Das Leben fällt, wohin es will - Petra Hülsmann - E-Book
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Das Leben fällt, wohin es will E-Book

Petra Hülsmann

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Beschreibung

Wenn dir das Wasser bis zum Hals steht, solltest du besser nicht den Kopf hängen lassen

Party, Spaß und Freiheit - das ist für Marie das Allerwichtigste, und sie liebt ihr sorgenfreies Dasein. Das ändert sich jedoch schlagartig, als ihre Schwester Christine schwer erkrankt und sie darum bittet, sich während der Behandlung um ihre Kinder zu kümmern. Und nicht nur das - Marie soll auch noch Christines Posten in der familieneigenen Werft für Segelboote übernehmen. Darauf hat Marie ja mal so überhaupt keinen Bock, und auf ihren neuen "Chef", den oberspießigen Daniel, erst recht nicht. Während sie von einem Chaos ins nächste stolpert, wird ihr jedoch klar, dass es Dinge im Leben gibt, für die es sich zu kämpfen lohnt. Und dass manches einen ausgerechnet dann erwischt, wenn man es am wenigsten erwartet - zum Beispiel die Liebe ...

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Seitenzahl: 651

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Joie de vivre

Es ist erst gut, wenn es vorbei ist

Schlimmer geht’s immer

Willkommen in der Hölle

Familie für Anfänger

Nich feddichmachen lassen

Teambuilding

Im Salon Marie

Aaattackeeee!

Jo-hey-ho und ’ne Buddel voll Rum

Segeln für Dummies

Grenzüberschreitungen

Ein ganz normaler Tag im Leben der Marie A.

Flugzeuge im Bauch

Eine Diva in Nöten

Die Blue Pearl wird gekapert

Das Leben fällt, wohin es will – die Liebe auch

In der Hafenklause nachts um halb eins

Im Hamsterrad

Supergirls heulen nicht

Daniel hat ein Date

Läuft alles super bei mir

Schiffbruch auf Schwedisch

Die neue alte Marie

Volles Herz voraus

Epilog

Frau Brohmkamps Apfelkekse

Danksagungen

Wi schnackt Platt

Über das Buch

Oft liegt das Glück ganz nahe – man muss nur genau hinschauen … Party, Spaß und Freiheit – das ist für Marie das Allerwichtigste, und sie liebt ihr sorgenfreies Dasein. Das ändert sich jedoch schlagartig, als ihre Schwester Christine schwer erkrankt und sie darum bittet, sich während der Behandlung um ihre Kinder zu kümmern. Und nicht nur das – Marie soll auch noch Christines Posten in der familieneigenen Werft für Segelboote übernehmen. Da hat sie ja mal so überhaupt keinen Bock drauf, und auf ihren neuen »Chef«, den oberspießigen Daniel, erst recht nicht. Während Marie von einem Chaos ins nächste stolpert, wird ihr jedoch klar, dass es Dinge im Leben gibt, für die es sich zu kämpfen lohnt. Und dass manches einen ausgerechnet dann erwischt, wenn man es am wenigsten gebrauchen kann – zum Beispiel die Liebe. Perfekte Sommerlektüre: der neue hinreißende Roman von Bestsellerautorin Petra Hülsmann.

Über die Autorin

Petra Hülsmann, Jahrgang 1976, wuchs in einer niedersächsischen Kleinstadt auf. Nach einem erfolgreich abgebrochenen Studium der Germanistik und Kulturwissenschaft arbeitete sie in Anwaltskanzleien und reiste sechs Monate mit dem Rucksack durch Südostasien, bevor sie mit ihren Romanen die Beststellerliste eroberte. Petra Hülsmann lebt mit ihrem Mann in Hamburg.

Petra Hülsmann

Das Leben fällt,wohin es will

Roman

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische AgenturThomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Copyright © 2017/2023 by Bastei Lübbe AG, KölnLektorat: Stefanie Kruschandl, HamburgTitelgestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Motiven von © Olga_Angelloz/Shutterstock; Piyapong89/Shutterstock

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-4085-3

luebbe.de

lesejury.de

Für Carolin, Henrik, Marie, Linda und Piet(in chronologischer Reihenfolge),

Joie de vivre

Ich war mal wieder extrem spät dran. Obwohl ich in aller Herrgottsfrühe um zwölf Uhr mittags aufgestanden war, liefen im Radio gerade die Vierzehn-Uhr-Nachrichten. Was bedeutete, dass genau jetzt die Bahn abfuhr, mit der ich rechtzeitig zum Frühlingsfest der Werft gekommen wäre. Dabei saß ich gerade erst beim Frühstück, und angezogen war ich auch noch nicht. Was hatte ich bloß in den vergangenen zwei Stunden gemacht?

