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Die Provence mit allen Sinnen.
Helen ist alles andere als begeistert, als ihr Freund Leo sie kurz vor einer wichtigen Präsentation in einen Spontanurlaub entführt. Und dann auch noch das: Nach einer Autopanne stranden sie im provenzalischen Hotel „Auberge de Lilly“. Als Helen hier jedoch ihre Liebe zur Verarbeitung von Lavendel entdeckt, werden alte Träume in ihr wach. Der verwaiste Lavendelladen im Nachbardorf scheint da wie ein Wink des Schicksals. Nur Leo findet keinen Gefallen an der Idee oder – anders als Helen – am Ladenbesitzer Marcel ...
Nach „Das kleine Hotel in der Provence“ lädt Marion Stieglitz erneut auf eine zauberhafte Reise nach Südfrankreich ein.
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Seitenzahl: 322
Die Provence mit allen Sinnen
Helen ist alles andere als begeistert, als ihr Freund Leo sie kurz vor einer wichtigen Präsentation in einen Spontanurlaub entführt. Und dann auch noch das: Nach einer Autopanne stranden sie im provenzalischen Hotel »Auberge de Lilly«. Als Helen hier jedoch ihre Liebe zur Verarbeitung von Lavendel entdeckt, werden alte Träume in ihr wach. Der verwaiste Lavendelladen im Nachbardorf scheint da wie ein Wink des Schicksals. Nur Leo findet keinen Gefallen an der Idee oder – anders als Helen – an dem Ladenbesitzer Marcel.
Nach »Das kleine Hotel in der Provence« lädt Marion Stieglitz erneut auf eine zauberhafte Reise nach Südfrankreich ein.
Über Marion Stieglitz
Marion Stieglitz wurde 1981 in Cham im Bayerischen Wald geboren. Nach dem Studium der Neueren deutschen Literatur in München zog sie ins badische Offenburg an der französischen Grenze. Dort absolvierte sie ein Volontariat an der »Burda Journalistenschule« und arbeitet seither als Redakteurin für verschiedene Wohn- und Gartenzeitschriften wie »Wohnen & Garten«, »Landhaus« und »WohnenTräume«.
Im Aufbau Taschenbuch ist ihr Roman »Das kleine Hotel in der Provence« lieferbar.
Mehr zur Autorin unter www.marion-stieglitz.de.
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Marion Stieglitz
Lavendeltage in der Auberge de Lilly
Roman
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Nachspiel
Lavendelrezepte
Lavendel-Schafskäse
Teekuchen mit Lavendel
Schokoladen-Lavendel-Pralinen
Lavendel-Eis
Gin Tonic mit Lavendelblüten
Früchte-Tarte mit Lavendelsirup
Impressum
Für meine wunderbare Familie
Mit einem letzten Geräusch verabschiedete sich ihr Fahrzeug aus dem Dienst. Nachdem es die vergangenen Stunden abwechselnd gepoltert, gepfiffen und geklappert hatte, beendete ein lauter Knall jede Hoffnung darauf, dass sie die Reise fortsetzen könnten.
»Verstehst du jetzt endlich, was ich dir schon die ganze Zeit gesagt habe?«, raunte Helen.
Während sich der Wagen zuletzt immer lauter bemerkbar gemacht hatte, war sie selbst zunehmend verstummt. Leo wäre sowieso nicht von seiner Überzeugung abgewichen, dass die Wahl des uralten VW-Bulli eine geniale Idee gewesen sei. Er hatte sogar tatsächlich gedacht, dass sie sich über seinen Spontankauf freuen würde. Vor ein paar Tagen parkte erstmals der quietschorangefarbene Kasten vor ihrer Wohnung in Karlsruhe und dazu stand plötzlich noch der Plan im Raum, ganz spontan in die Provence zu reisen. Damit sie endlich mal ein bisschen im Urlaub ausspannen könne, hatte Leo ihr freudestrahlend erklärt. Aber genau das hatte er mit seinem Plan nicht erreicht. Um ausspannen zu können, hätte Leo sich zumindest um ein Fahrzeug kümmern müssen, dessen Benutzung nicht unter die Kategorie »Katastrophentourismus« fiel.
»Verstehst du jetzt endlich, was ich dir schon die ganze Zeit gesagt habe?«, fragte Helen erneut.
Ohne aufzusehen, blätterte Leo wieder mal in seinem Buch. »How to keep your Volkswagen alive. A manual of step-by-step procedures for the compleat idiot« stand in verschlungenen Buchstaben auf dem Einband. Das sei kein Lehrbuch für Idioten, sondern ein idiotensicherer Weg, um jede kleine Macke des Autos im Nu zu reparieren – so was in der Richtung hatte Leo ihr immer wieder versichert, wenn er seine selbsternannte »Bulli-Bibel« hervorgekramt hatte, um beflissen darin zu blättern. Genau so, wie er es jetzt gerade wieder tat. Helen hatte genug von seinen ewigen Beschwichtigungen, dass der Wagen gleich wieder schnurren würde wie eine sattgefressene Katze oder ein solider AEG-Kassettenrekorder aus den 90er Jahren oder was auch immer ihm an schrägen Vergleichen einfiel.
»Hörst du mir eigentlich auch mal zu?«, fragte sie und legte demonstrativ ihre linke Hand zwischen die Buchseiten.
Jetzt schenkte Leo ihr endlich seine Aufmerksamkeit und starrte sie aus seinen graublauen Augen an. Dabei klopfte er mit gekrümmtem Zeigefinger an sein Kinn. Helen kannte diese Geste. Er machte das immer, wenn er verlegen war. »Ich werde alles regeln! Unsere Lady auf vier Rädern ist momentan nur etwas zickig. Du könntest auch mal ein kleines bisschen Geduld haben«, sagte er und schob Helens Hand von dem Buch weg. »Ich bekomme das hin. Wenn du möchtest, darfst du dann auch mal ans Steuer. Das Auto wäre dafür wirklich nicht schlecht, wenn es nur endlich mal so richtig ins Rollen käme.«
»Auf keinen Fall! Du weißt ganz genau, dass ich das nicht will«, protestierte Helen. Sie ärgerte sich, dass ihr Freund ausgerechnet jetzt mit diesem heiklen Thema anfing: Sie war schon seit Jahren nicht mehr selbst gefahren und Leo kannte den Grund dafür ganz genau. Unter keinen Umständen würde sie dann auch noch diesen uralten Wagen auswählen, um sich zum ersten Mal wieder hinter das Steuer zu setzen.
