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Hannah Aschenbrenner blickt auf eine lange Reihe an verkorksten Beziehungen und gescheiterten Karriereideen zurück. Nun glaubt sie, ihr Glück endlich gefunden zu haben, und zieht wegen einer Affäre mit Jochen Weiß, dem Direktor des Schwarzwälder Hotels »Rebenglück«, von Bayern nach Baden. Doch dann wird Jochen tot in seinem Bett aufgefunden. Kommissar Björn Klingele wittert einen Mord aus Eifersucht. Um ihre Unschuld zu beweisen, stellt Hannah eigene Ermittlungen an. Dabei trifft sie auf mysteriöse Sagengestalten, deckt hochprozentige Geheimnisse auf und begibt sich selbst in Lebensgefahr.
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Seitenzahl: 272
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Marion Stieglitz
Schwarzwälder Kirsch mit Blutwurz
Kriminalroman
Neustart mit FolgenWeder im Job noch in der Liebe hatte Hannah Aschenbrenner bislang großes Glück. Doch als sie eine Affäre mit Jochen Weiß, dem Direktor des Schwarzwälder Hotels »Rebenglück«, beginnt und wegen ihrer Eroberung sogar von Bayern nach Baden zieht, hat dieser Entschluss fatale Folgen für ihr Leben. Denn Jochen wird tot in seinem Bett gefunden und für den ehrgeizigen Kommissar Björn Klingele könnte die Lage nicht klarer sein: Die »Reingeschmeckte« ist höchst verdächtig, schließlich hat sie ihren Liebhaber im Streit mehrfach per Handy-Botschaften ins Nirwana gewünscht. Um ihre Unschuld zu beweisen, muss Hannah nun selbst in der Ortenau ermitteln. Dabei trifft sie auf mysteriöse Sagengestalten wie den »Moospfaff« und deckt hochprozentige Geheimnisse auf. Während sie immer tiefer in den Kriminalfall eintaucht, bringt sie sich zunehmend in Lebensgefahr.
Wie die weibliche Hauptfigur ihres neuen Buchs zog Marion Stieglitz von Bayern in die badische Ortenau – allerdings ganz ohne fatale Folgen. Vielmehr regte die neue Umgebung ihre Kreativität an: Sie ist seit mehr als 15 Jahren als Redakteurin für verschiedene Wohn- und Gartenzeitschriften tätig, außerdem veröffentlicht sie Frauenromane sowie Reiseführer. »Schwarzwälder Kirsch mit Blutwurz« ist ihr erster Krimi. Darin widmet sie sich augenzwinkernd der Frage, warum sich »Dipfelischisser« und »Gscheidhaferl« mal mehr, mal weniger gut verstehen. Ihr Krimi ist eine amüsante Liebeserklärung an die alte und die neue Heimat.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
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Alle Rechte vorbehalten
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Corri Seizinger / shutterstock.com
ISBN 978-3-8392-7910-6
Dieses Buch ist ein Roman. Ereignisse, Personen sowie der Handlungsort Bad Appenbach sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und reiner Zufall. Die Veranstaltung »Sagenhafte Begegnungen« ist ebenfalls frei erfunden, wobei das Freilichtmuseum Vogtsbauernhof tatsächlich existiert.
Auf den letzten Seiten finden Sie ein badisch-bayerisches Wörterbuch, mit dessen Hilfe Sie zahlreiche Dialektbegriffe nachschlagen können.
Die Ausbilderin während ihres Crashkurses zur Wellnesstherapeutin hatte ihn den Hülsengriff genannt: Schließt eure Hände behutsam um den Hals, als sei er eine zarte Erdnuss, die sich im Reifestadium befindet. Hannah brachte dieser Gedanke zum Schmunzeln. Nuss passte eigentlich ganz gut. Dumme Nuss, um genauer zu sein. Wobei die Erfindung des Ausdrucks »Hülsengriff« ein ziemlicher Schmarrn war, den sich nur eine Esoterikerin hatte ausdenken können, die zu viel Qualm von Räucherstäbchen inhaliert hatte. Für Hannah war es ganz klar der Würgegriff: Jetzt ein bisschen fester zudrücken und das Problem hätte sich erledigt. Zumindest rein theoretisch. Praktisch war es freilich eine Schnapsidee, über die Hannah selbst erschrak. So weit hatte die hoffnungslose Situation mit Jochen sie gebracht, dass sie mittlerweile bereits Mordpläne schmiedete. Hannah hasste sich selbst für ihre boshaften Gedanken. Selbstverständlich konnte sie ihr Beziehungsproblem nicht dadurch lösen, dass sie ihre Widersacherin ins Jenseits beförderte.
Mit sanfter Bewegung rieb sie den Nacken von Angelika Weiß mit Limettenöl ein. Es war fast schon ein Streicheln, als könnte sie ihre Gedanken mit besonders liebevollen Gesten rückgängig machen. Ohnehin war es ein Glück, dass sich ihre Kontrahentin gerade bäuchlings auf der Massageliege vor ihr entspannte und vermutlich keine Ahnung davon hatte, was hinter ihrem Rücken vorging. Angelika war nackt bis auf das Handtuch um ihre Hüften. Ihre Haut glänzte rosig wie ein frisch eingeölter Babyarsch. Der Kopf ruhte auf einer ovalen Öffnung, unter der Hannah jeden Tag neue Blumen platzierte. Heute waren es Dahlienblüten, passend zum bunten September draußen vor dem Fenster. Statt eines Gesichts war eine nussbraune Kurzhaarfrisur zu sehen – so ein teurer Schnitt mit akkuraten Kanten, der spätestens alle vier Wochen nachgetrimmt werden musste, damit er nicht aus der Form geriet.
