Das kleine Bücherdorf: Winterglitzern - Katharina Herzog - E-Book
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Das kleine Bücherdorf: Winterglitzern E-Book

Katharina Herzog

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Beschreibung

Ein Herzensort für alle, die Bücher lieben: Romantik, Freundschaft und Leseglück in einem malerischen schottischen Dorf voller Buchläden und Büchernarren. Der Auftakt zur neuen Serie von Bestsellerautorin Katharina Herzog.  Die junge Kunsthändlerin Vicky gerät durch Zufall an einen ungewöhnlichen Brief: Der 8-jährige Finlay aus Swinton-on-Sea in Schottland hat ihn an seine verstorbene Mutter geschrieben. Vicky ist berührt – aber auch neugierig, denn dem Brief liegt ein Foto bei, auf dem Finlay eine seltene Ausgabe von «Alice im Wunderland» in den Händen hält. Vicky reist nach Swinton, wo Graham, der Vater des Jungen, ein Antiquariat führt, und wird prompt für die neue Aushilfsbuchhändlerin gehalten. Swinton ist ein ganz und gar außergewöhnlicher Ort. Ein uriges Dorf voller Buchläden und Bücherwürmer und dazu eine Schar mitunter sehr eigenwilliger Einwohnerinnen und Einwohner. Unversehens gerät Vicky mitten in die Geschichte um Finlay, seinen Vater Graham – einen attraktiven Buchhändler und Witwer – und ein sehr wertvolles Buch. Doch sie hat auch etwas zu verbergen: dass sie mit einem Auftrag angereist ist, der ihre zarten Freundschaftsbande in Swinton zu zerreißen droht ... Liebe & Leseglück. Die bezaubernden Bücherdorf-Romane von Bestsellerautorin Katharina Herzog erzählen von romantischen Verwicklungen und sind eine Liebeserklärung an das Lesen und gemütliche Lesestunden vor dem Kamin. 

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Seitenzahl: 366

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Katharina Herzog

Das kleine Bücherdorf: Winterglitzern

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Ein einziges Buch kann dein Leben verändern …

 

Die junge Kunsthändlerin Vicky gerät durch Zufall an einen ungewöhnlichen Brief: Der achtjährige Finlay aus Swinton-on-Sea in Schottland hat ihn an seine verstorbene Mutter geschrieben. Vicky ist berührt – aber auch neugierig, denn dem Brief liegt ein Foto bei, auf dem Finlay eine seltene Ausgabe von «Alice im Wunderland» in den Händen hält.

Vicky reist nach Swinton, wo Graham, der Vater des Jungen, ein Antiquariat führt, und wird prompt für die neue Aushilfsbuchhändlerin gehalten. Swinton ist ein ganz und gar außergewöhnlicher Ort. Ein uriges Dorf voller Buchläden und Bücherwürmer, und dazu eine Schar mitunter sehr eigenwilliger Einwohnerinnen und Einwohner.

Unversehens gerät Vicky mitten in die Geschichte um Finlay, seinen Vater Graham – einen attraktiven Buchhändler und Witwer – und ein sehr wertvolles Buch. Doch sie hat auch etwas zu verbergen: dass sie mit einem Auftrag angereist ist, der ihre zarten Freundschaftsbande in Swinton zu zerreißen droht …

Vita

Katharina Herzog ist die deutsche Autorin für Liebesromane mit Fernweh-Garantie. Sie liebt es, ihre Leser an Sehnsuchtsorte wie Amrum, die Amalfiküste, Juist oder Kent zu entführen und diese Schauplätze auch selbst zu bereisen. Mit ihren Romanen schrieb sie sich nicht nur in die Herzen ihrer Leser, sondern eroberte auch die Bestsellerlisten. «Winterglitzern» ist der Auftakt zu einer Serie rund um das kleine Bücherdorf Swinton-on-Sea, die bezaubernde Liebesgeschichten mit einem einzigartigen Schauplatz verbindet. 

Impressum

 

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2022

Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Redaktion Anne Fröhlich

S. 22 Songtext «We’ll Meet Again», Musik + Text: Ross Parker und Hughie Charles

Zitate auf S. 332 und 333 aus: Michaela Zach, Saskia Baisch-Zimmer, «Das Funkeln der Sterne: Trost finden in Zeiten der Trauer», Freiburg 2021

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung FAVORITBUERO, München

Coverabbildung Sabina Wieners

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01372-8

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

«At any given moment, you have the power to say:

This is not how the story is going to end.»

Christine Mason Miller

Für Papa.

Du hast in mir die Liebe zu Geschichten erweckt!

PrologVicky

Der Sturm peitschte den Regen mit voller Wucht gegen das weiße Sprossenfenster. Einige Tropfen klammerten sich einen Moment an der Scheibe fest, bevor sie in Bächlein nach unten flossen, so schnell, dass Vicky ihnen mit den Augen nicht folgen konnte, geschweige denn mit dem Zeigefinger. Andere schafften es, auf ihrem Weg nach unten noch einmal anzuhalten, bevor auch sie der Schwerkraft nachgeben mussten.

Vicky rutschte auf der breiten Fensterbank hin und her, bis sie eine einigermaßen bequeme Sitzposition gefunden hatte, und presste ihre Nase gegen die Scheibe. Durch den immer dichter werdenden Regenschleier sah die Welt draußen ganz verschwommen aus. Wie ein Kaleidoskop aus Grautönen, in dem auf und ab wippende Boote die einzigen Farbkleckse bildeten. Die Straßen waren leer, denn niemand würde bei diesem Wetter freiwillig nach draußen gehen. Nicht einmal Autos waren unterwegs.

Vicky griff nach ihrer Tasse mit Kakao. Er war noch heiß, sie konnte die Tasse nur am Henkel anfassen, und Vicky musste erst ein bisschen pusten, bevor sie trinken konnte. Trotzdem wärmte der Kakao sie nicht. Genauso wenig wie das prasselnde Feuer im Kamin.

Seit sie hier waren, war ihr immer so kalt. Selbst wenn draußen die Sonne schien. Obwohl das Ferienhaus so nah am Meer lag, dass man nur ein paar Minuten gehen musste, um im Meer zu schwimmen oder am Strand Sandburgen zu bauen, wollte sie endlich nach Hause.

Um sich von ihrem Kummer abzulenken, nahm Vicky das Buch, das neben ihr auf dem Schaffell lag. Es war ihr Lieblingsbuch, Alice im Wunderland. Sie schlug es auf der Seite auf, an der das Lesezeichen steckte, und schaute sich die bunten Zeichnungen darin an. Die Zwillinge Diedeldei und Diedeldum mit ihren tennisballrunden Körpern und den dünnen Armen und Beinen. Die Grinsekatze. Den Eierkopf Humpty Dumpty. Den Märzhasen. Den verrückten Hutmacher. Die Herzkönigin, wie sie mit den Köpfen von Flamingos eine Runde Krocket spielte.

