriert hatte. Denn seine Eltern Sue und Michael kümmerten sich zwar rührend um ihren Sohn und erfüllten ihm jeden Wunsch, der mit Geld zu erfüllen war. Aber Beine, mit denen er springen und mit anderen Kindern um die Wette laufen konnte, die konnten sie ihm nicht schenken.
In der Geschichte, die sie Jamie widmen wollte, wurde der kleine Pinguin Pete von den anderen Tieren in seiner Polarkindergartengruppe geärgert, weil er als einziger Vogel nicht fliegen konnte. Deshalb machte Pete sich zusammen mit dem Schneehasen Rudi auf die Suche nach jemandem, der ihm dabei half, es zu lernen. Auf der Reise erkannte Pete, dass er – genau wie Rudi – ganz eigene Talente hatte, und dass er gar keine Flügel zum Fliegen brauchte. Er konnte es auch mit dem Herzen tun.
«Hey!», begrüßte sie Jamie, der auf sie zurollte, trat hinter ihn und legte die Hände an die Griffe des Rollstuhls. Wenn das Gras etwas höher war, so wie jetzt, hatte der Junge Schwierigkeiten, sich ohne Hilfe vorwärtszubewegen. Sie schob ihn zur Hollywoodschaukel. «Rate mal, was heute in meinem E-Mail-Postfach war!»
Jamies Augen leuchteten. «Die Illustrationen?»
«Ja! Aber ich bin noch nicht so richtig glücklich damit.» Betty öffnete den Laptop und drehte ihn so, dass er die Bilder von Pete und Rudi sehen konnte, mit denen sie eine Grafikerin beauftragt hatte. «Was meinst du?»
Jamie betrachtet die Zeichnungen eine Weile konzentriert, bevor er antwortete: «Sie sind schön, aber ich weiß, wieso sie dir noch nicht so richtig gefallen: Pete und Rudi sehen irgendwie aus wie jeder Pinguin und jeder Schneehase.»
«Genau.» Betty seufzte. Die Illustrationen waren handwerklich gut – die Grafikerin Caroline, mit der sie schon seit Jahren zusammenarbeitete, verstand ihr Metier –, aber es fehlte ihnen das gewisse Etwas. Dabei wusste Betty ganz genau, wie ihre Figuren aussehen sollten! In ihrem Kopf sah sie sie deutlich vor sich. Doch bisher hatte sie es einfach noch nicht geschafft, diese Bilder für Caroline durch Worte greifbar zu machen. Dies war jetzt schon ihr dritter Versuch, und noch immer überzeugte er Betty nicht. «Pete und Rudi sehen einfach zu normal aus. Dabei sind sie doch etwas ganz Besonderes. Wie die Geschichte. Unsere Geschichte.» Sie lächelte Jamie an, und er lächelte zurück.
«Wie weit bist du denn?», erkundigte er sich, und sie zeigte es ihm.
«Fast die Hälfte habe ich jetzt geschrieben. Pete ist gerade im Zirkus und bittet den Zirkusdirektor, ihn in eine Kanone zu stecken und abzufeuern, um zu sehen, ob er sich irgendwie in der Luft halten kann. Was meinst du? Soll der Direktor das machen?»
«Ja!» Jamie gluckste.
Während der Junge las, was sie seit seinem letzten Besuch geschrieben hatte, schaute Betty sich noch einmal die Illustrationen an. Nein! Zwar waren sie schon viel besser als die ersten, aber für diese Geschichte mussten sie perfekt sein. Sie hatte sich nämlich dazu entschlossen, sie Katherine unter einem Pseudonym anzubieten. Wenn Katherine ablehnte, würde sie sich damit an andere Literaturagenturen und Verlage wenden. Betty hoffte so sehr, dass sich jemand dafür begeistern konnte! Für diese Geschichte, die Jamie und anderen Kindern immer vor Augen halten sollte, wie einzigartig sie waren, wünschte sie sich einen großen Verlag mit all seinen Marketingmöglichkeiten.
Dass sie den ohne Weiteres bekommen würde, wenn sie Pete, den Pinguin, unter ihrem Namen Betty Andrews verkaufte, war ihr klar. Aber sie musste einfach wissen, ob die Geschichte auch dann gut genug war, wenn kein berühmter Name auf dem Buchcover stand! Sie musste wissen, ob sie als Schriftstellerin gut genug war, um es auch ohne diesen Namen zu schaffen!
