Das Kommunistische Manifest. Die verspätete Aktualität des Kommunistischen Manifests - Karl Marx - E-Book

Das Kommunistische Manifest. Die verspätete Aktualität des Kommunistischen Manifests E-Book

Karl Marx

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Beschreibung

»Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« Der Originaltext des »Kommunistischen Manifests« von Karl Marx und Friedrich Engels, sowie ein Originaltext von Slavoj Žižek zur »verspäteten Aktualität des ›Kommunistischen Manifests‹« Um die Jahreswende 1847/48 beauftragte der Bund der Kommunisten Karl Marx und Friedrich Engels mit der Ausformulierung eines Manifests, das die wesentlichen Grundgedanken des Kommunismus darstellen sollte. Kein anderer Text des Marxismus ist so bekannt geworden wie das »Manifest«: Es ist in mehr als 100 Sprachen übersetzt worden, seine Formulierungen wie z.B. »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« sind sprichwörtlich geworden. In dieser Ausgabe wird der Originaltext von Marx/Engels von einem aktuellen Text des bekannten Philosophen und Kulturkritikers Slavoj Žižek begleitet: Er befragt das Manifest auf seine Bedeutung für heute, untersucht die wichtigsten marxistischen Begriffe, wertet, was heute noch wichtig ist und wovon man sich verabschieden muss. Die marxistische Lösung mag gescheitert sein. Aber der Kommunismus bleibt: als Bezeichnung eines Problems, des Problems der »commons« in all ihren Dimensionen.

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Friedrich Engels | Karl Marx | Slavoj Žižek

Das Kommunistische Manifest. Die verspätete Aktualität des Kommunistischen Manifests

Aus dem Englischen von Karen Genschow

FISCHER E-Books

Inhalt

Die verspätete Aktualität des Kommunistischen ManifestsDas Ende naht … nur nicht so, wie wir dachtenWelche Geister suchen uns heute heim?Fiktives Kapital und die Wiederkehr der persönlichen UnterdrückungDie Grenzen der VerwertungUnfreiheit im Gewand der FreiheitDer kommunistische HorizontMANIFEST DER KOMMUNISTISCHEN PARTEII.Vorrede zur deutschen Ausgabe von 1872Vorrede zur deutschen Ausgabe von 1883Vorrede zur englischen Ausgabe von 1888Vorrede zur deutschen Ausgabe von 1890Vorrede zur polnischen Ausgabe von 1892Vorrede zur italienischen Ausgabe von 1893II.Manifest der Kommunistischen ParteiIII.Die Grundsätze des Kommunismus (1847)Kölner Flugblatt von 1848

Slavoj Žižek

Die verspätete Aktualität des Kommunistischen Manifests

Das Ende naht … nur nicht so, wie wir dachten

Es gibt einen köstlichen alten sowjetischen Witz über Radio Eriwan: Ein Hörer fragt: »Stimmt es, dass Rabinowitsch ein neues Auto im Lotto gewonnen hat?« Der Sprecher antwortet: »Im Prinzip ja, aber es war kein neues Auto, sondern ein altes Fahrrad, und er hat es nicht gewonnen, sondern es wurde ihm gestohlen.« Gilt nicht genau das Gleiche für das Kommunistische Manifest? Fragen wir Radio Eriwan: »Ist dieser Text noch aktuell?« Die Antwort können wir erraten: Im Prinzip ja, er beschreibt wunderbar den verrückten Tanz kapitalistischer Dynamik, die ihren Höhepunkt gerade jetzt erst erreicht, mehr als eineinhalb Jahrhunderte später, aber …

Gerald A. Cohen hat die vier Merkmale des klassisch marxistischen Begriffs der Arbeiterklasse so gefasst: 1. Sie bildet die Mehrheit der Gesellschaft; 2. sie produziert den Wohlstand der Gesellschaft; 3. sie besteht aus den ausgebeuteten Mitgliedern der Gesellschaft; 4. ihre Mitglieder sind die bedürftigen Menschen der Gesellschaft.[1] Wenn man diese vier Merkmale kombiniert, ergeben sich daraus zwei weitere: 5. Die Arbeiterklasse hat in der Revolution nichts zu verlieren; 6. sie kann und wird sich für die revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft einsetzen. Keines dieser ersten vier Merkmale trifft heute auf die Arbeiterklasse zu, weshalb die Merkmale 5 und 6 sich nicht ergeben können. (Selbst wenn einige Merkmale noch auf Teile der heutigen Gesellschaft zutreffen, treten sie sie nicht mehr bei einem sozialen Akteur gemeinsam auf: Die bedürftigen Menschen in der Gesellschaft sind nicht mehr die Arbeiter etc.).

