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Der Abschlussband der Bestseller-Trilogie: Die Attentate von Paris verändern alles. Im dritten und letzten Teil ihrer Vernon-Subutex-Trilogie führt Virginie Despentes ihre Figuren und die Leser in das Frankreich der Attentate vom 13. November 2015 – und damit ins Herz eines gesellschaftlichen Traumas. Zunächst sieht eigentlich alles ganz idyllisch aus. Die Gruppe um Vernon Subutex hat Paris verlassen und lebt an wechselnden Orten auf dem Land. Doch auch dies ist nicht das Paradies, es gibt Misstrauen und Eifersüchteleien, die Gruppe zerfällt. Dann kommt der 13. November 2015 – die Attentate von Paris – und die Stimmung ändert sich vollkommen. Jede der Figuren ist in irgendeiner Weise – direkt oder indirekt – betroffen von den Ereignissen. Jede muss für sich versuchen einen Weg zu finden, damit umzugehen. Und natürlich führen diese Wege am Ende nicht alle in dieselbe Richtung. Mit enormem Einfühlungsvermögen und einer persönlichen Betroffenheit, die aus jeder Zeile spricht, erweist sich Virginie Despentes einmal mehr als brillante, scharf analysierende Chronistin unserer Zeit und als begnadete Erzählerin. »Macht süchtig wie eine gute TV-Serie« Antje Deistler, Deutschlandfunk »Der Gesellschaftsroman unserer Zeit« Volker Weidermann im Literarischen Quartett
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Seitenzahl: 518
Virginie Despentes
Das Leben des Vernon Subutex
Band 3
Roman
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
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Look up here, I’m in heaven
I’ve got scars that can’t be seen
I’ve got drama, can’t be stolen
Everybody knows me now.
David Bowie, Lazarus
In memoriam Sven Polhammer
Stammgast des Parks Buttes-Chaumont und der Kneipen in der Umgebung. Am Anfang von Band 2 hat er Vernon gefunden, der krank und fiebernd auf einer Bank gestrandet war, sich um ihn gekümmert und mit ihm angefreundet. Hatte vor ein paar Jahren einen Hauptgewinn im Lotto, hat aber niemandem davon erzählt.
Kiko:Kokainsüchtiger schwerreicher Ex-Trader. Wohnt im 8. Arrondissement von Paris. Er hat Vernon als genialen DJ eine Weile beherbergt, ihn dann rausgeworfen und sich wieder mit ihm versöhnt.
Alex Bleach:Rocksänger. Am Anfang von Band 1 in einem Hotelzimmer an einer Überdosis gestorben. Alter Freund von Vernon. Er hat zwei Videokassetten aufgenommen, auf denen er seine Geschichte erzählt, unter anderem von seinem Krieg gegen Dopalet, dem er vorwirft, die Pornoqueen Vodka Satana getötet zu haben, in die Alex sehr verliebt war.
Die Véro:Lebensgefährtin von Charles. Taucht in Band 2 kurz auf, hat sich aber von der Subutex-Bande ferngehalten.
Pamela Kant:Ex-Pornostar, computersüchtig. War mit Vodka Satana befreundet. Sie hat sich an der Suche nach Vernon beteiligt und mit ihm angefreundet.
Marcia:Brasilianische Transsexuelle, lebt in Paris, arbeitet bei Modeshootings als Friseurin. In Band 1 wohnte sie in Kikos Wohnung, wo sich Vernon unsterblich in sie verliebt hatte, dann ist sie verschwunden.
Laurent Dopalet:Filmproduzent um die fünfzig, Vater von Antoine. In Band 1 engagiert er die Hyäne, um die kompromittierenden Kassetten von Alex Bleach zu finden. In Band 2 wird er in seiner Wohnung von Aïcha und Céleste überfallen, die den Tod von Vodka Satana rächen wollen.
Die Hyäne:Privatdetektivin ohne Lizenz. Hat für Dopalet gearbeitet, ihn aber verraten und sich der Subutex-Bande angeschlossen.
Olga:Obdachlose, explosives Naturell. Sie ist in Vernon verknallt, den sie getroffen hat, als er endgültig auf der Straße gelandet war.
Xavier:Seit zwanzig Jahren erfolgloser Drehbuchschreiber, mit Marie-Ange verheiratet. Er hat eine Tochter, mag Hunde und gehört zur Bande um Vernon.
Marie-Ange:Ehefrau von Xavier.
Sylvie:Ex von Alex Bleach. In Band 1 hatte sie Vernon aufgenommen und ein kurzes Verhältnis mit ihm gehabt. Nachdem er ohne Erklärung abgehauen war, hatte sie ihn voller Hass verfolgt. In Band 2 gehörte sie zu der Gruppe, die sich in den Buttes-Chaumont traf. Mutter von Lancelot, der mit seiner Freundin zusammengezogen ist.
Emilie:Jugendfreundin von Vernon. War früher Bassistin, hat aber alle Verbindungen zur Welt der Musik abgebrochen. Sie hat Vernon für eine Nacht aufgenommen, sich später an der Suche nach ihm beteiligt und der Gruppe in den Buttes-Chaumont angeschlossen.
Laurent:Hat Vernon getroffen, nachdem der seinen letzten Unterschlupf verlassen hatte. War schon lange obdachlos und hat Vernon erklärt, wie das Leben auf der Straße funktioniert.
Patrice:Arbeitet in Aushilfsjobs, lebt in der Banlieue, ist tätowiert, mürrisch, manchmal gewalttätig. Gehört zur Gruppe um Vernon in den Buttes-Chaumont und verliebt sich am Ende von Band 2 in Pénélope.
Antoine:Kurator für Street Art, Sohn von Dopalet. Informiert die Gruppe über die Aktivitäten seines Vaters.
Sélim:Universitätsangestellter, Atheist, Vater von Aïcha aus seiner Ehe mit Faïza, der späteren Vodka Satana. Er hatte seiner Tochter nie erzählt, dass ihre Mutter Pornostar war. Sie erfährt es in Band 2. Gehört zur Gruppe um Vernon in den Buttes-Chaumont.
Aïcha:Jurastudentin, praktizierende Muslima. Sie hat die Wahrheit über ihre Mutter aus den Aufnahmen von Alex Bleach erfahren und rächt sich, indem sie Dopalet in seiner Wohnung überfällt. Ist am Ende von Band 2 mithilfe der Hyäne untergetaucht, um Dopalets Rache zu entgehen.
Vodka Satana:Mutter von Aïcha, Exfrau von Sélim, Pornostar. Hatte eine Beziehung mit Alex Bleach. War mit Pamela und Daniel befreundet und ist mit kaum 30 Jahren an einer Überdosis gestorben. Alex behauptet, sie sei von Dopalet getötet worden, der sich vor einem Skandal wegen seiner Beziehung zu ihr gefürchtet habe.
Céleste:Tätowiererin und Kellnerin im Rosa Bonheur. Ihr Vater ist Polizist und war Stammgast in Vernons Plattenladen. Sie erkennt Vernon, als sie ihn zufällig trifft. In Band 2 hat sie sich mit Aïcha angefreundet und begleitet sie bei ihrer Rache an Dopalet. Taucht mithilfe der Hyäne unter, um Dopalets Rache zu entgehen.
Lydia Bazooka:Rockmusikkritikerin. War ein leidenschaftlicher Fan von Alex Bleach. Hat Vernon eine Weile aufgenommen und sich dann der Gruppe angeschlossen, die ihn suchte. Sie hat es sich in den Kopf gesetzt, eine ausführliche Biografie über Alex Bleach zu schreiben.
Daniel:Enger Freund von Pamela Kant. Transsexuell. Empfänglich für Célestes Charme, die seine Zuneigung jedoch nicht erwidert.
Im Bahnhof von Bordeaux wird gebaut, drinnen verstellt ein Wald von Gerüsten den Weg. Auf dem Bahnsteig läuft ein Junge hin und her und raucht eine Kippe nach der anderen, die nackten Füße in Turnschuhen, die wie Latschen runtergetreten sind. Er wirft feindselige Blicke durch die Zugfenster, als wartete er nur darauf, dass jemand zuckt, um in den Zug zu springen und ihn aufzumischen. Den Kontrolleuren ist er auch aufgefallen, sie stehen in den Türen, damit er nicht im letzten Moment einsteigt. Die vier Noten des SNCF-Jingles ertönen im Waggon, gefolgt von dem schrillen Ton, der die Abfahrt ankündigt. Der Junge bleibt auf dem Bahnsteig. Vernon kreuzt seinen Blick und ist verblüfft von der Gewalt seines Hasses. Als gelte er ihm persönlich. Er übersteigt den Wunsch zu töten, den Willen zu vernichten – es ist eine Feindseligkeit, die weit in der Zeit zurückgehen müsste, um ihm über sieben Generationen die Eingeweide herauszureißen.