»Wunderbar! Sie haben himmlische Hände, Frau Aschenbrenner! Davon kann ich nie genug bekommen«, raunte ihre Kundin. Vorgestern noch hatten diese himmlischen Hände Angelika Weiß’ Ehemann verwöhnt, und zwar an Stellen, die für eine Wellnesstherapeutin normalerweise tabu waren. Hannah ärgerte sich darüber, dass sie Jochens Avancen erneut nachgegeben hatte. Eigentlich hatte sie ihn so lange nicht mehr sehen wollen, bis er endlich eine Entscheidung getroffen hatte, wie es mit ihnen beiden weitergehen sollte.
»Was für ein Glück, dass wir Sie für unser Hotel gewinnen konnten. Und dieses rollende R von Ihnen klingt ja wirklich herzig. Wenn Sie möchten, können Sie auch gern bei uns im Dirndl massieren – ein bisschen Oktoberfestflair kommt bei den Gästen sicher gut an«, flötete die Frau unter ihr und schien dabei äußerst vergnügt über ihren Einfall.
Schon klar, du Mistbritschn – so dachte Hannah über den Plan von ihrer Chefin, sie wie eine exotische Trophäe auszustellen. Sie sah in ihrer Vorstellung den extra erstellten Werbeflyer: »Unser bayerischer Import kann nicht nur das R rollen wie eine Weltmeisterin, sondern auch noch jodeln wie die Zenzi von der Alm. Und das alles gibt es zusätzlich zur Massage obendrauf. Nach Wunsch schuhplattelt sie das Rosenöl sogar gekonnt in den Nacken. Statt über ein Trinkgeld freut sich unser Schatzerl über Weißwürste oder über Bier im Maßkrug – und plärren Sie unserem Bussibärli dazu gern ein ›O’zapft is!‹ ins Ohr.« Hannah zuckte zusammen bei diesem Horrorszenario. Sie hatte sich mal wieder mit allzu viel Fantasie eine absurde Idee zusammengesponnen.
»Danke, aber ich fühle mich sehr wohl in der aktuellen Arbeitskleidung«, erwiderte sie in einem möglichst sachlichen Ton und blickte dabei auf den cremeweißen Zweiteiler, den alle Mitarbeiter im Wellnessbereich trugen. Sie hatte ihn nie besonders gemocht, weil er fad und unförmig aussah. Bei dem Gedanken allerdings, in einem Dirndl arbeiten zu müssen, gewann die aktuelle Garderobe plötzlich an unermesslichem Wert.
»Mir gefällt die Idee ganz hervorragend – aber das können wir ja später noch besprechen«, gluckste es von unten. »Extra für uns von München in den Schwarzwald zu ziehen, war ja sicher nicht leicht, oder? Alles aufgeben und neu anfangen. Ist das nicht ein großes Opfer?«
Hannah kniff ihre Augen zusammen. Es war, als ob Angelika einen siebten Sinn dafür hätte, was ihr gerade durch den Kopf ging. Vielleicht war ihre Chefin doch nicht so ahnungslos, wie sie schien. Womöglich wusste sie längst Bescheid, und die Tatsache, dass sie ausgerechnet bei Hannah eine Relaxmassage gebucht hatte und sie mit der Dirndl-Idee aufzog, war ihre subtile Art, sich an der Konkurrentin zu rächen. Wenn das der Fall war, dann hatte Hannah es verdient. Trotzdem wollte sie sich nicht die Blöße geben, etwas Privates über sich zu verraten. Jochens Ehefrau sollte nicht merken, wie sehr sie unter der Situation litt und wie sehr sie sich darüber ärgerte, jemals nach Bad Appenbach gezogen zu sein. Noch dazu hatte sie sich von Jochen überreden lassen, diesen Job im Wellnessbereich seines Hotels zu übernehmen. Er hatte sie so lange am Telefon besäuselt, bis sie seinen Verlockungen nachgegeben hatte. Das sei doch eine großartige Möglichkeit für sie, etwas Neues anzufangen. Sie könne schließlich nicht ewig als Bedienung arbeiten. Für die Intensivausbildung zur Wellnesstherapeutin würde selbstverständlich er aufkommen. Entwicklungschancen biete sein Hotel allemal. Und er würde sich wahnsinnig freuen, sie immer in seiner Nähe zu wissen. Er könne sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. Er brauchte sie einfach – dringend! Wahrscheinlich war das der entscheidende Satz gewesen, der ihren Verstand übertölpelt hatte. Die Vorstellung, für jemanden lebenswichtig zu sein, hatte Hannah alle guten Vorsätze vergessen lassen, sich nie wieder Hals über Kopf in eine zweifelhafte Beziehung zu stürzen und sich noch dazu finanziell abhängig zu machen von einem Mann. Kurzum: Der Umzug in die Ortenau war die saudümmste Idee ihres Lebens gewesen.
»Der Schwarzwald ist eine fantastische Gegend. Ich bin sehr dankbar für die Arbeit in Ihrem großartigen Hotel«, flunkerte sie und wurde dabei knallrot, so sehr schämte sie sich für ihre Lüge.
