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Wo findet man die Liebe, wenn nicht in der Provence?
Lilly glaubt nicht mehr an die Liebe, seit ihr Freund Jan sie von heute auf morgen sitzen gelassen hat. Um ihn zu vergessen, beschließt sie nach Südfrankreich zu ziehen und ein kleines Hotel zu eröffnen: nur für Single-Frauen! In der Provence angekommen, erweist sich die charmante Villa, die Lilly kurzentschlossen gekauft hat, als Bruchbude, und auch sonst scheint alles viel komplizierter als gedacht. Dann taucht auch noch der attraktive Antiquitätenhändler Olivier auf und wirbelt ihren Traum vom Single-Leben gehörig durcheinander ...
So romantisch wie eine französische Sommernacht.
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Seitenzahl: 349
Marion Stieglitz, 1981 im Bayrischen Wald geboren, studierte Literaturwissenschaften, besuchte die Burda Journalistenschule und arbeitet seit mittlerweile 10 Jahren als Redakteurin für verschiedene Wohn- und Gartenzeitschriften. Sie lebt in Baden nahe der französischen Grenze. Ihre Begeisterung für Häuser mit Charakter inspirierte sie zu einem Roman über ein außergewöhnliches Hotel in der Provence.
Wo findet man die Liebe, wenn nicht in der Provence?
Lilly glaubt nicht mehr an die Liebe, seit ihr Freund Jan sie von heute auf morgen sitzen gelassen hat. Um ihn zu vergessen, beschließt sie nach Südfrankreich zu ziehen und ein kleines Hotel zu eröffnen: nur für Single-Frauen! In der Provence angekommen, erweist sich die charmante Villa, die Lilly kurzentschlossen gekauft hat, als Bruchbude, und auch sonst scheint alles viel komplizierter als gedacht. Dann taucht auch noch der attraktive Antiquitätenhändler Olivier auf und wirbelt ihren Traum vom Single-Leben gehörig durcheinander.
So romantisch wie eine französische Sommernacht.
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Marion Stieglitz
Das kleine Hotel in der Provence
Roman
Inhaltsübersicht
Über Marion Stieglitz
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Nachspiel
Weisheiten für jeden Augenblick
Impressum
»Und jetzt ein bisschen Zauberei«, murmelte Lilly und starrte auf den Bildschirm.
Mit einem Mausklick versetzte sie das Hochzeitspaar in die Vergangenheit zurück. Von der grellbunten Gegenwart in jene Zeit, in der alles in weichen Pastelltönen gezeichnet schien. Als die Frauen so ladylike aussahen wie Audrey Hepburn und Elisabeth Taylor. Und die Männer so lässig wie Cary Grant und der junge Sean Connery. Als es keine Falten und störende Pickel zu geben schien, weil die Kameras großzügig über derartig unwichtige Details hinwegsahen. Natürlich nicht absichtlich. Die Fototechnik war damals einfach nicht weit genug entwickelt, um jede Hautpore millimetergenau wiederzugeben. Heute brauchte man dafür nur den Retro-Farbfilter eines Bildbearbeitungsprogramms. Wenige Momente später legte sich ein wundersamer Farbschleier über Markus und Solveig, über den cremeweißen Petticoat der Braut und die blauen Hosenträger des Bräutigams. Alles Schöne wurde in sanfte Farben getaucht und alles Störende verschwand. Selbst die von der Sonne und der Aufregung glänzende Haut des Paares. Als sei das Foto nicht vor ein paar Tagen aufgenommen worden, sondern in der Hochphase von Elvis, Twist und Rock ’n’ Roll. Das Paar hatte im Look der Fünfzigerjahre gefeiert: in einer Hafenkneipe mit einer Jukebox, Toast Hawaii, Kartoffelsalat und süßer Erdbeerbowle. Lilly hatte von beiden den Auftrag bekommen, möglichst stilechte Fotos von dem Fest zu machen. Für sie war das mittlerweile ein Kinderspiel. Sie hatte schon unzählige Brautpaare an ihrem großen Tag fotografiert. Sogar bereits in der gleichen Hafenkneipe und mit einem Brautpaar, das sich ein ähnliches Motto ausgesucht hatte.
Obwohl Lilly erst vor einem knappen Jahr nach Rostock gezogen war, lief es für sie in ihrem Job als Hochzeitsfotografin richtig gut. Ihr Neustart im Norden hätte eigentlich kaum besser sein können. Zugegeben – sie war immer noch kein großer Fan des stürmischen Nieselwetters und der zu kurz geratenen Sommermonate. Außerdem vermisste sie die Weinberge ihrer badischen Heimat und ihre alten Freunde aus Freiburg. Aber dafür hatte sie Jan. Ihre große Liebe. Ihn musste sie sich nicht mit ihrem Bildbearbeitungsprogramm schöner zaubern. Er sah immer so sensationell gut aus wie Sean Connery als unverwechselbar lässiger James Bond. Nur in Blond natürlich. Und statt Anzügen trug er lieber wasserfeste Allwetter-Jacken. Jan war Segellehrer. Weswegen nie die Frage im Raum gestanden hatte, ob ihre gemeinsame Zukunft im Südschwarzwald liegen würde. Ohne Meer konnte Jan nicht arbeiten. So fotografierte Lilly ihre Hochzeitspaare seit einigen Monaten also am Hafen und in den Dünen. Und irgendwann würde sie sich hier auch voll und ganz wie zu Hause fühlen. Davon war sie überzeugt.
»Bist du immer noch hier?«, riss sie Maike aus ihren Gedanken.
»Mist, ich habe die Zeit völlig vergessen«, antwortete Lilly und warf einen Blick auf die kleine Digitaluhr ihres Monitors. Es war schon 15.12 Uhr. Eigentlich musste sie dringend los. »Wie gut, dass du kommst. Sonst wäre ich hier noch ewig in den Fünfzigerjahren versumpft«, sagte sie und lächelte Maike an.
Ihre Kollegin war gerade dabei, ihren grünen Regenhut mit seiner breiten Krempe auf den Garderobenhaken zu hängen. Das große Plastik-Ungetüm hatte sie immer beim Fotografieren dabei, um auch bei Regenwetter beide Hände für ihre Kamera frei zu haben. Außerdem hielt er ihre Brille trocken. Seit ein paar Monaten teilten sich beide die Räume. Maike hatte auf einer Online-Plattform eine Partnerin für ihr Studio gesucht. Für Lilly war es die perfekte Gelegenheit gewesen, nach dem Umzug schnell wieder in ihrem alten Job Fuß zu fassen. Beide konnten sich Ausrüstung und Miete teilen – ebenso wie Geschichten über Pannen und Erfolgserlebnisse ihres gemeinsamen Berufs.