Vernon drückt sich in seinen Sitz und streckt die Beine aus. Er hatte vergessen, wie gern er Zug fährt, ihn erfüllt ruhige Euphorie. Die Landschaft wird schneller. Bei Bahnfahrten herrscht eine ganz eigene Stimmung, eine kollektive Übereinkunft, für ein paar Stunden nicht gestört zu werden, ein glücklicher Übergang zwischen zwei Situationen. Vernon erinnert sich bunt durcheinander an Weihnachtsabende, Fahrten in den Urlaub, Ausflüge mit Freunden zu einem Festival oder allein, um eine Braut in der Provinz zu besuchen. Die Bilder wirbeln durcheinander, dann wird eins nach dem anderen von einer Wehmut davongetragen, die er als matt bezeichnen würde. Sein Gedächtnis ist randvoll mit wirbelnden Fragmenten, die sich nicht um Chronologie scheren. Alles, was sein früheres Leben angeht, ist von Fremdheit getränkt und verschmilzt in einem unförmigen, fernen Chaos. Den Drogen kann er das Durcheinander nicht zuschreiben: Seit Monaten hat er nichts genommen. Das kam ganz von selbst. Zuerst hat er immer, wenn er high war, gewartet, dass es vorbeigeht, und sich gefragt, was er an diesem debilen Austicken früher so lustig fand. Die Drogen bewahren einen vor Langeweile, sie machen alles interessanter, wie ein Schuss Tabasco ein fades Essen. Aber Vernon hat keine Angst mehr vor Langeweile, auch nicht vor Einsamkeit, Stille, Dunkelheit. Er hat sich sehr verändert. Die Drogen bringen ihm überhaupt nichts mehr.
In den letzten Tagen hat er allerdings wegen entsetzlicher Zahnschmerzen jede Menge Schmerztabletten auf Opiumbasis geschluckt, er ist angenehm stoned, und das Gefühl, sich durch Watte zu bewegen, gefällt ihm ganz gut. Er badet in gedämpftem Licht, als hätte sich eine Wolke über ihn gestülpt, die sich den Umrissen seines Körpers anpasst und ihn überallhin begleitet. Vorher hat er gelitten wie ein Hund. Schon immer hat er gewartet, bis er vor Schmerzen nicht mehr schlafen konnte, bevor er zum Zahnarzt ging. Aber so heftig wie diesmal war es noch nie. Wenn der kranke Zahn oben den unteren Zahn auch nur berührte, durchbohrte ein Schwert seinen Körper, der Schmerz riss ihn hoch und zermalmte ihn. Er brüllte, ohne sich beherrschen zu können. Olga empfahl Spülungen mit reinem Alkohol, und da Vernon nichts mehr zu verlieren hatte, versuchte er es mit Wodka, die Betäubung funktionierte erst mal und er kippte sturzbetrunken um. Aber am nächsten Tag mischte sich der heftige Kater mit den Qualen des Abszesses – es war die Hölle. Er hat sich wie ein krankes Tier in einer Ecke verkrochen, sich zusammengekauert und vor Schmerz fantasiert.
Jemand rief Kiko an. Weil Kiko mehr Geld hat als alle anderen zusammen, ist er so was wie der einzige Erwachsene in der Bande. Er sagte gleich, ein Kumpel von mir ist Zahnarzt, ich ruf ihn an. Der Doktor faxte ein Rezept an die nächstliegende Apotheke, Pamela fuhr mit dem Auto hin und holte die Antibiotika und Schmerzmittel ab. Es war das erste Mal, dass ein Notfall sie zwang, Kontakt zur Außenwelt aufzunehmen.
Ohne nachzufragen, schluckte Vernon alles, was sie ihm einflößten. Er war überzeugt, dass nichts auf der Welt stark genug sei, um dieses Martyrium zu besiegen. Aber dreißig Minuten später war er so zugedröhnt, dass er nichts mehr spürte. Er war weit weg. Ein Zahnarzt, der eine so wirksame Droge verschreiben kann, flößt ihm großes Vertrauen ein. Vernon war so erleichtert, den Zahn nicht mehr zu spüren, dass er sich hingelegt und drei Tage am Stück geschlafen hat, während die Antibiotika ihr Werk taten und das Morphium ihn durch Zeitlupenträume trug.
Inzwischen kümmerten sich die anderen darum, seine Fahrt nach Paris vorzubereiten. Vernon mag es, wenn man für ihn sorgt. Alles geht weiter, egal, ob er sich einmischt oder nicht. Er muss nicht krank sein, um inaktiv zu bleiben. Wenn man sich von der Strömung tragen lässt, verlangt das Gruppenleben, dass man immerzu irgendwas tut. Immer ist ein Rad zu wechseln, eine Tasche auszuräumen, Gemüse zu waschen, ein Stuhl zu reparieren. Vernon sagt, »ich denk mal über meine Playlist nach«, und packt sich aufs Bett. Das Wunderbare an seiner Situation ist, dass sich niemand daran stört. Im Gegenteil, alle freuen sich, wenn sie ihm nützlich sein, zur Hand gehen, einen Gefallen tun können. Er hat sich also auf die Seite gepackt und genossen, dass er nicht mehr litt, und als er aufgewacht war, bekam er einen Zettel mit dem Abfahrtsbahnhof, den Zugzeiten, dem Namen des Zahnarztes und dem Türcode von Kiko, bei dem er übernachten wird.
Er verlässt das Camp zum ersten Mal seit Monaten. Die meisten anderen pendeln zwischen hier und ihrem normalen Leben. Aber Vernon muss weder Rechnungen bezahlen noch Familie besuchen oder eine Arbeit abliefern. Deshalb ist er nie in der Stadt. Er hat dort nichts verloren. Als sie ihm gesagt haben, er müsse nach Paris fahren, um sich behandeln zu lassen, gefiel ihm die Aussicht, die Stadt wiederzusehen. Aber er kommt sich verlorener vor, als er erwartet hätte.
Ihm gegenüber sitzt eine zierliche Frau mit langen glatten Haaren in sehr bürgerlichem Blond. Taillierter Mantel, Stiefel mit hohem Absatz. Sie hat schöne Augen, ein magnetisches Blau. Bestimmt sechzig. Wahrscheinlich geliftet, aber die Hände verraten das Alter. Sie trägt einen Brillanten, vielleicht ein Ehering. Irgendwie rührend. Vernon lächelt sie an, sie reagiert voller Anmut. Er hat Lust auf sie. Irgendwas an ihrer Haut zieht ihn an. Er würde ihr gern vorschlagen, am nächsten Bahnhof auszusteigen und ins erstbeste Hotel zu gehen.
Er ist es nicht mehr gewohnt, Frauen zu sehen, die nicht auf ihn abfahren. Im Camp umschmeicheln und loben ihn sogar die Mädchen, die nicht die geringste Absicht haben, mit ihm zu schlafen. Er hat eine besondere Stellung, man behandelt ihn als Guru. Das hat sein Verhältnis zum weiblichen Geschlecht verändert – heute sind alle Mädchen seine Freundinnen. Sie haben Lust auf ihn und er ist ihnen gern zu Diensten.
Er wird nie erfahren, ob die blonde Frau auf seine Avancen eingehen würde. Sie wird nie den berühmten postkoitalen Blick voller Dankbarkeit auf ihn richten. Er wird nicht mit ihr schlafen: Mariana begleitet ihn auf dieser Reise. Schon ein paar Wochen ist sie sein Mädchen, das ist ein Rekord. Er hat Mühe, sich festzulegen: Das Angebot ist zu groß. Er fühlt sich wohl mit einem Mädchen, das könnte halten, dann kommt eine andere, die ihn zweifeln lässt, aus dem Gleichgewicht bringt, und schon ist er weg. Die jungen Leute nennen das Polyamorie. Wenn er es richtig versteht, heißt das, dass er schläft, mit wem er will, ohne sich darum zu kümmern, was das Mädchen von gestern denkt. Aber Mariana hat ihn in seinem Schwung gestoppt. Sie hat mit einer für ihre Schüchternheit verblüffenden Selbstverständlichkeit den Platz seiner Freundin eingenommen. Er lässt sie gewähren, weil sie ihn mehr beruhigt als einengt. Sie gefällt ihm. Er hat Lust auf sie bekommen, als er gesehen hat, wie sie Axl Rose imitierte, wie ein Teufel herumhüpfte und ein nicht vorhandenes Mikrofon schwenkte. Dann hat er sich ein bisschen in sie verliebt, als sie zu Tina Turner getanzt hat, deren Beinakrobatik sie mit beängstigender Bravour beherrschte. Und als er sie eine Choreografie zu Missy Elliot tanzen sah, wusste er, dass er für den Donjuanismus verloren war. Sie hat auch ihre Figuren für Madball oder Korn – es gibt kein musikalisches Register, dessen Codes sie nicht mit einer ganz speziellen Magie entschlüsselt. Zwischen ihrem Körper und dem Sound gibt es ein Einvernehmen, das ein großes Wissen offenbart, erstaunlich für ein Mädchen ihres Alters. Mariana ist noch keine dreißig. Sie kennt AC/DC genauso gut wie M.I.A. Sie hört Sachen, die er kennt, aber auf die er bisher nicht geachtet hat, und sie weiß, welches Stück sie auswählen muss, damit er sich endlich dafür interessiert. Sie verbringen ihre Zeit damit, Platten zu hören, und für Vernon fühlt es sich an, als hätte er einen Kumpel gefunden und zugleich eine Geliebte, die beim Vögeln einer Sirene gleicht – alles an ihr wogt, verführt, genießt und provoziert. Sie legt in den Sex wie in den Tanz alles, was sie nicht in Worte fasst.