So zutreffend diese Aufzählung sein mag, sie sollte durch eine systematische theoretische Herleitung ergänzt werden: Für Marx folgen die Merkmale alle aus der grundlegenden Position eines Arbeiters, der nichts als seine Arbeitskraft zu verkaufen hat. Als solche sind Arbeiter qua Definition ausgebeutet; mit der fortschreitenden Expansion des Kapitalismus bilden sie die Mehrheit, die auch den Wohlstand produziert usw. Wie können wir dann eine revolutionäre Perspektive unter heutigen Bedingungen neu definieren? Ist der Ausweg aus dieser Zwangslage die Kombinatorik verschiedener Antagonismen, ihre potentielle Überlappung? Aber – um es in Laclaus Begriffen zu formulieren – wie kann man eine Äquivalenzkette bilden, die von klassischen Proletariern, dem Prekariat, Arbeitslosen, Flüchtlingen bis zu sexuellen Minderheiten und unterdrückten ethnischen Gruppen etc. reicht?

Ein guter Ausgangspunkt besteht darin, dem alten marxistischen Weg zu folgen und den Fokus von der Politik auf die Anzeichen von Postkapitalismus zu richten, die innerhalb des globalen Kapitalismus selbst erkennbar werden – und wir müssen uns nicht groß umschauen, öffentliche Figuren, die ein perfektes Beispiel für die Privatisierung unserer Gemeingüter darstellen, sollten uns eine Warnung sein: Elon Musk, Bill Gates, Jeff Bezos, Mark Zuckerberg, allesamt »gesellschaftlich bewusste« Milliardäre. Sie stehen für das globale Kapital in seiner verführerischsten und »progressivsten«, kurz, seiner gefährlichsten Variante. (In einer Rede vor Harvard-Absolventen im Mai 2017 sagte Zuckerberg seinem Publikum: »Unser Job ist es, einen Sinn für Zweckhaftigkeit zu schaffen!« – und das von einem Mann, der mit Facebook eines der weltweit größten Instrumente zur zweckfreien Zeitvernichtung geschaffen hat.) Sie alle, von Zuckerberg bis Gates und Musk, warnen davor, dass der »Kapitalismus, wie wir ihn kennen«, seinem Ende nah ist, und setzen sich für Gegenmaßnahmen wie das Grundeinkommen ein. Man fühlt sich hier unweigerlich an einen bekannten jüdischen Witz erinnert, den Freud zitiert: »Warum sagst du mir, dass du nach Lemberg fährst, wenn du tatsächlich nach Lemberg fährst?« Die Lüge nimmt hier die Form einer faktischen Wahrheit an: Die beiden Freunde hatten den unausgesprochenen Code vereinbart, dass man, wenn man nach Lemberg fährt, sagt, man ginge nach Krakau und umgekehrt, und innerhalb dieses Codes bedeutet die buchstäbliche Wahrheit folglich eine Lüge. Gilt nicht dasselbe auch für Zuckerberg, Musk und andere falsche Propheten des Endes des Kapitalismus? Wir sollten ihnen schlicht antworten: »Warum erzählt ihr uns, dass der Kapitalismus an sein Ende kommt, wenn der Kapitalismus tatsächlich an sein Ende kommt?« Kurz, ihre Fassung vom Ende des Kapitalismus ist die kapitalistischeı Fassung seines eigenen Endes, wo sich alles ändert, damit die grundlegende Herrschaftsstruktur gleich bleiben kann …