Maike beugte sich über Lillys Schulter. »Da hast du ja wieder mal ganze Arbeit geleistet! Wenn ich das Paar hier nicht kürzlich zur Vorbesprechung gesehen hätte, würde ich glauben, dass die Aufnahme wirklich ein halbes Jahrhundert alt ist. Du hast echt ein Talent für sowas!«
»Findest du?«, fragte Lilly und drehte sich um.
Eine Antwort erübrigte sich. Lilly kannte Maikes Blick, wenn sie etwas aufrichtig begeisterte. Dann verengten sich ihre Augenlider zu schmalen Schlitzen und zwischen den Brauen oberhalb der Brillengläser trat eine tiefe Falte hervor. Und exakt mit diesem Gesichtsausdruck betrachtete Maike gerade ihr Hochzeitsfoto.
Lilly lächelte. Das Hochzeitsfoto von Markus und Solveig war ihr zweifellos gelungen. Sie hatte beide an der Treppe vor der Kneipe positioniert: Solveig eine Stufe über Markus. Er hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt, um sie zart an den Hüften zu umarmen. Beide lächelten sich ungekünstelt an. Und genau in dem Moment, als Lilly auf den Auslöser drückte, war ein Windhauch vorbeigekommen und hob den Petticoat der Braut ein Stück weit nach oben. Nur ein kleines bisschen, aber genug, um dem Foto etwas Dramatik zu verleihen. Zusätzlich zu der perfekten Momentaufnahme ließ Lillys selbst entwickelter Retro-Farbfilter die Farben exakt so nostalgisch aussehen wie vom Brautpaar gewünscht.
»Ach, ganz ehrlich: Ich liebe Hochzeiten einfach«, seufzte Lilly.
Maike boxte sie sanft an die Schulter. »Na, dann kann sich dein Jan heute ja auf einiges gefasst machen«, sagte sie und kicherte.
»Nein, das wäre viel zu früh! Wir haben doch erst unser Einjähriges«, erwiderte Lilly. Sie speicherte die Aufnahme ab und schaltete den Computer aus. »Und ich muss jetzt auch wirklich los.«
So schnell ließ Maike jedoch nicht locker. »Gib zu, du hast die Hochzeit mit deinem Märchenprinzen schon komplett durchgeplant.«
»Auf keinen Fall!«, protestierte Lilly.
Sie wollte gerade von ihrem Stuhl aufstehen und ihre Tasche nehmen, aber Maike stellte sich demonstrativ vor den braunen Lederbeutel. Sie hatte wieder ihren Blick mit der Falte zwischen den Augenbrauen. Diesem Blick konnte Lilly nichts vormachen.
»Na ja, ein paar Gedanken habe ich mir vielleicht schon gemacht«, druckste sie herum.
Insgeheim wusste sie, dass sie maßlos untertrieb. Denn selbstverständlich hatte sich Lilly ihren großen Tag mit Jan schon bis ins kleinste Detail ausgemalt. Immerhin war sie jedes Wochenende von Brautpaaren umgeben – wie sollte sie sich da keine Gedanken um ihre eigene Hochzeit machen, wenn sie den richtigen Mann endlich gefunden hatte? Sie wollte auf einem Landgut im Süden heiraten. So ein Fest wie bei ihrer Cousine Valeska, die ihren großen Tag in der Provence gefeiert hatte – dort, wo sie ihren Bräutigam Raymond kennengelernt hatte und wo beide nun zusammen lebten. Genau so eine sommerliche Party unter freiem Himmel musste es sein. Lavendelsekt und Rosmarinsorbet inklusive. Zumindest an dem einen großen Tag würde Jan sich gewiss dazu bereit erklären, ihr zuliebe seine Heimat zu verlassen. Außerdem würde Lilly in einem zartrosafarbenen Spitzenkleid heiraten. Ein Rosa, als ob ein kleines bisschen Himbeersirup in einen Vanilleshake gerührt wird. Dazu ein eleganter Schleier im exakt gleichen Farbton. Alles perfekt abgestimmt auf ihre nussbraunen Locken und ihre sonnenbraune Haut, die sie dank der Gene ihres Vaters auch im Winter hatte. Sie war ein südländischer Typ, wie ihr oft gesagt wurde, und dagegen hatte sie absolut nichts einzuwenden. Auch wenn sie weder in Andalusien noch in der Toskana geboren war, sondern nur in Baden-Württemberg. Aber gerade hier oben im Norden galt das schon als durchaus mediterran.
»Von wegen! Ein paar Gedanken!«, kicherte Maike. »Ich sehe es dir doch an. Du hast schon alles heimlich durchorganisiert.«
»Quatsch«, protestierte Lilly und schnappte sich endlich ihre Handtasche. Dabei vermied sie jeden Blickkontakt, denn sie fühlte sich ertappt und das war ihr unangenehm.
»Ich muss jetzt schleunigst los. Für nachher habe ich ein Strandpicknick mit Jan geplant und es gibt noch so viel zu erledigen«, sagte sie, um das Thema endlich zu wechseln.
Und immerhin hatte sie diesmal nicht geflunkert. Zu ihrem ersten Jahrestag wollte sie Jan abends mit einem besonderen Date überraschen und dafür ein Picknick vorbereiten. Sie würde gleich mit der S-Bahn nach Warnemünde fahren, wo Jans Segelschule lag. Aber davor würde sie noch in ihre gemeinsame Wohnung eilen und all die Kleinigkeiten zusammenpacken, die sie in den letzten Tagen heimlich gekauft und sorgfältig vor Jan versteckt hatte. Außerdem musste sie ihre Bestellung vom Feinkostladen abholen. Es sollte ein unvergesslicher Abend werden. Sie hatten sich in den letzten Wochen kaum über ein schnelles Frühstück hinaus gesehen, weil Jan ständig Überstunden machte. Es war höchste Zeit, dass sie endlich mal wieder ein paar richtig romantische Stunden miteinander erlebten. Dazu musste sie alles perfekt vorbereiten. Und zum Glück hatte sie sich sogar das ganze Wochenende freihalten können und keine Aufträge angenommen. Die nächsten beiden Tage waren als Pärchen-Wochenende durchgeplant: Sie hatte für Samstagabend Kinotickets reserviert und für Sonntagvormittag zwei Plätze in ihrem Lieblingscafé, um gemeinsam mal wieder den Schlemmer-Brunch zu genießen.