Als die Reise organisiert wurde, hat sie gesagt, sie würde ihn begleiten und sie würden Bus fahren, dass wäre wirklich nicht teuer, aber der Bus von Bordeaux braucht immerhin neun Stunden und Kiko hat gesagt, sagt mal, lebt ihr im Mittelalter, oder was? In Frankreich gibt es TGVs und ich kaufe jetzt Fahrkarten. Mariana würde ihn begleiten, das stand fest. Sie sagte, Vernon ist zu vollgedröhnt, um allein zu fahren, er irrt sich im Bahnsteig und landet mit seinem unerträglichen Abszess in Frankfurt. Sie liebt Vernon. Er spürt es. Er ist einverstanden. Er spürt es tief in der Brust. Er ist ihr erlegen. Sie hat Kopfhörer aufgesetzt, hört Amy Winehouse und verschlingt irgendwelchen Schwachsinn im Netz. Sie leidet unter der Lagerdisziplin, die ihr den Verzicht auf das Internet auferlegt. Für sie ist das Schwachsinn alter Technophobiker, aber sie beugt sich, weil sie keine Wahl hat. Sie muss wirklich an ihm hängen, wenn sie sich das zumutet, denn seit sie in Bordeaux ihr Smartphone zurückbekommen hat, strahlt sie. Endlich hat die Welt sie wieder.
Über ihre Schulter sieht er die Fotos auf Instagram vorbeiziehen, ein Ferkel, ein Mädchen auf feinem Sand, ein grüner Milchshake, Paul Pogba mit nacktem Oberkörper im Halbdunkel, SoKo beim Aufwachen, die Zeichnung eines Destroy Angel mit einer Bombe, ein Kräuterkopf, aus dem das Harz trieft … Sie schiebt die Hand in seine, ohne die Augen vom Display zu lösen. Vernon spürt, wie sich ein Wärmenetz von seiner Handfläche zu seiner Schulter zieht und dann die ganze Brust umspannt. Er kann das Gefühl visualisieren, kann sogar sagen, welche Farbe es hat – smaragdgrün. Das kommt nicht von den Medikamenten. So ist er auch nüchtern. Etwas in ihm ist aus dem Lot geraten und hat sich nie wieder eingerenkt. Er hat sich verändert.
Er hat diverse mehr oder weniger hirnrissige Theorien über die Ursache seiner Verwandlung gehört, die viele im Camp als »Erweckung« bezeichnen. Manche sagen, sein Serotoninspiegel sei in die Höhe geschossen. Warum nicht? Auch die Theorie vom Hormonchaos hat ihre Anhänger. Daniel sagt, »wer weiß, bei den ganzen endokrinen Störeinflüssen, die uns umgeben, hat es bei dir vielleicht so was wie ein globales Reboot gegeben.« Andere neigen zu der These einer beschleunigten, brutalen und paradoxerweise wohltuenden Andro-Pause. Kann alles sein … Vernon hat nicht das Gefühl, Körperkraft eingebüßt zu haben, aber er hatte noch nie die Statur eines Holzfällers. Seine Libido hat sich vielleicht geändert, aber auch das ist schwer zu sagen: Vorher war er nicht von Mädchen umdrängt, die um seine Gunst rangelten. Zu viel Angebot tötet die Nachfrage – er ist weniger scharf als früher, aber das ist logisch: Er vögelt im Camp alles, was weiblich ist. Manchmal spricht jemand vom Erwachen der Kundalini, um die abgefahrenen Empfindungen, die seltsamen Visionen und die verwirrenden Zustände zu erklären, in denen er ohne Vorankündigung versinkt. Oder er habe zu tief geatmet oder zu gut – und das setze Energie in der Wirbelsäule frei, die ihn ohne LSD in eine Art endlosen Trip eintauchen lasse. Die Originellsten vermuten eine Nahbegegnung der vierten Art – den Besuch von Außerirdischen, die ihn als irdische Heimstätte gewählt hätten. Auch von Frequenzwechsel ist die Rede – die Wirklichkeit als Radio, bei dem eine himmlische Hand den Sender verstellt hat.
Zuerst hat Vernon gedacht, dass ihr Camp besonders viele komische Vögel anzieht. Allmählich hat er begriffen, dass die Welt voll ist von Menschen mit haarsträubenden Ansichten, Leuten, von denen man glauben würde, sie seien ganz vernünftig, wenn man sie auf der Straße sieht. Vernons Rätsel gibt ihnen die Chance, ihren Schwachsinn loszuwerden. Zwischen Salat und Käse erzählt ihm irgendjemand von seiner privilegierten Schwingungsverbindung mit makrokristallinem Quarz. Das Land ist voll von Übergeschnappten, die fest dran glauben, dass die Toten unter uns sind, dass unsichtbare Kreaturen durch die Wälder tanzen und dass man sein Magnetfeld wiederherstellen kann, indem man sich den richtigen Schallwellen aussetzt … Man muss ihnen nur Gelegenheit geben, ihre Theorien auszupacken, und schon gerät man auf die seltsamsten Abwege.
Alle zwei, drei Monate kommen Leute von außerhalb ins Camp, wenn sie eine Convergence organisieren. So nennen sie die Nacht, in der Vernon auflegt und die Teilnehmer tanzen lässt – niemand erinnert sich, wer den Begriff erfunden hat, den jetzt alle verwenden. Die Convergences bestimmen ihr Leben – einen Ort finden, wo sie unterkommen, die Räumlichkeiten vorbereiten, das Ereignis selbst, dann wieder einpacken und zum nächsten Ort ziehen. Das hat sich so ergeben, ohne dass jemand beschlossen hätte, es solle so sein. Es ist einfach so gekommen.
Die Interessenten für die Convergences sind bald so zahlreich geworden, dass man ein richtiges Auswahlverfahren für die Teilnehmer braucht. Mehr als hundert sollen es nicht sein. Mit jedem passiert etwas. Die Leute kommen an, einige sind megaschlecht drauf, sie kommen, weil sie »nur mal gucken« wollen, sind misstrauisch und aggressiv, als wollte man ihnen irgendwelchen Blödsinn aufschwatzen, obwohl ihnen gar nichts verkauft wird, nicht mal eine schöne Geschichte: tanzen bis in den Morgen, das ist alles. Das Ungewöhnliche ist das, was die Tänzer empfinden – ohne Drogen, ohne Vorbereitung, ohne Tricks.
Es gibt immer eine Handvoll Zweifler, die herumlaufen und verkünden, sie würden nicht daran glauben, sie wollen sehen, was hier abgeht, sie würden sich sehr wundern, wenn in der Nacht irgendwas mit ihnen passiert, weil sie schon alles durch haben und zu schlau sind, um sich den Kopf vernebeln zu lassen. Vernon und die anderen versuchen nicht, sie zu überzeugen. Sie müssen nur warten. Später, auf der Tanzfläche, stehen diese Zweifler zuerst mit verschränkten Armen und einem verächtlichen Grinsen am Rand, entschlossen, sich nicht packen, nicht einwickeln zu lassen. Aber zwei Stunden später sind sie genau das – gepackt. Am nächsten Morgen wissen sie nicht mehr, in welchem Moment sie in der Menge, in ihrer langsamen, repetitiven Bewegung aufgegangen sind. Es sind meistens dieselben, die dann bei Tagesanbruch am tiefsten erschüttert sind. Genau das erleben alle in der Nacht – eine tiefe Erschütterung. Genau das suchen die Leute im Camp, bei der Convergence. Eine Verwirrung, die Lust macht, sich Zeit zu nehmen und zu schweigen. Die Epidermis verliert ihre Grenzen, einer wird zum Körper des anderen, es ist eine Erweiterung des Individuums.
Und bei jeder Convergence fühlt sich Vernon wie eine Made, auf die man einen starken Scheinwerfer richtet. Er ist zu wichtig. Man nennt ihn den Schamanen. Offiziell ist das ein Scherz. Aber er spürt die Blicke im Rücken, eine Erwartung windet sich seine Wirbelsäule hinauf. Die Leute starren ihn misstrauisch an und fragen sich, ob er nur Nepp ist, oder sie heften den Blick auf ihn und sind überzeugt, nur er könne sie retten. Er weiß nicht recht, wie er seine Unbekümmertheit bewahren soll, wenn alles auf ihm ruht. Glücklicherweise ist er zu unkonzentriert, um sich lange den Kopf zu zerbrechen. Er denkt, »das ist zu viel Stress, ich bin fix und fertig«, aber im nächsten Moment betrachtet er ein Blatt an einem Baum und denkt an nichts anderes mehr. Das beschränkt die Sorgen. Trotzdem entdeckt er die Angst vor dem Verlust. Nie im Leben hatte er Schiss zu verlieren, was er hatte: Er dachte immer, das hänge nicht von ihm ab. Jetzt genießt er einen Komfort, der nicht materiell ist – sie schlafen in leeren Häusern, wenn es überhaupt Häuser gibt, selten mit Heizung, sie lassen sich an Quellen nieder, wenn es kein fließendes Wasser gibt, und waschen sich bei minus sieben Grad im Freien, sie essen zusammen aus einer Schüssel – und trotzdem leben sie im Luxus. Sie sind überzeugt, eine besondere Erfahrung zu teilen, eine Gabe, die das Leben ihnen nicht schuldete, ein Geschenk, etwas Magisches. Und er möchte nicht, dass das aufhört.