Aber nur die Bilder anzusehen, genügte ihr schon lange nicht mehr. Inzwischen konnte sie es kaum noch erwarten, in die Vorschule zu gehen und lesen zu lernen. Nach den Ferien war es endlich so weit! Zwar hatte sie es immer wunderbar gefunden, eng an Papa gekuschelt im Bett zu liegen, seinen Arm auf ihrer Schulter zu spüren und seiner dunklen Stimme zu lauschen, wenn er ihr vorlas, doch nun wollte sie endlich selbst erfahren, welche Welten sich hinter den vielen unterschiedlichen Zeichen verbargen, die sich Buchstaben nannten. Und sie wollte endlich wissen, ob Alice den Weg nach Hause fand. Es war schon ein paar Wochen her, dass Papa ihr das letzte Mal aus dem Buch vorgelesen hatte. Die meiste Zeit saß er nur da und starrte vor sich hin.

Vicky nahm wahr, wie sich die Zeichnung der Krocket spielenden Herzkönigin vor ihren Augen auflöste, und blinzelte ihre Tränen weg. Sie wünschte sich so sehr, genauso mutig zu sein wie Alice, die nach ihrem Sturz durch das Kaninchenloch ganz allein all den Gefahren entgegentreten musste, die im Wunderland auf sie warteten. Das würde Vicky sich nie trauen. Sie hatte ja schon vor Spinnen Angst! In jeder Ecke des alten Hauses schienen diese ekelhaften Tiere auf sie zu lauern und nur darauf zu warten, mit ihren vielen langen Beinen über ihre Haut zu krabbeln oder - noch schlimmer - sich in ihren Haaren zu verstecken. Obwohl das riesige Spinnennetz über der Vorhangstange schon seit ihrer Ankunft leer war, behielt sie es sorgsam im Auge, für den Fall, dass seine Bewohnerin doch wieder auftauchen würde. Zu Hause gab es keine Spinnen, dafür sorgte Mama schon.

Auf der Straße tat sich etwas. Ein Auto brauste heran und hielt direkt vor der Tür. Vicky sah, dass jemand ausstieg, aber sie konnte nicht erkennen, wer, denn dazu hatte der Wagen zu dicht an der Hausmauer geparkt. Konnte das sein? Ja! Das Auto war klein und rot.

Endlich war er da! Der Mensch, den sie mehr liebte als irgendjemanden sonst auf der Welt und auf den sie so lange gewartet hatte. Vicky ließ Alice im Wunderland fallen und rannte nach unten.

25 Jahre später

Kapitel 1Graham

«Fertig?»

Finlay schüttelte den Kopf. Dann senkte er seinen brünetten Schopf wieder in Richtung des Blocks, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Seine Zungenspitze schaute ein Stück zwischen seinen Lippen hervor, wie immer, wenn er sich konzentrierte. Seinen Arm hatte er so auf dem Schreibtisch platziert, dass Graham nicht erkennen konnte, was er schrieb. Er sah nur die ersten beiden Zeilen.

Liebe Mama! Ich weiß, dass Du jetzt im Himmel wohnst, aber ich hoffe trotzdem, dass Du meinen Brief bekommst …

Graham drehte den Kopf weg und blinzelte. Drei Jahre war Patricia nun schon tot, aber weder war der Schmerz weniger geworden, noch hatte Graham gelernt, mit ihm zu leben - so wie es ihm von wohlwollenden Mitmenschen prophezeit worden war, die keine Ahnung hatten, dass man die große Liebe nur einmal im Leben fand. Morgens wachte er mit dem Gedanken an Pat auf, und abends schlief er damit ein. Auch im Buchladen erinnerte ihn alles an sie.

The Reading Fox stand in goldenen Buchstaben auf dem flaschengrünen Metallschild über der Tür. Wie der Bau eines Fuchses breitete sich der Laden, ausgehend von einer zweigeschossigen Galerie, auch nach hinten zum Garten hin aus. Die engen Gänge führten zu kleinen Zimmern mit niedrigen Decken, die Namen trugen, die noch von Grahams Schwiegervater, dem alten Fox, stammten: das Transportmittelzimmer, das Schottlandzimmer oder das Schnulzenzimmer - je nachdem, welche Bücher sich in den hohen Regalen stapelten. Pat hatte alle Räume passend zu ihrem Thema dekoriert. Im Krimizimmer hingen Pistolen an der Wand und ein Stück Seil, das angeblich ein Original-Galgenstrick war. Im Musikzimmer hatte sie ein Skelett an die Decke gehängt, das Geige spielte, und am Fenster stand dort ein Klavier. Die letzten Noten, die sie gespielt hatte, standen noch aufgeschlagen darauf. Es war das Hauptthema des französischen Klassikers Die fabelhafte Welt der Amélie.

Auch sonst hatte Graham nichts im ‹Fuchsbau› verändert. Nicht einmal die alte Registrierkasse hatte er gegen ein moderneres Modell ausgetauscht, obwohl sich das riesige Ding zickiger verhielt als eine Hollywood-Diva.

Weil das Musikzimmer das größte Zimmer im Fuchsbau war und sich darin neben dem Klavier auch ein Ungetüm von Schreibtisch befand, das sicher schon den Zweiten Weltkrieg erlebt hatte, ließ Graham Finlay dort den Brief an seine Mutter schreiben.

Da sein Sohn noch immer nicht zum Ende kommen wollte, stand Graham auf und ging zum Klavier hinüber. Er setzte sich auf den mit Leder bezogenen Hocker und legte die Hände auf die Tasten. Geduldig hatte Pat ihm gezeigt, welche Tasten er drücken musste, sie hatte sogar seine Finger geführt, bevor auch sie lachend hatte zugeben müssen, dass er ein hoffnungsloser Fall war. Wenn er die Augen schloss, konnte er sich für einen Moment einbilden, dass sie wieder neben ihm saß.

«So, jetzt!» Die Zungenspitze war wieder zwischen Finlays Lippen verschwunden und hatte Platz für ein zufriedenes Lächeln gemacht. «Ich muss nur noch unsere Adresse auf den Briefumschlag schreiben.»

«Glaubst du, Mummy weiß die nicht mehr?»

«Sicher ist sicher!» Finlay zog den Umschlag zu sich heran. Finlay Erskine, Harbour Road 8, Swinton-on-Sea, schrieb er in seiner großen runden Kinderschrift darauf. Dabei drückte er die Spitze seines Schreiblernfüllers so fest auf, dass die i-Punkte zu kleinen Löchern wurden.

Graham sah auf die Uhr. Er würde froh sein, wenn dieser Tag endlich vorbei war! Leider war es erst eins. Er nahm seine Brille ab und massierte sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel.

Endlich schraubte Finlay den Füllfederhalter zu. Er faltete den Brief zwei Mal und steckte ihn in den Umschlag. «Jetzt müssen wir nur noch den Luftballon aufblasen!», verkündete er.

Den Luftballon hatten sie schon gestern gekauft. Er war herzförmig, und Wir vermissen dich, stand in goldenen Schreibschriftbuchstaben auf dem perlmuttfarbenen Plastik. Graham hätte nie gedacht, dass der griesgrämige alte Pebbles so etwas in seinem Sortiment hatte. Aber im Grunde gab es von Zahnseide über Unterwäsche bis hin zu Äpfeln nichts, was er in seinem vollgestopften Gemischtwarenladen nicht führte. Zum Glück! Newton Steward, die nächstgrößere Stadt, lag über zehn Meilen von Swinton entfernt.