»Jaja, ist schon klar. Du willst nicht selbst fahren. War ja nur so eine Idee, damit du und unsere Lady euch endlich etwas anfreunden könntet«, beschwichtigte Leo Helens aufsteigende Wut. »In ihrem tiefsten Inneren ist sie nämlich äußerst vital. Man muss sie nur von ein paar kleinen Krankheiten befreien und schon schnurrt unser Wagen wieder wie eine sattgefressene …«
Helen ließ ihn nicht ausreden. »Das hast du schon kurz hinter Karlsruhe gesagt und da waren wir noch nicht mal richtig losgefahren. Und dann hast du es bei Straßburg wiederholt und irgendwo bei Dijon und noch an mindestens zehn weiteren Orten. Die kompletten letzten beiden Tage konnte ich es mir anhören. Die ganze Zeit bin ich geduldig geblieben, aber jetzt reicht es mir! Dabei habe ich dich von Anfang an gewarnt. Niemand verkauft einen ach so wertvollen Oldtimer zum Sonderpreis, wenn das Ding nicht ein Schrotthaufen ist. Wenn du mir eine Freude mit einer Überraschungsreise hättest machen wollen, dann wäre es auch einfacher gegangen. Warum nicht einfach für ein paar Tage in ein gemütliches Wellnesshotel in der Nähe unserer Wohnung fahren? Aber bei dir soll es ja immer was möglichst Ausgefallenes sein. Und deshalb muss ich jetzt in dieser uralten Kiste quer durch die Pampa reisen.«
»Bezeichnest du jetzt die Provence wirklich als Pampa?«, erwiderte Leo entgeistert. »Falls du dich erinnerst: Wir haben uns hier zum ersten Mal getroffen. Und ich dachte, du würdest dich freuen, wenn wir endlich mal wieder herkommen. Wir haben es uns drei Jahre lang vorgenommen und nie hat es geklappt. Ich wollte dich einfach mal aus deiner Routine reißen. Bei all dem Stress mit deinem Job wärst du sonst noch kollabiert.«
Helen atmete tief durch. Eigentlich hatte Leo nicht ganz unrecht. Die Kantinen-Geschichte hatte sie in den letzten Wochen tatsächlich jede freie Minute gekostet. Nachdem sie im vergangenen Jahr ihr geliebtes Café »Wohnstube« hatte schließen müssen, weil es ihr einfach nicht gelungen war, wirtschaftlich erfolgreich zu sein, musste Plan B gelingen. Oder besser gesagt: Plan K, Plan Kantine. Ein großer Software-Konzern suchte einen innovativen Betreiber für sein Personalrestaurant und Helen hatte sich mit einem aufwendig ausgearbeiteten Konzept beworben. Nächste Woche Montag sollte die Präsentation vor dem Kunden stattfinden. Und genau hier lag der Haken an Leos Idee. Es war ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt für einen Abenteuertrip – selbst wenn er gut gemeint war. Helen streichelte kurz durch Leos braune Haare. Sie besann sich auf das, was sie am besten konnte: rational zu denken und sich nicht von ihren Gefühlen auf der Nase herumtanzen zu lassen.
»Ich weiß, du wolltest mir einen Gefallen tun. Aber jetzt stehen wir hier mitten in irgendeinem provenzalischen Dorf und kommen nicht weiter. Und ich glaube, diesmal lässt sich der Wagen nicht einfach mit einem Schraubenzieher und etwas frischem Kühlwasser beruhigen. Steht in deiner Bulli-Bibel auch irgendwas über das würdige Abschiednehmen von einem ausgedienten Automobil? Sollen wir es feierlich in einem der Lavendelfelder beerdigen?«, versuchte Helen zu scherzen.
Leo griff nach Helens Hand und drückte sie fest. »Lass es mich bitte noch ein letztes Mal mit der Reparatur probieren. Ich finde den Fehler bestimmt! Und wenn es dann nicht klappt, dann gelobe ich feierlich, dass du nie wieder einen Fuß reinsetzen musst. Bitte!«
Helen ließ sich in ihren Sitz zurückfallen und warf einen genervten Blick nach draußen. Seit ihrer letzten Pause in einem Bistrot waren sie nur ein paar hundert Meter weit gekommen. Sie befanden sich also immer noch in diesem kleinen Dörfchen Pivette an der Grenze zum gebirgigen Landstrich Dauphiné in der Vaucluse. Ihr Ziel war eigentlich ein Campingplatz bei Avignon gewesen, wo Leo seiner Freundin eine frische Dusche und die angeblich weltbesten Crêpes mit Ziegenkäse und Rosmarin versprochen hatte.
»Du erwartest jetzt aber nicht von mir, dass wir hier mitten auf der Straße übernachten. Ich habe Hunger, das dringende Bedürfnis nach einem anständigen Bad und die Schnauze voll vom ewigen Benzingeruch.« Demonstrativ kurbelte Helen die Fenster nach unten, was nur mit gehöriger Kraftanstrengung funktionierte, denn natürlich gab es in diesem antiken Gefährt keinen elektronischen Fensterheber. Von draußen drängte sich ein Schwall staubiger Hitze in den Wagen, die typische Nachmittagshitze eines Junitags in Südfrankreich. »Und eine Klimaanlage hätte auch ihre Vorteile! Ich ersticke hier noch«, nölte sie extra dramatisch. Eigentlich waren die Hitze und der Hunger gar nicht so schlimm, aber wenn sie weiter klein beigab, würde Leo nie begreifen, dass diese Reise für sie längst kein Vergnügen mehr war.
Jetzt grinste Leo verschmitzt und setzte sich seine Piloten-Sonnenbrille auf die Nase. Er hatte sie im Handschuhfach des Autos gefunden und Helen vermutete, dass die orangefarben getönten Gläser wie der Wagen selbst aus den Siebzigern stammte. Sie fand, dass er damit wie ein schmieriger Zuhälter aussah, aber er fühlte sich offensichtlich so cool wie James Dean. Jetzt schob er die Sonnenbrille bis auf die Nasenspitze und fixierte Helen über die Brille hinweg.