»Aber Sie vermissen doch sicher Ihre Familie und Ihre Freunde?«, bohrte die Stimme weiter nach.
Hannah schüttelte genervt den Kopf. Das war genau das, was sie an ihrem Job nicht mochte. Fremde und halbnackte Menschen zu berühren, um Verspannungen zu lösen, machte ihr nichts aus – im Gegenteil. Es gefiel ihr, dass manche Probleme des Lebens mit einigen beherzten Fingergriffen gelindert werden konnten. Aber diese neugierigen Fragen rund um ihr Privatleben gingen ihr zu weit. Wer käme schon auf die Idee, beim Bäcker drei Semmeln zu bestellen plus eine Auskunft darüber, wie es denn in der Ehe so läuft. Oder seine Hausärztin in die Mangel zu nehmen, ob sie eigentlich selbst genug auf ihre Gesundheit achtet. Nur bei ihr im honiggelb gestrichenen Behandlungszimmer mit dem wenig subtilen Namen »Sonnenfreude« wurde allzu gern hemmungslos nachgefragt. Vielleicht lag es daran, dass die Kunden entblößt vor ihr lagen. Aus ihrer eigenen Nacktheit schienen sie ein Anrecht auf ein bisschen Seelenstriptease abzuleiten. Hannah war entsprechend geübt darin, Auskünfte zu gewähren, die möglichst nichtssagend waren.
»Das ist nicht so schlimm. Es gibt ja das Telefon und WhatsApp«, antwortete sie knapp. Die ehrliche Antwort wäre gewesen: Es gibt daheim gar nicht so viele Personen, die auf mich warten. Und daran war sie selbst schuld. Sie war 41 Jahre alt, und es war ihr nie gelungen, so was wie ein geregeltes Leben aufzubauen. Sie hatte es auch nie wirklich darauf angelegt, denn Angepasstheit erschien ihr seit jeher so fad wie lauwarmer Kamillentee. Nach einem abgebrochenen Biologiestudium schlitterte sie von Aushilfsjob zu Aushilfsjob und arbeitete mal als Messe-Hostess, mal als Verkäuferin oder wie zuletzt als Bedienung. Meistens waren ihre Berufsstationen begleitet von unrühmlichen Affären. Das Einzige, was ihr mit Bravour gelang, war das zielgenaue Aufspüren von Männern, die sich für langfristige Beziehungen als ungeeignet erwiesen. Und dafür hatte sie vieles vernachlässigt, was ihr hätte wichtiger sein sollen: Freunde und Familie allen voran.
Ihre Großtante Luiserl war eine der wenigen Ausnahmen, mit der sie regelmäßig Kontakt hatte. Von ihren Eltern hingegen hörte sie nur sporadisch, seitdem diese ihre Eigentumswohnung gegen ein Wohnmobil eingetauscht hatten, um quer durch Europa zu touren. Zwischendurch schickten sie ihrer Tochter verrutschte Schnappschüsse: Mamas Stirn vor der Alhambra in Granada, Papas linke Körperhälfte auf der Karlsbrücke in Prag. Dazu kryptische Nachrichten wie »Endlich lassen wir uns treiben in Richtung Welt« oder »Auch viel gelaufene Füße können neue Wege beschreiten«. Immerhin waren beide so sehr mit sich beschäftigt, dass sie Hannahs verkorkstes Leben weitestgehend ignorierten. Ihre Mutter hatte ohnehin eine ganz eigene Theorie zum Werdegang ihrer Tochter: »Du konntest erst sprechen, als alle anderen Kinder längst geplappert haben. Und mit dem Gehen hast du dir auch viel Zeit gelassen. Du bist einfach ein Spätzünder. Deine goldenen Tage kommen noch. Irgendwann kommen sie bei jedem.« Hannah hatte sich diese Litanei schon zu oft anhören müssen. Damit Angelika Weiß nicht weiter in ihrem Privatleben herumwühlte, versuchte sie, schnell das Thema zu wechseln, und schaute sich dafür Hilfe suchend im Raum um – bis ihr Blick an dem glänzenden Fußboden hängen blieb.
»Ich wollte Sie noch mal fragen wegen der rutschfesten Matten in den Behandlungszimmern. Es gab schon öfter Probleme mit dem glatten Boden. Neulich ist ein Gast beinahe hingefallen. Ich habe deshalb einen Katalog angefordert für sicheres Zubehör im Wellnessbereich«, sagte Hannah. Sie erinnerte sich an einen Zwischenfall, als eine Kundin nach einer Aromaöl-Massage auf dem Fliesenboden ins Wanken geriet. Hätte Hannah in dem Moment nicht geistesgegenwärtig nach ihren Schultern gegriffen, wäre sie womöglich mit dem Kopf auf das spitze Metallgestell der Liege gefallen. Hannah wollte sich gar nicht ausmalen, was dabei hätte passieren können – und dann auch noch ausgerechnet ihr, die als Neuling sowieso kritisch von den Kollegen beäugt wurde. Zumindest glaubte Hannah das. Womöglich ahnten die anderen etwas, weil der Chef neuerdings so oft im Wellnessbereich zu sehen war – wobei Hannah penibel darauf achtete, ihm gegenüber möglichst distanziert aufzutreten.