«Wo sollen wir ihn steigen lassen? Vor der Tür?»

«Nein!» Finlay sah Graham empört an. Seine runden braunen Augen mit den langen, dichten Wimpern ähnelten denen seiner Mutter viel zu sehr. «Hier unten kann er überall hängen bleiben. Wir müssen auf den Hügel fahren!»

Graham schluckte den Kloß in seiner Kehle hinunter. Auch von dort würde der Luftballon den Weg zu Pat nicht finden. Aber das konnte er Finlay nicht sagen. Er griff nach seinem an den Ellbogen schon etwas abgewetzten Tweedmantel und wickelte sich seinen Wollschal - eines der letzten Geschenke von Pat - um den Hals. Dann hängte er ein Schild mit der Aufschrift Closed in die Glastür, und gemeinsam mit Finlay verließ er den Laden, um ins Auto zu steigen und sich auf den Weg zum Swinton Hill zu machen.

 

Am Morgen hatte es geschneit, doch jetzt waren nur noch die fünf Bergspitzen der Range of an Awful Hand weiß bestäubt. Wie eine uneinnehmbare Festung erhob sich Swinton Manor auf dem Hügel und wachte über das gleichnamige Städtchen zu seinen Füßen. Beim Näherkommen kam man jedoch nicht umhin zu bemerken, dass das Herrenhaus, in dem einst einer der ältesten Clans Schottlands residiert hatte, seine besten Tage schon lange hinter sich hatte. Zu allen anderen Jahreszeiten konnten dicht belaubte Efeustränge den bröckelnden Putz kaschieren, doch jetzt, wo diese nur noch dürre, braune Zweige waren, sah man den Verfall des Gebäudes deutlich. Eine Fensterscheibe im ersten Stock hatte sogar einen Riss, das war bei Grahams letztem Besuch im Herbst noch nicht so gewesen.

Er parkte den Mini vor dem Anwesen, und sie stiegen aus. Sofort begann der Wind an dem Luftballon zu zerren und ließ ihn unternehmungslustig tanzen. Gut, dass Graham die Schnur, an der er befestigt war, vor der Abfahrt noch fest um Finlays Handgelenk gebunden hatte! Sein Sohn hätte ein riesiges Drama veranstaltet, wenn sich der Luftballon im falschen Moment losgerissen hätte. Schon seit Tagen plante Finlay, ihn an Patricias Todestag steigen zu lassen. Für diesen feierlichen Moment hatte er sogar Musik ausgesucht.

Finlay nahm Graham bei der Hand und führte ihn zu einer Stelle auf dem Hügel, von der man über die Marschwiesen, die ihr Heimatstädtchen umgaben, bis zum Meer schauen konnte. «Hier lassen wir den Luftballon fliegen! Bestimmt hat sich Mama eine Wolke direkt über dem Meer ausgesucht. Sie war doch immer so gern am Meer.» Finlay löste seine Hand aus der von Graham und ließ sich das Handy geben. Obwohl er erst acht war, konnte er schon besser damit umgehen als sein Vater! Pat würde sich im Grab umdrehen, wenn sie das sehen könnte, dachte Graham.

Finlay drückte auf dem Handy herum, und die ersten Takte von My Heart Will Go On erklangen. Graham unterdrückte ein Aufstöhnen. Er hätte wirklich gerne gewusst, wer Finlay all das in den Kopf gesetzt hatte. Bestimmt Gertie. Mick und Tessa ließen ihre Tochter viel zu viel fernsehen. Aber dann schaute er zu seinem Sohn hinunter, der die Schnur des Luftballons fest in beiden Händen hielt und dessen Blick sich irgendwo zwischen den Wolken verlor.

Er ist ein toller Kerl geworden, ich wünschte, du könntest ihn sehen, sagte Graham stumm in das schimmernde Blau hinein. Dann wartete er auf ein Zeichen. Auf einen Sonnenstrahl, der hinter einer Wolke hervorblitzte, einen plötzlichen Windstoß, eine Möwe, darauf, dass der Akku seines Handys plötzlich den Geist aufgab und Céline Dion unterbrach, auf irgendetwas, das ihm sagte, dass Pat wirklich auf einer der Wolken saß und auf sie hinunterschaute. Doch nichts geschah, außer dass sich weiter unten auf der Straße der alte Bus seines Vaters den Hügel hinaufkämpfte. Und das konnte er beim besten Willen nicht als Zeichen deuten.

«Sollen wir den Luftballon schnell fliegen lassen?», fragte er Finlay. Hatten sich seine Augen gerade noch feucht angefühlt, war nun jeglicher Drang zu weinen verschwunden. «Dein Großvater kommt.»

Doch leider tat ihm Finlay nicht den Gefallen zu nicken. «Gran kann ruhig dabei sein», sagte er stattdessen.

Graham seufzte. Schade! Der alte Haudegen hatte die Gabe, allein durch seine Anwesenheit die erhabensten Augenblicke zu zerstören.

So war es auch dieses Mal. «Du hast vergessen, den Laden abzusperren!», erklärte sein Vater, sobald er sie erreicht hatte. «Dabei treibt sich schon seit heute Morgen eine höchst verdächtige Person im Dorf herum und schaut sich überall um.» Paul Erskines hatte die dichten Brauen vorwurfsvoll zusammengezogen.

Graham seufzte erneut, dieses Mal aber unüberhörbar. Sein Dad las leidenschaftlich gerne Krimis, und er bedauerte nichts mehr, als dass die Verbrechensrate von Swinton-on-Sea schon seit Jahrzehnten bei quasi null Prozent lag. Das hielt ihn aber nicht davon ab, überall Verbrechen zu sehen. Seit Paul Erskines im Ruhestand war, spielte er sich als Hüter über Recht und Ordnung auf.

«Und was sollte diese höchst verdächtige Person stehlen? Den Reiseführer aus dem Jahr 1950, der an der Kasse liegt, weil ich vergessen habe, ihn wieder einzusortieren? Oder gleich die komplette Registrierkasse? Viel Spaß beim Öffnen! Oder beim Mitnehmen.» Als das klobige Ding das letzte Mal kaputt gewesen war, hatte sich Reggie McDonald einen Hexenschuss zugezogen, als er es mit in seine Werkstatt nehmen wollte. «Es sind geschätzt zwanzig Pfund drin.»

«Auch Kleinvieh macht Mist», brummte sein Dad. Obwohl es für schottische Verhältnisse unglaublich kalt war, hatte er sich nicht die Mühe gemacht, seinen Parka zu schließen, und darunter trug er nur ein rot kariertes Flanellhemd. Gegen Kälte war er immun. Und auch gegen die Gemütszustände seiner Mitmenschen. Wahrscheinlich hätte er sogar auf der Beerdigung von Prinz Philip unpassende Bemerkungen gemacht, wenn die Queen den Fehler gemacht hätte, ihn einzuladen. «Wieso steht ihr beiden eigentlich mit einem Luftballon hier oben rum und hört euch dieses Gejaule an?»