Ein Geräusch, das vom Haus kam, ließ Betty zusammenzucken: Es war ein Schrei – und das Geräusch von zersplitterndem Glas.
Grandma! Betty sprang auf und rannte hinein. Ihre Großmutter lag inmitten von Glasscherben im Wintergarten und hielt sich mit blassem Gesicht den linken Knöchel.
«Was ist denn passiert?» Betty kniete sich neben sie.
«Ich habe gesehen, dass Jamie da ist.» Die sonst so kräftige, resolute Stimme ihrer Grandma klang dünn und zittrig. «Da wollte ich ihm ein Glas von meiner selbst gemachten Limonade bringen. Und dabei muss ich gestolpert sein.»
Wahrscheinlich wegen ihrer hohen Absätze, dachte Betty und stöhnte leise. Wieso konnte Grandma nicht Hausschuhe anziehen wie andere Leute auch?
Inzwischen war auch Jamie herbeigerollt und sah ihre Grandma aus großen Augen an.
«Hallo Jamie!», sagte Helena. «Ich hoffe, ich habe dich durch meinen Schrei nicht zu sehr erschreckt!»
Er schüttelte den Kopf. «Hast du dir was gebrochen?»
«Nein, nein, ich steh schon gleich wieder aufrecht.» Sie stützte sich mit der Hand ab und machte Anstalten, sich nach oben zu drücken, aber Betty hielt sie davon ab.
«Es ist doch alles voller Glassplitter!» Sie griff ihrer Großmutter unter die Achseln und zog sie hoch, doch als Helena ihren Fuß aufsetzen wollte, stöhnte sie vor Schmerz auf.
«Es geht nicht», sagte sie kläglich.
Der Fuß war gebrochen! Und nicht nur das: Beim Sturz hatte sich Grandma auch noch zwei Bänder gerissen. Nachdem Betty sich vergewissert hatte, dass ihre Oma im Krankenhaus gut versorgt wurde, war sie nach Hause zurückgefahren, um ein paar Sachen für sie zusammenzupacken.
Die Operation fand am nächsten Morgen statt, und danach würde Grandma noch mindestens zwei Tage im Krankenhaus bleiben müssen. Kosmetika, Unterwäsche, zwei, drei Nachthemden, einen Morgenmantel – was brauchte man sonst noch für einen Aufenthalt im Krankenhaus? Etwas zum Lesen und ein Kreuzworträtsel oder Sudoku vielleicht. Und das iPad mit Kopfhörern.
Betty betrat das Badezimmer ihrer Großmutter und packte Hautcreme, Zahnbürste und Zahncreme in einen Kulturbeutel. Dann öffnete sie die Tür zum Ankleidezimmer. Es war ziemlich eng, aber lang wie ein Schlauch und gut bestückt, was jedoch nicht daran lag, dass Grandma sich ständig neue Kleider kaufte, sondern daran, dass sie einfach nichts wegwerfen konnte.
Wo ihre Großmutter wohl ihre Unterwäsche und die Nachthemden aufbewahrte? Wahllos öffnete Betty eine Schranktür und eine Schublade nach der anderen und stieß dabei auf eine Menge alter Bekannte. Als kleines Mädchen hatte sie es nämlich geliebt, sich Grandmas Kleider anzuziehen, sich ihre Hüte aufzusetzen, ihre Schuhe anzuprobieren und auf diese Weise in verschiedene Rollen zu schlüpfen: Dann spielte sie eine arrogante Dame auf dem Weg zu einer Wohltätigkeitsveranstaltung oder eine gestresste Mutter, die sich gerade zu einer Yogastunde fertig macht, nachdem sie ihre beiden Kinder in den Kindergarten gebracht hat. Sie schlüpfte in die Rolle einer Gärtnerin, Köchin, Büroangestellten … Grandmas Kleiderschrank bot für ziemlich viele Charaktere die nötige Verkleidung.