»Den Katalog habe ich bekommen, aber diese grauen Sicherheitsmatten zerstören die Optik unserer teuren Marmorböden. Die kommen nicht infrage. Ihre Kolleginnen behelfen sich doch auch mit schönen flauschigen Handtüchern, die sie auf den Boden legen. Die sind sowieso viel angenehmer für die Gäste als so ein Gummiding. Und überhaupt: Fordern Sie keine Kataloge an und überlassen Sie Einrichtungsthemen bitte ausschließlich mir«, erwiderte Angelika Weiß in scharfem Ton. »Aktuell gibt es außerdem wirklich wichtigere Dinge. Sie wissen doch, was heute für ein Tag ist, oder?«
»Meinen Sie den großen Empfang?«, fragte Hannah in einem möglichst beiläufigen Ton. Jochen sprach seit Wochen von nichts anderem.
»Ja! Es wird sehr aufregend für uns.« Der Körper ihrer Chefin geriet unerwartet in Bewegung. Sie drehte sich um und fixierte Hannah mit ihren graublauen Augen. Ihr roter Kopf war eingerahmt von einem grob gemusterten Abdruck, den das Baumwollhandtuch auf ihrer Stirn hinterlassen hatte. Der teure Pony klebte in dunklen Strähnen auf der Stirn wie ein futuristischer Helm. Hannah erschrak kurz bei dem unerwarteten Anblick, sonst kannte sie nur die makellose Version ihrer Chefin. Früher war sie einmal Weinprinzessin gewesen. Ein Foto aus dieser Zeit hing im Hotelflur neben anderen Bildern aus der Geschichte des Hotels Rebenglück. Ihre schlanke Figur von damals hatte Angelika nicht bis in die Gegenwart retten können, aber sie inszenierte ihren fleischigen Körper mit so viel Selbstbewusstsein, als sei sie noch die gefeierte Weinprinzessin von damals. »Es geht heute um die Zukunft des Hotels! Nicht nur für uns als Chefs, sondern auch für die Mitarbeiter. Solche Gelegenheiten bieten sich nicht ständig. Und mein Mann und ich haben alles dafür gegeben – alles!«, zischte sie eindringlich.
Hannah nickte und hatte wieder das Gefühl, dass ihr Gesicht rot wurde. Hastig machte sie einen Schritt zur Seite in Richtung des Rückens ihrer Kundin. »Ich bin noch nicht ganz fertig«, murmelte sie und wollte ihre Chefin wieder in die gewohnte Ruheposition auf der Liege dirigieren, um das unangenehme Gespräch zu beenden. Doch genau in dem Moment riss ihre Kollegin Marianne zusammen mit dem Portier Konrad die Tür auf. Letzterer wedelte aufgeregt mit seiner roten Kappe durch die Luft, als gelte es, einen Hornissenangriff zu vertreiben. Nervöse Rufe vermischten sich, und es dauerte eine Weile, bis Hannah verstand, was da gesagt wurde. »Frau Weiß! Sie müssen kommen! Schnell!«, rief eine der beiden Stimmen, und die andere ergänzte: »Herr Weiß ist nicht zur Besprechung gekommen wegen der Feier heute, und da haben wir ihn gesucht. Er ist doch sonst immer pünktlich.« Und plötzlich fiel ein Satz, der Hannah wie eine Ohrfeige traf. »Der Chef bewegt sich nicht mehr.«
Drei Stunden vorher
Jochen Weiß blickte aus dem Fenster: Der Himmel war fast genauso blau wie auf den Fotos seiner Werbebroschüren. Er selbst nannte es sein »Lockblau«. Die Verheißung eines türkisfarbenen Himmels war beinahe so verführerisch wie ein Meerblick. Deshalb durfte mit Lockblau nie gespart werden, sobald sein Hotel auf Fotos abgebildet wurde – zur Not sorgte sein Grafiker mit ein paar Mausklicks für den gewünschten Farbton. Der heiße August war nahtlos in einen warmen September übergegangen. Jochen vernahm fröhliche Schreie aus Richtung des Schwimmbeckens seiner Hotelanlage. Sehen konnte er nur die Natursteinmauer, umrankt von Wildem Wein, die den Badegästen Privatsphäre bieten sollte und sich auf schmucke Art in die Architektur des Anwesens einfügte. Der neue Pool hatte ihn ein Vermögen gekostet, aber wie so oft hatte sich die Investition als lohnenswert erwiesen. Fast alle Zimmer waren in der Hauptsaison ausgebucht. Der Schwarzwald gehörte zu den beliebtesten Ferienregionen des Landes, und Jochen hatte einen nicht unerheblichen Teil dieser Touristen auf sein Anwesen gelockt. Sein Heimatstädtchen Bad Appenbach rückte hinsichtlich der Übernachtungszahlen immer weiter nach oben auf der Skala der begehrten Winzerorte wie Durbach und Gengenbach, die ebenfalls im Landkreis Ortenau lagen. Anders als die benachbarten Tourismusziele durfte sich Bad Appenbach jedoch seit einigen Monaten als Luftkurort bezeichnen. Ein Gutachten hatte belegt, dass der Aufenthalt hier besonders erholsam war. Und weil das Streben nach Gesundheit einen immer höheren Stellenwert einnahm, würde das beschauliche Bad Appenbach mit seinem achteckigen rosafarbenen Glockenturm und dem frisch gepflasterten Marktplatz früher oder später die Nummer eins der Urlaubsziele der Region sein – davon war Jochen