«Ich habe Mama einen Brief geschrieben, und der Luftballon soll ihn zu ihr in den Himmel bringen», sagte Finlay, und Graham bewunderte seinen Sohn für seine Gelassenheit. Er selbst hätte seinem Vater - wie so oft - am liebsten den Hals umgedreht. Gejaule … Wobei er damit zugegebenermaßen nicht ganz unrecht hatte.

«Oh!» Dad sah aufrichtig betroffen aus. «Heute ist ja ihr Todestag. Daran habe ich gar nicht mehr gedacht.»

Er dachte an so einiges nicht … «Können wir jetzt weitermachen?», fragte Graham unwillig und zog Finlay an sich. Die Ankunft seines Vaters hatte zumindest etwas Gutes: My Heart Will Go On war inzwischen zu Ende, und deutlich beschwingter erklang Vera Lynn mit We’ll Meet Again aus seinem Handy.

We’ll meet again.

Don’t know where,

Don’t know when.

But I know we’ll meet again some sunny day.

Stumm formten Grahams Lippen die Worte mit.

Finlay drückte den Luftballon erst noch einige Augenblicke fest an seine Brust, bevor er die Arme nach oben streckte und ihn freiließ. Einen Moment wirkte der Ballon unentschlossen, so als wisse er nicht, wohin er sollte. Doch dann wurde er durch eine Windbö nach oben gewirbelt und trat seine Reise zum Himmel an. Erst noch in recht gemäßigtem Tempo, dann immer schneller und zielstrebiger stieg er höher und höher. Finlay juchzte und rannte den Hügel hinunter, um ihn ein Stück zu begleiten. Dabei hob sich seine gelbe Jacke leuchtend vom fahlen Wintergrün des Hügelgrases ab.

We’ll meet again.

Don’t know where,

Don’t know when.

Graham spürte eine Hand auf seiner Schulter. «Du vermisst sie immer noch, nicht wahr?», fragte sein Vater.

Er nickte und versuchte, den immer kleiner werdenden Luftballon zwischen den Wolken nicht aus den Augen zu verlieren.

«Ich auch. Patricia war etwas Besonderes.» Dads Stimme klang ungewohnt sanft. «Aber sie würde nicht wollen, dass du ewig trauerst.» Er knuffte ihn in die Seite. «Du solltest dir endlich wieder ein Mädchen suchen. Auswahl hättest du unten im Dorf genug. Ich verstehe gar nicht, wieso dir keine von den hübschen jungen Dingern gefällt, die nur in den Buchladen kommen, um dich anzuschmachten.»

Ohne den Blick von dem Ballon abzuwenden, der jetzt nur noch als stecknadelgroßer Punkt am Himmel zu erkennen war, lachte Graham auf. Erstens war ihm noch nicht aufgefallen, dass die weibliche Kundschaft seinetwegen Schlange stand - die meisten seiner Kundinnen waren deutlich über fünfzig –, und zweitens …

«Es ist nicht so leicht, unter den Milliarden Frauen auf dieser Welt genau diejenige zu finden, die dein Herz berührt.»

Ein paar Augenblicke schwieg Dad, bevor er sagte: «Du hast recht, mein Sohn, du hast ja so recht.» Er hieb ihm mit seiner Pranke auf die Schulter, so fest, dass Graham beinahe in die Knie ging. «Aber vielleicht würde es fürs Erste genügen, wenn das hübsche Ding etwas anderes von dir berührt.»

Kapitel 2Vicky

«Zum Ersten, zum Zweiten und … zum Dritten!»

Vicky schreckte hoch. Sie war doch tatsächlich eingenickt. Das war ihr ja noch nie passiert! Hoffentlich hatte es keiner gesehen. Sie schielte zu ihrem Vater hinüber. Doch der hatte seinen Füller von Montblanc in der Hand, den ihm Eva zum Geburtstag geschenkt hatte, und schrieb etwas auf den Block seiner Schreibmappe. Obwohl ihm die Höhe der einzelnen Gebote direkt nach der Auktion zusammen mit den Angaben zu den Käufern vorliegen würden, konnte er es nicht lassen, stets alles zu protokollieren. Er schlief nur ruhig, wenn er über alles und jeden die Kontrolle hatte.

Vicky rückte den Blazer ihres cremefarbenen Hosenanzugs zurecht und straffte die Schultern. Auf dem Tisch von Franz, der seit zwanzig Jahren alle Auktionen im Kunsthaus Lambach durchführte, stand das Objekt, das gerade ersteigert worden war: Es war eine Druckgrafik. Sie zeigte den Kopf einer jungen Frau, der auf dem Schoß eines älteren Mannes ruhte, der ihr tröstend die Hand auf den Rücken gelegt hatte. Vicky hatte die Zeichnung bei einem Vorstandsmitglied einer großen Autofirma entdeckt. Der Mann verfügte über den Nachlass seines Vaters, in dem sich eine Menge Werke von ganz unterschiedlicher Qualität befunden hatten. Der Name der Künstlerin, Sidonie Springer, hatte Vicky damals noch nichts gesagt, und sie glaubte auch nicht, dass ihr Bild viel Geld einbringen würde; auf tausendzweihundert Euro hatte sie den Wert der Grafik geschätzt. Aber etwas an dem Bild hatte sie berührt. Am liebsten hätte sie es dem Mann für diesen Preis selbst abgekauft, vielleicht hätte er es ihr sogar gegeben.

Vicky reckte den Hals, um zu sehen, für wie viel die Grafik versteigert worden war. 14500 Euro hatte Hubert in seiner steilen Handschrift notiert. 14500! Hatte ihr Vater vielleicht eine Null zu viel aufgeschrieben? Nein! Er machte niemals Fehler. Vicky setzte sich gerade hin. Bezog sich die Summe vielleicht auf das vorherige Objekt, und die Versteigerung der Grafik fing jetzt erst an? War sie vielleicht länger als nur für ein paar Sekunden eingenickt?

Nein, das war es auch nicht! Jetzt sah Vicky, dass die Druckgrafik durch einen Eichenholzblattschnitt aus dem 15. Jahrhundert ersetzt wurde, auf dem die heilige Veronika mit dem Schweißtuch Christi abgebildet war.

14500! Obwohl Vicky es immer noch nicht so recht glauben konnte, spürte sie, wie sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. Der Preis eines Kunstwerks ließ sich nicht objektiv bestimmen, es war immer so viel wert, wie jemand bereit war, dafür zu bezahlen. Ihr Instinkt, dass diese Druckgrafik etwas Besonderes war, hatte sie nicht getrogen. Auch wenn sie mit einem Gebot in dieser Höhe in ihren kühnsten Träumen nicht gerechnet hätte. Und ausgerechnet diese Auktion hatte sie verpasst …

Vicky hatte in der Nacht nicht gut geschlafen, denn sie hatte wieder diesen Traum gehabt. Den Traum, den sie viel zu oft träumte. Darin saß sie auf der Fensterbank eines alten Hauses, das direkt am Meer lag, und schaute auf die regennasse Straße hinaus. Sie hielt eine Tasse Kakao in der Hand, und hinter ihr flackerte ein gemütliches Feuer. Trotzdem war ihr kalt. Vicky wusste, dass sie auf jemand wartete. Auf wen, das erfuhr sie in dem Traum nie.