Betty nahm ein langes dunkelrotes Samtkleid mit Spitzenkragen heraus und ließ versonnen den weichen Stoff durch ihre Finger gleiten. In diesem Kleid hatte sie damals ein adliges Mädchen gespielt, das sich im feudalen Landhaus seiner Eltern furchtbar langweilte und viel lieber ein einfaches Mädchen gewesen wäre, das mit anderen Kindern auf der Straße spielen konnte.
Für diese Rolle hatte Betty nicht groß schauspielern müssen. Es war nicht so, dass Grandma sie eingesperrt hätte, aber sie war lange Jahre überfürsorglich gewesen. Stets war sie mitgekommen, wenn Betty zum Spielplatz oder in den Park ging, und wenn sie mit einer Freundin zum Spielen verabredet war, brachte Grandma sie bis vor deren Haustür und holte sie dort auch wieder ab. Die Welt der Fantasie war damals ihre Zuflucht gewesen, und sie war es bis heute geblieben. Dort konnte sie tun und lassen, was sie wollte.
Betty hängte das Samtkleid zurück, als ihr in einer Ecke des Schranks ein ziemlich großer dunkler Koffer auffiel, der eine auffällig geschwungene Form hatte. Betty schob die Kleider beiseite und zog ihn hervor. Es war ein Instrumentenkoffer. Merkwürdig! Grandma spielte überhaupt kein Instrument.
Betty öffnete den Koffer und sah, dass ein Cello darin lag. Sie zupfte an einer Saite, und ein weicher, warmer Klang ertönte. Wieso bewahrte Grandma ein Cello in der hintersten Ecke ihres Kleiderschranks auf? Hatte es schon immer dort gestanden?
Vorsichtig nahm sie das Cello aus dem Kasten. Es reizte sie herauszufinden, welche Töne sie dem Instrument wohl entlocken konnte. Aber als sie sich den Bogen herausnehmen wollte, der im Deckel des Koffers befestigt war, entdeckte sie dahinter einen braunen Umschlag. Er hatte die Größe eines Schulhefts – und er war nicht verschlossen. Ein paar Augenblicke hielt Betty ihn prüfend in der Hand. Dann siegte ihre Neugier, und sie öffnete ihn.
In dem Umschlag waren Zeichnungen, so farbenprächtig und detailverliebt, dass Bettys Herz unwillkürlich schneller schlug: ein Vogel, der auf dem Rand eines Blumentopfs sitzt und zu einer großblättrigen Pflanze hinaufschaut; eine Katze, die es sich auf einem mit Blumen bedruckten Sessel bequem gemacht hat, ein Bär auf einem Fahrrad, hinter sich auf dem Gepäckträger ein Hase, der sich an seinen breiten Rücken klammert; und eine Frau im langen Kleid, inmitten von Schmetterlingen auf einer Blumenwiese. Ihr wehendes Haar verdeckte ihr Gesicht. Es war lang und honigblond wie das von Betty.
Das war wirklich alles ziemlich kurios! Bisher hatte Betty immer geglaubt, von ihrer Großmutter ein ziemlich vollständiges Bild zu haben. Schließlich hatte sie in ihrem bisherigen Leben kaum einen Tag ohne sie verbracht. Selbst bei ihrer Geburt war Helena schon dabei gewesen. Grandma hatte sie großgezogen, da Bettys neunzehnjährige Mutter noch zu jung gewesen war, um die Verantwortung für ein kleines Kind zu übernehmen – und außerdem mehr an ihrer Karriere als an ihrem Baby interessiert. Auch als Betty später selbst Karriere machte, hatte Grandma sie fast immer begleitet: zu Filmdrehs genauso wie zu öffentlichen Auftritten. Wenn sie früher wirklich Cello gespielt hätte, dann hätte sie das ihr gegenüber doch sicher einmal erwähnt!
Betty biss sich auf die Unterlippe. Und nun lag dieses Instrument vor ihr am Boden, zusammen mit diesen wunderschönen Zeichnungen! Sie warf einen Blick auf den Namen des Künstlers. «E. Smith» war ganz klein in die linke untere Ecke jedes Bildes gekritzelt worden. Auf den Rückseiten stand nichts, genauso wenig wie auf dem Umschlag, und auch der Cellokoffer war ansonsten leer. Sie setzte sich auf einen Samthocker, zückte ihr Handy und gab «E. Smith» und «Künstler» in eine Suchmaschine ein. Zu ihrer Überraschung spuckte diese tatsächlich einige Ergebnisse aus. Bettys Herz hüpfte aufgeregt, als sie las, dass E. Smith mehrere Kinderbücher bebildert und sogar Preise dafür bekommen hatte. Ansonsten war leider nur wenig über diese Person herauszufinden. Nicht einmal, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Im Internet stand lediglich, dass E. Smith zurückgezogen in einem kleinen Dorf an der Südwestküste Schottlands lebte.