Weiß überzeugt. Sein Hotel Rebenglück bestand aus mehreren Gebäuden, die sich an einen Hang schmiegten, dessen obere Hälfte für den Weinanbau genutzt wurde. Das historische Hauptgebäude war im Fachwerkstil erbaut. Bei den später ergänzten Nebengebäuden bildeten die dunklen Balken an der Fassade nur Schmuckwerk, das für die Statik völlig irrelevant war und für ein stimmiges Gesamtensemble sorgte. Jochen ließ noch einmal seinen Blick über das Anwesen schweifen und prüfte, ob das Gärtnereiteam seinen Anweisungen gefolgt war: den Rasen trimmen und von welkem Laub befreien. Frische Astern in die Blumentröge pflanzen. Er entdeckte nichts, was ihn störte, und schloss zufrieden das Fenster. Das Juchzen der planschenden Kinder verhallte, und es war auf einmal still in seinem Zimmer. Er nutzte den kleinen Raum unter dem Dach als Rückzugsort. Die schmale Kammer verfügte über ein winziges Bad, ein Bett und einen Schreibtisch. Manchmal fehlte ihm die Zeit, zum Schlafen extra in den Bungalow am Ortsrand von Bad Appenbach zu fahren, den er und Angelika bewohnten. Außerdem hatte er hier seine Ruhe. Nur wenige Hotelmitarbeiter wussten, dass er sich unter dem Dach einen Rückzugsort geschaffen hatte. Viele Angestellte hielten den Raum wahrscheinlich für eine ungenutzte Dachkammer, und genau deshalb war er das beste Versteck. Nachdem Jochen sein Hemd aufgeknöpft hatte, stellte er sich vor den Spiegel im Badezimmer und klopfte sich mit der Faust auf die Stelle seines Körpers, an der sich das Brustbein befand. Zweimal tat er das – so wie er es damals in diesem »Dynamisiere dein Leben«-Seminar gelernt hatte. Er verschwieg seiner Frau, wie viel Geld er für die Coaching-Seminare ausgab. Aber er hatte kein schlechtes Gewissen: In sich selbst zu investieren, war immer lohnenswert. Bei dem »Dynamisiere dein Leben«-Seminar sollte jeder Teilnehmer einen körperlichen Power-Anker finden, der ihn in Sekundenschnelle zurückversetzt in einen Moment seines Lebens, der von großer Freude erfüllt gewesen war. Als würde das Klopfen auf sein Brustbein einen unsichtbaren Knopf drücken, der Jochen wieder 17 Jahre alt werden ließ. Dann verschwand sein Bauchansatz genauso wie die grauen Schläfen im dunklen Haar. Damals hatte er seinem Vater ein Konzept vorgelegt, wie er das Hotel Rebenglück in die erste Adresse von Bad Appenbach verwandeln könnte. Er hatte sich in den Wochen zuvor stundenlang in Bibliotheken herumgetrieben, um Wirtschaftsratgeber zu studieren. In Internetcafés hatte er sich über träge surrende Modems ins World Wide Web eingewählt, um Informationen aufzuspüren, von denen sein älterer Bruder Manuel keine Ahnung hatte. Denn der trieb sich damals auf Fußballplätzen und Vereinsfesten herum mit dem selbstzufriedenen Gehabe eines zukünftigen Juniorchefs. Jochen hingegen hatte sich nie von der Vorstellung beeindrucken lassen, dass Manuel als Älterer automatisch der Erbprinz war. Er ließ das 53 Seiten dicke Konzept für teures Geld in einen schweren Lederumschlag binden, damit es noch gewaltiger aussah. Und es verfehlte seine Wirkung nicht. Es war das erste Mal, dass sein Vater ihm zuraunte, dass er vielleicht doch besser als Nachfolger geeignet sei. Genau dieser Moment hatte Jochen mit einem warmen Gefühl des Stolzes erfüllt. Nahezu alles war möglich für ihn, wenn er sich genug Mühe gab.
Noch einmal klopfte er sich auf sein Brustbein. Auch heute Abend würden die Dinge nach Plan verlaufen. Er lockerte seine Faust und streckte seine Finger aus. Jochen hatte nicht die imposante Männerhand seines Vaters, aber sie war kräftig genug, um Geschäftspartnern mit einem starken Händedruck zu begegnen. Immer einen Hauch länger, als sein Gegenüber es wohl vermuten würde. Er sorgte damit bei jeder ersten Begegnung für einen Moment der Irritation, und genau das gefiel ihm. Berechenbarkeit war eine Schwäche, die jeder mit einigermaßen wachem Verstand ausnutzen konnte. Und diesen Gefallen schuldete er niemandem. Heute Abend würde er alle überzeugen, dass nur er der neue Chef des Schwarzwälder Hotelverbands sein könnte. Jochen kannte seine Konkurrenten. Das war vor allem Thorben Böhm vom Burgenhof bei Offenburg, den die meisten Burgi nannten. Er besaß eine Campinganlage, auf der sich während der Hochsaison bis zu 500 Gäste pro Tag tummelten. Mit günstigen Preisen lockte Burgi gerade die jungen Urlauber in den Schwarzwald. Nicht jedem im Hotelverband gefiel das. »Krake aus Köln« nannte man ihn hinter seinem Rücken, denn er war nicht nur sehr erfolgreich, sondern auch ein »Reingeschmeckter«, und das machte seinen Triumph umso unanständiger.