Sie gähnte hinter vorgehaltener Hand. Die letzte Zeit war anstrengend gewesen. Zweimal im Jahr fanden im Kunsthaus Lambach Auktionen statt: eine im späten Frühjahr und eine im späten Herbst, kurz vor Beginn der Adventszeit, wenn Kunstobjekte nicht zum Weiterverkauf, als Sammlerobjekt oder Kapitalanlage ersteigert wurden, sondern auch gerne einmal als Weihnachtsgeschenk. Über neuntausend Kunstwerke wurden in den letzten beiden Novemberwochen angeboten, allein Vicky, die die Abteilung für Druckgrafiken leitete, hatte tausendsechshundert davon bestimmen und katalogisieren müssen. Eine Woche vor den Auktionstagen hatten Interessenten außerdem die Möglichkeit, die einzelnen Objekte zu besichtigen und Fragen dazu zu stellen, was zusätzlich Zeit in Anspruch nahm.

Mit den Überstunden, die Vicky angehäuft hatte, hätte sie vier Wochen auf den Malediven verbringen können. Aber der nächste Urlaub würde noch eine ganze Zeit lang warten müssen.

Sie versuchte unauffällig, ihre verkrampfte Muskulatur zu lockern. Im September war sie wegen ihrer heftigen Rückenschmerzen bei einer Masseurin gewesen. Vickys Assistentin hatte den Termin ausgemacht, weswegen sie erst bei ihrem Besuch in der Praxis erfahren hatte, dass die Frau - sie sollte sie Abathi nennen - auch als Schamanin arbeitete. Die Luft in ihrem Behandlungszimmer war geschwängert gewesen von Sandelholz-Patschuli-Räucherstäbchen, an den Wänden hingen indische Tücher, und Abathi hatte darauf bestanden, zuerst bei einer Tasse Tee (Kaffee hatte sie nicht) ein eingehendes Gespräch mit ihr zu führen, anstatt sich ihren Verspannungen zu widmen. Als Abathi ihr dann am Ende der Sitzung auch noch eine chronische Anspannung als Grund für ihre Rückenprobleme diagnostiziert hatte anstatt einfach nur eine falsche Sitzhaltung, hatte Vicky sich geschworen, dort nie wieder hinzugehen. Das tat sie auch nicht. Die nächsten Termine in einem sterilen Physiotherapiezentrum hatte sie selbst ausgemacht, sie dauerten praktischerweise nur fünfzehn Minuten und fanden ganz ohne Tee und Gespräche statt.

Zum Abschied hatte Abathi ihr jedoch noch etwas mitgegeben, das Vicky nicht losließ. «In dir liegt viel Schmerz», hatte sie gesagt und ihr dabei beunruhigend intensiv in die Augen geschaut. «Aber dieser Schmerz schenkt dir große Empfindsamkeit. Du hast die besondere Gabe, tief in die Seele eines Kunstwerks zu schauen. Und du kannst sie den Menschen auch zeigen.»

Wie der Schmerz durch ihre verspannte Muskulatur sie zu so etwas befähigen sollte, konnte Vicky sich nicht erklären, aber die Fähigkeit, tief in die Seele eines Kunstwerks zu schauen - vielleicht hatte sie die ja wirklich, jedenfalls hatte sie schon öfter den richtigen Riecher bewiesen. Ob die Händler diese Seele zu würdigen wussten, war jedoch fraglich. Sie erwarben die Objekte schließlich nicht für sich selbst, sondern um sie in ihren Galerien weiterzuverkaufen. Auch ihren Vater würde Vicky mit Abathis esoterischem Geschwätz leider nicht dazu bringen können, ihr im nächsten Jahr die Leitung der Berliner Dependance anzuvertrauen. Und das war Vickys großes Ziel, der Grund, wieso sie mehr arbeitete als alle anderen im Auktionshaus - sogar mehr als ihr Vater – und sich niemals ein paar Tage freinahm.

Seit Hubert vor anderthalb Jahren - mit vierundfünfzig! - noch einmal Vater geworden war, lag ihm seine Frau Eva damit in den Ohren, die Berliner Dependance von jemand anderem leiten zu lassen. Momentan pendelte er nämlich mehrmals im Monat zwischen Berlin und München, und es gab Zeiten, in denen er Klein Carlos nur am Wochenende sah. Erst vor Kurzem hatte er nachgegeben und Eva versprochen, spätestens am traditionellen Firmen-Silvesterball seinen Nachfolger zu ernennen. Man sollte meinen, dass selbstverständlich Vicky als seiner Tochter diese Position zufallen würde, aber Hubert Lambach war niemand, der sich bei beruflichen Entscheidungen von Emotionen leiten ließ.

 

«Bist du vorhin kurz eingenickt?», fragte Hubert, als sie am Ende des langen Auktionstags das vanillegelbe Jugendstilgebäude verließen, in dem sich das Kunsthaus Lambach befand.

Natürlich hatte er es gemerkt! «Hättest du gedacht, dass die Springer-Grafik so viel Geld einbringen würde?», erkundigte sich Vicky. «13100 Euro mehr als der Schätzpreis.» Noch immer wurde ihr ganz warm bei dem Gedanken, dass sie es gewesen war, die diesen Rohdiamanten entdeckt hatte.

Ihr Vater nickte. «Das Porzellanservice von Meissen hat gestern 25000 gebracht statt der sechshundert, auf die Patrick es geschätzt hatte. Zwei Telefonbieter haben sich gegenseitig hochgeboten.»

Die Wärme in Vickys Innerem verschwand schlagartig, und sie fühlte sich, als hätte jemand einen Kübel Eiswürfel über ihr ausgekippt. Patrick, der Leiter der Porzellan-Abteilung, war derjenige, der sich mit ihr zusammen auf den Filialleiterposten in Berlin beworben hatte. Sie wartete ab, ob Hubert noch irgendetwas hinzufügte, doch es kam nichts. Kein ‹Das hast du gut gemacht!› oder zumindest so etwas wie ‹Die Springer-Grafik war aber auch eine erfreuliche Überraschung!›.

Ihr Magen zog sich zusammen. Solange er ihr nicht mindestens einen Fund wie die Welken Blätter zu verdanken hatte, würde sie kein Lob von ihm bekommen. Und die Filialleitung in Berlin auch nicht. Die Friedrich-Olivier-Zeichnung aus dem Jahr 1817 war 2014 bei ihrem Konkurrenten Bassenge auf 120000 geschätzt und für 2,6 Millionen versteigert worden.

«Soll ich dich mitnehmen?», fragte Hubert.

Vicky schüttelte den Kopf. Es waren nur knapp zwei Kilometer bis zu den Lenbachgärten - der Apartmentanlage, in der sich ihre Wohnungen befanden –, und sie ging gerne ein paar Schritte zu Fuß. Ganz im Gegensatz zu Hubert, der selbst diese kurze Strecke stets mit dem Auto zurücklegte.