»Meine Liebste, ich werde dich sogleich in ein kleines Paradies entführen, wo es dir an nichts fehlen wird. Der Kellner des ›Bistrot des Augustins‹ hat mir vorhin verraten, dass es hier im Ort seit wenigen Jahren ein äußerst schnuckeliges Hotel gibt. Der Laden heißt ›Auberge de Lilly‹ und soll wohl sogar von einer deutschen Besitzerin geführt werden. Dort darfst du die nächsten Tage nächtigen, bis der Wagen repariert ist. Deal?«, fragte er und schob die Sonnenbrille wieder zurück auf seinen Nasenrücken.
Helen erkannte in den orangefarbenen Gläsern ihr verdutztes Gesicht. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Leo sich bereits einen Alternativplan überlegt hatte. Viel lieber hätte sie ihm vorgeschlagen, einfach ein Taxi zum nächsten Bahnhof zu nehmen. Mit etwas Glück wären sie in der Nacht schon wieder daheim in ihrer gemütlichen Stadtwohnung in Karlsruhe. Dann könnte sie sich gleich morgen früh an ihren Schreibtisch setzen und an »Plan K« feilen. Es gab noch einiges zu berechnen und zu kalkulieren. Aber vor allem musste sie die Präsentation vor dem Kunden so perfekt vorbereiten, dass es keinen Zweifel geben würde, wer der kompetenteste Kandidat für das Personalrestaurant war. Und zwischendurch könnte sie vielleicht in ihre Lieblingsboutique fahren und sich doch noch diesen sündteuren Hosenanzug für ihren großen Auftritt kaufen, den sie sich eigentlich gar nicht leisten konnte, seit sie monatlich ihre Schulden wegen des Café-Bankrotts abstottern musste. Helen warf einen Blick in den fleckigen Make-up-Spiegel ihrer Sonnenblende. Noch dringender als ein neues Outfit benötigte sie allerdings eine anständige Frisur. Ihr Pony klebte in blonden Strähnen auf ihrer Stirn und ihr Zopf hatte sich zwischen zahllosen Haargummis zu einem kümmerlichen Knäuel in ihrem Nacken zurückgezogen. Die letzte Nacht, die sie auf einer viel zu dünnen Matratze im Wagen verbringen musste, hatte dunkle Augenringe hinterlassen – ganz zu schweigen von den Rückenschmerzen. Die Vorstellung, mit dem Zug so schnell wie möglich wieder in Richtung Heimat und dem eigenen Bett zu fahren, wurde für Helen immer verlockender. Aber sie konnten das Auto nicht einfach am Straßenrand zurücklassen und natürlich war Leo kein Mitglied beim ADAC, weil sich seiner Meinung nach da nur Spießer anmelden würden. Vielleicht war es tatsächlich keine schlechte Idee, erst mal zu dieser »Auberge de Lilly« zu laufen, sich frisch zu machen und dann zu überlegen, wie es weitergehen sollte.
»Ich schaue mir dieses Hotel einfach mal an. Wenn es mir nicht gefällt, dann nehme ich den nächsten Zug nach Hause und du kannst dich alleine um das Auto kümmern. Aber länger als einen Tag bleibe ich auf gar keinen Fall in diesem verschlafenen Nest! Hier gibt es ja eh nichts zu sehen. Der Ort taucht noch nicht mal im Reiseführer auf«, betonte Helen und klappte die Sonnenblende nach oben, ohne Leo eines Blickes zu würdigen. Sie wollte sich nicht länger vom ihm bequatschen lassen, denn er beherrschte es oftmals allzu gut, sie mit treuherzigem Augenaufschlag und leidenschaftlich vorgetragenen Argumenten um den Finger zu wickeln. Helen war zu müde für weitere Diskussionen. Sie griff nach ihrer Handtasche, öffnete die Tür und sprang auf die Straße. Wenigstens musste sie die nächsten Stunden nicht mehr in diesem stickigen Wagen verbringen und das alleine war schon ein Grund, ein kleines bisschen erleichtert zu sein.
Nachdem Helen sich mit Rosenseife den Staub und die Müdigkeit abgewaschen hatte, merkte sie, wie sich ihr Körper langsam entspannte. Umwickelt von dem kuscheligen Bademantel, der neben der Duschkabine bereitgelegen hatte, schenkte sie der neuen Umgebung zum allerersten Mal ihre volle Aufmerksamkeit. Beim Einchecken hatte sie das Hotel nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen. Sie hatten ihr Gepäck einen scheinbar endlos langen Hügel nach oben geschleppt bis zu der Adresse, die Leo von dem Kellner des Bistrots bekommen hatte. Als sie schnaufend angekommen waren, hatte ihnen die freundlich lächelnde Dame an der Rezeption zwei Gläser Wasser gereicht. Der kleine Empfangstresen befand sich in einem hellen Raum, der sonst wahrscheinlich für das Frühstück genutzt wurde. Unter anderen Umständen hätte Helen der Versuchung nicht widerstehen können, an einem der geschmackvoll dekorierten Tische Platz zu nehmen und sich einen Café au Lait zu gönnen. Aber sie beließ es lieber bei dem Wasser, murmelte keuchend ein »Danke« und achtete argwöhnisch darauf, dass Leo auch wirklich nur eine einzige Übernachtung buchte. Dann hatte sie sich den Schlüssel geschnappt, war in ihr Zimmer geeilt, um dort, ohne zu zögern, das Bad zu blockieren. Während Leo gerade damit beschäftigt war, die Koffer zu verstauen, wie das Poltern von nebenan verriet, ließ Helen in Ruhe ihren Blick durch den Raum schweifen. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, das Hotel auf keinen Fall zu mögen, aber sie musste leider feststellen, dass sie wenig daran aussetzen konnte. Von außen sah es aus wie ein typisch südfranzösisches Landhaus mit blauen Fensterläden aus Holz und rustikalen Mauern, die aus grob geschlagenen Sandsteinen zusammengefügt waren. Sie befand sich im Badezimmer der Coco-Chanel-Suite, das mit weißen und schwarzen Fliesen verkleidet war und von einem eleganten Kronleuchter erhellt wurde, dessen goldener Schein sich im Spiegel vervielfältigte. Neben der zierlich geformten Seifenschale stand eine kleine gerahmte Fotografie von Coco Chanel in gedeckten Sepiafarben. Darauf warf die Modeikone ihren Blick über die linke Schulter direkt dem Betrachter zu – nicht lächelnd, aber auch nicht unfreundlich. Sehr kontrolliert, so wie Helen die Designerin von vielen Fotos kannte.