Für Jochen war er einfach lästig, so wie jeder, der sich ihm in den Weg stellte. Aber es gab da etwas, was er über Burgi wusste, und damit könnte er ihn aus dem Verkehr ziehen – falls es überhaupt nötig wurde. Womöglich hatte er sich ganz umsonst die Mühe gemacht, eine Schwachstelle bei seinem Konkurrenten aufzuspüren. Tatsächlich konnte er ihn nicht so gut einschätzen wie die Geschäftsleute aus seiner Heimat. Burgis rheinische Mentalität, alles feixend wegzulachen, war ihm fremd. Doch er kannte ein Gegenmittel. Er prüfte ein weiteres Mal, ob sich in seinem Jackett sämtliche Zettel befanden, die er vorbereitet hatte. Der Anzug hing frisch gereinigt am Kleiderschrank. Er würde ihn tragen, gleich nachdem er sich ausgeruht hatte. Jochen zog Jeans und Hemd aus und ließ mithilfe einer Pipette einige Tropfen Schlafmittel direkt in seinen Mund fallen – wie er es immer machte, wenn er dringend einen Powernap brauchte.
Während sich der bittere Geschmack des Hanföls in seinem Mund ausbreitete, schlüpfte er in sein Bett und dachte an Hannah. Sie war die einzige Schwäche, die er sich gönnte. Viele würden die Sache als Fehler bezeichnen. Dabei hatte er sich ihr seltsam nah gefühlt gleich bei der ersten Begegnung in einer Bar in München, in der sie damals gearbeitet hatte. Sie hatte so behutsam die Gläser poliert, als handelte es sich nicht um Billigware irgendeiner Brauerei, sondern um kostbares Kristall. Vielleicht tat sie zunächst nur so, als würde sie ihn nicht bemerken. Sie konnte sich gut verstellen, ähnlich wie er selbst. Als er schließlich die Chance bekam, etwas bei ihr zu bestellen, bat er sie eindringlich, den Cognac im schlichten Porzellanbecher zu servieren. Nicht in den Gläsern, die sie gerade hingebungsvoll gesäubert hatte. Er wollte nicht akzeptieren, dass sie sich die Mühe umsonst gemacht hatte. Wenigstens eine Weile lang sollten die perfekt polierten Gläser unbenutzt bleiben. Daraufhin sah er zum ersten Mal ihr mädchenhaftes Lächeln, das ihm zugleich das berauschende Gefühl verlieh, wieder ein junger Mann zu sein. Schon wenige Wochen später hatte er sie dazu überredet, in seinem Hotel zu arbeiten, wobei er nie ernsthaft darüber nachgedacht hatte, sich von Angelika zu trennen. Seine Mitarbeiter würden ihn nie mehr respektieren, wenn er die Chefin durch einfaches Personal ersetzte. Früher oder später musste er die Sache mit Hannah beenden. Aber heute Nacht würde er sie besuchen, selbst wenn sein störrisches Bayernmädel mal wieder »hard to get« spielen sollte. Ihm war es noch immer gelungen, sie um den Finger zu wickeln. Hannahs lange rotblonde Haare und ihre grünen Augen waren das letzte Bild, an das er dachte – als er plötzlich spürte, wie sein Hals zuschwoll, und er keine Luft mehr bekam. Und dann wurde alles um ihn herum dunkel.
Erst musste der Quark durch ein Sieb gestrichen werden. Björn Klingele verwendete dafür sein Premium-Feinmaschsieb, das er extra in einem Freiburger Spezialgeschäft für Haushaltswaren gekauft hatte. Man könnte damit Mehl oder Gewürze sieben, aber bei ihm kam es nur für Bibeleskäs zum Einsatz. Jeden, der dachte, bei dieser badischen Spezialität handle es sich schlicht um Kräuterquark, strafte er mit Verachtung. Während seiner Ausbildung hatte es einmal eine Weihnachtsfeier gegeben, bei der alle Kollegen vom Chef in ein Wirtshaus eingeladen wurden. Auf der Speisekarte standen neben Sauerbraten auch Pellkartoffeln mit Bibeleskäs. Zu Töpfen voller dampfender Speisen stellte die Bedienung mehrere Frischkäse-Plastikschalen »Edition Frühlingskräuter« auf den Tisch, als ob es das Normalste auf der Welt wäre. Sie zwinkerte ihren Gästen dabei verschwörerisch zu. Komischerweise schien es die anderen am Tisch nicht zu stören. Seine Kollegen scherzten laut, und einige bestrichen ihre Bratenstücke sogar mit der zähen Frischkäsemasse. Er hingegen hatte das Weihnachtsessen damals beendet, ohne etwas zu essen, und hatte einen dringenden privaten Termin vorgetäuscht. Fast könnte man sagen, dass er die Flucht ergriffen hatte vor dem Frischkäse, der vortäuschte, eine badische Spezialität zu sein.