»Musst du nicht mal langsam los, Marie?«

Ich drehte mich um und erblickte meine Mitbewohnerin und beste Freundin Hanna in der Küchentür. Sie war noch im Pyjama, die langen roten Haare hatte sie zu einem vogelnestartigen Gebilde auf dem Kopf aufgetürmt. Wir waren bis acht Uhr morgens mit Sam in einer Kneipe auf dem Kiez versackt, und danach sah sie auch aus.

Hastig stopfte ich mir die letzten beiden Löffel Müsli rein. »Doch, muss ich. Und zwar dringend. Ich bin ganz schön spät dran.«

Ein Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Verstehe. War da wieder ein Loch im Raum-Zeit-Kontinuum?«

»Ja, und ich kann es mir überhaupt nicht erklären. Darf ich mal an deinen Kleiderschrank?«, fragte ich, während ich schon auf dem Weg in ihr Zimmer war.

»Nur zu. Es könnte übrigens was mit deinen frisch lackierten Nägeln zu tun haben«, rief sie mir aus der Küche hinterher. Wahllos zog ich ein paar Klamotten aus dem Schrank. Schließlich fand ich ein äußerst cooles ärmelloses Minikleid im 70er-Jahre-Stil mit psychedelischem Muster in Orange und Grün. Wow, was für ein Fummel! Ich ließ meinen kurzen Kimono auf den Boden fallen und schlüpfte in das Kleid. Im Flur kramte ich meine grünen Stiefel und den roten Schlapphut aus dem Haufen unter der Garderobe hervor und setzte mir schließlich als i-Tüpfelchen Hannas überdimensional große Sonnenbrille auf. Zufrieden betrachtete ich mich im Spiegel. Ich ging zurück in die Küche und posierte vor Hanna wie ein Topmodel auf dem Laufsteg der Pariser Fashion Week. »Na? Was sagst du?«

Hanna brach in Gelächter aus. »Perfekt. Für den Schlagermove.«

Enttäuscht ließ ich die Arme sinken, die ich soeben noch kokett in die vorgeschobene Hüfte gestemmt hatte. »Aber ich finde das Kleid toll. Das hast du doch designt, oder?« Hanna war Modedesignerin und arbeitete für ein kleines Szene-Label hier in Hamburg.

»Ja, aber mit den Accessoires hast du es eindeutig übertrieben. So kannst du unmöglich auf das gediegene Frühlingsfest der gediegenen Werft deines gediegenen Vaters gehen. Und das weißt du auch.«

»Hm.« Mir persönlich schien genau das eine ziemlich gute Idee zu sein. Unschlüssig sah ich an mir herab und strich das Kleid glatt. Es war mir sowieso ein völliges Rätsel, wieso mein Vater nach wie vor darauf bestand, dass ich bei diesem Fest dabei war, obwohl ich im letzten Jahr ein kleines bisschen zu viel Prosecco getrunken und versehentlich mit dem achtzehnjährigen Sohn eines langjährigen Kunden rumgeknutscht hatte. Auch im Sommer davor hatte mein Auftritt für Verwunderung gesorgt, nachdem ich im Bad-Taste-Party-Look auf dem Fest erschienen war. Letzteres war aber nun wirklich nicht meine Schuld gewesen. Niemand konnte von mir verlangen, dass ich um zehn Uhr geschniegelt und gestriegelt bei einem Brunch auftauchte, wenn ich erst um neun Uhr die Partynacht auf dem Fischmarkt beendet hatte. Immerhin war ich damals pünktlich gewesen, aber das nur nebenbei.

Und nun sollte ausgerechnet ich, das schwarze Schaf der Familie Ahrens, wieder auf diesem verdammten Fest die brave Tochter spielen, obwohl ich das zum einen einfach nicht draufhatte und zum anderen sowieso jeder dort von mir dachte, dass ich nur eine Partygöre war, die es im Leben zu nichts gebracht hatte. Warum also sollte ich mir dann nicht wenigstens das Vergnügen gönnen, ein völlig unpassendes Outfit zu tragen, das allen förmlich ins Gesicht schrie: »Ihr könnt mich mal«? Und überhaupt, ich liebte dieses Kleid! Doch dann dachte ich wieder an die finstere Zeit vor ein paar Monaten, an den schweren Herzinfarkt meines Vaters und die bangen Tage im Krankenhaus, als wir nicht gewusst hatten, ob er es schaffen würde. Ich wollte ihm durch meinen Auftritt nun wirklich keinen weiteren Herzinfarkt bescheren.