Seriöser ist das Auftauchen dessen, was Jeremy Rifkin »collaborative commons« (»Kollaboratives Gemeingut«, CC) nennt, ein neuer Produktions- und Tauschmodus, der Privatbesitz und Markt überwindet: In diesem Modell speisen die Individuen ihre Produkte gratis in den Kreislauf ein. Diese emanzipatorische Dimension des CC muss man natürlich im Kontext der Entstehung des sogenannten »Internets der Dinge« (Internet of Things – IoT) verorten, in Kombination mit einem anderen Ergebnis der heutigen Entwicklung der Produktivkräfte, der explosiven Zunahme der »Null-Grenzkosten« (immer mehr Produkte, nicht nur Information, können ohne zusätzliche Kosten reproduziert werden). Das Internet der Dinge ist das Netzwerk für physische Apparate, Transportmittel, Gebäude oder andere Objekte, die mit Elektronik, Software, Sensoren, Aktoren (Antriebselementen) und Netzwerkverbindungen ausgestattet sind, die diese Objekte befähigen, Daten zu speichern und auszutauschen; es ermöglicht, Objekte über existierende Netzwerkstrukturen aufzuspüren und fernzusteuern und damit mehr Möglichkeiten für die direkte Integration der physischen Welt in computerbasierte Systeme zu schaffen, woraus Effizienzsteigerung, Fehlerfreiheit und wirtschaftlicher Profit erwachsen. Wenn das Internet der Dinge mit Sensoren und Aktoren verstärkt wird, wird die Technologie ein Fall der allgemeineren Klasse cyber-physischer Systeme, die auch Technologien wie intelligente Stromnetze, smarte Häuser, intelligente Transportmittel und smarte Städte umfasst. Jedes Ding ist durch sein eingebettetes Computersystem eindeutig identifizierbar und in der Lage, innerhalb der existierenden Internet-Infrastruktur zu interagieren. Von der Verbindung dieser eingebetteten Apparate (einschließlich smarter Objekte) wird erwartet, dass sie die Automatisierung in nahezu allen Feldern voranbringt, während sie auch fortgeschrittene Applikationen wie ein intelligentes Stromnetz ermöglicht und sich auf Felder wie smarte Städte ausdehnen kann. »Dinge« können sich auch auf eine große Bandbreite von Apparaten beziehen wie Implantate zur Überwachung des Herzens, Biochip-Transponder in der Tierhaltung, hydro-elektrische Staudämme in Küstengewässern, Autos mit eingebauten Sensoren und DNA-Analyse-Geräte zur Überwachung von Umwelt/Lebensmitteln/Krankheitserregern. Diese Apparate sammeln mit Hilfe verschiedener existierender Technologien nützliche Daten und übertragen diese Daten dann automatisch auf andere Apparate. Menschen sind ebenfalls »Dinge«, deren Zustände und Aktivitäten ohne deren Wissen kontinuierlich aufgezeichnet und übertragen werden: Alle ihre körperlichen Bewegungen, Finanztransaktionen, ihre Gesundheit, ihre Ess- und Trinkgewohnheiten, was sie kaufen und verkaufen, was sie lesen, sehen und hören, wird in digitalen Netzwerken gesammelt, die sie besser kennen als sie sich selbst.

Die Aussicht auf das »Internet der Dinge« scheint uns dazu zu zwingen, Hölderlins berühmte Zeile »Aber wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch« umzudrehen in: »Aber wo das Rettende ist, wächst die Gefahr auch.« Der »rettende« Aspekt wurde im Detail von Jeremy Rifkin beschrieben, der behauptet, dass zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ein Weg zur Überwindung des Kapitalismus sichtbar wird als aktuelle Tendenz gesellschaftlicher Produktion und gesellschaftlichen Austauschs (das Wachstum kooperativer Gemeingüter), so dass das Ende des Kapitalismus am Horizont erscheint. Die krudeste marxistische Hypothese scheint damit wieder rehabilitiert zu sein: Die Entwicklung neuer Produktionskräfte macht die kapitalistischen Beziehungen obsolet. Die äußerste Ironie liegt darin, dass die Kommunisten heutzutage die besten Manager des Kapitalismus sind (China, Vietnam), während die entwickelten kapitalistischen Länder weiter in Richtung kollaborative oder kooperative Gemeingüter gehen, um den Kapitalismus zu überwinden.