In Schottland! Die Sache wurde immer merkwürdiger. Nicht nur, weil Betty nun schon das zweite Mal an diesem Tag auf dieses Land aufmerksam gemacht wurde, sondern auch, weil ihre Großmutter nie erwähnt hatte, dass sie dort schon einmal gewesen war. Oder hatte sie E. Smith in den USA kennengelernt?
Betty schaute auf ihre Armbanduhr. Viertel vor vier, auf Ibiza also bereits Viertel vor zehn. Aber Gigi war eine Nachteule, sie war hundertprozentig noch wach.
«Betty!», hörte sie kurz darauf die helle, immer ein wenig atemlos klingende Stimme ihrer Mutter, im Hintergrund heiße lateinamerikanische Rhythmen. «Warte einen Moment! Ich gehe nach draußen. – Verstehst du mich jetzt besser?»
«Ja. Wo bist du?», fragte Betty. Jetzt war zwar keine Musik mehr zu hören, dafür aber Stimmen und Gelächter.
«Auf einem Parkplatz. In Eivissa hat ein neuer Club eröffnet, und heute Abend spielt dort eine Liveband. Sofia wollte unbedingt hin.» Sofia war die Freundin, mit der Gigi auf Ibiza vor Jahren den Beachclub eröffnet hatte, den die beiden immer noch führten. «Gibt es einen bestimmten Grund für deinen Anruf?»
Obwohl es den tatsächlich gab, zog sich Bettys Magen ein klein wenig zusammen. Sie liebte Gigi, aber manchmal wünschte sie sich wirklich, sie würde sich ein bisschen mehr wie eine Mutter verhalten.
«Grandma ist gestürzt.» Betty erzählte, dass Grandma operiert werden und ein paar Tage im Krankenhaus bleiben musste. Dann kam sie auf das Instrument zu sprechen. «Hat sie dir gegenüber einmal erwähnt, dass sie früher Cello gespielt hat?»
Gigi überlegte einen Moment. «Nein, davon hat sie nichts gesagt. Vielleicht hat sie das Instrument gekauft, weil sie vorhatte, damit anzufangen?»
«Das kann ich mir nicht vorstellen», sagte Betty.
«Oder sie bewahrt es für jemanden auf.»
«Für wen denn? Es lagen auch Zeichnungen in dem Cellokasten. Ich habe den Namen des Künstlers oder der Künstlerin gegoogelt. Die Person lebt in Schottland. Grandma war doch nie in Schottland, oder?»
«Nicht, dass ich wüsste. Aber ich habe auch Bilder von einer Künstlerin aus Tansania in meiner Wohnung, ohne dass ich jemals dort gewesen bin.»
Hm, da war natürlich was dran! Aber die Zeichnungen in Verbindung mit dem Cello … beides versteckt in Grandmas Kleiderschrank …
«Gigi! Wo bleibst du denn?», hörte Betty eine Frauenstimme auf Spanisch fragen.
«Ich muss wieder rein!», sagte Gigi. «Die Band fängt gleich an, und wenn wir noch einen Platz vorne an der Bühne bekommen wollen … Warum fragst du deine Grandma nicht einfach selbst nach dem Cello und den Zeichnungen, wenn es dich so beschäftigt?»
«Das werde ich machen.» Betty ließ das Handy sinken und steckte es in die Tasche. Wieso konnte ihre Mom sich nicht ein einziges Mal Zeit für sie nehmen und etwas anderes hintanstellen? Das Gespräch hatte kaum zwei Minuten gedauert. Ein paar Augenblicke legte Betty ihr Gesicht müde in ihre Handflächen, dann nahm sie sich noch einmal die Zeichnungen vor und betrachtete eine nach der anderen intensiv: die klare Linienführung, die vielen Details, die kräftigen Farben … Vor allem gefiel ihr, dass sie bei aller Fröhlichkeit auch eine gewisse Melancholie ausstrahlten. Dass die Figuren stark und schwach zugleich wirkten. Und dass alle Motive eine Geschichte zu erzählen schienen.