»Bis Montag!«, rief Maike ihr zu, als Lilly gerade die Tür öffnen wollte. »Ich möchte dann einen genauen Bericht. Und wenn du eine Trauzeugin brauchen solltest – du weißt, ich stehe immer bereit!«
»Haha!«, ulkte Lilly. Wobei sie sich insgeheim dachte, dass ein Heiratsantrag von Jan zu ihrem einjährigen Jubiläum gar nicht so abwegig wäre. Hatte er nicht immer gemeint, man solle Nägel mit Köpfen machen, wenn alles in der Beziehung passte? Vielleicht würde er sie heute ebenfalls auf spektakuläre Weise überraschen? Draußen auf der Straße empfing sie ein angenehmer, mildwarmer Sommerwind. Die Regenwolken vom Vormittag hatten sich zurückgezogen und einen türkisblauen Himmel hinterlassen. Es war das ideale Wetter für ihre Pläne. Und keine Frage – heute lag etwas Aufregendes in der Luft.
Alles war perfekt. Bis auf die Picknickdecke. Sie hätte blau sein sollen mit weißen Streifen. Aber Lilly hatte sich im Laden scheinbar vergriffen. Jetzt lag da vor ihr eine blau-weiß karierte Decke und sie erinnerte mehr an eine bayerische Brotzeit als an das maritime Picknick, das sie ursprünglich im Sinn gehabt hatte.
»No Problem, Lilly. Das stört überhaupt nicht«, murmelte sie.
Wenn sie aufgeregt war, sprach sie gelegentlich mit sich selbst. Ihre Cousine Valeska hatte sie dazu ermutigt: Eine vertraute Stimme zu hören, sollte ihrer Meinung nach eine beruhigende Wirkung ausüben. Und wenn sonst niemand parat war, musste heute eben die eigene Stimme herhalten. Da weit und breit kein Mensch zu sehen war, versuchte sich Lilly an Valeskas Empfehlung zur Selbstbeschwörung. Sie hatte extra ein abgelegenes Stück des Strandes in Warnemünde ausgewählt, so dass ihnen beim Picknick keine Federbälle von spielenden Kindern auf den Kopf fielen. Die meisten Urlaubsgäste hatten den Strand an diesem Freitagabend ohnehin längst verlassen. Es war schon fast 19 Uhr. Jan würde gleich Feierabend haben, das Büro der Segelschule abschließen und sich auf den Heimweg machen. Er fuhr jeden Tag ein Stück am Strand entlang, ehe er in Richtung der S-Bahn-Station abbog. Nur diesmal würde Lilly ihn nach kurzer Strecke abpassen. Sie hatte es sich schon seit Wochen ausgemalt, welch erstaunten Gesichtsausdruck er machen würde. So einen Ausdruck vermutlich, den er sonst für hohe Wellen übrighatte. Dann blieb er immer am Ufer stehen und starrte aufs Wasser, während er Lilly nervös in die Seite boxte. Sie konnte dabei aber nie so genau erkennen, welche der herannahenden Wellen jetzt die eigentliche Sensation war. Er würde heute genau diesen Wellen-Blick zeigen und sicherlich würde er beeindruckt sein, dachte Lilly. Immerhin war Jan davon überzeugt, dass sie nichts für sich behalten konnte.
»Von wegen! Ich bin die beste Geheimniskrämerin aller Zeiten!«, sagte Lilly – diesmal so laut, dass sie sich kurz umschaute, ob nicht doch irgendwo noch ein letzter Spaziergänger unterwegs war. Sie wollte mit ihren Selbstgesprächen schließlich nicht für verrückt gehalten werden.
Doch zum Glück war weit und breit niemand zu sehen. Lilly musterte nochmal kritisch ihr Werk. Ihr Picknick sah – trotz der karierten Decke – tatsächlich wie aus einem Hochglanzmagazin aus. Sie hatte alles detailgenau vorbereitet. Da waren verschiedene Teller üppig gefüllt mit Obst, kleinen belegten Broten und Oliven. Ein Champagnerkühler voller Eiswürfel und dazu bequeme Sitzkissen. Einen kurzen Moment lang dachte sie wehmütig daran, dass ihr das Vorbereiten eines so besonderen Freiluft-Dinners eigentlich noch mehr Freude bereitete als die Fotografie. Beim Ablichten von Hochzeitsfesten war sie bloße Beobachterin und konnte nur das festhalten, was andere geschaffen hatten. Insgeheim dachte sie, dass sie selbst gerne einer dieser kreativen Gastgeberinnen wäre – am liebsten die Besitzerin von einem eigenen Hotel, wo man ein ganzes Haus nach seinen Vorstellungen gestalten konnte und die Besucher immer wieder neu überraschen durfte. Aber für berufliche Selbstzweifel war gerade nicht der richtige Moment. Lilly warf einen letzten Blick auf ihr Werk und lächelte zufrieden. Sogar einen kleinen CD-Player mit Jans Lieblings-CD hatte sie organisiert – eigentlich war es ihre gemeinsame Lieblings-CD: »Die gute Seite« von »Sportfreunde Stiller«. Sie hatten sich damals beim Konzert der Sportfreunde in Freiburg kennengelernt. Und danach wurden sie in Turboschnelle ein Liebespaar. Genau vor einem Jahr.
Aufgeregt schnappte sich Lilly die Champagnerflasche und ging in Richtung des Fahrradweges. Einen kurzen Moment lang dachte sie darüber nach, ob sie sich hinter einem Baum verstecken sollte, um im entscheidenden Augenblick hervorzuspringen. Aber dann entschied sie sich dagegen. Sie wollte Jan schließlich nicht erschrecken und außerdem war sie mit ihren 28 Jahren eindeutig zu alt für derartige Kindereien. Sie würde sich am Wegrand positionieren – selbstbewusst und verführerisch. Bevor sie sich noch mehr Gedanken über ihren Auftritt machen konnte, erkannte sie Jan schon aus der Ferne. Ein dunkler Punkt gebeugt über einem weißen Rennrad – das musste er sein. Lilly zupfte ihr Kleid zurecht. Sie hatte sich für das gelbe Kleid mit dem weiten Rückenausschnitt entschieden. Es war zwar eigentlich zu dünn für die kühlen Abendstunden im April, aber es stand ihr einfach phantastisch. Dann strich sie sich den Pony aus der Stirn und setzte ihr schönstes Lächeln auf.