Sie wich einer Bulldogge aus, die eine Frau im Wolford-Mantel hinter sich herzog. Man spürte deutlich, dass es bis Weihnachten nur noch vier Wochen waren. In der altehrwürdigen Brienner Straße ging es normalerweise recht ruhig zu, trotz ihrer Nähe zur Fußgängerzone. Doch heute musste Vicky sich im Slalom zwischen all den Passanten hindurchschlängeln, die meist nicht nur eine, sondern gleich mehrere Tüten von teuren Designern in den Händen hielten.

Vicky war froh, als sie die Prachtstraße hinter sich lassen und in den Alten Botanischen Garten einbiegen konnte. Obwohl er zwischen zwei viel befahrenen Straßen lag, war es darin herrlich ruhig. Wenn sie im Sommer durch den kleinen Park schlenderte, konnte sie neben dem Rauschen des Neptunbrunnens sogar Vögel zwitschern hören.

Sie bog vom Hauptweg ab. Etwas versteckt in einem Wäldchen lag der Kunstpavillon. Wenn sie Zeit hatte, schlenderte sie dort gerne vorbei, um zu schauen, welche Ausstellung gerade stattfand. Im Dezember war es die Jahresendausstellung der Freunde und Mitglieder des Kunstpavillons. Hin und wieder fand man darunter vielversprechende Talente. Manchmal dachte Vicky, dass sie gerne wieder in einer Galerie arbeiten würde, so wie sie es nach ihrem Studium in Wien getan hatte. Im Auktionshaus, wo sie fast ausschließlich mit Händlern zu tun hatte, fehlte ihr der persönliche Kontakt zu Künstlern und Kunden.

«Kunst ist kein Luxus!» - das Motto der Ausstellungen - stand in hohen, leicht schräg gestellten Metallbuchstaben über dem hölzernen Eingangsportal. Das würden die Obdachlosen, die auch im Winter die Bänke des Parks bevölkerten, wahrscheinlich anders sehen. Vicky passierte einen älteren Mann mit struppigem Bart. Auch er hatte mehrere Tüten bei sich. Anders als die der Passanten auf der Brienner Straße waren sie jedoch aus Plastik und trugen Logos von Discountern, und sie enthielten keine überteuerte Designerware, sondern Alkohol, Zigaretten, vielleicht auch ihre gesamten Habseligkeiten. In Momenten wie diesem spürte Vicky heftigen Widerwillen gegen die übergroße Kluft zwischen Protz und Armut, die in München herrschte.

Auf den Straßen gingen gerade Laternen und Adventsbeleuchtungen an. Vor dem Hotel The Charles, das sich direkt neben den Lenbachgärten befand, stand trotz der frostigen Temperaturen ein Klarinettist, der seine Hände notdürftig mit Fingerhandschuhen warm hielt. Vicky blieb kurz stehen und lauschte der sehnsuchtsvollen Melodie, die er seinem Instrument entlockte, bevor sie ihm ein paar Münzen in den mit schwarzem Samt ausgeschlagenen Kasten warf. Eine Karte lag darin. Es gibt nur einen richtigen Weg. Den eigenen stand darauf.

Der Klarinettist nickte ihr kurz zu, und obwohl er weiterspielte, meinte sie, ein Lächeln auf seinen Lippen gesehen zu haben. Seine zarten Töne verfolgten Vicky bis zum Eingang der Apartmentanlage, in der nicht nur sie, sondern auch Hubert, Eva und Klein Carlos wohnten. Sie dachte an die Karte in dem Klarinettenkasten. Es gibt nur einen richtigen Weg. Den eigenen. Ging sie den wirklich noch?

Natürlich, schalt sie sich. Welcher Weg sollte denn sonst der richtige sein?

Kapitel 3Vicky

Wie immer im Advent war die Lobby wunderschön geschmückt. Ein echter Tannenbaum stand darin, an dem neben Kugeln in Gewürztönen Tausende von Lichtern funkelten. Duftende Tannenkränze mit großen roten Schleifen hingen in den Fenstern, und auf dem Tresen des Empfangs stand ein Adventskranz, von dem Vicky wusste, dass er nicht bei einem teuren Floristen bestellt worden war. Dawid, der Pförtner, hatte die Lobby in dieses Winterwunderland verwandelt. Das gehörte zwar eigentlich nicht zu seinen Aufgaben, aber es machte Dawid Spaß. Und Zeit dazu hatte er auch. Sein Freund Jannek war Lkw-Fahrer und nur selten da. Zusammen lebten die beiden in der kleinen Hausmeisterwohnung im Erdgeschoss.

«Haben Sie einen Moment Zeit, Fräulein Vicky?», fragte er sie, nachdem er ihr ihre Post gegeben hatte.

«Ja, aber wirklich nur einen Moment.» Sie hatte noch einen Abendtermin. Im Münchner Süden wollte eine Frau die Kunstsammlung ihrer verstorbenen Eltern auflösen, und darunter befanden sich einige vielversprechende Stücke. «Was kann ich für Sie tun?»

Dawids Schulterpartie entspannte sich, und er griff in seine Uniformjacke. «Jannek war bis gestern in Schottland unterwegs, und auf einem Parkplatz hat er das hier gefunden.» Er zog einen schmutzigen Briefumschlag heraus, an dem eine Schnur mit einem schlaffen, glänzend cremefarbenen Luftballon hing. «Der Luftballon hatte sich in einer Hecke verfangen. Wir würden gerne wissen, was in dem Brief steht. Aber wir können nicht gut genug Englisch dafür, und da Sie in England studiert haben, dachte ich …»

Eine Luftballonpost! Dawid zog ein zerknittertes Blatt Papier aus dem Umschlag und streckte es Vicky hin.

«Liebe Mama, ich weiß, dass Du jetzt im Himmel wohnst, aber ich hoffe trotzdem, dass Du diesen Brief bekommen wirst.»

Ach je! Vicky räusperte sich und fuhr mit ihrer Übersetzung fort:

«Mir und Papa geht es gut. Opa kommt ganz oft zu uns und kocht für uns und passt auf mich auf, wenn Papa arbeitet. Alice im Wunderland kann ich jetzt schon allein lesen, aber das ist nicht so schön wie mit Dir. Ich vermisse Dich, und ich wünsche mir zu Weihnachten am allermeisten, dass Du mir zurückschreibst. Und einen Zauberkasten, aber das muss nicht sein. Ich drücke Dich so fest, dass Du keine Luft mehr bekommst. Dein Finlay (Ich bin jetzt schon acht.)»

«Wie traurig!», stieß Dawid hervor, nachdem sie beide einen Augenblick geschwiegen hatten.

Weil seine Augenwinkel feucht schimmerten, zog Vicky ein Papiertaschentuch aus der Pappschachtel auf dem Empfangstresen und reichte es ihm.

«Danke!» Dawid nahm es und schnäuzte sich geräuschvoll. «Jannek und ich sollten dem kleinen Häschen seinen Weihnachtswunsch erfüllen. Es steht eine Adresse auf dem Umschlag.»