»Na gut«, lenkte ich schließlich ein. »Dann eben ohne die Accessoires. Aber das Kleid lasse ich an.« Ich drückte Hanna einen Kuss auf die Wange. »Bis heute Abend. Um spätestens zehn hab ich es hinter mir. Lass mich wissen, wo du dann bist.« Ich winkte ihr noch mal zu und ging in mein Zimmer. Vorsichtig öffnete ich die Tür und warf einen Blick auf das Bett. Sam schlief noch; seine Haare waren verwuschelt und er schnarchte leise. Genüsslich betrachtete ich seinen muskulösen, tätowierten Oberkörper. Sam war für mich der Inbegriff von »aufregend«, daran hatte sich nichts geändert, seit wir uns vor vierzehn Monaten kennengelernt hatten. Er war Fotograf, lebte in Berlin und war nur ab und zu beruflich in Hamburg. Meistens rief er mich dann an, wir trafen uns, gingen aus und verbrachten die Nächte zusammen. Wir führten keine Beziehung im eigentlichen Sinne, sondern waren eher Freunde, die gelegentlich miteinander schliefen.

Ich ging zum Bett, setzte mich neben Sam und küsste ihn auf den Mund. Langsam schlug er die Augen auf und blinzelte ein paarmal, als müsste er sich erst in Erinnerung rufen, wo er war. Dann sah er mich an, und ein Lächeln erschien auf seinen Lippen. »Hey, Babe«, sagte er verschlafen.

»Hey. Ich wollte mich nur kurz verabschieden.«

Sam umschlang meine Taille, zog mich zu sich ins Bett und küsste mich ausgiebig. ›Ach, egal, zu spät bin ich eh schon‹, dachte ich und erwiderte seinen Kuss. Eine halbe Stunde später lagen meine Klamotten auf dem Fußboden, meine Frisur war Geschichte und mein Make-up wahrscheinlich nicht mehr existent. »Ich muss jetzt echt los, Sam.«

»Ach, vergiss dieses blöde Frühlingsfest. Eigentlich willst du da doch gar nicht hin.«

»Nein, will ich nicht, aber es geht nun mal nicht anders. Mein Vater bringt mich um, wenn ich da nicht auftauche.« Ich spürte, wie sich alles in mir dagegen sträubte, dieses Bett zu verlassen und mich hinaus in die feindliche Welt zu begeben. »Wieso kommst du nicht mit?«

Sam rückte ein Stückchen von mir ab, als hätte ich urplötzlich eine hochansteckende Krankheit bekommen. »Wie bitte?«

Mit den Fingern versuchte ich, meine Frisur zu ordnen. »Du könntest mir Beistand leisten. Und es wäre doch cool, wenn ich dich allen Leuten als meinen Liebhaber vorstellen könnte.«

Sam starrte mich nur wortlos an.

»Ich meine … das wäre doch witzig.« Als er sich nicht rührte, fügte ich unsicher hinzu: »Oder nicht?«

»Äh …« Einen Moment lang schloss er die Augen. »Du verarschst mich doch.«

Ich zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, dann boxte ich Sam leicht gegen die Schulter. »Ja, klar«, sagte ich lachend. »Reingefallen.«

Er entspannte sich sichtlich. »Wow, du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Ich dachte schon, du wirst zum Klammeräffchen.«

»Pff, Quatsch! Jetzt beruhig dich mal wieder.« Ich stand auf, sammelte meine Klamotten zusammen und ging ins Bad, um mich erneut ausgehtauglich zu machen. Während ich mein Make-up und meine Frisur in Ordnung brachte, ärgerte ich mich über diesen kleinen Moment der Schwäche. Eigentlich wollte ich Sam ja gar nicht dabeihaben. Ich kam sehr gut allein klar, das war schon immer so gewesen. Ich war kein Klammeräffchen, und ich wollte auch nicht, dass sich jemand an mich klammerte. Sam und ich verließen uns hundertprozentig nicht aufeinander. Und genau deswegen funktionierte das mit uns so gut.