Im Waggon haben die Fahrgäste auf den Tischchen ihre Laptops aufgeklappt. Sie sehen Filme, füllen Tabellen aus, schreiben Mails. Andere starren auf ihr Telefon. Sie sind alle gefesselt. Unter den Menschen, die sich eine Zugfahrkarte leisten können, gibt es keinen Körper ohne diese Erweiterung mehr. Ein paar Reihen weiter sitzt ein Mann um die fünfzig, der ganz altmodisch seine Zeitung liest. Er stößt seinen Nachbarn kurz mit dem Ellbogen an, wenn er die Seite umblättert. Er ist der Einzige, der sein Blickfeld nicht auf einen Bildschirm reduziert. Sogar der Fünfjährige stört nicht, indem er durch die Gänge rast, sondern ist von einem Trickfilm hypnotisiert. Die Mutter neben ihm verfolgt auch, was er sieht, ohne Kopfhörer, sie hat keinen Blick für die Landschaft, noch weniger für ihre Umgebung.
Vernon ist es nicht mehr gewohnt. Im Camp ist Internet verboten. Am Anfang war es die übertriebene Paranoia der Hyäne, die verkündet hatte, sie müssten sich darin üben, im Verborgenen zu leben und keine digitalen Spuren zu hinterlassen, weder von ihren Reisen noch von ihren Gesprächen. Es kommt ihm immer so vor, als bereite sie die Gruppe darauf vor, einen dritten Weltkrieg zu überleben, in dem nur durchkommt, wer keine Mails schickt. Zuerst unterwarfen sich alle dem Protokoll wie einem verrückten Ritual, dessen Hauptbedeutung darin bestand, sich eigene Regeln zu geben, um das Camp wie eine Blase abzuschotten. Doch im Laufe der Monate hat Vernon gespürt, dass die Leute ihr Verhalten geändert haben. Snowden hat das auch durchgemacht. Die Vorschrift fühlt sich immer weniger folkloristisch an. Das Misstrauen gegen die Technik ist gewachsen, und niemand denkt mehr daran, zynisch zu lachen, wenn er den netzfreien Raum betritt.
Als sie an der Gare Montparnasse aussteigen, ist Vernon von der Menge überfordert, ihn packt ein seltsamer Schwindel. Vor allem der Lärm macht ihm zu schaffen. Als spürte Mariana seine Verzweiflung, schiebt sie die Hand unter seinen Arm. Sie ist so ein kleines Stück Mensch, aber in dieser Geste liegt die besänftigende Autorität einer Erwachsenen, die ein Kind beruhigt.
Es liegt nicht nur daran, dass er es nicht mehr gewohnt ist, die Stadt hat sich auch verändert. In kaum einem Jahr ist die Spannung deutlich gestiegen. Paris ist härter geworden. Vernon spürt sofort die Aggression – die Leute sind wütend, aufgebracht, bereit, auszurasten. In den Metrogängen gibt es kein einziges Lächeln, keinen Körper, der sagt, ich habe Zeit zu verlieren. Niemand gammelt so rum, wie sie es im Camp den ganzen Tag tun. Das hier ist eine erwachsene Stadt – man spricht nicht mit Unbekannten, höchstens, um sie anzuschreien. Die Bilder bombardieren ihn, zu viele Plakate, zu viele Störbotschaften. Aber erst auf dem Metrobahnsteig identifiziert er, was ihn seit seiner Ankunft am meisten stört. Der Geruch. Paris ist eine olfaktorische Kloake – eine Mischung aus Fäulnis, verpesteter Luft, Körpergerüchen, Parfüms, Eisen und Maschinen, Schmutz und Reinigungsmitteln. Vernon bekommt kaum Luft. Seit Monaten schnuppert er überall, wo sie sind; jeder neue Ort hat seinen Geruch, der ihn besonders und einzigartig macht. Hier weigert er sich zum ersten Mal seit Langem, zu riechen, wo er ist.
Bei Kiko sieht sich Mariana mit einer argwöhnischen Miene um, die Vernon gut kennt – so gucken Leute, die nicht an Luxus gewöhnt sind, wenn er ihnen ins Gesicht springt: als würde man sie in siedendes Öl tauchen. Jetzt legt Vernon ihr die Hand auf den Rücken und hofft, ihr etwas von seiner Ruhe zu vermitteln. Sehr reiche Leute wissen, was sie tun, wenn sie ihre Wohnung einrichten, auch wenn es nur instinktiv ist: Jeder Gegenstand hier schreit denen, die den Luxus nicht gewohnt sind, entgegen: Raus hier, proletarisches Dreckstück! Der Unterschied zwischen einer Bobo-Einrichtung und der eines richtig Reichen ist diese Nuance: Die eine säuselt jedem x-Beliebigen entgegen, »Fühl dich wie zu Hause«, die andere möchte jeden ausschließen, der die richtigen Codes nicht kennt. Vernon kennt die Wohnung, sie beeindruckt ihn nicht.
Kiko hat sich auch sehr verändert. Von allen im Camp hat er vielleicht sogar den radikalsten Wandel durchgemacht. Vernon ist sein Star, sein Wochenendhobby geworden. Kiko hat das Trader-Leben aufgegeben. Wie ein Spieler im Casino, der beschließt, den Tisch zu verlassen, wenn er eine Gewinnsträhne hat. Take the cash and run. Rückblickend hat er die Entscheidung nie bereut – man muss doch bescheuert sein, zu arbeiten, wenn man reich ist.
Er ist nicht der Einzige in seinen Kreisen, der eine Erleuchtung hatte. Er kennt noch andere, die eines Tages, während sie im Schatten der Palmen auf der Insel Mauritius in ihrem Whirlpool lagen und die Pobacken ihres Mädchens anstarrten, von einem Blitz der Erkenntnis getroffen wurden: Ihr Leben war scheiße. Das Einzige, was sie daran reizte, war die Überzeugung, dass alle sie beneideten. Aber das Verrückte, was Kiko in der Gruppe entdeckt hat, war, dass niemand Lust hatte, an seiner Stelle zu sein. Jeder andere hätte wohl das Umfeld gewechselt – hätte sich Gesellschaft gesucht, die ihn beruhigt. Kiko ist geblieben. Und hat die Strategie geändert.
In den ersten Monaten brannte ein geradezu anarchistisches Feuer in ihm. Als würde er den Schalthebel umlegen. Manche Leute setzen mit zunehmendem Alter eine reaktionäre Energie frei, die alles auf ihrem Weg zerstört. Er ließ den Anarchisten in sich los, der lange eingezwängt, zensiert, verhindert gewesen war und sich nun mit großem Rabatz entfaltete. Noch besser als Anarchist passt vielleicht Christ. Das allerdings im ursprünglichsten Sinn des Wortes: Die Stimme in Kiko, die Christus liebte – und die jahrelang zumindest unterdrückt worden war –, nahm plötzlich allen Raum ein. Das dauerte bestimmt sechs Monate. Er war von peinlicher Großzügigkeit, und das ging allen auf die Nerven.
Er wollte nie mehr arbeiten, schwor, dass ihn das Geld anwidere, dass er bei ihnen leben wolle, er studierte mit Olga Prospekte von Minivans, sah sich schon in einer Karawane durchs Land fahren, fühlte sich kein bisschen materialistisch mehr. Jeden Morgen hatte er eine neue Idee. Er würde seine Pariser Wohnung abstoßen und ein kleines verlassenes Dorf im Jura kaufen, sie würden sich alle dort niederlassen und als Gemeinschaft leben. Nur weil die Hippies vor die Wand gefahren sind, kann man es doch trotzdem weiterversuchen. Alles scheitert, bis es klappt. Kiko kennt eine Menge Ärzte, in der Hierarchie seines Netzwerks stehen sie weit oben – einen von ihnen würde er überreden, sich bei ihnen niederzulassen. So könnten sie immer zwischen einem Herzinfarkt und einer Panikattacke oder Krebs und einem dicken Pickel unterscheiden. Sie würden sich keine überflüssigen Sorgen machen und in Frieden alt werden.
Im Laufe der Zeit ließ sein Eifer nach. Er hatte keine Lust mehr aufs Camp, ging nach Paris zurück, steckte die Nase wieder ins Koks und traf sich mit seinen alten Freunden. Auch seine christliche Passion legte sich. Er investierte in eine Grasplantage in Los Angeles. Im Camp tauchte er seltener auf. Aber er kam noch. Und unterhielt sie abendelang mit seinem Projekt eines Themenparks. Im Moment wartet er auf die Legalisierung in Frankreich, die seiner Meinung nach nicht mehr lange auf sich warten lassen wird. Er stellt sich irgendwas zwischen Jurassic Parc und Bristol Spa vor, aber im Zentrum steht das Gras. Sein Delirium ist so weit fortgeschritten, dass er es glaubhaft darstellen kann. In seinem Park soll es Whirlpools, Videovorführungen, Yoga-Sitzungen speziell für Bekiffte, ein bisschen zeitgenössische Kunst, Massagen, viel Musik und überall Muffins gegen den Heißhunger geben.