Doch das führt zu neuen Gefahren, selbst wenn wir unberechtigte Bedenken wie die Idee unberücksichtigt lassen, dass das Internet der Dinge die Arbeitslosigkeit ansteigen lässt (ist diese »Bedrohung« nicht ein guter Grund dafür, die Produktion zu reorganisieren, damit die Arbeiter weniger arbeiten müssen? Kurz, ist dieses »Problem« nicht seine eigene Lösung?) Auf der konkreten Ebene der sozialen Organisation ist die Bedrohung eine klar erkennbare Tendenz des staatlichen und privaten Sektors, die Kontrolle über die kooperativen Gemeingüter wieder zu gewinnen: Private Kontakte werden von Facebook privatisiert, Software von Microsoft, die Internetsuche von Google … Um diese neuen Formen der Privatisierung zu verstehen, sollte man Marx’ Begriffsapparat kritisch reformieren: Weil er die soziale Dimension des »general intellect« (der kollektiven Intelligenz einer Gesellschaft) vernachlässigt hat, konnte er sich die Privatisierung des »general intellect« selbst nicht vorstellen – das ist es, was im Zentrum des Kampfes um »geistiges Eigentum« liegt. Toni Negri hat hier recht: Innerhalb diese Rahmens ist Ausbeutung im klassischen marxistischen Sinn nicht mehr möglich – weshalb er in zunehmendem Maße durch direkte gesetzgeberische Maßnahmen verstärkt werden muss, das heißt durch nichtökonomische Kräfte. Deshalb nimmt heutzutage Ausbeutung zunehmend die Form der Rente an: Wie Carlo Vercellone es ausdrückt, ist der postindustrielle Kapitalismus durch das »Rente-Werden des Profits«[2] gekennzeichnet. Und daher braucht man direkte Weisungsbefugnis: um die (willkürlichen) rechtlichen Bedingungen durchzusetzen, Rente zu erwirtschaften – Bedingungen, die nicht mehr »spontan« vom Markt hervorgebracht werden. Vielleicht beruht der fundamentale »Widerspruch« des heutigen »postmodernen« Kapitalismus darin: Weil seine Logik deregulatorisch ist, »antistaatlich«, nomadisch/deterriorialisierend usw., verdeutlicht seine zentrale Tendenz zum »Rente-Werden des Profits« die verstärkte Rolle des Staates, dessen (nicht nur) regulatorische Funktion immer allgegenwärtiger wird. Die dynamische Deterritorialisierung koexistiert mit und beruht zunehmend auf autoritären Eingriffen des Staates und dessen rechtlichen und anderen Systemen. Am Horizont unserer historischen Entwicklung kann man daher eine Gesellschaft erkennen, in der persönlicher Libertarismus und Hedonismus mit einem komplexen Geflecht regulatorischer staatlicher Mechanismen koexistieren (und von ihnen gestützt werden). Der Staat ist weit davon entfernt, zu verschwinden, er wird heutzutage immer stärker.

Wenn, wegen der zentralen Rolle des »general intellect« (Wissen und soziale Kooperation) bei der Schaffung von Reichtum, die Formen des Reichtums zunehmend »in keinem Verhältnis steh[en] zur unmittelbaren Arbeitszeit, die ihre Produktion kostet«, ist das Ergebnis nicht, wie Marx anscheinend erwartet hat, die Selbstauflösung des Kapitalismus, sondern die schrittweise und relative Transformation des Profits, der durch die Ausbeutung von Arbeit gewonnen wird, in Rente, die durch die Privatisierung des »general intellect« angeeignet wird.

Nehmen wir das Beispiel von Bill Gates: Wie ist er zum reichsten Mann der Welt geworden? Sein Reichtum hat nichts mit den Produktionskosten der Produkte zu tun, die Microsoft verkauft (man könnte sogar behaupten, dass Microsoft seinen Geistesarbeitern einen vergleichsweise hohen Lohn zahlt), das heißt, Gates’ Reichtum ist nicht Ergebnis seines Erfolgs in der Herstellung guter Software für geringere Preise als seine Konkurrenten oder größerer »Ausbeutung« seiner angestellten Geistesarbeiter. Wenn das der Fall gewesen wäre, dann wäre Microsoft schon vor langer Zeit bankrott gegangen: Die Leute hätten sich scharenweise für Programme wie Linux entschieden, die umsonst sind und, nach der Meinung von Spezialisten, von besserer Qualität als die Microsoft-Programme. Warum kaufen aber dann immer noch Millionen Menschen Microsoft? Weil Microsoft sich als fast universaler Standard etabliert und das Feld (beinahe) monopolisiert hat, als eine Art direkter Verkörperung des »general intellect«. Gates wurde in wenigen Jahrzehnten der reichste Mann durch Aneignung der Rente, indem er Millionen von Geistesarbeitern gestattete, an der neuen Form des »general intellect« teilzuhaben, den er privatisiert hat und kontrolliert. Stimmt es dann, dass die Geistesarbeiter von heute nicht mehr länger von den objektiven Bedingungen ihrer Arbeit abgeschnitten sind (ihr PC gehört ihnen usw.), wie Marx’ Beschreibung der kapitalistischen »Entfremdung« lautet? Ja, aber viel grundlegender: nein! Sie sind vom sozialen Feld ihrer Arbeit abgeschnitten, von einem »general intellect«, der nicht durch privates Kapital vermittelt ist.