Als ich wieder wie eine vorzeigbare Bootsbauertochter aussah, verabschiedete ich mich von Sam. »Sehen wir uns später noch?«

»Wahrscheinlich nicht. Ich fahr nachher zurück nach Berlin.«

»Alles klar. Bis dann«, sagte ich und hielt ihm die Faust hin.

»Wir sehen uns, Babe«, erwiderte er und schlug seine Faust gegen meine.

Ich lief von unserer Wohnung zur S-Bahn-Haltestelle Sternschanze, fuhr zu den Landungsbrücken und quetschte mich dort mit etwa vierhundert Touristen und zweihundert Hamburgern auf die Fähre, um auf die andere Elbseite nach Finkenwerder zu fahren. Fast den gesamten April hatte es durchgeregnet, doch heute, rechtzeitig zum Wochenende, herrschte schönstes Frühlingswetter, und die Leute zog es ins Freie. Während ich den restlichen Weg zu Fuß durchs Hafengelände zurücklegte, spürte ich, wie sich ein ungutes Gefühl in meinem Magen ausbreitete – wie jedes Mal, wenn ich hierherkam. Von weitem sah ich schon das Schild am Eingangstor: Ahrens Werft – Segelboote mit Tradition. Vielleicht sollte ich noch ›Seit mehr als einhundertzwanzig Jahren in Familienbesitz – wir haben zwei Weltkriege und mehrere große Werftenkrisen überlebt!‹ darunterschreiben. Immerhin waren das die Worte, die ich schon mindestens hunderttausendmal von meinem Vater gehört hatte. Hinzufügen könnte ich dann auch noch: ›Jeder Liefertermin wird eingehalten. Dafür stehe ich mit meinem Namen. Und mit drei Herzinfarkten. Ihr Johann Ahrens.‹ Nach seinem ersten Herzinfarkt vor zwölf Jahren hatte mein Vater zwar die Geschäftsführung meiner sieben Jahre älteren Schwester Christine übertragen, doch er hatte es einfach nicht lassen können und weiterhin kräftig im Unternehmen mitgemischt. Die Quittung dafür hatte er in Form von zwei weiteren Herzinfarkten bekommen. Der letzte und schwerste lag erst drei Monate zurück. Danach hatte mein Vater sich offiziell aus dem Unternehmen zurückgezogen. Er lebte jetzt auf Sylt, aber ich wusste von Christine, dass er im Hintergrund immer noch die Fäden zog und mindestens dreimal täglich bei ihr anrief, um zu kontrollieren, was in der Firma vor sich ging.

Unschlüssig stand ich vor dem Eingangstor zur Werft und konnte mich nicht dazu überwinden reinzugehen. Seit einem Jahr war ich nicht mehr hier gewesen. Ich ließ meinen Blick über das Gelände schweifen, um zu überprüfen, ob sich etwas verändert hatte. Zu meiner Rechten lagen die lang gestreckte Produktionshalle, mehrere kleinere Lagerhallen und das Winterlager. Hier schien alles noch so zu sein wie immer. Doch das Bürogebäude zu meiner Linken war renoviert und vergrößert worden. Es verfügte nun über eine repräsentative gläserne Eingangsfront, durch die ich einen geradezu feudalen Empfangsbereich wahrnahm. Hinter mir befand sich der kleine Yachthafen mit den Vorführbooten sowie den Liegeplätzen, die ebenso wie die Wintereinlagerungsplätze vermietet wurden. Mir war klar, dass ich schnellstmöglich meinen Pflichten nachkommen sollte, doch wie immer zog mich die Marina geradezu magisch an. Ich hatte mir fest vorgenommen, dieses Jahr nicht dort hinzugehen, doch wie von selbst bewegten sich meine Füße in Richtung des Hafenbeckens. An vier Stegen dümpelten Segelboote in allen Größen und Ausführungen, von der kleinen Jolle bis zur großen Yacht. Langsam ging ich den vordersten Steg entlang und begutachtete meine alten Bekannten, doch dann blieb ich abrupt stehen. Am hintersten Ende des Stegs lag mein Laser. Seit meinem 17. Lebensjahr machte ich um ihn einen genauso großen Bogen wie um die Werft, und doch hätte ich mein kleines Segelboot unter Tausenden sofort wiedererkannt. Ich wollte schon auf dem Absatz kehrtmachen und weglaufen, doch ohne mir dessen wirklich bewusst zu sein, ging ich weiter, bis ich direkt vor der Jolle stand. »Wer hat dich denn aus dem Lager geholt?«, flüsterte ich. Unwillkürlich tauchten Bilder in meinem Kopf auf, die ich sorgfältig tief in mir vergraben hatte. Wie ich bei Windstärke 7 in den Ausreitgurten hing, während der kalte Wind mich umtoste und meine Arme vor Anstrengung schmerzten. Wie die Segel sich bauschten und ich förmlich über das Wasser flog, durchströmt von diesem unglaublichen Freiheitsgefühl, das das Segeln in mir auslöste.