Jan war nur noch ein paar Meter von ihr entfernt, sein Blick schien starr nach vorne auf den Weg gerichtet. Hatte er sie noch nicht gesehen? Lilly machte noch einen Schritt weiter in die Mitte des Fahrradweges. Aber Jan nahm keine Notiz von ihr. Lilly wusste nicht genau, was sie jetzt tun sollte. Sie streckte die Champagnerflasche nach oben und kam sich im gleichen Augenblick ziemlich idiotisch dabei vor: Sie musste gerade so aussehen wie die Freiheitsstatue – nur ohne Fackel in der Hand, dafür mit Moët & Chandon und einem dümmlichen Gesichtsausdruck. Lilly nahm den Arm schnell wieder nach unten. Immerhin musste Jan sie jetzt doch bemerkt haben. Aber er fuhr einfach an ihr vorbei …
»Jan!«, rief Lilly ihm hinterher. »Bleib doch stehen!«
Endlich drehte er sich um und fiel dabei fast von seinem Fahrrad.
»Was machst du denn hier?«, rief Jan verwirrt.
Er trug die dunkelblaue Jacke und die Schirmmütze mit dem Logo seiner Segelschule: einer fliegenden Möwe. Jetzt schob er die Mütze ein Stück nach oben. Ein paar Strähnen seines strohblonden Haares fielen ihm dabei in die Stirn. Lilly erkannte auch, dass er sie mit großen Augen anstarrte.
»Schau doch nicht so entsetzt! Ich wollte dich überraschen«, sagte sie und näherte sich ihm.
Jan war wie angewurzelt stehen geblieben, die Beine immer noch um sein Fahrrad geklemmt.
Als Lilly direkt vor ihm stand, drückte sie ihm einen Kuss auf die Wange und legte ihm die linke Hand auf die Schulter, um ihn sanft dazu zu bewegen, endlich von seinem Rad abzusteigen. Dabei spürte sie einen Widerstand in seinem Körper, als würde er sich nicht von der Stelle rühren wollen. Was war denn nur los mit ihm?
»Jetzt lass doch mal dein Rad stehen und komm mit. Ich habe da was vorbereitet für uns«, sagte sie und wedelte mit der Flasche Champagner umher, die sie immer noch in der rechten Hand hielt. »Es gibt doch etwas zu feiern!«
»Was denn?«, fragte Jan.
Vor dieser Frage hatte Lilly heimlich Angst gehabt. Jan hatte tatsächlich ihren Jahrestag vergessen! Langsam war ihr die ganze Situation unangenehm. Sie hatte sich ihre Überraschung so herrlich romantisch ausgemalt und jetzt schien alles völlig anders zu verlaufen als geplant. Aber dann dachte sie kurz daran, was ihre Cousine Valeska immer zu ihr sagte: Man dürfe von einem Mann nie erwarten, dass er alles im Kopf habe. Wenn die Hälfte von allem Wichtigen reinpasse, wäre der Kerl schon ein Prachtexemplar. Lilly seufzte. Jan hatte wegen dem Stress in der Arbeit ihren Jahrestag vergessen! Was soll’s! Das war kein Grund, um diesen Anlass nicht trotzdem zu feiern. Sie lächelte ihn an und deutete in die Richtung, in der sie das Picknick vorbereitet hatte.
»Heute ist unser Jahrestag und ich dachte, wir könnten mal wieder einen romantischen Abend zu zweit verbringen. Dafür musst du aber bitte endlich vom Rad absteigen und mitkommen«, flötete sie so fröhlich, wie sie nur konnte.
Endlich schob Jan sein Rad an den Rand des Fahrradweges und schloss es umständlich ab. Lilly beobachtete ihn dabei. Seine Arme waren muskulös und braun gebrannt von der Arbeit am Strand. Seine blauen Augen blickten konzentriert auf das Fahrradschloss und seine Wangenknochen bewegten sich leicht. Er sah einfach wahnsinnig gut aus, selbst wenn er sich gelegentlich ziemlich doof anstellte, dachte Lilly.
Als er aufstand, griff sie nach seiner Hand. Sie fühlte sich etwas schlaff an, aber Lilly hatte entschieden, nicht länger in jedes Detail etwas hineinzudeuten. Sie war entschlossen, den Abend zu genießen. Nach ein paar Schritten standen sie vor der Picknickdecke.
»Da wären wir«, sagte sie und grinste Jan an. Sie war immer noch stolz auf ihr Werk. Zum Glück hatte der Wind die Kerzen nicht ausgeblasen. Ihr flackernder Schein spiegelte sich in den Schüsseln, dem Silberbesteck und den Gläsern.
»Magst du die jetzt endlich aufmachen?«, sagte sie und streckte Jan die Champagnerflasche entgegen.
Er ließ ihre Hand los, ohne nach der Flasche zu greifen. Stattdessen sah er abwechselnd zu Lilly und zu der Picknickdecke ohne das kleinste Anzeichen von Freude auf seinem Gesicht.
»Das ist jetzt der wohl blödeste Zeitpunkt, dir das zu sagen«, murmelte Jan.
»Was meinst du?«, fragte Lilly.
Jan schob sich seine Schirmmütze tiefer ins Gesicht, als er weitersprach. Sie konnte seine Augen nicht mehr sehen. Seine Stimme drang hinter der fliegenden Möwe hervor. »Ich habe da jemanden kennengelernt. Eine andere Frau. Und wie es scheint, ist es was Ernstes. Eigentlich wollte ich es dir schon längst erzählen, aber ich habe nicht die richtige Gelegenheit gefunden. Es gibt ja irgendwie auch keinen guten Zeitpunkt für schlechte Neuigkeiten«, sagte die Stimme hinter der Möwe, die Lilly gerade mit ihren dämlichen Knopfaugen anstarrte.
Sie betrachtete die beiden kleinen Punkte. Die Augen des weiß-grauen Vogels waren aus dünnen Fäden aufgestickt und ragten leicht aus der Schirmmütze hervor. Sie zeigten kein Lächeln oder Mitgefühl. Es waren nur zwei leblose Kreise, die Lilly sekundenlang fixierte, ehe sie sich schüttelte, weil ihr schwindlig wurde. Alles schien so unwirklich. Sie musste sich vergewissern, ob sie überhaupt noch bei Sinnen war.
»Du willst also an unserem Jahrestag mit mir Schluss machen? Nachdem ich erst vor ein paar Monaten extra wegen dir hierhergezogen bin? Wolltest du mir das jetzt gerade mitteilen?«
»Hab ja gesagt, dass es ein blöder Zeitpunkt ist. Ich wusste auch nichts von deiner Überraschung. An unseren Jahrestag habe ich echt nicht gedacht«, antwortete Jan.
Noch immer sah er ihr nicht in die Augen. Mittlerweile zeichnete er mit seinen Turnschuhen Linien in den Sand. Die Möwe blickte Lilly unverändert mit ihren kreisrunden Augen an. Sie hätte Jan am liebsten die Mütze vom Kopf geschlagen, aber jetzt war sie es, die sich nicht vom Fleck rühren konnte. Selbst ihr Mund schien wie zusammengeklebt.