Das Hotel bestand ausschließlich aus Motto-Zimmern, wie sie an der Rezeption erfahren hatte. Es gab ansonsten noch einen Jane-Austen-Saal, einen Mary-Poppins-Salon, ein Edith-Piaf-Zimmer und eine Jeanne-Calment-Suite. Leo hatte ihr kurz zugezwinkert, als ihnen ausgerechnet die Coco-Chanel-Suite angeboten wurde – das begehrteste Zimmer des Hotels, dessen Reservierung erst wenige Minuten zuvor storniert wurde. Jetzt bemerkte sie, dass in einem kleinen Badezimmerschränkchen genau jene Parfums zum Testen bereitstanden, die sie selbst besaß: »Coco Mademoiselle«, »Coco Noir« und natürlich »Chanel N˚5«, Helens Lieblingsduft, der sie immer an ihre Mama erinnern würde. Sie hatte ihn fast täglich verwendet und sogar bei jener Urlaubsreise, als der tödliche Unfall passiert war. Dieser Unfall, den Helen an keinem Tag ihres Lebens vergessen konnte – weil er sie immer daran gemahnte, dass sie ihn hätte verhindern können. Und es war genau der Tag, seitdem sie sich nie wieder selbst hinter das Steuer eines Autos gesetzt hatte. Helen hatte es ein paar Mal versucht, aber sobald sie das Lenkrad mit ihren Händen berührte, kamen Erinnerungen an die schrecklichen Fotos vom Unfallort hoch. Sie fühlte sich nicht mehr in der Lage, ein Fahrzeug zu bedienen, das so etwas Schreckliches verursacht hatte. Aus dem völlig zerstörten Wagen konnte die portugiesische Polizei eine beinah unversehrte Damenhandtasche, gefüllt mit einem Geldbeutel, einem Madeira-Reiseführer und einem »Chanel N˚5«-Parfumflakon, retten. Helens Vater bekam die Tasche samt Inhalt einige Wochen nach der Beerdigung in einem unscheinbaren Paket zugeschickt. Helen hatte ihm die Kiste abgenommen und auf den Dachboden gestellt neben all die anderen Erinnerungsstücke, von denen sie sich niemals trennen würde.
Schon beim Anblick des eckigen »Chanel N˚5«-Parfumflakons mit seinem großen, geschliffenen Deckel hatte Helen den blumigen Geruch in der Nase. Als sie ihn gerade in die Hand nehmen wollte, klopfte es von draußen.
»Soll ich uns in einer Stunde einen Tisch im Hotel-Restaurant reservieren?«, rief Leo durch die geschlossene Tür.
»Okay«, antwortete Helen knapp.
»Es hat ausgezeichnete Bewertungen auf beinah allen Plattformen. Und es gibt sogar Crêpes zum Dessert – auch die mit Zitronenschalen, die du so gern magst«, plauderte Leo weiter.
»Ich habe doch schon zugesagt«, erwiderte Helen, die Leos Angewohnheit, durch geschlossene Türen zu reden, nicht gerade schätzte.
»Das Lokal heißt ›Le Ciel de Provence‹, also der Himmel der Provence oder so ähnlich. Es soll auch eine Dachterrasse mit einem Wahnsinnsausblick geben. Wenn das nicht eine Verheißung ist, oder was meinst du?«, rief Leo.
Helen öffnete jetzt genervt die Badezimmertür. »Ich habe deinem Vorschlag doch längst zugestimmt. Darf ich mich davor vielleicht noch kurz in Ruhe anziehen? Ich möchte nicht im Bademantel zum Essen gehen.«
»Könntest du meinetwegen aber gern, meine Liebste. Du siehst auch im Bademantel todschick aus«, grinste Leo und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Dabei kratzten seine Bartstoppeln über ihre Haut. Seit einigen Wochen rasierte er sich nicht mehr, weshalb die Fülle seiner kreuz und quer stehenden braunen Haare nahtlos in einen Vollbart übergingen – zumindest sollte es mal ein Vollbart werden. Momentan glichen die ungleichmäßig sprießenden Stoppeln eher einem kümmerlichen Rasen, dessen Grashalme nach dem Zufallsprinzip gesät worden waren.
»Zu deiner Yeti-Frisur passt es allemal, aber trotzdem würde ich mich gern in Ruhe fertig machen. Wenn es erlaubt ist?«, fragte Helen und schloss im gleichen Moment die Badezimmertür, ohne eine Antwort abzuwarten.
»Darfst du!«, rief Leo durch die geschlossene Tür. »Und du musst doch zugeben, dass dieses Hotel wirklich toll ist, oder nicht?«
Helen seufzte, statt zu antworten. Sie hatte Leo längst durchschaut. Er würde versuchen, sie um den Finger zu wickeln, damit sie seinem Vorhaben zustimmte, gleich ein paar Tage hierzubleiben – so lange, bis er den Wagen repariert hatte. Aber sie wollte diese Reise, mit der er sie überrumpelt hatte, endlich beenden. Leo würde es sowieso nie schaffen, das Auto länger als für ein paar Kilometer fahrtüchtig zu bekommen. Und sie durfte den Präsentationstermin in acht Tagen auf keinen Fall verpassen. Helen bemerkte jetzt, dass der Schrank mit den Parfumflakons immer noch geöffnet war. Sie widerstand der Versuchung, ein wenig »Chanel N˚5« im Raum zu verteilen. Sie spürte zwar eine Sehnsucht nach diesem besonderen Duft, aber zugleich würde er traurige Erinnerungen wecken. Helen blickte in den Spiegel und kämmte sich den Pony in die Stirn. Ihre Augen wirkten müde, ihr Gesicht war zu blass für den Juni und selbst ihre paar Sommersprossen waren kaum mehr zu sehen. Sie musste sich jetzt auf ihre Karriere konzentrieren, eine makellose Präsentation vorbereiten, um dann endlich in ein neues, erfolgreiches Leben zu starten. Gerade war nicht die richtige Zeit für Sentimentalität, dachte sie, als sie den Parfumschrank langsam zuklappte.