Betty war es unangenehm, ihrer Großmutter gegenüber zuzugeben, dass sie in ihren Sachen herumgeschnüffelt hatte. Dennoch musste sie den Rat ihrer Mutter beherzigen und Grandma darauf ansprechen. Schon allein, um mehr über E. Smith herauszufinden. Vielleicht lebte dieser Mensch ja noch. Hoffentlich! Denn wenn, dann wäre er – oder sie – der perfekte Illustrator für Pete Pinguin und seine Freunde.
«Wie schön!», wurde Betty von Grandma begrüßt, als sie mit einem Strauß Hortensien, Dahlien und Rosen in der Hand einen Tag nach der OP an ihrem Krankenbett auftauchte. Grandmas linker Fuß steckte in einem blauen Gehgips.
Betty musste schmunzeln, denn obwohl es noch recht früh am Morgen war – und ihre Großmutter sich in einem Krankenhaus befand –, hatte Grandma sich sorgfältig geschminkt, und ihre kinnlange, blond gesträhnte Pagenkopffrisur sah frisch geföhnt aus.
«Aber das wäre doch nicht nötig gewesen!», sagte Helena und nahm die Blumen entgegen. «Übermorgen komme ich doch schon raus, und dann geht es gleich ein paar Tage später zur Reha.» Sie verzog das Gesicht. Zwar hatte die Privatklinik auf Rhode Island einen ausgezeichneten Ruf und bot jeglichen Komfort, aber Betty wusste genau, dass ihr vor der Aussicht, mehrere Wochen auf engem Raum mit anderen Menschen verbringen zu müssen, graute. Seit Betty sie kannte, war sie immer eine Einzelgängerin gewesen.
«So schlimm wird es schon nicht werden.» Betty stellte die Blumen in eine Vase und zog sich einen Stuhl heran. «Du hast schließlich ein Einzelzimmer, dort kannst du sogar essen, wenn du keine Lust auf Gesellschaft hast.»
«Ich habe grundsätzlich keine Lust, in diese Reha zu gehen», grummelte Grandma.
«Aber der nette Oberarzt hat gesagt, dass du das musst. Zumindest, wenn du schon bald wieder wandern gehen willst. Das ist schließlich nach dem Kochen deine große Leidenschaft.»
«Er ist alleinstehend», sagte Grandma unvermittelt.
«Wer?» Betty brauchte einen Moment, um den Bogen zu schlagen. «Ach so, der Oberarzt.»
Grandma nickte. «Gut aussehend ist er auch, findest du nicht?»
«Ja, wenn man Männer mag, die aussehen, wie einem Werbespot für Zahnpasta entsprungen.» Betty zwinkerte ihr zu und bekam dafür einen spielerischen Klaps mit dem Kreuzworträtselheft.
«Ach du, irgendwann werde ich dir noch einen Mann backen müssen! An jedem hast du etwas auszusetzen.»
«Ich habe den Richtigen eben noch nicht gefunden», erwiderte Betty diplomatisch. Dass sie sich seit dem Erlebnis mit Mason Archer auch nicht mehr vorstellen konnte, dass das irgendwann einmal passieren könnte, verschwieg sie ihrer Großmutter besser. Es würde sie nur beunruhigen.
Aber auch schon vor Archer hatte sie sich schwergetan, sich auf eine Beziehung einzulassen. In der Filmbranche mangelte es ja wirklich nicht an attraktiven Männern, und sie hatte schon mit mehreren angesagten Schauspielern gedreht. Mit Rob, einem ehemaligen Mister Universe, hatte sie sogar zusammenziehen wollen. Mit seinen breiten Schultern war er der Typ des starken Beschützers, nach dem Betty sich immer gesehnt hatte. Aber ihre Beziehung war daran gescheitert, dass ihr ein charmantes Häuschen fernab des ganzen Hollywoodtrubels vorgeschwebt hatte, in einer Gegend, wo zumindest die Chance bestand, ungestört zum Einkaufen oder Essen gehen zu können. Rob dagegen hatte auf eine protzige Villa mit viel Beton und Glas in den Hollywood Hills oder am Malibu Beach bestanden. Überhaupt war ohne die Rollen, die er spielte, nicht viel von ihm übrig geblieben. Manchmal fragte Betty sich, ob das bei ihr genauso war.