Nach einer Weile sprach Jan weiter. »Ich habe ja außerdem nie von dir erwartet, dass du hierherkommst. Das war deine Idee gewesen. Plötzlich warst du hier mit deinen Koffern. Ich meine, das hat mich am Anfang ja auch gefreut, aber trotzdem: so einfach alles aufgeben. Das hätte ich nie von dir verlangt. Das wäre gar nicht nötig gewesen – also nicht für mich jedenfalls«, sagte er.
Endlich hörte er auf, mit den Schuhen im Sand zu spielen, und dabei sah er für einen Moment zu ihr auf. Seine blauen Augen, die Lilly immer so angehimmelt hatte, kamen ihr auf einmal fremd und kalt vor.
»Und ich kann auch nichts dafür, wenn meine Gefühle für dich nicht so vorhanden sind. So ist das Leben«, raunte er noch.
Sein letzter Satz löste endlich ihre Starre. »So ist das Leben? Was Besseres als ein doofer Spruch fällt dir nicht ein?«, schnaubte sie verächtlich. »Und was soll das heißen: Ich stand plötzlich mit meinen Koffern vor der Tür? Das hatten wir doch zusammen entschieden. Willst du mir jetzt weismachen, dass ich selbst schuld bin, wenn du mich für eine andere verlässt? Wer ist das überhaupt? Kenne ich sie am Ende auch noch?«
Jan schüttelte den Kopf. »Isabelle heißt sie. Du kennst sie nicht. Eine ehemalige Kundin von mir. Hat sich schneller entwickelt als gedacht«, sagte er und klopfte sich den Sand von den Schuhen. »Besser ist es wohl, ich gehe jetzt.«
»Du willst einfach gehen?«, fragte Lilly entsetzt. »Einfach abhauen zu deiner Isabelle?«
»Es gibt doch eigentlich nichts mehr zu sagen. Ich übernachte die nächsten Tage bei einem Freund, bis wir das mit der Wohnung geklärt haben. Das tut mir echt leid! Ich weiß, du hast dir viel Mühe gegeben. Danke dafür – das meine ich ernst! Du bist ein guter Kerl und findest sicher wieder jemand anderen«, sagte er und deutete auf das Picknick. Dann dreht er sich um und lief in Richtung seines Fahrrads davon.
Lilly blickte ihm fassungslos hinterher. Sie bemerkte jetzt erst, dass sie noch immer den Champagner in der Hand hielt. Reflexartig schleuderte sie die Flasche auf den Boden. Doch statt in tausend Scherben zu zerspringen und Lillys Anspannung zu lösen, blieb sie einfach im weichen Sand liegen. Nicht mal das gelang ihr – eine blöde Flasche zu zerschlagen.
»Du nennst mich ernsthaft einen guten Kerl? Du spinnst wohl! Du Vollidiot!«, schrie sie Jan hinterher. Aber er war schon längst aus ihrem Blickfeld verschwunden.
Die Sonnenstrahlen weckten Lilly. Sie versuchte, die Helligkeit mit ihrem rechten Arm abzuwehren, den sie gegen das hereinfallende Licht streckte. Aber es war sinnlos.
Mit jedem Augenblick, den sie länger wach war, wusste sie, dass sie so bald nicht wieder einschlafen würde. Die letzten beiden Tage hatte es fast immer geregnet. Irgendwie hatte dieses deprimierende Wetter auf seltsame Art eine beruhigende Wirkung ausgelöst. Während die Tropfen auf die Fensterbretter prasselten, hatte Lilly hemmungslos in ihr Kopfkissen geheult – unterbrochen von Momenten, in denen sie in den Fernseher gestarrt hatte, um im Minutentakt das Programm zu wechseln. Selbst diese unspektakuläre Doku über Felsenpinguine war zu viel für ihre Nerven: Die gefiederten Gesellen bleiben sich immer treu, auch wenn sie Tausende Kilometer voneinander entfernt leben, erklärte ein Sprecher. Bei der Erkenntnis, dass jede durchschnittliche Pinguindame mehr Hoffnung aufs große Liebesglück hatte als sie selbst, war Lilly wieder mal in Tränen ausgebrochen. Und irgendwann war sie dann wohl doch noch eingeschlafen.
Im Nachhinein hatte Lilly keine Ahnung, wann und wie sie es am Freitagabend überhaupt in ihre Wohnung geschafft hatte. Nach einer fast endlosen Zeit, in der sie am Strand gesessen hatte, um durch verweinte Augen ratlos ins Meer zu starren, musste sie scheinbar irgendwann aufgebrochen sein. Die Picknickdecke hatte sie an ihren vier Ecken gepackt und zu einem formlosen Bündel geknotet. Es war ihr furchtbar egal, dass die Käsespieße, die Oliven und die Weintrauben vom Geschirr zerdrückt wurden. Und es kümmerte sie auch kein bisschen, dass alles immer noch in einem kümmerlichen Haufen im Eck des Wohnzimmers lag. Hin und wieder hatte sie in den letzten beiden Tagen ein zerdrücktes Brötchen aus dem Bündel entnommen, um lustlos darauf herumzukauen. Um in die Küche zu gehen und sich etwas Anständiges zu kochen, fehlte ihr jegliche Energie.
Jetzt, am frühen Montagmorgen, pochte ihr Kopf auch noch wie verrückt. Mit halbgeöffneten Augen erkannte Lilly die leere Champagnerflasche neben sich auf dem Wohnzimmertisch. Sie musste sie gestern Abend nach einem erneuten Anfall an Verzweiflung getrunken haben. Lilly öffnete langsam beide Augen, um sich an die Sonnenstrahlen zu gewöhnen. Für ihre schlechte Laune war es wirklich ein unverschämt sommerlicher Tag. Ein Gewitter wäre ihr lieber gewesen – am besten eines, bei dem der Blitz über Jans Bett einschlagen würde. Bei diesem Freund, wo er gerade übernachtete. Wenn er sie nicht mal wieder angelogen hatte – vielleicht schlummerte er auch tiefenentspannt bei seiner neuen Flamme. Die leidige Geschichte mit der alten Liebe hatte er ja erfolgreich abgewickelt. Dem jungen Glück stand nichts mehr im Wege. Lilly schüttelte sich bei dem Gedanken daran.