Leo hatte nicht zu viel versprochen: Der Ausblick von der Terrasse des Restaurants war tatsächlich atemberaubend. Erst jetzt bemerkte Helen, dass die Hotelanlage sich über das gesamte Dorf emporhob. Nur der Kirchturm von Pivette mit seinen unverputzten Steinen und den Fenstern, die den Blick auf eine kupferfarbene Glocke freigaben, überragte die »Auberge de Lilly«. In der Ferne zeichneten sich die endlosen Blütenteppiche des Lavendels ab, dessen lilablauer Farbverlauf im Abendlicht noch ein wenig mehr zu leuchten schien. Es war ein Anblick wie von einer Postkarte, nur war hier offensichtlich kein Photoshop-Programm im Spiel, das die Szenerie noch vorteilhafter erscheinen ließ. Die provenzalische Landschaft präsentierte sich Helen in ihrer unverstellten und deshalb umso eindrucksvolleren Pracht.
»Habt ihr euch schon entschieden?«, fragte eine weibliche Stimme und riss Helen aus ihren Gedanken.
Sie wendete ihren Blick der Bedienung zu und erkannte in ihr die Frau, die sie an der Rezeption begrüßt hatte. Es war die Besitzerin Lilly, die Leo gleich in ein Gespräch verwickelt hatte. Sie hatten festgestellt, dass sie fast aus der gleichen Gegend kamen, und sich sofort das Du angeboten. Lilly hatte früher in Freiburg gelebt, ehe sie vor zwei Jahren dieses Hotel eröffnete, das sie mittlerweile mit ihrem Ehemann Noah führte. Sie trug ihre nussbraunen Haare in einem lockeren Knoten und über ihr Blümchenkleid hatte sie eine blaue Leinenschürze gebunden, in die der Name des Restaurants, umsäumt von ein paar winzigen Sternen, gestickt war: »Le Ciel de Provence«.
»Ich muss heute ausnahmsweise auch als Bedienung einspringen. Zwei unserer Aushilfen sind leider erkrankt und mein Mann wirbelt ganz alleine in der Küche. Es kann heute also etwas länger dauern, wofür ich mich gleich zu Beginn entschuldigen möchte«, sagte sie lächelnd und zauberte hinter ihrem Rücken ein kleines Tablett mit Baguettescheiben hervor, die mit einer braunen Paste bestrichen waren. »Damit niemand verhungern muss, gibt es vorab einen Gruß aus der Küche. Brote mit Tapenade – das ist ein typisch provenzalischer Aufstrich aus Kapern, Anchovis und Oliven.«
Helen bemerkte jetzt, wie hungrig sie war. Bis auf ein Frühstück, bestehend aus fettigen Burgern, die ihnen in einer Raststätte in Burgund serviert wurden, hatte sie den ganzen Tag noch nichts gegessen. Helen griff nach einer der Scheiben, biss ein Stück davon ab und hatte das Gefühl, zum ersten Mal seit einer kleinen Ewigkeit etwas zu essen, das nicht aus billigem Weizenmehl oder künstlichen Aromastoffen bestand. Die würzige Rezeptur der Tapenade war so raffiniert, dass sie eine Weile brauchte, die einzelnen Zutaten zu schmecken: die Frische der Oliven, die salzige Note der Anchovis.
»Wie köstlich«, schwärmte Helen und wollte eigentlich noch hinzufügen, dass sie natürlich Verständnis dafür hatte, wenn sie etwas länger auf das Essen warten mussten. Aus ihrem eigenen Café kannte sie Personalengpässe zur Genüge, ebenso wie die dazugehörigen Beschwerden der Besucher, wenn die Bestellungen entsprechend langsamer serviert wurden. Schon seit ihrem ersten Aushilfsjob als Bedienung hatte sie sich geschworen, niemals ein launischer Gast zu werden. Aber statt Lilly in ein Gespräch über ihren eigenen Werdegang zu verwickeln und damit zu bewirken, dass die anderen Gäste noch länger auf ihre Bestellung warten mussten, hielt sie sich lieber kurz.
»Wir nehmen zweimal das Tagesmenü mit Weinbegleitung – oder was meinst du?«, sagte sie zu Leo gewendet, der sogleich zustimmend nickte. Er überließ die Auswahl der Speisen meistens seiner Freundin, weil er Schwierigkeiten hatte, sich zu entscheiden. Helen hingegen wusste immer genau, auf was sie Lust hatte und was auf keinen Fall infrage kam.
»Eine perfekte Wahl«, resümierte Lilly augenzwinkernd, während sie das kleine Windlicht auf dem Tisch anzündete und sich verabschiedete.
»Täusche ich mich oder entdeckte ich da ein Lächeln auf deinem Gesicht? So glücklich habe ich dich ewig nicht gesehen«, bemerkte Leo. Er trug eines seiner selbstentworfenen T-Shirts aus der eigenen Kollektion, die allesamt mit großen Schriftzeichen bedruckt waren – was laut ihres Freunds ein stummer Beitrag zur modernen Gesprächskultur war, bei der zu viel geplappert und zu wenig geschwiegen wurde. Heute prangte ein gelbes Fragezeichen auf rotem Stoff.
Helen strich über ihr Leinenkleid, das den langen Transport im Bulli nur in Knitteroptik überstanden hatte. »Es ist wirklich schön hier – und tausendmal besser als in dem stickigen Bus.«
»Genau deswegen habe ich ja vorgeschlagen, dass wir erst mal hierbleiben. Du musst keinen Fuß mehr in das Auto setzen, solange es nicht repariert ist. Wir dürfen unsere Lady sogar hier auf dem Hotelparkplatz abstellen. Morgen hilft mir Lillys Mann Noah und schleppt es ab. Ich verspreche dir, sogar die Klimaanlage wird demnächst wieder laufen wie ein frisch gedopter Tour-de-France-Teilnehmer«, strahlte Leo.