Welche Geister suchen uns heute heim?

All diese Paradoxa des zeitgenössischen globalen Kapitalismus konfrontieren uns auf neue Weise mit der Frage nach der Geisterhaftigkeit, nach den Geistern, die uns in unserer besonderen historischen Situation heimsuchen. Der berühmteste Geist, der in den letzten 150 Jahre herumspukte, war kein Gespenst der Vergangenheit, sondern der Geist der (revolutionären) Zukunft – derjenige aus dem ersten Satz des Kommunistischen Manifests. Die automatische Reaktion des aufgeklärten liberalen Lesers von heute ist: Liegt der Text bei so vielen empirischen Fakten in Bezug auf das Bild der sozialen Situation sowie auf die revolutionäre Perspektive, die er stützt und propagiert, einfach falsch? Gab es je ein politisches Manifest, das so deutlich von der nachfolgenden historischen Realität widerlegt worden ist? Ist das Manifest nicht bestenfalls die übertriebene Extrapolation bestimmter Tendenzen, die man im 19. Jahrhundert ausmachen kann? Doch nähern wir uns dem Manifest von entgegengesetzter Seite aus: Wo leben wir heute, in unserer globalen »Post-«Gesellschaft (postmodern, postindustriell)? Der Slogan, der sich immer stärker aufdrängt, ist der der »Globalisierung«: das brutale Aufzwingen eines einheitlichen Weltmarkts, der alle lokalen ethnischen Traditionen bedroht inklusive die Form des Nationalstaats. Ist aber im Hinblick auf diese Situation die Beschreibung des sozialen Einflusses der Bourgeoisie, die man im Manifest findet, nicht aktueller denn je?

»Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.

Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen. Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumption aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden. An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur.«[3]

Beschreibt das nicht mehr denn je unsere heutige Realität? Die Autos von Toyota werden zu 60 Prozent in den USA gefertigt, die Hollywood-Kultur dringt noch in die entferntesten Winkel des Globus … Und gilt das Gleiche nicht für alle Formen ethnischer und sexueller Identität? Sollten wir nicht Marx’ Formulierung dahingehend ergänzen, dass auch die sexuelle »Einseitigkeit und Beschränktheit mehr und mehr unmöglich« wird und dass in Bezug auf Sexualpraktiken »alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige entweiht wird«, so dass der Kapitalismus dazu neigt, die normative Standardheterosexualität durch eine Wucherung von instabilen und wechselnden Identitäten und/oder Orientierungen zu ersetzen? Das Feiern von »Minderheiten« und »Marginalisierten« heutzutage ist die Position der herrschenden Mehrheit – sogar Anhänger der Alt-Right-Bewegung, die sich über den Terror der liberalen politischen Korrektheit beschweren, stellen sich als Schutzpatrone einer gefährdeten Minderheit dar. Oder die Kritiker des Patriarchats, die dagegen kämpfen, als ob das Patriarchat noch eine hegemoniale Position darstellen würde, und die nicht zur Kenntnis nehmen, was Marx und Engels vor mehr als 150 Jahren im ersten Kapitel des Kommunistischen Manifests geschrieben haben: »Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört.« – Das wird immer noch von solchen linken Kultur-Theoretikern ignoriert, die ihre Kritik auf die patriarchale Ideologie und Praxis richten. Sollten wir uns nicht langsam fragen, warum die Kritik am patriarchalen »Phallogozentrismus« usw. genau in dem historischen Moment – nämlich unserem – zu einer zentralen Zielscheibe geworden ist, als das Patriarchat endgültig seine hegemoniale Rolle eingebüßt hat, als es in wachsendem Maße durch den Marktindividualismus der Rechte beiseitegefegt wurde? Was wird aus den patriarchalen Familienwerten, wenn ein Kind seine Eltern wegen Vernachlässigung und Missbrauch verklagen kann, das heißt wenn Familie und Elternschaft de iure auf einen zeitgebundenen und auflösbaren Vertrag zwischen Individuen reduziert werden? (Zufällig war sich Freud dessen nicht weniger bewusst: Der Niedergang des ödipalen Modells der Sozialisierung war für ihn die historische Bedingung für den Aufstieg der Psychoanalyse.) Anders gesagt, die Kritik, dass die Ideologie des Patriarchats heutzutage immer noch die vorherrschende Ideologie darstellt, ist heutzutage die vorherrschende Ideologie – ihre Funktion für uns besteht darin, die Sackgasse der hedonistischen sexuellen Freizügigkeit zu vermeiden, die tatsächlich vorherrschend ist.