Kiko ist in sein altes Leben zurückgekehrt, hat sich aber dem Widerständler in sich geöffnet. Er ist nicht mehr bereit, alles herzugeben. All seine Zeit, all sein Denken, all seine Lust, all seine Überzeugung. Er ist nicht mehr bereit zu beweisen, dass er immer noch eine zusätzliche Aufgabe in seiner Agenda unterbringt. Seine Systemzugehörigkeit ist nicht mehr hundert Prozent. Der Gehorsam reizt ihn weniger als früher. Seine Art, den Widerstand auszudrücken, besteht darin, im Camp aufzutauchen und mit Leuten zu verkehren, die anders sind als er. Er ist nicht an seinen Ausgangspunkt zurückgekehrt – er hat ein alternatives Gleichgewicht, einen Wechsel der Identitäten gefunden.
Er nimmt immer noch etwas mehr Raum ein als die anderen, er redet viel. Im Camp spielt das Schweigen eine wichtige Rolle. Nur nicht für Kiko. Aber niemand beklagt sich. Er ist derjenige, der die Probleme löst. Er missbraucht seine Stellung nur insofern, als er viel Geräuschraum einnimmt. Und in einem ist er aufrichtig, ändert nicht alle naselang die Meinung: Das, was er bei den Convergences erlebt, schafft keine Droge. Und »dahin« will er gelangen. Sein neuester Spleen ist, dass Vernon seine Position als Guru wirklich wahrnehmen müsse. Kiko hat eine Menge überschüssigen Ehrgeiz.
Sie setzen sich an den Küchentisch, Kiko öffnet den Kühlschrank und stellt hektisch alles auf den Tisch, was er da hat, als wären sie völlig ausgehungert. Er öffnet eine Flasche Champagner, aber Vernon sagt danke, mit den Antibiotika haut mich das um. Mariana nimmt das Glas, das er ihr gibt, und leert es in einem Zug. Sie ist wütend und gibt sich zugeknöpft. Als sie Kiko im Camp getroffen hat, war ihr nicht klar, dass er dermaßen reich ist. Sie dachte sich, dass er nicht das gleiche Leben führt wie die anderen wegen seiner Macke, die Kreditkarten zu schwenken, sobald irgendein Problemchen auftaucht. Aber damit hat sie nicht gerechnet, nicht mit diesem Luxus, der alle beleidigt, die nicht daran gewöhnt sind. Sie zappelt auf ihrem Stuhl herum und wirft finstere Blicke um sich. Sogar der rote Smeg-Kühlschrank verletzt sie mit seiner braven Rundlichkeit.
Kiko kann nicht still sitzen – er legt eine Platte von Erykah Badu auf, zu laut, fragt, ob sie Drogen wollen, er habe einen neuen Dealer, hervorragend, der sei im Nu da. Er muss die Leere füllen – man kriegt einfach nicht raus, wovor er so viel Angst hat, dass er immer und überall für Bewegung sorgen muss. Vernon ist an seine Hektik gewöhnt.
»Weißt du eigentlich, dass sie den Baum in den Buttes-Chaumont, den mit den riesigen Wurzeln, auf dem du immer gesessen hast, dass sie den umgefahren haben? Hat dir das jemand erzählt?«
»Wann?«
»Anfang Februar.«
»Wie das denn?«
»Ein falsches Manöver.«
»Ein Baum von der Größe? Haben sie ihn beim Rückwärtsfahren übersehen?«
»Da wurde eine Menge gebaut. Keine Ahnung!«
Das ärgert Vernon. Dass die Dinge nicht bleiben, wie sie sind, hält er schlecht aus. Er denkt an den Baum, der so groß wie ein Hochhaus war, und an die Stunden, in denen er wie auf einem Thron an seinem Stamm gesessen hat.
»Ich frag mal Charles. Er kennt die Gärtner gut, so lange, wie er schon im Park rumhängt … Wir haben ihn schon lange nicht mehr gesehen. Ich geh morgen vorbei.«
Kiko hört nicht mehr zu. Er hat zu einem Solo angesetzt, seinem Lieblingsthema: Vernon und seine Gabe. Es gibt keine Worte, um das zu beschreiben. Nach seiner Überzeugung liegt das ganze Problem – denn es gibt eins – darin, dass Vernon nicht zu seiner Rolle steht.
»Du kannst nicht der Leader sein, ohne dich reinzuknien. Okay, im Moment läuft dein Ding. Dass du dich während der Convergence abseitshältst, verleiht dir eine geheimnisvolle Aura. Das läuft. Ganz instinktiv – top. Du machst einen Raum auf für die Fantasie. Storytelling durch Leere. Wenn’s losgeht, weiß niemand genau, was der große Vernon Subutex Besonderes an sich hat. Okay, das verstärkt den Hype.«
Aber das genügt ihm nicht. Vernon macht keine richtig tollen Sachen, jemand mit Handauflegen heilen oder mit den Toten kommunizieren, sie mit den Lebenden sprechen lassen, wie ein kosmischer Anrufbeantworter. Er nimmt sich nicht ernst genug. Kiko hat große Visionen. Das liegt in seiner Natur. Er trommelt nervös mit dem Fingernagel auf den Tisch. Da kommt ihm eine neue Idee:
»Kennst du Konfuzius? Die Geschichte mit dem Baum, ich glaube, die könnten wir benutzen … Die Römer haben den Baum gefällt, unter dem Konfuzius gebetet hat. Das habe ich im Radio gehört. Ich glaube, dieser Magic Tree – was war das, eine Eiche? Du weißt es auch nicht? Frag Charles, wenn du ihn besuchst, ich glaube, die lässt sich gut für deinen Prophetenmythos verwenden.«
»Kiko, hast du schon wieder zu viel France Culture gehört? Hör auf damit. Das haben wir dir schon oft gesagt. Das verträgt sich nicht mit dem Kokain. Ich bin DJ, kein gottverdammter Prophet.«
»Ich bilde mich halt, du Pfeife, ich bilde mich und du beschimpfst mich. Sie haben den Baum gefällt, unter dem Konfuzius gebetet hat, damit er abhaut, so groß war sein Einfluss. Wenn das keine Geschichte ist! Wir könnten so anfangen: Alarmiert durch deine große Macht haben die französischen Behörden den Baum ausreißen lassen, unter dem du immer gesessen hast …«
»Kiko, du kennst mich, ich schlucke den größten Schwachsinn, aber eins sage ich dir, Konfuzius und ich, auch wenn sie den Baum gefällt haben, unter dem er saß – das funktioniert nicht.«
»Willst du mir erzählen, du kennst Konfuzius?«
»Nein, aber aus dem Bauch kann ich dir sagen, dass es nicht passt.«
»Aus dem Bauch … typisch für die Stupids. Du begreifst nicht, wie es funktioniert, aber du bist sicher, dass es nicht klappt. Ich habe es mir gründlich überlegt, wir müssen die Geschichte erzählen. Ich finde, wir sollten uns eine Schriftstellerin suchen. Ich habe schon mal eine Liste gemacht.«
»Hör auf, France Culture. Du nervst.«
Wenn Kiko einen freien Abend hat, kauft er sich zwei Gramm Koks und podcastet wie ein Wilder. Er füllt ganze Hefte mit absurden Ideen, die er auch am nächsten Tag noch für total vernünftig hält – da spricht nicht nur das Kokain aus ihm, sondern seine soziale Klasse: Sie bildet sich ein, ihr sei alles erlaubt, sie erträgt keine Grenzen. Also macht er weiter:
»Ich werde eine Schriftstellerin engagieren, die begabt genug ist, was Ordentliches zustande zu bringen, aber auch nicht zu erfolgreich, sonst macht sie, was sie will, und nach drei Monaten nervt sie uns mit ihren eigenen Ideen, die uns einen Dreck interessieren.«
Mariana unterbricht ihn, sie ist schon beim dritten Glas Champagner und entspannt sich allmählich:
»Warum eine Frau? Wegen der Sensibilität?«
»Okay, ich rede Klartext, auch wenn es nicht politisch korrekt ist. Männer mit Talent machen was anderes aus ihrem Leben! Und würden uns eine Riesenstange Geld kosten. Einer Frau bietest du den doppelten Mindestlohn an, und sie schenkt dir drei Jahre ihres Lebens. Das ist halt so! Ihr seid dazu dressiert, euch um andere zu kümmern. Seit zweitausend Jahren geht das so und ihr gewöhnt es euch nicht ab, nur weil Simone ›Wacht auf!‹ gesagt hat. Und außerdem, seien wir doch ehrlich, wir sind unter uns, da können wir uns das Tralala sparen: Vernon ist eher ein Prophet fürs weibliche Geschlecht.«
Seit Monaten ist das sein Spleen. Er ruiniert sich den Rücken, während er über dem Computerbildschirm hängt und auf Wikipedia Prophetenbiografien liest. Er, der nie gelesen hat, ist ganz besoffen davon. Und seiner Sache supersicher: Vernon hat eine Gabe und sie brauchen nur gute PR, dann wird das ein Megading. Mariana leert ihr Champagnerglas. Schon hat Kiko die zweite Flasche in der Hand und lässt den Korken knallen. Sie fragt:
»Wie viele Jahrhunderte nach seinem Tod haben sie diese Konfuziusgeschichte aufgeschrieben? Bis einer zum Propheten ernannt wird, dauert es doch eine Weile, oder?«
»Konfuzius ist nur ein Beispiel, das ist wie Moses, die Propheten von früher. Je mehr du dich unserer Zeit näherst, desto öfter werden sie ad hoc eingesetzt.«
»Du meinst wie die Kathedralen, für die man früher Jahrhunderte gebraucht hat, während sie uns heute ein Einkaufszentrum in drei Monaten hinstellen?«
»Genau so.«
»An wen denkst du zum Beispiel bei den heutigen Propheten?«
»An den, der uns unmittelbar interessiert: Ron Hubbard.«
Seit ein paar Monaten erwähnt Kiko den Scientology-Gründer bei jeder Gelegenheit. Das hat nichts mit France Culture zu tun – dahinter steckt ein Gespräch mit seinem Sitznachbarn während eines Flugs Paris – L. A.