Helens Mundwinkel verzogen sich kurz zu einem erzwungenen Lächeln. »Und danach geht der Abenteuertrip unverändert weiter? Daran habe ich keinen Bedarf. Es war ohnehin keine so schlaue Idee gewesen, ausgerechnet jetzt in den Urlaub zu fahren. Ich sollte lieber zu Hause sitzen und an meiner Präsentation arbeiten – sie ist so wichtig für mich! Ich will nicht ewig diejenige sein, die nichts auf die Reihe bekommt. Erst das abgebrochene BWL-Studium und dann die Sache mit dem gescheiterten Café«, sagte Helen und plötzlich fiel ihr genau der Moment ein, als sie den Schlüssel ihrer »Wohnstube« hatte abgeben müssen. Sie hatte es nicht übers Herz gebracht, ihn persönlich bei der Vermieterin vorbeizubringen, weil sie sich für die letzten drei nicht bezahlten Monatsmieten schämte. Stattdessen hatte Helen den Schlüssel einfach in den grauen Briefkasten von Frau Karlmann gesteckt, wo er sich mit einem dumpfen Klang verabschiedete. Dazu hatte sie einen Brief verfasst, in dem sie ihrer Vermieterin genau ausgerechnet hatte, wie sie die Schulden abtragen würde. Mit Zahlen hatte sie dank ihres BWL-Studiums nie Probleme gehabt und deshalb hatte sie sich das Führen eines Cafés auch viel einfacher vorgestellt. Aber nicht falsch kalkulierte Preise waren ihr größtes Problem gewesen, sondern die Machenschaften eines Nachbarn, der Helens anfängliche Erfolge zunichtemachte. Immer wieder schwärzte der Wirt aus dem Restaurant nebenan sie beim Gesundheitsamt wegen angeblich mangelhafter Hygiene und abgelaufener Produkte an. Zwar konnte sie jeden Vorwurf widerlegen, aber irgendwann verselbstständigten sich die Gerüchte, ihre »Wohnstube« gleiche eher einer chaotischen Studentenbude. Buchungen für Geburtstagspartys wurden storniert und neue Kunden blieben aus. Trotz aller Bemühungen, ihr Café mit Umbaumaßnahmen und Gutschein-Aktionen wieder zu einem beliebten Treffpunkt zu machen, musste sie irgendwann aufgeben. Die Schulden waren ihr über den Kopf gewachsen und alle Ersparnisse waren längst verbraucht. »Wenigstens die Sache mit der Kantine muss klappen! Ich möchte endlich keine Schulden mehr haben«, beendete Helen schließlich ihre Grübelei, die bei ihr neuerdings immer in düsteren Zukunftsaussichten mündete. »Ich weiß echt nicht, was ich sonst machen soll. Wer will schon jemanden anstellen, der nur ein abgebrochenes BWL-Studium und ein geflopptes Café vorzuweisen hat? Ich bin erst 29 Jahre alt und habe es trotzdem schon geschafft, mein Leben ziemlich in den Sand zu setzen. Wenigstens muss meine Mama das nicht miterleben. Sie wäre bestimmt ziemlich enttäuscht von mir.« Verstohlen wischte sie sich eine Träne aus ihrem Augenwinkel.
»So ein Unsinn!«, fiel Leo ihr ins Wort und streichelte sanft ihre Hand. »Ich habe deine Mama zwar nie kennengelernt, aber ich bin mir sicher, dass sie immer stolz auf dich wäre, egal was du machst! Jeder scheitert mal. Die Sache mit dem Café war nicht deine Schuld. Gegen so einen Mistkerl von einem Nachbarn warst du einfach machtlos.«
Helen schluckte. »Womöglich hast du recht. Aber mein Vater und meine Schwester sehen das auf jeden Fall anders. Für sie bin ich das schwarze Schaf in der Familie, das keinerlei Erfolgsbilanz vorzuweisen hat. Die beiden mussten sogar einen Teil meiner Schulden begleichen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie unangenehm es für mich war, ausgerechnet meine Schwester um Geld zu bitten! Irgendwie fühle ich mich neben ihr und meinem Vater wie eine Aussätzige«, sagte Helen und erschrak selbst über ihre Worte. Zum ersten Mal hatte sie das Verhältnis zu ihrer Familie so drastisch in Worte gefasst. Nach dem Tod ihrer Mutter hatten sich sowohl ihr Vater als auch ihre ältere Schwester Nadine in ihre Arbeit gestürzt und kaum über den Unfall gesprochen. Die Steuerkanzlei, die beide gemeinsam führten, lief so gut, dass kürzlich sogar die Pläne für ein erweitertes Bürogebäude unterzeichnet wurden. Als Helen ihrer Schwester vor ein paar Monaten die Abrechnungen zu ihrem Café geschickt hatte, machte sie sich nicht mal die Mühe, eine Lösung für Helens finanzielle Engpässe zu finden.
MACH DEN LADEN DICHT, BEVOR NOCH MEHR UNGLÜCK PASSIERT!, hatte Nadine ihr gemailt und zwar in Großbuchstaben, wie sie das immer so machte, wenn sie vermutete, ihre kleine Schwester würde die Dringlichkeit der Lage sonst nicht verstehen. Sie war nur sieben Jahre älter als Helen, aber benahm sich oft wie eine Ersatzmutter. Und zwar eine von der wenig einfühlsamen Sorte.
»Deine Schwester und dein Vater sind nur neidisch darauf, dass du ein echtes Leben hast, während sie ihre Nasen jeden Tag in irgendwelche Steuerunterlagen stecken müssen. Und ich verstehe auch nicht, warum du jetzt schon davon ausgehst, dass du diesen Kantinen-Deal nicht bekommst. Du bist doch super vorbereitet. Alle Kleinigkeiten, die noch nicht bis ins letzte Detail ausgefeilt sind, kannst du auch hier vom Laptop aus erledigen. Und wenn du noch ein bisschen Sommerbräune vor deinem Auftritt bekommst, kann das sicher auch nicht schaden«, versuchte Leo sie aufzumuntern.