Auch Vicky hatte der Brief berührt. Schließlich hatte sie in einem ähnlichen Alter wie Finlay einen Elternteil verloren. Hubert war damals zwar nur ausgezogen und nicht gestorben, aber selbst das war schon schlimm genug gewesen. Und auch er hatte ihr früher immer Alice im Wunderland vorgelesen. Da sie damals noch viel zu klein gewesen war, um selbst lesen zu können, hatte sie die Geschichte allerdings nie selbst zu Ende gelesen, sondern sie irgendwann als Zeichentrickserie im Fernsehen angeschaut. Das Lesezeichen steckte noch immer an der Stelle, an der Hubert aufgehört hatte.

Der trat gerade in die Lobby. Wegen des Berufsverkehrs kam er oft erst ein paar Minuten nach ihr zu Hause an.

«Gibt es ein Problem?», fragte er, weil Dawid sich die Tränen aus den Augenwinkeln tupfte.

Vicky schüttelte den Kopf. «Jannek hat nur vor ein paar Tagen auf einem Parkplatz in Schottland einen Luftballonbrief gefunden, und Dawid wollte, dass ich ihn übersetze. Ein Junge hat ihn an seine verstorbene Mutter geschrieben.»

Dawid nickte. «Er hat sogar ein Foto von sich in den Umschlag gesteckt.» Er steckte zwei seiner dicken Finger hinein und zog es heraus.

Das Foto zeigte einen etwas pummligen Jungen, dessen brünette Haare ihm glatt in die Stirn fielen. Er hielt Alice im Wunderland in der Hand. Es war eine ziemlich alt aussehende Ausgabe, die sich deutlich von den moderneren, viel opulenter gestalteten unterschied. Auf einem cremefarbenen Hintergrund befanden sich lediglich der Titel des Werks und drei detailverliebte Zeichnungen. Die eine zeigte Alice mit dem Flamingo in der Hand, dessen Kopf sie dazu benutzen sollte, den Igel vor ihren Füßen durch ein Krockettor zu schlagen. Auf der zweiten Zeichnung war der Märzhase mit einer Schriftrolle abgebildet, auf der dritten der verrückte Hutmacher.

«Geben Sie das mal her!» Huberts Blick saugte sich förmlich an dem Foto fest. Ob auch er sich noch daran erinnern konnte, wie oft sie beide aneinandergekuschelt dagesessen hatten, während er ihr genau diese Geschichte vorlas? Vicky spürte, wie ihre Mundwinkel sich hoben.

«Ist das der Brief?» Hubert wies mit dem Kinn auf den Bogen, den sie immer noch festhielt.

Sie nickte, und er riss ihn ihr aus der Hand. Auch den Umschlag wollte er sich noch genauer anschauen.

«Ich würde den Brief und das Foto gerne haben», sagte Hubert schließlich zu Dawid. «Ist das in Ordnung für Sie?»

«Natürlich», antwortete der Pförtner und schaute dabei ein wenig Hilfe suchend zu Vicky. Aber auch sie hatte keine Erklärung für das seltsame Verhalten ihres Vaters. «Ich würde nur gerne die Adresse abschreiben. Um dem Jungen den Zauberkasten zu schicken. Das ist das Mindeste, was Jannek und ich tun können.» Seine Finger spielten mit einem goldenen Knopf an seiner Uniform.

«Das ist nicht nötig.» Auf Huberts Gesicht trat jetzt ein Grinsen, so breit und diabolisch, dass selbst die Grinsekatze vor Neid erblasst wäre. «Meine Tochter wird dem kleinen Finlay den Zauberkasten höchstpersönlich vorbeibringen.»

«Ich soll was?» Vicky riss die Augen auf. War Hubert verrückt geworden? «Warum?»

«Darüber sprechen wir auf dem Weg nach oben.» Er packte sie am Ellbogen und schob sie in Richtung Aufzug. Erst nachdem der Aufzug seinen Weg ins oberste Stockwerk angetreten hatte, redete er wieder. «Ist dir auf dem Foto denn gar nichts aufgefallen?»

«Doch. Der kleine Junge hält eine Ausgabe von Alice im Wunderland in der Hand», antwortete Vicky, und am liebsten hätte sie noch nachgeschoben: Aus diesem Buch hast du mir früher immer vorgelesen. Doch sie verkniff sich diese Bemerkung, denn inzwischen dämmerte ihr, dass nicht nostalgische Erinnerungen Grund für seine Aufregung waren.

Und sie sollte recht behalten. «Ja, genau!», bestätigte ihr Vater. «Aber es ist nicht irgendeine Ausgabe.» Huberts Augen funkelten. «John Tenniel hat sie illustriert, und das bedeutet, dass es eine der ersten ist. Vielleicht sogar die erste. Das letzte Exemplar aus dieser Erstauflage ist 1998 für 1,5 Millionen unter den Hammer gekommen.»

«Aber es könnte doch auch eine Kopie sein», wandte Vicky ein, und es fiel ihr schwer, ihre Enttäuschung darüber zu verbergen, dass ihr Vater mit keinem Wort darauf einging, welche Rolle das Buch in ihrem gemeinsamen Leben früher einmal gespielt hatte.

Hubert schüttelte den Kopf. «Unmöglich! Tenniel war sehr eigen, was seine Bilder anging, und er hat eine Vervielfältigung posthum sogar verboten. Glaub mir, da haben wir einen Treffer gelandet.» Er rieb sich die Hände. «Ich würde selbst nach Schottland fliegen, um ein Angebot abzugeben, aber ich kann während der Auktionswoche so kurzfristig unmöglich weg. Und deshalb musst du das für mich erledigen.» Er sah Vicky fest in die Augen. «Beschaff mir dieses Buch, und du hast die Filialleiterstelle in Berlin!»

Zum zweiten Mal innerhalb von wenigen Minuten klappte Vicky die Kinnlade herunter. «Und was ist, wenn das Buch nicht verkäuflich ist?»

Hubert winkte ab. «Glaub mir, alles und jeder ist käuflich: Es kommt nur auf die Höhe des Einsatzes an!»

Kapitel 4Vicky

Vicky hatte die ganze Nacht kein Auge zugemacht, und nur ihre Nervosität sorgte dafür, dass sie auf dem Weg vom Glasgower Flughafen nach Swinton-on-Sea hinter dem Steuer nicht einschlief.

«Was wollen Sie denn da?», hatte der nette Mann mit dem Rentierwollpullover verwundert gefragt, der Vicky die Schlüssel ihres Mietwagens ausgehändigt hatte.

Sie hatte etwas von Freunde besuchen gemurmelt, da ihr ein Blick auf Google Maps bereits gestern Abend gezeigt hatte, dass das Dorf, in dem Finlay und sein Vater wohnten, nicht unbedingt zentral gelegen war. Es befand sich im Grenzland zwischen England und Schottland, und besonders viele Menschen schienen hier nicht zu leben.

Newton Steward, die letzte Stadt, die Vicky passiert hatte, lag schon ein paar Meilen hinter ihr, und die Orte, durch die sie gefahren war, hatten den Namen Dorf nicht verdient - trotz ihrer Ortsschilder. Es waren eher Ansammlungen von Steinhäusern rechts und links der Straße gewesen. Einer Straße, die beunruhigend kurvig und schmal war und die von braunem Gestrüpp und schmutzig grünen Weideflächen gesäumt wurde, auf denen Rinder mit gelocktem Fell oder bunt gefleckte Schafe weideten.