Kiko geht davon aus, dass Vernon seine Gururolle nicht richtig annimmt, weil er Angst hat, er müsse ein Märtyrer sein, um ein guter Prophet zu werden.
So gewinnt man seine ersten Anhänger: Man braucht eine Ungerechtigkeit. Am besten einen tragischen Tod. Wenn in der Geschichte ein bisschen Martyrium vorkommt, ist sie noch wirksamer. Natürlich versteht Kiko, dass Vernon die Etappe gern überspringen möchte, wo man sich anspucken lässt, während man ein achtzig Kilo schweres Kreuz auf dem Rücken trägt, bevor man mit durchbohrter Lende und angenagelten Händen an eben diesem Kreuz langsam krepiert. Man muss nur sehen, in welchen Zustand ihn läppische Zahnschmerzen versetzen, um zu begreifen, dass Vernon nicht dazu geschaffen ist, würdig zu leiden. Deswegen ist Hubbard ein hervorragendes Gegenbeispiel.
»Dicke Jachten, fetter Zaster, süße kleine Girls in weißen Röckchen, exzellente Küche! Und am Anfang war er nichts anderes als du. Guck ihn dir an, als er dreißig war – ein elender Loser. Nicht, dass ich was sagen will, aber ehrlich, mit dreißig war bei dir auch nicht viel los. Der einzige Unterschied zwischen euch ist, dass der Mann echt motiviert war. Und genau das fehlt dir, Vernon. Das Mentale. Nimm jeden beliebigen Rekord beim Sport! Das Mentale macht achtzig Prozent der Leistung. Wenn du dich mental steigerst, haben wir alles, was wir brauchen. Die Convergences werden immer geiler. Seit die beiden Mädchen aus Bordeaux Bleachs Infrabässe abgemixt haben und du sie als Endlosschleife laufen lässt, haben wir ein neues Level erreicht. Bleach würde einen guten Guru abgeben. Er war schön, es gibt Hunderte wunderbare Porträts von ihm, und vor allem ist er gestorben! Leidend, einsam – wenn wir die Geschichte ein bisschen aufpolieren, kann man sogar von Untergang reden. Perfekt! Wenn wir uns auf eine Schriftstellerin geeinigt haben, sagen wir ihr, sie soll ihn irgendwie reinbringen, so was wie Johannes und Jesus, du verstehst, was ich meine … so was Subtiles, damit die Leute sich fragen, wer ist denn jetzt der richtige Prophet.«
»Immer noch France Culture?«
»Nein, ich höre auch andere Sender. Aber von dir muss es auch Input geben, Junge! Potenzial, Talent, gutes Produkt … das macht nur zehn Prozent vom Erfolg eines Unternehmens aus.«
»Schalt das Radio aus, pack die Bücher weg. Geh tanzen. Kauf dir ein Bike. Keine geistige Tätigkeit, du weißt so gut wie ich, dass das nicht deine größte Stärke ist.«
Im Camp ist Kiko nicht der Einzige, der das Gefühl hat, dass es bebt, dass es irgendwann explodiert, dass man »etwas Großes« machen muss. Die einen wollen nach Detroit ziehen, andere sich wie eine Zirkustruppe organisieren, manche haben eine Gemeinschaft in Italien besucht, andere das besetzte Gelände in Notre-Dame-des-Landes. Jeder hat seine Vorstellung von der Zukunft. Nur Vernon möchte einfach, dass alles so weitergeht – chaotisch, ohne feste Form, ohne Kopfzerbrechen.
Charles, der alte Suffkopf, möchte einen Film drehen. Darauf ist er gekommen, als ein paar Kolleginnen von Pamela zu Besuch waren, die ihm den Kopf verdreht haben. Zuerst haben ihn die Püppchen mit künstlichen Brüsten und lackierten Nägeln eingeschüchtert, aber bald hat er gemerkt, dass sie viel empfänglicher für seinen Humor und seine Philosophie sind, als er je gedacht hätte. Punks in Körpern der Sünde. Er hat ein Filmprojekt über eine Utopie vorgeschlagen: Mädchen allein auf einer einsamen Insel, umgeben von weißen Kaninchen und kleinen süßen Pudeln … Die Mädchen haben das Drehbuch an einem Abend zu einem Zombiefilm umgeschrieben. Als ein Mädchen die Szene beschrieb, in der sie den Kopf einer Leiche mit einem riesigen lila Umschnalldildo ficken würde, hing Charles mit offenem Mund an ihren Lippen.
Aber er ist nicht wiedergekommen, wie sie vereinbart hatten, um das utopische Projekt weiterzuspinnen. Als Mariana ankündigt, sie wolle in der Nähe von Montmartre Freundinnen besuchen, und beim Aufstehen schwankt, weil sie zu viel getrunken hat, springt Vernon auf, um sie festzuhalten. Er sagt, er werde Charles suchen. Er werde eine Tour durch seine Stammlokale machen, irgendwo wird der Alte schon sein.
Die Véro streicht mit der flachen Hand so lange über die braune Papiertüte, bis sie sie ordentlich zusammenfalten und auf die anderen legen kann. Sie wird den Alten nicht mehr maulen hören, der es unerträglich fand, dass sie den Tütenstapeln so viel Aufmerksamkeit widmete, während der Rest der Wohnung vergammelte. Es machte ihn irre, dass sie die Wäsche in der Maschine vor sich hin schimmeln ließ, aber die Tüten aus Plastik oder Papier nach Größe, Farbe und Material in dem großen Büfett sortiert waren, aus dem sie das Geschirr verbannt hatte, weil sie zu viele Tüten hat. Jedem seine Macke. Die braune Anrichte ist randvoll mit Verpackungen, diesen Raum zu kontrollieren, bereitet der Véro ein ebenso starkes wie unerklärliches Vergnügen. Auf der einen Seite die Blasenfolie, dann die Tüten, Papier und Plastik, klein und groß und in der letzten Abteilung die wunderschönen, die sie auf der Straße findet.
Sie haben das Büfett zusammen gekauft, als sie irgendwann am Stadtrand bei Emmaus waren, weil ein Stammgast aus ihrer Kneipe dort ab und zu arbeitete. War eine Riesenexpedition, raus zu Emmaus, aber sie tranken da im Garten ihren Apéro, und danach waren sie so dicht, dass sie hinterher nicht mehr wussten, wie sie nach Hause gekommen waren. Das war im Sommer. Sie waren nicht in den Urlaub gefahren. Sie fuhren nie weg. Eine Dröhnung Grün möbelt jeden auf, auch wenn’s die Véro eigentlich nicht so mit Chlorophyll hat. Das Teil kostete zehn Euro und sie waren beim Kauf so besoffen gewesen, dass sie staunten, als es ein paar Tage später geliefert wurde. Charles hat es immer gehasst. Stimmt schon, dass es den ganzen Platz einnimmt. Und zu nicht viel gut war. Zuerst haben sie schmutzige Teller und die Post drauf gestapelt. Und am Ende hat sie es für ihre Tüten beschlagnahmt. Es hat lauter Schubladen und Bretter, perfekt, um ihre Macke auszuleben. Charles hat immer behauptet, sie hätte sehr wohl gewusst, was sie tat, als sie es kaufte, sie hätte das geschickt eingefädelt. Vielleicht hatte er recht: Das Gehirn von Leuten mit irrationalen Zielen hat mehr Tiefgang als das von denen, die normal funktionieren, es ist immer ein paar Schritte voraus und sieht weit nach vorn. Beim Alkohol ist es dasselbe. Wenn sie aufhören will zu trinken, merkt sie genau, dass ihr Gehirn sie irgendwie in Situationen bringt, die ihr keine Chance lassen, und das passiert meistens, ohne dass es ihr bewusst wäre – anders gesagt, sie beschließt, nicht zu trinken, sondern erinnert sich, dass sie einen alten Freund besuchen muss, dem es dreckig geht, und wenn sie erst bei ihm ist, wird ihr bewusst, dass sie nur eines bei ihm sucht, ein Dutzend Pastis. So funktioniert das Gehirn der Bekloppten: Es trickst mit dem Bewusstsein, lenkt klammheimlich das Handeln, sodass du am Ende genau das bekommst, was du wolltest, während du behauptest, du hättest an ganz was andres gedacht.