Helen ließ den Blick über ihre Oberarme gleiten, die so blass waren wie sonst nur im Winter. Ihre Haut hatte in den letzten Wochen tatsächlich fast ausschließlich das künstliche Licht ihres Laptops gesehen. Ein paar Tage echte Sonnenstrahlen und etwas Ruhe würden ihr gewiss guttun. Aber bevor Helen etwas erwidern konnte, brachte Lilly den ersten Gang: eine Art kleines Törtchen, bei dem eine Feige auf einem Crumble aus Parmesan und Nüssen thronte. Die Feige war aufgeschnitten, warmer Roquefort floss über die Frucht und verbreitete dabei sein unverkennbares Aroma. In dem Moment erkannte Helen, dass ihr Widerstand gegen Leos Pläne, doch noch etwas länger zu bleiben, ähnlich wie der Käse auf ihrem Teller, immer mehr zu schmelzen begann.
Als Helen auf ihr Handy blickte, beschloss sie, dass der Tag beginnen konnte. Es war 5.54 Uhr – zu spät, um noch mal einzuschlafen, und zu früh, um Leo zu wecken. Er lag mit geschlossenen Augen neben ihr und schnaufte mit gleichmäßigen Atemzügen in sein Kopfkissen. Sie schlug leise die Bettdecke zurück, schlüpfte in ihre Flipflops und zog das Leinenkleid von gestern Abend über ihr Nachthemd. Sie ging davon aus, dass ihr um diese Uhrzeit noch niemand im Hotel begegnen würde. Durch die Jalousien drang gedämpftes Morgenlicht in das Zimmer. Sie öffnete langsam die Tür und bewegte die Klinke im Zeitlupentempo, um Leo nicht doch noch aufzuwecken. Nachdem sie die letzten 48 Stunden fast durchgehend in seiner Nähe verbracht hatte – erst im VW-Bus und jetzt im Hotel –, war sie froh, ein bisschen alleine sein zu können. Langsam schlenderte sie durch den Flur des Hotels, der mit rötlichen Fliesen bedeckt war und in einer Wendeltreppe endete, die hinauf zum Frühstücksraum und Restaurant führte. Helen zog es aber nach draußen. Sie öffnete die gläserne Tür zur Terrasse am anderen Ende des Gangs, setzte sich auf einen der bereitgestellten Metallstühle und nahm einen tiefen Atemzug der frischen Morgenluft.
Es duftete nach Rosmarin und Thymian, deren Blätter in dicken Büscheln aus verschiedenen Pflanztöpfen ragten. Die ganze Terrasse war umrahmt von verschieden großen Terrakottaschalen, gefüllt mit Kräutern, Lavendel und Jasmin. Gleich dahinter begann der weitläufige Garten, der eine ebenso große Pflanzenfülle bot. Alle paar Meter streckten sich Platanen mit üppig grünen Baumkronen sowie bunt blühende Oleandersträucher und Rosen aus dem taufrischen Gras. Helen erkannte auf der linken Seite des Grundstücks auch verschiedene Gemüsebeete. Tomaten- und Zucchiniblüten leuchteten ihr gelb und rot entgegen.
Genau davon hatte sie wahrscheinlich gestern gekostet in dem köstlichen Gemüseauflauf, den es als Hauptgang gab: einem »Tian provençal«. Bei dieser durchaus gesunden Schlemmerei war es allerdings nicht geblieben, was Helen mittlerweile bereute. Sie hatte viel zu viel Wein getrunken und sich von Leo auch noch überreden lassen, an die kleine Bar des Restaurants zu wechseln. Dort hatten sie Lillys Ehemann Noah kennengelernt, der ursprünglich aus Brighton stammte und eine kuriose Mischung aus englischen und deutschen Wörtern verwendete. Er bestand aber darauf, dass sie nicht ganz ins Englische oder Französische wechselten, weil er unbedingt die Muttersprache seiner Frau lernen wollte. Also mixte er ihnen den »besten Pastis-Martini von der ganzen world« und einen selbstkomponierten Cocktail aus »echt französischem Lillet und fantastic Scottish Whiskey«. Genau diese beiden Drinks hatten Helen heute Nacht einen ausgiebigen Schlaf geraubt und meldeten sich gerade als pochende Kopfschmerzen. Helen atmete in tiefen Zügen ein und aus. Die kühle Morgenluft wirkte wie ein sanfter Kräutertee. Doch zeitgleich mit dem Abflauen der Kopfschmerzen wurden die Erinnerungen an den gestrigen Abend immer deutlicher. Da war doch die Begegnung mit diesem komischen Paar gewesen. Das konnte doch eigentlich nur ein merkwürdiger Traum gewesen sein …
»Mist!«, fluchte sie, als sie in der Tasche ihres Kleids einen schmalen Zettel erspürte. Sie faltete das silberfarbene Papier auf, obwohl sie genau wusste, was darauf zu lesen war: Mission 1: Lernt euch neu kennen – so als würdet ihr euch zum ersten Mal begegnen.
Helen schüttelte ungläubig den Kopf. Diesen Quatsch hatte sie vor allem Leos Kontaktfreude zu verdanken sowie der benebelnden Wirkung von zu viel Whiskey und Pastis auf ihren sonst so wachen Verstand. Wäre sie gestern nüchtern gewesen, hätte sie sich auf das Gespräch mit diesem hippiemäßig gekleideten Ehepaar gar nicht eingelassen. Die beiden hatten sich irgendwann zu ihnen an die Hotelbar gesellt – besser gesagt, hatten sie Leo und Helen eingekesselt. Links und rechts von ihnen hatten sie sich aufgebaut, so dass es unmöglich war, nicht von ihnen in eine Plauderei verwickelt zu werden. Beide trugen cremeweiße Hemden über weiten Hosen. Dutzende Halsketten mit Holzperlen und Steinen klackerten bei jeder ihrer Bewegungen. Sunita hatte ein buntes Tuch um ihre langen grauen Haare gewickelt und Haris Kopf bekrönte ein seltsamer Hut, bestickt mit runden Glasstücken. Sie kamen aus Luxemburg und wirkten etwa so alt, dass sie Leos oder Helens Eltern hätten sein können.