«Du, Grandma …» Sie rückte den Stuhl ein wenig näher an das Bett, denn die Gelegenheit war einfach zu günstig. «Als ich deine Sachen für das Krankenhaus zusammengepackt habe …»
«Ja?»
«In einem deiner Kleiderschränke steht ein Cello.»
«Ein Cello?» Hätte Betty es für möglich gehalten, dass das Instrument nur zufällig im Besitz ihrer Großmutter war, oder dass es überhaupt keine Bedeutung für sie hatte, hätte sie diese Annahme spätestens jetzt widerrufen müssen. Denn Grandmas Gesicht wurde fast so weiß wie das Bettzeug, in dem sie lag.
«Ach so, ja. Das alte Ding. Ich wollte es längst weggeben. Aber … bisher bin ich einfach nicht dazu gekommen.»
«Warum hast du nie erwähnt, dass du früher Cello gespielt hast?»
«Weil … es …» Grandma spielte mit dem Perlenstecker an ihrem rechten Ohrläppchen. «Ich bin nicht davon ausgegangen, dass diese Information besonders bedeutsam für dich ist.»
«In dem Cellokoffer lagen auch Zeichnungen.»
«Du hast ihn geöffnet?» Hatte sich ihre Großmutter vorher unter ihrem Blick richtiggehend gewunden, schaute sie Betty nun direkt an, und ihr Ton war scharf geworden.
«Ich war neugierig, weil du nie davon erzählt hast, und wollte mir das Instrument ansehen.»
Grandma schwieg und starrte verbissen auf die Bettdecke.
«Die Zeichnungen sind wunderschön», startete Betty einen zweiten Versuch, sie zum Sprechen zu animieren. «Ich könnte mir vorstellen, dass etwas in der Art gut zu meinen Geschichten passen würde, und ich dachte mir, dass du mir vielleicht sagen kannst, wer die Bilder gezeichnet hat. E. Smith steht darauf.»
«Du hast doch schon eine Illustratorin für deine Bücher. Bist du nicht mehr zufrieden mit Caroline?» Grandmas verkrampft ineinander verschränkte Hände auf der Bettdecke bewiesen, dass sie immer noch angespannt war.
«Es geht nicht um Farah, sondern um eine andere Geschichte. Eine, die mir sehr viel bedeutet.»
«Davon hast du gar nichts erzählt.»
«Auch ich habe eben meine Geheimnisse», entgegnete Betty spitz, bedauerte es aber umgehend. «Ich meine, es ist alles noch nicht spruchreif. Aber es kann ja nicht schaden, frühzeitig nach Illustratoren Ausschau zu halten, und ich glaube, E. Smith wäre perfekt dafür. Kanntest du Smith persönlich?»
«Ja, aber nur sehr flüchtig, und es ist Jahrzehnte her, dass wir Kontakt hatten. Wahrscheinlich lebt E. Smith gar nicht mehr.» Grandma rutschte in ihrem Bett nach unten. «Sei mir nicht böse, aber ich würde jetzt gerne ein bisschen schlafen! Ich dachte immer, dass mich so schnell nichts umhaut, aber die letzten Tage waren ein bisschen viel für mich.»