Jetzt kann sie mit der Anrichte machen, was sie will. Sie kann ihre Sammlung sogar im ganzen Zimmer verteilen, wenn sie Bock darauf hat … Er ist nicht mehr da, um sie anzumotzen. Jetzt ist Schluss mit der Zankerei.
Der Alte ist tot. Das hat er gut hingekriegt, der Arsch, hat sich ganz unauffällig davongemacht. Eine kleine Attacke als Warnung, nur um anzukündigen, dass sich was Großes zusammenbraut; abends an der Theke ist er zusammengeklappt, hat sich ein bisschen gekrümmt und Blut gespuckt, bis die Sanis gekommen sind. Danach hat er sich eine Woche Wunderheilung gegönnt, die hat er genutzt, um sein Zeugs zu klären, als würde er wissen, dass er im Begriff ist, sich zu verabschieden. Dann der Zusammenbruch vor dem Eckladen, ein Schlaganfall, diesmal ein echter. Véro war bei ihm. Bevor er weggesackt ist, hatten sie sich gerade gestritten, weil sie wollte, dass er eine Tube Nestlé-Kondensmilch für ihren Frühstückskaffee kauft, und er rumzeterte, dass sie das nicht braucht, dass das rausgeschmissenes Geld ist und dass es ihm den Magen zerfrisst. Immer was Neues, der Alte, um Stress zu machen. Im Krankenhaus hatten die Schwestern sie angesehen wie ein altes Paar, das man bedauert, weil der Tod es trennen wird. Alkis, na gut, das sah man ihren Visagen an, aber Alte, die Händchen halten und erst im letzten Moment loslassen, weil Charles ihre Pfote umklammerte, wie er es noch nie gemacht hatte, er sagte nichts, aber sie sah, dass er Angst hatte, und ihr war nichts anderes eingefallen, als zu sagen, das wird schon, mein Alter, du kommst wieder auf die Beine. Und für die anderen sahen sie halt genau so aus: wie ein altes Paar, das Abschied nimmt. Das waren sie ja auch. Aber Harmonie war nie ihre Stärke gewesen.
Bei der ersten Attacke, die ihn noch nicht erledigt hatte, war die Familie des Alten nicht gerade an sein Krankenbett gestürmt. Charles’ Schwester hatte immerhin zurückgerufen und sich erkundigt, aber als sie hörte, dass er wieder auf den Beinen war, hielt sie es nicht für nötig, anzureisen. Umso besser, eh bescheuert, die Alte. Die Kumpanen aus der Bar zeigten mehr Anteilnahme. Der alte Michel hat ihn zweimal besucht. Seine Bar hatte er schon eine Weile verkauft, aber vorher waren Charles und er die dicksten Freunde gewesen. Und der fette François – schließlich fast ein Jugendfreund, auch einer aus dem Norden. Ahmed, der in der Bar des Vosges gearbeitet hat, als es noch eine anständige Kneipe war, hat auch mal vorbeigeschaut. Er hatte sich mächtig verändert. Wie so viele. Trank keinen Alkohol mehr und traute sich nicht recht, ihnen zu erzählen, was er macht, aber sie hatten es erraten – man muss schließlich mit der Zeit gehen. Er betet und hält sich an den Ramadan. Hier im Viertel ist es inzwischen schwierig, so einen Vornamen zu haben und in Ruhe sein Bier zu trinken, ohne dass einem jemand eine Predigt hält. Es gab noch andere Saufkumpane, die davon gehört hatten und versprachen zu kommen – in ihrem Alter macht man sich keine großen Illusionen, wenn du einmal zusammenklappst, machst du es nicht mehr lange. Charles hat auch nicht lange gefackelt. Ein Glück, dass sie an dem Tag da war, wo es passiert ist. Scheiße. Der Alte hat ihre Hand gehalten und ist krepiert. Das war vielleicht der zärtlichste Moment ihrer ganzen Geschichte. Er ist nicht der Erste, den sie hopsgehen sieht. Aber es macht was mit ihr. »Es ist doch nichts«, hatte sie gedacht und dann: »Es ist alles«. Es ist kein Ding, zu sterben. Alle machen ein Riesentheater darum, aber wenn es passiert, entspannt sich der Körper.
Verflucht noch mal, die hatten es vielleicht eilig im Krankenhaus, das Bett freizukriegen, sobald der Tod festgestellt war. Dadrin ersticken sie nicht grad an Anteilnahme für die, die zurückbleiben. Auch wenn man sich sagt, dass es für sie nur Papierkram ist, dass sie das jeden Tag erleben, dass sie überlastet sind, dass Krise ist und dass es kriminell wäre, ein Zimmer zu besetzen, wenn man offiziell verschieden ist – sie hätte sie an die Wand klatschen können, als die Schwestern anfingen, sich da zu schaffen zu machen, um keine Zeit mit einer Leiche zu verlieren. Haben ihr keine fünf Minuten Ruhe gelassen. In dem Moment war sie so geschockt, dass sie nicht mal rumgebrüllt hat. Aber seitdem sieht sie es immer vor sich – die haben sich auf den kalten Körper gestürzt, als sei das überhaupt nichts mehr, nicht mehr als ein kaputter alter Kühlschrank.
Fast fünfzehn Jahre mit diesem Arschloch, jede Nacht sein Geschnarche, und an diesem Abend würde sie ihn nicht durchs Haus geistern hören – da hätten sie ihr ruhig ein bisschen Zeit lassen können. Das ist eine Frage des Anstands. Sogar solche wie sie müssen sich verabschieden. Und sei’s nur, um es wirklich zu glauben. Es ist passiert. Sie wird sich nicht mehr rühren, die alte Lederhaut, wird nicht mehr rumgrölen, nicht mehr mit der Faust auf den Tisch schlagen, sie nicht mehr anmotzen, wenn sie den Sender umschaltet, nicht mehr neben das Becken pissen, sie nicht mehr als bescheuert beschimpfen, wenn sie sagt, dass Obama attraktiv ist – es ist vorbei. Jedes Mal, wenn er das Wort »Schulden« hörte, sang er die Internationale,deswegen konnte man nicht den Fernseher anmachen, ohne dass er sang. Aber das ist vorbei. Das und alles andere auch.
Auch wenn ihr gemeinsames Leben ein Elend war, hat sie es nicht gehasst. Sie war schon zu alt, als sie ihn getroffen hat, um sich einzureden, dass das noch was anderes wär als einer, um sich festzuhalten. Sie wusste, dass sie ihn einzig und allein wegen der Angst ertrug, allein zu sein. Sie war schon lange über das Alter hinaus, wo man denkt, dass die Liebe was anderes ist als einfach nur Blödsinn, irgendein Scheiß, um Mikrowellen oder eine Karre auf Kredit zu kaufen.
Irgendwas hat sie ihm immer vorgeworfen. Sie wusste, dass es bescheuert war. Aber sie hat eine Menge Zeit damit verbracht, vor der Küchenspüle die Litanei der Sachen abzuspulen, die sie an ihm nicht ausstehen konnte. Dabei wusste sie genau, dass sie ohne ihn abstürzt. Ab und zu konnten sie schließlich auch mächtig zusammen lachen. Charles war wirklich kein Kind von Traurigkeit. Sie hat zwar allen das Gegenteil erzählt, aber ihre Wohngemeinschaft war nicht nur dazu da, eine Miete zu sparen und sich die Heizungskosten zu teilen. Auf ihre Art verstanden sie sich gar nicht so schlecht. Er war ein Schreihals, ein Meckerkopp. Sie konnte ihm ein Sixpack in die Fresse knallen, ein Jammerlappen war er nicht.
Sie glättet einen rosa Plastikbeutel, das Material ist so dünn, dass man durchsehen kann. Zuerst zieht sie an den Griffen, um ihn in Form zu bringen, dann faltet sie ihn in der Mitte und dreimal längs, bevor sie ihn zu den anderen räumt. Jetzt, wo man in den Geschäften keine Gratistüten mehr kriegt, gewinnt ihre Sammlung an Wert.
Charles war ganz scharf auf Reality-TV. Je bescheuerter die Sendung, desto zufriedener war er. Wenn er auf ein Programm stieß, in dem Leute bloßgestellt wurden, die Sachen sammelten und sich weigerten etwas wegzuwerfen, was man noch gebrauchen kann – das nennt man Diogenes-Syndrom –, erstickte er fast am Husten, so eilig hatte er es zu brüllen: »Komm mal, Dicke, guck dir an, wie wir enden werden, wenn ich dich machen lasse.« Und dann verfolgte er sie drei Tage lang auf Schritt und Tritt, stellte sich hinter sie und überwachte, was sie sammelte, nannte sie Didine – Diminutiv von Diogenes – und wollte sie zwingen, die Tüten und andere Sachen wegzuwerfen, die vielleicht noch nützlich sein konnten. Aber nicht sie ist der Messi, wie sie das nennen. Die Welt um sie rum schmiert total ab. Was ist das denn für eine Macke, alles in den Müll zu werfen? Nur weil alle es machen, ist es noch lange nicht vernünftig.