Sie brauchte jetzt dringend einen starken Kaffee, um sich nicht weiter in sinnlose Gedanken hineinzusteigern. Und dann brauchte sie jemanden zum Reden. Jemanden, dem sie alles endlich erzählen konnte und der ihr sagen würde, was sie jetzt tun sollte. Einen Menschen mit klarem Verstand. Sie brauchte ihre Cousine Valeska. Während Lilly zur Küche trottete, schnappte sie sich ihr Handy. Es war kurz nach 9 Uhr. Valeska hatte also schon ihre Tochter Paula in die Schule gebracht und gönnte sich wahrscheinlich gerade ihre erste Tasse Tee im Wohnzimmer ihres neu gebauten Bungalows mit seinen riesigen Panoramafenstern und einem sagenhaften Blick auf die provenzalischen Weinfelder. Ihr dunkler kurzer Pagenschnitt, noch nass von der Morgendusche, in ein Handtuch gewickelt.
Nach der Hochzeit mit Raymond war ihre Cousine ausgewandert. Doch obwohl zwischen Rostock und Valeskas Haus rund 1500 Kilometer lagen, war ihr enger Kontakt nie abgebrochen. Sie telefonierten fast täglich miteinander – meistens waren es lustige Plaudereien über Belangloses. Valeska hatte sich sicher schon gewundert, warum sie sich so lange nicht gemeldet hatte. Mit einem Seufzen wählte Lilly die Telefonnummer und stellte nebenbei eine leere Tasse unter den verchromten Kaffeevollautomaten. Dann drückte sie auf das Symbol mit der großen Tasse und den drei Kaffeebohnen: die maximale Dröhnung Koffein. Doch statt das heiß ersehnte Getränk aufzubrühen, blinkte plötzlich eine rote Lampe auf, die sie zuvor noch nie an der Maschine bemerkt hatte.
»Mist! Auch das noch«, fluchte sie ins Telefon. »So ein Riesenmist!«
»Das ist ja eine nette Begrüßung«, erwiderte Valeska.
Wie immer erklang im Hintergrund leise französische Musik. Valeska hörte fast den ganzen Tag einen Radiosender, in dem ausschließlich Chansons liefen. Anfangs hatte sie damit die neue Sprache gelernt, mittlerweile war es einfach eine Gewohnheit. Für Lilly waren die Klänge untrennbar mit der Stimme ihrer Cousine verbunden und hatten eigentlich eine beruhigende Wirkung – außer an einem Tag wie heute.
»Oh, sorry! Du bist schon dran«, sagte Lilly. Sie drückte wie wild auf alle Knöpfe der Kaffeemaschine, aber ihre Tasse blieb leer und die rote Lampe blinkte weiter grell und schadenfroh. »Mist!«, wiederholte sie erneut.
»Was ist denn los bei dir?«, fragte Valeska.
»Wenn du es genau wissen willst: Alles ist furchtbar! Die Kaffeemaschine funktioniert nicht und ich habe keine Ahnung, was diese rote Lampe mir sagen will. Weil sich normalerweise Jan um die Geräte hier kümmert. Aber der ist nicht hier, weil …«, und jetzt musste sich Lilly überwinden, den Satz zu beenden. Es kam ihr alles noch so irreal vor. Sie konnte selbst noch nicht glauben, was sie da gleich sagen würde. Lilly blickte durch die Küchentür ins Wohnzimmer, wo das kümmerliche Bündel umspannt von der blau-weiß karierten Picknickdecke lag. Keine Frage – das alles war kein verrückter Alptraum, sondern Realität.
»Warum ist Jan nicht da?«, unterbrach Valeska ihre Gedanken. »Arbeitet dein Schatz schon wieder den ganzen Tag?«
Lilly musste tief durchatmen, ehe sie antworten konnte. »Mein Schatz hat sich eine Neue gesucht. Ich dachte immer, er hätte so viel Stress mit seinem Job und wäre deswegen so viel unterwegs. Aber in Wirklichkeit hat er meine Nachfolgerin getroffen: eine Isabelle. Er hat es mir am Freitagabend gesagt.«
»Eine Neue? Im Ernst? Und das verkündet er dir an eurem Jahrestag? Und du erzählst mir erst jetzt davon?«, rief Valeska entsetzt.
»Ja und ja und ja. Genau bei meinem Überraschungspicknick überrascht er mich dieser grandios fiesen Verkündung. Und die letzten beiden Tage habe ich mich nur verkochen, um mich meinem Selbstmitleid hinzugeben«, antwortete Lilly kleinlaut. Sie hatte mittlerweile aufgegeben, die Kaffeemaschine zu bedienen, und starrte stattdessen aus dem Fenster. Draußen herrschte der übliche Vormittagsverkehr. Ein paar Frauen schoben ihre Kinderwagen über den Gehweg. Alles war so verflixt normal, während in ihrem Leben das reinste Chaos herrschte.
»Das kann ich gar nicht glauben. Bei euch war doch alles immer so märchenhaft! Was für eine tolle Liebesgeschichte: die zauberhafte Fotografin aus dem Süden und der nordische Meeresgott vereint …«
»Sag bitte nie wieder nordischer Meeresgott!«, unterbrach Lilly ihre Cousine. Sie hatte außerdem keinen Nerv dafür, dass Valeska ihr das vergangene Glück in aller Deutlichkeit vor Augen führte. Lilly wusste selbst nur allzu genau, welch perfektes Paar sie gewesen waren. Zumindest bis vor drei Tagen.
»Sorry, Süße! Du hast recht. Ich kann es einfach noch nicht fassen! Was machst du denn jetzt mit eurer Wohnung?«, fragte Valeska.
»Keine Ahnung! Irgendwie muss ich natürlich so schnell wie möglich hier raus und mir was Neues suchen. Derzeit übernachtet Jan bei irgendeinem Freund. Oder vielleicht ist er auch bei seiner Iiiisabelle«, schnaubte Lilly verächtlich und betonte das »Iiii« möglichst angewidert.
»Kannst du nicht für eine Weile bei deiner Kollegin aus dem Fotostudio unterkommen?«
»Nein – auf keinen Fall!«, antwortete Lilly reflexartig. Sie war selbst ein wenig erstaunt darüber, wie sehr ihr die Vorstellung widerstrebte, bei ihrer Kollegin Unterschlupf zu suchen. Zwar mochte sie Maike gerne, aber es war immer ihre feste Überzeugung gewesen, Privates und Berufliches so gut wie möglich zu trennen. Beim Gedanken an Maike fiel Lilly plötzlich auch noch etwas anderes ein.
»Auch das noch!«, fluchte sie.
»Was ist denn jetzt schon wieder? Noch eine Katastrophe?«, erkundigte sich Valeska.
»Ich habe völlig verdrängt, dass ich eigentlich gar keine Zeit habe, mich zu bemitleiden. Ich muss dringend ins Fotostudio! Heute kommt ein Brautpaar und will seine Bilder sehen. Die sind noch gar nicht alle fertig! Wie soll ich das schaffen in meinem Zustand?«, stotterte Lilly verzweifelt.