Sie hätte das Cello verkaufen sollen! Und die Zeichnungen verbrennen! Kurz nach Bettys Geburt hatte Helena einen Versuch unternommen, diesen Teil ihres Lebens endlich hinter sich zu lassen. Und vor allem Ernest Smith. Diesen Künstlernamen hatten sie sich zusammen ausgedacht. «Ernest» stand für Hemingway, Helenas Lieblingsschriftsteller, «Smith» für Adam Smith, einen schottischen Philosophen, den er für seine zu seiner Zeit liberalen und fortschrittlichen Ideen verehrt hatte. Erschöpft ließ Helena sich in ihr Kissen zurücksinken. Sie hatte eine Zu-verkaufen-Annonce in der Zeitung aufgegeben, die Zeichnungen in eine Feuerschale gelegt und sich vorgestellt, wie sie als winzige Aschepartikel vom Wind davongetragen wurden – und mit ihnen der Teil ihres Lebens, der so schwer auf ihr lastete, dass sie manchmal gar nicht gewusst hatte, wie sie es schaffen sollte, morgens aufzustehen. Helena hatte das Streichholz angezündet und so lange in die züngelnde Flamme geschaut, bis sie ihre Haut berührte. Dann hatte sie sie ausgeblasen, die Zeichnungen aus der Feuerschale genommen, sie wieder zurück in den Cellokasten gelegt und der Zeitungsredaktion mitgeteilt, dass sie die Annonce zurückrief. Schuld war nichts, was man so einfach verbrennen konnte. Genauso wenig wie Erinnerungen. Die schmerzhaften genauso wenig wie die schönen.
Helena schloss die Augen, und ein Bild stieg in ihr auf. Das Bild eines Sees, der wie verzaubert im Abendlicht lag, und an dessen Ufer er saß. Helena spürte, wie sich ihre Lippen zu einem wehmütigen Lächeln formten.
Als Wirbelwind hatte Nanette ihre Tochter bezeichnet, und das war Elsie in der Tat! Bereits nach wenigen Tagen in Swinton Manor war Helena klar, wieso Nanette so zierlich war, dass es aussah, als könnte sie schon der kleinste Windhauch umwehen. Dieses kleine Mädchen hielt einen auf Trab. Seine Beine standen niemals still, genauso wenig wie sein Mundwerk. Und den Kopf hatte es voller verrückter Ideen. Trotzdem war Helena hingerissen von der Kleinen, die mit ihren langen blonden Haaren und den großen Augen aussah wie ein Engel. Genauso fasziniert war sie von der ganzen Familie. Von Reggie, der so viel ruhiger und besonnener war als sein Schwesterchen, von ihrem zurückhaltenden, aber liebenswürdigen Vater Frank und natürlich von Nanette. Die Lebensfreude und Fröhlichkeit dieser Frau waren einfach mitreißend, und sie ließ Helena alle Freiheiten. Helena hatte sogar ein kleines Auto zur Verfügung, damit sie die Umgebung erkunden konnte.
An jenem Abend war Helena spontan noch einmal losgefahren, denn Nanette hatte beim Essen erzählt, dass man im nahen Galloway Forrest Park an klaren Tagen wie diesem einen wundervollen Blick in den Sternenhimmel hatte. Ein wenig mulmig war ihr schon, als sie an einem Schild mit der Aufschrift Bruce’s Stone/Loch Trool von der Straße abbog und in den Park fuhr, denn die Dämmerung lag schon orangerot über den Baumwipfeln, und es würde nicht mehr lange dauern, bis es ganz dunkel war. Einen Moment fragte Helena sich, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, so ganz allein zu diesem Ausflug aufzubrechen. Vielleicht wäre Nanette ja mitgefahren, wenn sie sie gefragt hätte. Aber dann sagte sie sich, dass sie in ihrem bisherigen Leben viel zu wenig Abenteuer erlebt hatte. Und außerdem: Was sollte ihr schon passieren? Schließlich lebten keine Wölfe und Bären in dem Park, sondern lediglich Rotwild und kleine Tiere wie Eichhörnchen, Hasen und Füchse.
Es dauerte sicher eine Viertelstunde, bis Helena den Bruce’s Stone erreichte. Kreuz und quer führte ihr Weg sie durch das Waldgebiet, auf Straßen, die diesen Namen nicht verdient hatten. Da ihr kein einziges Auto ihr entgegenkam, befürchtete sie schon, irgendwo falsch abgebogen zu sein, doch schließlich endete der Wald, und eine freie Fläche tauchte vor ihr auf, in deren Mitte ein riesiger Findling stand. Nanette hatte ihr erzählt, er solle daran erinnern, dass auf diesem Schlachtfeld vor vielen Hundert Jahren ein schottischer Feldherr einen ruhmreichen Sieg gegen die Engländer errungen hatte. Doch es war nicht der Stein, zu dem Helena wollte, sondern der See, der am Rand des Schlachtfelds lag. Dort gingen Nanette und Frank nämlich immer mit den Kindern hin, wenn sie sich das nächtliche Lichtspektakel am Himmel anschauen wollten. Bis dahin musste sie sich allerdings noch etwas gedulden, denn noch war es allenfalls ein wenig dämmerig.