Sie hört Barbara. Dis quand reviendras-tu, dis au moins le sais-tu? Das entlockt ihr eine Träne. Sie nutzt es aus, dass er nicht mehr da ist, und hört Musik. Der Alte mochte weder französische Chansons noch Gedichte. Am Anfang dachte sie, das ist, weil er sich unfähig fühlte zu begreifen, was da erzählt wurde, weil er Komplexe hatte. Dann hat sie gedacht, das ist nur, um sie fertigzumachen, sie daran zu hindern, ein bisschen was Schönes im Leben zu haben, damit sie mit der Fresse im Dreck und in der Scheiße liegen bleibt, und dass es ihn ankotzte, wenn sie Zugang zu schöneren Sachen hat als der Straße vor ihrem Haus. Irgendwann hat sie eingesehen, dass es nichts mit Komplexen zu tun hatte, auch nicht mit dem Wunsch, sie runterzuziehen: Er mochte weder Musik noch Poesie, für ihn war das bürgerliche Scheinheiligkeit. Ihre Gedichte von Emily Dickinson und Alejandra Pizarnik, ihre Platten von Aznavour oder Léo Ferré: gequirlte Bürgerkacke. Damit man darüber schwafeln kann. Nebelkerzen. So sah er das.
Für den alten Charles lag die ungeschminkte Wahrheit über die Menschheit in ihrem Hang zur Schlächterei. Ging es nur drum, wer das Recht hat, wen fertigzumachen. Alles andre war seiner Meinung nach Poesie – dazu da, den Leichengestank zu überdecken, der den Menschen begleitet, wo er geht und steht. Herrje, was für ein Misanthrop!
Sie räumt den Beutel ein, schön gerade auf die darunter, aber dann hat sie keine Zeit, den Schrank zuzumachen, weil sie zum Klo rennen muss. Sie kotzt Galle. Ein Kreuz! Verträgt den Alkohol immer schlechter. Das muss der Stress sein. Der ganze Papierkram, den sie jetzt erledigen muss.
Sie macht die nächste Flasche auf. Das ist kein Geheimnis: Wenn’s einem mies geht, weil man zu viel getrunken hat, muss man noch ein bisschen mehr trinken, um die Rohre zu schmieren. Sie gießt sich ein Schlückchen ein, grad genug, um sich die Lippen anzufeuchten. Der Alte ist tot, sie waren fast fünfzehn Jahre zusammen, also nicht schwer auszurechnen: Seit mehr als fünfzehn Jahren schwört sie sich jeden Tag, mit dem Saufen aufzuhören. Sie ist aus dem Alter raus, Herrgott, das wühlt zu sehr in den Eingeweiden. Auch die schönsten Sachen gehen mal zu Ende, meistens zu früh: Die Buddel war ein Leben lang ihre beste Freundin, ihre Leidenschaft, ihre einzige Liebe – und jetzt macht sogar die Zicken.
In der ganzen Zeit mit Charles hat sie sich Versprechen gegeben, die sie nicht gehalten hat. Aufhören zu trinken. Wieder anfangen zu studieren. Abhauen, ihn rausschmeißen, eine eigene Bude finden, ein neues Leben anfangen. Manchmal war er so hackedicht, dass er auf die Idee kam, sie zu besteigen, und wenn er ihn hochkriegte, verpasste sie ihm Fußtritte, damit er sie in Ruhe ließ. Er gehörte zur alten Schule und fand es normal, dass sie Nein sagte. Versuchte es trotzdem. Heute sind die Leute nicht mehr so. Haben sich zivilisiert. Aber in seiner Generation warn sie Tiere. Sie war sauer, wenn er es geschafft hat, ihn reinzustecken. Jetzt merkst du wenigstens, dass ich kein bisschen heiß bin. Er hat nur gelacht. Ich mach das nicht, um dir Freude zu machen, sondern um meine Eier auszuleeren. Kein bisschen Scham. Wie früher.
Vor ihm stand sie mehr auf junge Männer. Jung und schön. Vor ihm konnte sie noch ein bisschen wählen. Aber seit Charles ist sie zu runtergekommen, um behaupten zu können, sie kriegt, wen sie will. Herrgott, wie sie heute aussieht! Reif für die Tonne. Das hat sie ihm übel genommen, obwohl er nichts dafür konnte. Sie glaubt, wenn sie mit ihm glücklich gewesen wäre, wäre es auch mit dem Aussehen besser gewesen. Sie glaubt, wenn sie allein gewesen wäre, hätte sie sich besser gehalten, hätte sie sich Abstinenzwochen verordnet, dazu Sport und Diät, das wäre ihr gut bekommen. Jetzt, wo er nicht mehr da ist, muss sie sich einen anderen Schuldigen suchen. Oder sie macht irgendwo eine Kur. Komischer Gedanke.
Sie kann es immer noch nicht fassen. Irgendwas hat sie geahnt. Aber mit so einem Vermögen hat sie nicht gerechnet. Und noch weniger, dass dieser alte Depp es auf die Reihe gekriegt hat, mit ihr einen Partnerschaftsvertrag zu machen, sodass sie jetzt Anspruch darauf hat. Aber dann dieser kranke Brief. Mit seiner alten Krakelschrift. Seine Schrift gleicht seinem Körper – schief und krumm, nicht gerade auf der Zeile, jeder Buchstabe zittrig, das Bein des »p« hängt im Leeren und der Querstrich beim »t« rutscht weg bis zum Seitenrand. Eine Schrift, die sich entblößt, widerspricht und zersetzt. Aber auch eine elegante Schrift, die Schrift von jemandem, der irgendwann mal anständig schreiben wollte. Er hat alles richtig erklärt, richtig ausgerechnet – der alte Idiot, wo hat er sich nur den klaren Verstand geholt, um sein Ding heimlich auszuhecken?
Sie kann es nicht fassen. Mehr als eine Million. Auf einem normalen Konto, noch fast alles da. Sie hat sich nie um Erbschaftssteuer gekümmert, aber die scheint nicht so wahnsinnig hoch zu sein; wenn sie sich nicht total vertan hat, verliert sie zwanzig Prozent vom Ganzen. Da bleibt genug und sie hat ausgesorgt. Sie hat schon eine ganze Weile was gerochen, aber nicht daran gedacht, als er gesagt hat, sie soll sich eine Geburtsurkunde besorgen, damit sie beim Gericht den Partnerschaftsvertrag unterschreiben können. Sie dachte, es ist, falls er krank wird, er hat Angst, dass er ins Krankenhaus muss und man sie nicht zu ihm lässt, um ihm Kippen und eine Pulle zu bringen. Er hat darauf bestanden, dass sie so schnell wie möglich drankommen, und sie hat gedacht, du alter Sack, immer musst du Zicken machen. Nie wäre sie draufgekommen, dass er an sein Erbe dachte. Wie hätte sie auch ahnen können, dass die alte Kanaille so ein Vermögen besaß? Sie staunt immer noch, dass es ihm so wichtig war, dass sie die Kohle kriegt. Sie weiß, dass er seine Schwester hasste, vielleicht hatte er das im Kopf: verhindern, dass sie was erbt. Alles an dieser Geschichte ist total unfassbar.
So was wie Zärtlichkeit und Großzügigkeit war nicht gerade typisch für ihre Beziehung. Wobei er sich gegen Ende verändert hat. Nicht, als er das große Los gezogen hat. Sie hat das Datum überprüft. Das große Los, das waren die Turnschuhe. Die hässlichsten Schuhe, die der Mensch je erfunden hat, und er hat sie sich freiwillig gekauft. Meinte immer, sie wären so bequem. Sie wird die ganze Sammlung zusammensuchen und auf die Straße werfen. Nein, verändert hat er sich später. Mit seiner Bande.
Als sie seinen Testamentsbrief gelesen hat, ist sie ausgerastet: Wenn er so an den Schnuckis hängt, warum hat er dann nicht schon bei der ersten Krise verlangt, die Véro soll sie holen? Sie hat sich ständig über ihn und seine hirnrissigen Freunde aufgeregt. Städter, die unbedingt auf dem Land leben müssen. Aber bei seinem Ende hätten sie da sein sollen. Vielleicht wären sie gekommen. Aus Gründen, die ihr unbegreiflich sind, mochten sie ihn gern. Das merkte man.
Die Zigeuner verbrennen den Wohnwagen eines Toten. Damit die Seele nicht darin eingesperrt bleibt, sondern ordnungsgemäß davonfliegen kann. Die Véro sieht sich um – es würde sie sehr wundern, wenn sich der alte Charles noch an seinen Sessel klammert, den braucht sie nicht zu verbrennen. Er ist sicher abgesaust, sobald er den letzten Atemzug gemacht hat, der hat nie lange gefackelt.
Sie hatte schon gemerkt, dass sich was geändert hat im Budget. Beim Hähnchen hat sie den Braten gerochen.