»Jetzt entspann dich mal ein bisschen. Du bist doch Profi. Das ist ein Klacks für dich«, sagte Valeska. Ihre besonnene Art hatte immer eine wohltuende Wirkung auf Lilly. Valeska war fünf Jahre älter als sie und sowas wie die große Schwester, die sie nie gehabt hatte. »Atme mal tief durch, Chérie. Und übrigens: Schau nach dem Satz!«
»Nach dem Satz?«, erwiderte Lilly verwirrt. »Was meinst du damit?«
»Na, der Kaffeesatz. Wenn die Maschine nicht funktioniert, obwohl genug Bohnen drinnen sind, dann ist meistens der Kaffeesatz schuld. Schütt ihn weg und dann kannst du dir deinen Kaffee machen.«
Endlich verstand Lilly. Statt weiter aus dem Fenster zu starren, widmete sie sich noch einmal der Kaffeemaschine. Sie stellte ihre Tasse beiseite, schob die vergitterte Tropfschale nach vorne und wackelte an allen Teilen der Maschine, die irgendwie beweglich erschienen. Und tatsächlich – ein eckiges Fach ließ sich herausnehmen. Es war bis oben hin gefüllt mit feuchtem, verklumptem Kaffeesatz. Während sie das Telefon zwischen Schulter und Ohr klemmte, leerte sie den Kunststoffbehälter über dem Abfalleimer aus. Dann schob sie das kleine Fach zurück an seinen Platz und stellte ihren Becher darunter. Noch einmal drückte sie auf die Taste mit der vollen Tasse und den drei Kaffeebohnen. Und diesmal erklang das gewohnte surrende Geräusch. Noch nie zuvor hatte sich Lilly so über dieses Geräusch gefreut.
»Du hast recht – also mit dem Kaffee«, murmelte sie.
»Ich habe immer recht – mit allem. Mach dir keinen Kopf. Das wird schon wieder! Dieser Jan hat dich einfach nicht verdient und du kommst über ihn hinweg.«
»Meinst du wirklich?«, fragte Lilly zögerlich.
»Ich weiß es!«, antwortete Valeska. Und sie klang dabei so überzeugend, dass Lilly ihr einfach glauben wollte.
Valeska hatte unrecht. Vielleicht ließ sich das Problem mit der Kaffeemaschine auf die Schnelle lösen – alles andere war und blieb eine Riesenkatastrophe.
Lilly saß im Fotostudio an ihrem Computer. Auch Maike war da. Zum Glück war sie gerade mit ihrer Kundschaft beschäftigt, als Lilly durch die Tür kam. Eine ältere Dame wollte sich mit ihrem Zwergdackel fotografieren lassen. Statt stillzuhalten, bellte das Tier und lief schwanzwedelnd vor der Kamera auf und ab. So war Maike völlig mit dem störrischen Fotomodell beschäftigt und fragte ihre Kollegin nicht über das Picknick aus. Lilly versteckte sich hinter ihrem Computer und widmete sich ihrer Arbeit. Vor ihr leuchtete am Monitor ein neues Foto des Brautpaars im Fünfzigerjahre-Stil: Markus und Solveig. Sie konnte ihren glücklichen Anblick kaum ertragen. Gerade flimmerte ihr eine Nahaufnahme entgegen, auf der sich das Paar leidenschaftlich und mit geschlossenen Augen küsste. Am liebsten hätte Lilly das Bild einfach gelöscht. Aber das konnte sie sich nicht erlauben. Sie war Hochzeitsfotografin und musste sich der Romantik ihres Berufslebens stellen. Das Brautpaar wollte heute vorbeikommen und einen ersten Blick auf die Aufnahmen werfen. Aus den schönsten Motiven sollte Lilly ein paar Bilder für das Wohnzimmer ausdrucken.
Bis gestern noch wäre die Vorauswahl der Bilder reine Routine gewesen. Und jetzt kam es ihr so vor, als ob die Aufgabe unlösbar schien. Genervt klickte Lilly auf den Schwarz-Weiß-Filter und im gleichen Augenblick wurde dem bunten Foto jede Farbe entzogen. Alles schien grau, mit ein paar hellen und dunklen Nuancen dazwischen. Dieser trübe Anblick entsprach schon eher Lillys Gemütslage. Mit der Computermaus verstärkte sie noch den Anteil an dunklen Pigmenten, so als würde sie mit einem dicken schwarzen Filzstift über alle schattigen Stellen malen. Jetzt waren die Gesichter des Brautpaars kaum noch zu erkennen. Dort, wo sich ihre Lippen zum Kuss berührten, zeigte sich ein großer düsterer Klecks.
»Das sieht ja schrecklich aus!«, kommentierte plötzlich eine vertraute Stimme hinter Lillys Rücken.
Lilly hatte gar nicht mitbekommen, dass sich die Kundin samt Zwergdackel bereits verabschiedet hatte. Sie drehte sich um und sah Maikes entsetzte Augen. Diese fixierten ihren Monitor, als liefe dort gerade eine Dokumentation über einen Triebtäter bei einem seiner mörderischen Streifzüge. Lilly hatte ihre Kollegin noch nie so angewidert erlebt. Jetzt drehte sie sich selbst zurück zu ihrem Computer – und verstand. Das Hochzeitsfoto war grauenhaft. Wie aus einem Horrorfilm. Aber noch viel schlimmer war, dass Lilly sich nicht in der Lage fühlte, es besser hinzubekommen. Gab es einen dämlicheren Job als Hochzeitsfotografin, wenn das eigene Eheglück mit der großen Liebe für immer verloren war?
Aber von dem ganzen Elend mit Jan wusste Maike noch nichts und Lilly spürte keinerlei Verlangen, die traurige Wahrheit auszuplaudern. Sie musste sich schnell etwas überlegen.
»Mir ist schlecht! Schlimme Übelkeit – ich muss dringend an die frische Luft«, schwindelte sie. So ganz gelogen war die Geschichte noch nicht einmal. Auch wenn kein verdorbener Krabbencocktail schuld war, sondern ein völlig verkommener Segellehrer. Was noch viel schlimmer war.
»Du siehst auch ganz blass aus«, sagte Maike. Mittlerweile starrte sie nicht mehr voller Entsetzen das Hochzeitsfoto an, sondern Lilly. Und das war um keinen Hauch besser.
»Könntest du vielleicht die Kunden gleich übernehmen? Ich habe das meiste auch schon vorbereitet. Das hier musst du ihnen ja nicht zeigen«, sagte Lilly und deutete auf die schauerliche Schwarz-Weiß-Aufnahme auf ihrem Computer. Im gleichen Moment packte sie ihre Tasche und eilte zur Tür. Von dort aus winkte sie Maike kurz zu. »Danke dir!«, rief sie.