Marx selbst unterschätzte mitunter diese Fähigkeit des Kapitalismus, den transgressiven Druck, der ihn bedroht, aufzunehmen. So behauptete er in seiner Analyse des damaligen amerikanischen Bürgerkriegs, dass, weil die englische Textilindustrie als Rückgrat des Industriesystems nicht ohne die Versorgung mit billiger Baumwolle aus dem amerikanischen Süden überleben könne, die nur durch Sklavenarbeit möglich sei, England zur direkten Intervention gezwungen sei, um die Abschaffung der Sklaverei zu verhindern. – Stimmt, diese globale Dynamik, die alles Stehende und Ständische verdampfen lässt, ist unsere Realität – unter der Bedingung, dass wir nicht vergessen, das Bild aus dem Manifest durch sein inhärentes dialektisches Gegenteil zu ergänzen, der »Vergeisterung« ebenjenes materiellen Produktionsprozesses. Während der Kapitalismus die Macht der alten traditionellen Geister aufhebt, bringt er seine eigenen monströsen Geister hervor. Das heißt, dass der Kapitalismus die radikale Säkularisierung des Soziallebens nach sich zieht – er zerfetzt gnadenlos jegliche Aura authentischer Vornehmheit, Heiligkeit, Ehre usw.:

»Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.«[4]

An diesem Punkt erreichen wir die höchste Ironie dessen, wie Ideologie heutzutage funktioniert – sie erscheint genau als ihr Gegenteil, als radikale Kritik ideologischer Utopien. Die vorherrschende Ideologie heute ist keine positive Vision irgendeiner utopischen Zukunft, sondern eine zynische Resignation, ein Akzeptieren, »wie die Welt wirklich ist«, begleitet von einer Warnung, dass, wenn wir (zu viel) ändern wollen, nur totalitärer Schrecken folgen würde. Jegliche Vorstellung einer anderen Welt wird als Ideologie verworfen. Alain Badiou hat das wunderbar und präzise benannt: Die Hauptfunktion ideologischer Zensur besteht heute nicht darin, tatsächlichen Widerstand zu brechen – das ist der Job der repressiven Staatsapparate –, sondern die Hoffnung zu zerstören und jedes kritische Projekt sofort als Einschlagen eines Wegs zu denunzieren, an dessen Ende so etwas wie der Gulag liegt. Das hatte Tony Blair im Sinn, als er neulich fragte: »Ist es möglich, eine Politik dessen zu definieren, was ich post-ideologisch nennen würde?«[5] In ihrer traditionellen Form dreht Ideologie die bekannte Wendung »Du musst schon blöd sein, um das nicht zu sehen!« um in: Du musst blöd sein, um – was zu sehen? Das ergänzende ideologische Element, das einer wirren Situation Bedeutung verleiht. Beim Antisemitismus zum Beispiel muss man (blöd genug sein, um zu) sehen, dass »der Jude« der geheime Akteur ist, der im Verborgenen die Strippen zieht und das soziale Leben kontrolliert. Heute jedoch behauptet die herrschende Ideologie der Alternativlosigkeit in ihrem überwiegend zynischen Funktionieren, dass »man schon blöd sein muss, um das zu sehen« – was? Die Hoffnung auf einen radikalen Wandel.

Die fundamentale Lektion der »Kritik der politischen Ökonomie«, die Marx in den Jahren nach dem Manifest