Die fachmännische Zubereitung von Bibeleskäs bedurfte Geduld und Hingabe. Es galt, den Schnittlauch und eine Zwiebel zu schneiden, die Sahne hinzuzufügen und alles in Ruhe abzuschmecken. Gerade bei vermeintlich einfachen Rezepten lauerten die größten Schnitzer, denn handwerkliche Fehler konnten im Nachhinein nicht vertuscht werden. Mit einer üppigen Schokoladenglasur ließ sich ein vermurkster Gugelhupf retten, bei einem verbrannten Flammkuchen gab es in der Regel ein paar annehmbare Stücke, aber Bibeleskäs verzieh keine Unachtsamkeit. Björn Klingele drückte gerade die weiße Quarkmasse mit der Rückseite eines Kaffeelöffels behutsam durch das Sieb, als das Telefon klingelte. Er blickte auf seine Armbanduhr. Es war 19:13 Uhr an einem Samstag. Um diese Zeit gab es nur zwei Personen, die ihn anriefen: seine ältere Schwester Katharina und sein Vorgesetzter aus dem Kriminalkommissariat. Björn fiel ein, dass seine Schwester gerade im Urlaub war. Sie hatte sich einen Kurztrip nach New York gegönnt. Seit ihre Feriendomizil-Agentur florierte, war sie oft unterwegs: in Sri Lanka, in Kapstadt und jetzt eben in New York. Und jedes Mal fragte sie ihren Bruder vorher, ob er nicht mitkommen wolle, weil er mal einen Tapetenwechsel vertragen könne. So ein Leben in der Provinz mache auf Dauer doch trübsinnig – das war ihre Theorie. Machte es nicht, entgegnete er ihr dann immer, ohne zu zögern. Er war nicht ungern von Freiburg nach Bad Appenbach gezogen, denn hier konnte er unabhängiger arbeiten. Und er entging den kichernd geflüsterten Bemerkungen seiner alten Kollegen, die er vermutlich nicht mitbekommen sollte. Eigentlich. Meistens amüsierten sie sich darüber, dass Björn die Polizeidienstvorschrift etwas zu genau nahm.
In Bad Appenbach musste er sich nicht mehr anhören, er solle endlich mal ein bisschen lockerer werden und nicht alles, was er in der Ausbildung gelernt hatte, genau so umsetzen. In Bad Appenbach gab es niemanden, der ihn ändern wollte, denn sein neues Kommissariat war angenehm überschaubar. Neben ihm selbst gab es nur eine halbtags arbeitende Sekretärin und seinen behäbigen Kollegen Franz Engler, der seiner Pensionierung entgegenfieberte und dem Jüngeren gern alle Verantwortung überließ. Es klingelte erneut, und Björn legte das Sieb vorsichtig in die Porzellanschale, in der sich die durchpassierte Bibeleskäs-Masse türmte. Dabei tropfte ein kleiner weißer Klecks auf sein rechtes Handgelenk. Er rieb ihn vorsichtig auf seine Unterlippe, um ihn mit der Oberlippe in den Mund zu schieben. Seine eigene Hand wie ein Hund mit feuchter Zunge abzulecken, wäre für ihn nie infrage gekommen.
»Ja«, raunte Björn in sein Handy und warf einen wehmütigen Blick auf den dahinsimmernden Topf Salzkartoffeln. Jetzt wäre der ideale Zeitpunkt, um sie abzugießen. Aber das Schnaufen am anderen Ende ließ seine Hoffnung auf ein baldiges Abendessen verpuffen.
»Jessesgott! Nach dem hundertsten Tuten bewegen Sie sich also mal ans Telefon, Herr Klingele«, entgegnete die barsche Stimme. Der Anrufer musste sich nicht vorstellen. Björn wusste auch so, dass es sein Dienststellenleiter war. Christian Schenk war schon in Freiburg sein Vorgesetzter gewesen. Er neigte zur chronischen Übertreibung.
»Es hat exakt vier Mal geläutet«, erwiderte Björn. Bei der Genauigkeit von Zahlenangaben machte ihm keiner etwas vor.
»Ach so, na ja. Aber darum geht es auch gar nicht.« Sein Dienststellenleiter räusperte sich. »Fahren Sie unverzüglich zum Hotel Rebenglück. Jochen Weiß wurde tot in seinem Bett aufgefunden. Der Notarzt hält eine nähere Untersuchung für angebracht. Fremdeinwirkung wird nicht ausgeschlossen. Sie müssen da jetzt hin. Und zwar alla hopp!«
Björn musste sich vor Schreck kurz abstützen, und dabei landete sein Handballen im Bibeleskäs. Der groteske Anblick des riesigen weißen Kleckses auf seiner Haut, der auf den Ärmel seines Hemds übergriff, passte zu der unglaublichen Nachricht.
»Jochen Weiß? Der Jochen Weiß? Bei ihm sollte doch heute das große Fest stattfinden. Wollten Sie da nicht selbst hingehen?«, plapperte er aufgeregt und bereute im gleichen Moment seine letzte Frage. Er war eifersüchtig darauf gewesen, dass nicht er, sondern sein Dienststellenleiter zum Fest eingeladen worden war. So wie fast der gesamte Rest von Bad Appenbach. Zumindest all jene, die zum wichtigen Teil der Bevölkerung zählten.
»Ich war eingeladen. Aber das ist Vergangenheit. Alles ist abgesagt. Bitte verhalten Sie sich diskret. Am besten gehen Sie über den Hintereingang ins Hotel«, sagt sein Chef.
»Ist gut«, erwiderte Björn und wischte sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Erst in dem Moment fiel ihm der Käseklecks wieder ein. Er spürte die kühle Masse auf seiner Wange. »Ich bin auf dem Weg«, raunte er und legte das Handy auf die Arbeitsfläche.