Als sie das helle Sonnenlicht auf der Straße anblinzelte, wurde ihr klar, wie unmöglich sie sich gerade aufgeführt hatte. Sie hatte noch nicht mal Maikes Reaktion abgewartet. Zurückgehen konnte sie aber trotzdem nicht. Am besten nie wieder. Sie musste irgendwohin, um einen klaren Kopf zu bekommen. Lilly sah sich auf der Straße um und war ratlos. In dieser verdammten Stadt erinnerte sie alles an Jan. In der Pizzeria vorne am Ende der Straße hatten sie sich erst kürzlich nach der Arbeit getroffen, und im Park um die Ecke waren sie oft spazieren gegangen. Lilly bog in eine Seitengasse ein, in der sie zuvor noch nie gewesen war. Dort schlenderte sie ziellos auf und ab und zählte dabei die Pflastersteine, um sich irgendwie abzulenken. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs – das monotone Zählen beruhigte sie ein bisschen. Statt an ihr Unglück zu denken, füllte sich ihr Kopf mit sinnlosen Zahlenreihen. Auch das war ein Trick, den ihr Valeska mal beigebracht hatte – sie wusste für alles eine Lösung, und Lilly hätte sie jetzt so gerne möglichst nahe und möglichst lange bei sich. Sie fühlte sich in diesem Augenblick so einsam wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Als plötzlich ein Fußgänger entgegenkam, blickte Lilly kurz auf und blieb vor einem Schaufenster stehen. Es war die Auslage eines Reisebüros. Auf einem großen Foto war ein Ferienhaus in der Provence zu sehen. Eines aus hellgrauen Steinen mit blauen Fensterläden. Eine Woche für 900 Euro zu vermieten. Und dann erkannte sie durch die Glasscheibe noch ein Bild mit drei lachenden Frauen, die Arm in Arm durch irgendeinen mediterranen Urlaubsort schlenderten. Die Aufnahme diente als Werbung für eine Gruppenreise. Das Haus in der Provence und die lachenden Frauen hatten eigentlich nichts miteinander zu tun, aber Lilly konnte nicht anders, als beide Bilder abwechselnd anzustarren – wie bei einem Tennismatch: links, rechts, links, rechts, links, rechts. Und dann wieder links und nochmals rechts. In dem Augenblick kam ihr ein Gedanke. Etwas, das sie schon oft gedacht hatte, um es dann immer wieder zu verdrängen, weil es zu unvernünftig erschien. Erst war es nur eine vage Ahnung, aber dann wurde sie immer deutlicher. Ihr Herz klopfte dabei mit jedem Moment schneller. Keine Frage:
Sie hatte eine Idee!
So schnell, wie sie nur konnte, war Lilly in ihre Wohnung zurückgeeilt. Sie hatte das Gefühl, dass sie jetzt keine Sekunde Zeit verlieren durfte – sonst würde sie womöglich ins Grübeln kommen und dann vielleicht ihren Plan verwerfen, noch ehe er ausreifen konnte. Und zwar einfach, weil sie kalte Füße vor der eigenen Courage bekäme. Und weil das alles schon außergewöhnlich verrückt war, wenn man mal gründlich darüber nachdachte. Aber Lilly war wild dazu entschlossen, die Phase der antriebslosen Verlassenen zu überspringen um Wut, Kummer und Ärger lieber gleich in produktive Energie zu verwandeln. Und dafür brauchte es kühnere Pläne als einen neuen Haarschnitt oder einen Yoga-Trip mit Heilfasten und viel lauwarmem Kräutertee.
Von Jan war in der Wohnung keine Spur. Auch das Chaos aus herumliegenden Flaschen und der Picknickdecke schien unverändert. Lilly war diese Unordnung gerade egal. Sie räumte sich auf dem Sofa, wo sie gestern noch geschlafen hatte, einen kleinen Platz frei und schnappte sich ihren Laptop. Dann tippte sie die Worte »Haus«, »Verkauf« und »Provence« in das Suchfeld. Im nächsten Augenblick begann sie, sich aufgeregt durch die Ergebnisse zu klicken. Dabei griff sie nach einem Blatt Papier und einem Kugelschreiber, der auf dem Wohnzimmertisch herumlag. Darauf kritzelte sie in schiefen Reihen immer mehr Zahlen und Ortsnamen auf.
Als der Zettel mit Notizen übersät war, griff Lilly noch einmal zum Stift und umkreiste ein Wort: Pivette. Von Sekunde zu Sekunde wurde ihr klar: Dort würde sie hinziehen. Das Angebot war mit ihren Ersparnissen am ehesten bezahlbar und außerdem war die Lage günstig. Pivette lautete also der Name ihres zukünftigen Zuhauses – auch wenn sie noch nie dort gewesen war. Und es gab eine Person, die das dringend erfahren musste. Lilly schnappte sich das Telefon und drückte auf die Wahlwiederholungstaste. Sie hatte Glück. Valeska meldete sich nach wenigen Sekunden.
»Na, Chérie? Geht es dir besser?«, flötete sie ins Telefon.
Lilly bemerkte, dass in Valeskas französischem Radiosender gerade Edith Piafs »Non, je ne regrette rien« lief. Das war eindeutig ein Zeichen.
»Ich wandere aus und zwar zu dir. Und dort eröffne ich ein Hotel nur für Single-Frauen. Ein kleines Hotel natürlich. Eine Auberge oder wie ihr das in Frankreich nennt. Und dort ziehe ich dann selbst ein und mache meinen Gästen jeden Morgen ein zauberhaftes Frühstück. Das passende Haus habe ich schon gefunden. Der Ort liegt ganz in der Nähe von euch«, sagte Lilly. Sie war selbst ein wenig erstaunt darüber, wie knapp und präzise sie ihr neues Leben zusammenfassen konnte. In ihren Ohren klangen die paar Sätze wie die perfekte Anleitung zum Glücklichsein.
»Wie?? Du willst was?«, rief Valeska.
Ihre Stimme klang so schrill, dass Lilly kurz den Hörer vom Ohr nahm. Aus der Ferne klang noch immer Edith Piafs markante Stimme durch den Hörer. »Non, rien de rien, non, je ne regrette rien«.
Lilly lächelte vergnügt. Sie erzählte ihrer Cousine von allem, was seit dem letzten Telefonat passiert war. Warum sie nie wieder einen Fuß ins Fotostudio setzen wollte. Und wie sie auf ihrer Flucht von ihren Hochzeitsfotos plötzlich das Reisebüro entdeckt hatte mit den beiden Werbebildern. Das provenzali