Vicky schaltete einen Gang hoch, und das Getriebe des BMW ächzte. So kurzfristig hatte sie keinen Wagen mit Automatikschaltung bekommen. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Fast elf. Sie lag bereits jetzt eine Stunde hinter ihrem Zeitplan. Und das kam nicht von ihrer Unfähigkeit, mit einer Gangschaltung umzugehen, sondern von den engen, holprigen Straßen und der schlechten Sicht.

Genervt starrte Vicky auf die verlassene Fahrbahn vor ihr. Hatte der Nebel gerade noch in zähen Fetzen auf Wiesen und Feldern gelegen, wurde er jetzt zu einer dichten, alles verschlingenden Suppe. Gab es nicht so etwas wie Nebelscheinwerfer? Vicky meinte sich daran zu erinnern. Leider hatte sie keine Ahnung, wo genau sie danach suchen sollte. Sie betätigte so ziemlich jedes Rädchen, jeden Schalter und jeden Hebel, den sie finden konnte, aber die Armatur des BMW machte der Schaltzentrale der Enterprise Konkurrenz. Vicky blieb nichts anders übrig, als anzuhalten und sich das Fahrzeugbuch vorzunehmen. Doch auch nachdem sie die Scheinwerfer gefunden und eingeschaltet hatte, verbesserte sich die Sicht nicht nennenswert.

Fantastisch! Vicky schlug ärgerlich mit der flachen Hand auf das Lenkrad. Zwar hatte sie in ihrem Handgepäckkoffer neben dem Zauberkasten und ein paar wenigen Toilettenartikeln auch Kleidung zum Wechseln, aber sie hatte eigentlich nicht geplant, in Schottland zu übernachten. Am liebsten wollte sie spätestens mit dem letzten Flieger noch heute zurück nach München. Hoffentlich mit einer äußerst seltenen und somit wertvollen Erstausgabe von Alice im Wunderland im Gepäck.

Inzwischen hatte sie sich über den Illustrator John Tenniel informiert. Viele Künstlerinnen und Künstler hatten es sich in den vergangenen hundertfünfzig Jahren zur Aufgabe gemacht, Alice im Wunderland zu illustrieren. Sogar Salvador Dalí hatte einen Beitrag geleistet. Aber keine Illustrationen waren so populär wie die einfachen Schwarz-Weiß-Zeichnungen des exzentrischen britischen Illustrators.

Er hatte den Druck der Erstausgabe gestoppt, weil er mit der Qualität nicht zufrieden gewesen war. Nur zweitausend Stück existierten noch davon. Wenn der Junge wirklich eines dieser raren Bücher besaß, wäre das eine Sensation! Selbst ein Exemplar aus einer späteren von Tenniel illustrierten Auflage würde man für viel Geld versteigern können.

Wenn der Vater des Jungen ihr das Buch verkaufen würde … Aber das bezweifelte Vicky nach wie vor. Über den Wert des Buches schien er sich zumindest nicht im Klaren zu sein, denn wenn er davon wüsste, würde er das Buch wohl kaum einem Achtjährigen überlassen, der die Seiten mit seinen Schokoladenfingern vollschmieren oder sogar Risse hineinmachen konnte. Er würde es in einem Safe aufbewahren. Oder hätte es längst verkauft.

Eine kleine Chance bestand also. Und die würde sie nutzen. Musste sie nutzen. Geht nicht gibt’s nicht. Das war Huberts Leitsatz. Und mit ihm war er weit gekommen. Hindernisse waren dazu da, um überwunden zu werden. Oder platt gewalzt.

Genauso platt gewalzt hatte er Vickys Einwand, dass es ziemlich seltsam wirken würde, wenn sie Finlays Vater erst erzählte, dass sie der Brief seines Sohnes so sehr berührt hatte, dass sie unbedingt einen seiner Weihnachtswünsche erfüllen wollte. Nur um ihm im nächsten Moment ein großzügiges Angebot für das Buch zu machen …

«Der Mann ist Buchhändler!», hatte Hubert gesagt. «In diesem Job häuft man keine Reichtümer an. Er wird froh um jeden Cent sein, den er zusätzlich einnimmt, und von dem Geld, das wir ihm bieten, kann er seinem Söhnchen einen ganzen Lkw voller neuer Bücher kaufen!» Danach hatte er Vicky noch angewiesen, den größten Zauberkasten zu besorgen, der in München um diese Zeit noch erhältlich war, und den frühestmöglichen Flug nach Schottland zu buchen. Mit den Worten Melde dich, wenn du das Buch hast! war das Thema für ihn erledigt gewesen. Ein Scheitern würde Hubert ihr nicht verzeihen. Vicky atmete tief durch, um den Druck in ihrem Brustkorb zu verringern.

Ein Pferdewagen kam ihr entgegen, der von zwei zottigen Ponys gezogen wurde. Auf seinem Kutschbock saß ein Mann im schwarzen Mantel. Als das Gefährt im Nebel vor ihr auftauchte, fühlte Vicky sich an Outlander erinnert. Sie schwankte zwischen der Freude, dass es hier menschliches Leben gab, und der Befürchtung, auf dem Weg zwischen Glasgow und Swinton-on-Sea irgendwo unbemerkt in eine Zeitspalte gefallen zu sein.

Vicky ließ die Scheibe hinunter. «Ist es noch weit bis Swinton-on-Sea?»

Die wettergegerbten Züge des Kutschers verformten sich zu einem Lächeln.

«Gu striet ahied, lassie!», antwortete er in einem schauderhaften Englisch, das auch auf ihre Nachfragen hin nicht verständlicher wurde.

Vicky konnte nur hoffen, dass sie seine Worte richtig als Go straight ahead interpretieren konnte, also Immer geradeaus! Eine andere Wahl hätte sie ohnehin nicht gehabt. Wie eine Schlange wand sich die Straße einen Hügel hinauf, und das, ohne nach rechts oder links abzuzweigen. Wieso der Alte sie wohl mit Lassie angesprochen hatte? Vicky hatte diesen Ausdruck bisher nur in Verbindung mit einem Fernsehcollie gehört.

Sie reckte sich und warf einen Blick in den Innenspiegel. Abgesehen davon, dass ihre Wimperntusche unter dem rechten Auge ein bisschen verwischt war, sah sie eigentlich ganz normal aus. Sie befeuchtete ihren kleinen Finger und versuchte, die gräulichen Spuren zu beseitigen.

Im nächsten Moment schrie sie auf. Mitten auf der Straße stand ein Rind! Sie trat so abrupt auf die Bremse, dass der BMW ins Schlingern kam. Er rumpelte über den unbefestigten Straßenrand und kam erst zum Stehen, als das linke Vorderrad ein paar Zentimeter tiefer in einem Graben Halt fand. Das war gerade noch einmal gut gegangen! Vicky ließ sich in den Sitz sinken und atmete ein paarmal tief durch. Der Puls des Unfallverursachers dagegen schien sich nicht nennenswert erhöht zu haben: Das gelockte Rind stand immer noch auf der Straße.