Mit großen Schritten eilte er in sein Bad und blickte kurz in den Spiegel: Die weiße Creme klebte auf der linken Backe und zwischen seinen blonden Haaren, die schon dünn geworden waren, als er seine erste Stelle als Kommissar angetreten hatte. Angewidert zog er Hemd und Hose aus und stellte sich für einige Augenblicke unter den warmen Duschstrahl. In das Wasser mischten sich weiße Schlieren, und sie verschwanden rückstandslos im Abfluss.
Hannah strich fahrig über das grau getigerte Fell von Luitpold und berührte dabei den empfindlichen Bauch des Tieres, woraufhin der Kater beleidigt davonsprang. Eigentlich war er ein äußerst toleranter Mitbewohner. Die längste Zeit seines Lebens hatte Luitpold auf der Straße gelebt. Eines Abends nach einer Nachtschicht hatte er vor Hannahs Münchener Haustür gelegen – ausgemergelt und mit einer blutenden Pfote. Ohne zu zögern, hatte Hannah ihn in ihre Wohnung mitgenommen und ihn mühevoll gesund gepflegt. Danach war Luitpold von seinen nächtlichen Streifzügen immer wieder zu ihr zurückgekehrt – egal wie unaufgeräumt ihre Wohnung und wie chaotisch ihr Leben auch waren. Luitpold begrüßte sie jeden Tag aufs Neue mit sanftem Schnurren. Für diese rührende Treue bedankte sich Hannah auf ihre Art. Selbst wenn ihr Geld kaum für die Miete reichte, hatte sie für ihren kleinen Gefährten immer eine Dose Katzenfutter im Küchenschrank. Als der Umzug in den Schwarzwald anstand, sprang er von ganz alleine in ihren Wagen, und das eine halbe Stunde vor der Abfahrt. Als wollte er sichergehen, dass er nicht zurückgelassen würde, was Hannah ohnehin niemals vorgehabt hatte. Vielmehr hatte sie Angst davor gehabt, dass der Kater diesen wenig durchdachten Ortswechsel ablehnen und sich rechtzeitig davonschleichen würde. Er hat sich dich ausgesucht und nicht umgekehrt, hatte ihr mal eine Arbeitskollegin erklärt. Jetzt in diesem Moment konnte das Tier allerdings wenig mit seiner schniefenden Wahlmitbewohnerin anfangen und verzog sich hastig in eine dunkle Ecke des Schlafzimmers.
Anders als ihr agiles Haustier lag Hannah erschöpft auf ihrem Sofa, den Blick auf die Deckenlampe gerichtet. Es war ein absurd geschmackloses Modell: ein eckiger Lampenschirm, umspannt mit einem ockerfarbenen Stoff, an dem staubige Kordeln baumelten. Als sie hier vor sieben Monaten eingezogen war, hatte sie den Lampenschirm sofort auf ihre To-do-Liste mit dem Titel »Dringend nötige Veränderungen« gekritzelt. Eigentlich war die ganze Wohnsituation ein einziges Provisorium: Sie lebte in einer kleinen Einliegerwohnung im Erdgeschoss. Der Rest des Hauses wurde von einem Ehepaar und dessen beiden Teenagertöchtern bewohnt. Fast jedes Wochenende fanden in dem penibel gepflegten Garten irgendwelche Familienfeste statt, begleitet von fröhlichem Gelächter und Grillwürstchengeruch, der in Hannahs Wohnzimmer drang. Sie fühlte sich in dem Haus mitsamt seiner Familienidylle wie ein Störfaktor. Aber sie hatte den längst geplanten Umzug genauso wenig auf die Reihe gebracht wie alle anderen Punkte auf ihrer »Dringend nötige Veränderungen«-Liste. Jetzt in diesem Moment kam ihr die Liste ohnehin albern vor. Als ob es einen Unterschied machte, welche Lampe sich in ihrer Wohnung befand. Seit heute Nachmittag hatte sich ein dumpfes Gefühl in ihrem Brustkorb festgesetzt. Seit dem Moment, als sich während des Massagetermins mit Angelika Weiß die Tür geöffnet hatte und von Jochen die Rede gewesen war und davon, dass er sich nicht mehr bewegte.
Sie erinnerte sich kaum noch daran, wie sie die letzten Stunden überstanden hatte. Es solle alles weiterlaufen wie vorgesehen – so lautete die Anweisung. Hannah hatte noch drei Massagetermine in ihrem Kalender stehen, die sie nur mit zitternden Händen bewältigen konnte. Dazwischen hatte sie versucht, Infos zu ergattern. Was genau war mit Jochen passiert? Durch das Fenster ihres Behandlungszimmers hatte sie einen Notarzt sowie einen Krankenwagen wahrgenommen. Hastig waren der Arzt und die zwei Rettungskräfte ausgestiegen. Als sie nach einer Weile zurückkamen, wirkten ihre Schritte verdächtig langsam. Einer zündete sich eine Zigarette an. Hannah glaubte, ein angedeutetes Kopfschütteln zu erkennen. Während sie dieses Szenario durch das Fenster beobachtete, spürte sie auf einmal eine Hand auf ihrer Schulter. Sie gehörte ihrer Kollegin Ines. »Konnte man nichts machen. Morgen erfahren wir sicher Näheres«, sagte sie und ergänzte noch ein: »Wird schon irgendwie weitergehen.«
Hannah schnaubte bei dem Gedanken an diesen dämlichen Satz: »Wird schon irgendwie weitergehen«. Nichts würde weitergehen. Noch absurder erschien ihr die Vorstellung, dass sie heute Vormittag gedacht