»Eigentlich heißen wir Hendryk und Suzanna, aber Sunita und Hari sind unsere spirituellen Namen. Wir sind Reiki-Meister und bieten hier ein Seminar an. Vielleicht habt ihr ja Lust, euch anzuschließen? Uns ist ein Paar abgesprungen, wir haben also noch einen Platz frei«, so hatte sich Sunita vorgestellt und Hari hatte jeden ihrer Sätze mit einem lächelnden Nicken begleitet. Helen erinnerte sich nach und nach an das ganze Gespräch. Stolz hatte Sunita von ihrem Werdegang erzählt. Beide hatten ursprünglich einen Friseurladen betrieben, bis sie feststellten, dass man mit den Händen noch mehr Gewinnendes hervorbringen kann als Hochsteckfrisuren, Dauerwellen und blonde Strähnchen. Mittlerweile widmeten sie ihre Energie der japanischen Lehre vom heilenden Auflegen der Hände. Helen erinnerte sich, dass sie im Laufe des Gesprächs mit ihrem Barhocker immer weiter nach hinten gerückt war, um zu verhindern, dass die beiden kontaktfreudigen Luxemburger ihr womöglich gleich eine Kostprobe ihres Könnens geben würden. Zum Glück hatte auch Leo es konsequent abgelehnt, an ihrem Seminar teilzunehmen. Immerhin sollten seine Hände die nächsten Tage genug damit beschäftigt sein, den Wagen wieder zum Laufen zu bringen. Da blieb – so beschwichtigte er beide Reiki-Lehrer – bedauerlicherweise keine Zeit für das energetische Beklopfen und Streicheln müder Körperstellen. Aber trotzdem war es Sunita und Hari gelungen, sie zu einer speziell von ihnen entwickelten Missionsreise für Paare zu überreden. »Ihr bekommt jeden Tag eine Aufgabe von uns, ob ihr sie annehmen wollt oder nicht, bleibt euch überlassen. Alles kann, nichts muss. Aber eure Schwingungen vermitteln mir, dass euch dieses kleine Experiment guttun könnte«, hatte Sunita ihnen zum Abschied zugeflüstert und ihnen jeweils den gleichen Zettel überreicht.
»Mission 1: Lernt euch neu kennen – so als würdet ihr euch zum ersten Mal begegnen«, las Helen nun zum wiederholten Mal. So ein Unsinn, dachte sie. Sie würde Leo gleich beim Frühstück mitteilen, dass sie bei dieser Missionsreise sicher nicht mitmachen würde. Auch wenn er es wahrscheinlich immer noch witzig und originell fand. Insgeheim musste Helen zugeben, dass sie sich wohl deshalb so vehement über die Sache aufregen konnte, weil Sunita einen wunden Punkt getroffen hatte. Man musste kein Reiki-Diplom abgelegt haben, um Spannungen zwischen Helen und Leo zu beobachten. Nach drei Jahren Beziehung war die rosarote Brille natürlich nicht mehr ganz so rosarot. Als sie sich im »Bistrot Cézanne« in Aix-en-Provence kennengelernt hatten, wo sie damals als Aushilfe gearbeitet hatte und Leo als Rucksacktourist gestrandet war, wurden sie in kürzester Zeit zum unzertrennlichen Traumpaar. Sie hatte kurz davor ihr Studium abgebrochen und war fest dazu entschlossen, ein eigenes Café zu eröffnen. Eigentlich war so ein Café immer der gemeinsame Traum von Helen und ihrer Mutter gewesen: ein kleines Lokal mit selbstgebackenem Kuchen und einem täglich wechselnden Mittagsgericht aus marktfrischen Zutaten. Nach dem Unfall wollte Helen all das so schnell wie möglich alleine umsetzen. So konnte sie ihre innere Leere mit einer neuen Aufgabe füllen, bei der sie sich ihrer Mutter zumindest gedanklich verbunden fühlte. Durch ihren Sommerjob in Frankreich wollte sie Erfahrung in der Gastronomie sammeln und zugleich Einblicke in die Raffinesse der französischen Küche bekommen. Leo hatte sie in dieser Zeit mit seinem unbekümmerten Charme erobert. Und da er gerade mal wieder wohnungssuchend war, zog er schon nach ein paar Wochen in Helens Appartement in Karlsruhe ein. Als sie wenig später ihr Café eröffnete, half er anfangs mit viel Elan bei den Renovierungsarbeiten. Aber nachdem die »Wohnstube« immer schlechter lief, begann Helen seine Sorglosigkeit zu nerven. Leo machte sich nichts aus Geld und lebte von einem Tag zum nächsten. Er arbeitete je nach Laune abwechselnd als Fahrradkurier oder Umzugshelfer und betrieb sein wenig erfolgreiches T-Shirt-Label. Hin und wieder schrieb er Konzertberichte für eine Zeitschrift über Independent-Musik und bekam dafür absurd kleine Honorare überwiesen, die er meistens gleich wieder in neue Platten investierte. Noch vor dem Einschlafen gestern Abend hatte Leo erwähnt, dass er sich zukünftig auch vorstellen könnte, eine eigene Werkstatt zur Reparatur alter VW-Bullis zu eröffnen. Immerhin komme er der geheimnisvollen Technik dieser Fahrzeuge immer mehr auf die Schliche.
Helen zupfte einige der Rosmarinnadeln aus einem der Töpfe und atmete den vertrauten würzigen Geruch ein. Während Leo am Vorabend damit beschäftigt war, sein Dessert aus warmer Tarte au Chocolat und Rosmarineis zu löffeln, hatte sie heimlich auf ihrem Handy ein Rückfahrtticket für den kommenden Samstag gebucht. Auch wenn ihr Freund von seinen Fähigkeiten als Mechaniker überzeugt war, wollte sie sich nicht auf ihn verlassen. Wenn er den Wagen in den nächsten Tagen nicht repariert hatte, müsste sie keine Angst vor ausgebuchten Zügen haben und davor, nicht rechtzeitig nach Hause zu kommen. Der Termin für die Präsentation ihres Kantinen-Konzepts war viel zu wichtig, um ihn allein Leos Handwerksgeschick zu überlassen.
Noch während Helen die Rosmarinnadeln zwischen ihren Fingern hin- und hergleiten ließ, vernahm sie ein leises Räuspern hinter sich. Sie drehte sich um und sah ein junges Mädchen mit einer wilden Mähne schwarzer Locken, die von einem rot-weiß getupften Haarreifen gebändigt wurden. Dazu trug sie ein zitronengelbes Kleid, auf dem Hunderte Schmetterlinge aufgestickt waren. Das Kind balancierte zwischen den Händen ein silbernes Tablett, beladen mit einer dampfenden Kaffeetasse, und grinste Helen vergnügt entgegen.