Helena parkte den Wagen ein paar Meter entfernt und stieg aus. Ein schmaler, steiniger Pfad führte zum Loch Trool hinab. Vorsichtig stieg sie ihn hinunter, als sie merkte, dass sie nicht allein war. Da saß bereits jemand am Ufer des Sees! Ein Mann, der einen Block auf den Knien hatte und zeichnete. Helena kannte ihn. «Heathcliff» nannte sie den Sohn von Nanettes und Franks Haushälterin insgeheim, denn mit seinen halblangen dunklen Haaren und der dunklen Kleidung hatte er sie bei ihrer ersten Begegnung sofort an die Figur aus Sturmhöhe, ihrem Lieblingsroman von Emily Brontë, erinnert. Seit ihrer Ankunft auf Swinton Manor hatte sie ihn nicht mehr gesehen, denn leider war nicht er es gewesen, der ihr Koffer und Cellokasten nach oben getragen hatte, sondern Frank.
Helena blieb stehen und überlegte, ob sie umkehren sollte. Noch hatte er sie nicht entdeckt, weil er ganz vertieft in seine Tätigkeit war. Schließlich fasste sie sich ein Herz und setzte ihren Weg fort.
Erst als sie fast direkt vor ihm stand, schaute er auf. Kurz huschte ein Ausdruck über sein Gesicht, den Helena nicht genau benennen konnte, dann lächelte er und stand auf.
«Oh, die schöne Helena! Was führt dich zu dieser späten Stunde an diesen romantischen Ort?»
Die schöne Helena! Helena wusste, dass er auf die Figur aus der griechischen Mythologie anspielte, und auf einmal fühlte sich ihr Mund ganz trocken an. Er hatte sich ihren Namen gemerkt. Und im silbrigen Schein des Mondlichts sah er noch besser aus als bei ihrer ersten Begegnung.
«Nanette hat mir erzählt, dass man von dieser Stelle aus besonders schön den Sternenhimmel anschauen kann.» Sie spielte nervös mit dem Autoschlüssel in ihrer Hand. «Und du bist hier, um zu zeichnen?»
Da war er wieder: Dieser Ausdruck auf seinem Gesicht, den sie nicht deuten konnte. «Ja», antwortete Heathcliff. «Aber bitte häng es nicht an die große Glocke. Im Herrenhaus müssen sie es nicht unbedingt wissen.»
Helena hob die Augenbrauen. «Wieso nicht? Du tust doch nichts Verbotenes.»
«In den Augen meiner Mutter schon. Sie meint nämlich, ich solle meine Zeit besser mit etwas Sinnvollem verbringen. Wie zum Beispiel, indem ich ihr im Herrenhaus helfe. Oder eine Ausbildung in der Molkerei oder der Destillerie bei uns im Ort anfange.» Er zog eine Grimasse, doch dann wurde seine Miene wieder ernst. «Aber für mich ist es etwas Sinnvolles. Ich werde mich im Herbst am College of Art in Edinburgh bewerben.» Die Leidenschaft, mit der er sprach, berührte Helena, und sie wusste genau, wie es war, wenn Eltern eigene Pläne mit ihren Kindern hatten.
«Darf ich sehen, was du gezeichnet hast?», fragte sie, und Heathcliff nickte.
Es war eine Buntstiftzeichnung des Sees und der Umgebung.
«Du kannst dir die anderen Zeichnungen auch anschauen», sagte er, und Helena blätterte zurück.
Landschaftsimpressionen wie die Szene am See gab es nur wenige in dem Block. Stattdessen sah Helena eine Blumenvase, eine Obstschale, ein Goldfischglas, eine schlafende Katze, einen Spatz an einer Pfütze.
«Wie schön!», rief sie spontan aus.
«Findest du diese Motive nicht zu langweilig?» An seiner angespannten Miene erkannte sie, dass ihm an ihrer Antwort etwas lag.