Es musste mein Vater gewesen sein, der dieses verdammte Boot aus dem Lager geholt hatte, um es mir als Mahnmal für mein gescheitertes Leben zu präsentieren. Und ich war in diese Falle getappt. Jetzt stand ich hier vor meinem Laser herum, und konnte mir seinen stummen Vorwurf anhören: ›Du hast mich im Stich gelassen.‹ Aber wir beide gehörten nicht mehr zusammen. Dieses Kapitel in meinem Leben war vorbei, und ich hatte gute Gründe dafür gehabt, es zu beenden.

Schnell wandte ich mich ab und ging auf den benachbarten Steg, an dem die Vorführboote lagen. Kleine Segelyachten waren die Spezialität der Werft, hauptsächlich Jollenkreuzer und Daysailer. Daher glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen, als ich die luxuriöse Segelyacht erblickte, die nun dick und fett zwischen den Ahrens-Booten im Becken lag. Sie war etwa fünfzehn Meter lang, strahlend weiß und brüllte einem förmlich entgegen: »Mein Eigner ist ein sehr reicher Mann!« Dieses Luxus-Ungetüm konnte unmöglich aus dem Hause Ahrens stammen. Andererseits … das Firmenlogo am Rumpf verriet eindeutig, dass es so war. »Ocean Cruiser 2100«, las ich unter dem Logo. Seit wann hatte die Werft dieses Boot im Programm?

»Ach, sieh mal einer an. Das junge Fräulein Ahrens.«

Ich zuckte zusammen und fuhr herum. Hinter mir stand Daniel Behnecke, der Stiefelknecht meines Vaters. Na super. Der hatte mir gerade noch gefehlt. Eigentlich war er Schiffsbauingenieur und hatte vor fünf Jahren in der Werft als Projektmanager angefangen. Im Laufe der Zeit hatte er sich jedoch hochgeschleimt, sodass er inzwischen zusammen mit Christine für die Geschäftsführung verantwortlich war. Vom ersten Moment an hatten wir uns nicht ausstehen können. Ich wusste noch genau, wie wir uns auf dem 65. Geburtstag meines Vaters begegnet waren: Mein damaliger Freund hatte mir kurz vorher ohne mein Wissen einen Haschkeks untergejubelt, weswegen ich ziemlich zugedröhnt gewesen war. Daniel Behnecke hatte mich auf dem Apfelbaum in unserem Garten entdeckt, auf den ich geklettert war, um von dort aus Helgoland zu suchen (in dem Moment war mir das total plausibel vorgekommen). Leider hatte ich mich beim Runterklettern ziemlich ungeschickt angestellt und war diesem Langweiler direkt vor die Füße gefallen, woraufhin ich einen Lachkrampf bekommen hatte. Seinen geringschätzigen Blick würde ich nie vergessen.

Seit er mitgekriegt hatte, dass Herr von Heesen, ein langjähriger Geschäftspartner meines Vaters, mich als »das junge Fräulein Ahrens« bezeichnete, nannte er mich ebenfalls so. Und ich hasste es.

»Herr Behnecke. Es ist mir wie immer ein Vergnügen. Was ist das denn für ein … äh, Schiff?«, fragte ich und deutete hinter mich. »Ich meine, für wen wurde es gebaut?«

»Für niemanden.« Er ging an mir vorbei und überprüfte, ob die Tür zum Innenbereich des Ocean Cruisers geschlossen war. Dachte er etwa, ich wäre dort eingebrochen? »Es ist ein Vorführmodell. Das neueste Projekt der Ahrens-Werft.«

Für einen Augenblick blieb mir die Sprache weg. »Ist mein Vater auf seine alten Tage größenwahnsinnig geworden?«

Daniel Behnecke zuckte mit den Schultern. »Man muss sich weiterentwickeln. Das nennt man unternehmerische Vision.«

Ich schnaubte. »Ja. Oder unternehmerischen Selbstmord.«

»Selbstmord wäre es, keine Visionen zu haben. Wenn ich Sie wäre, würde ich übrigens allmählich mal reingehen. Ihr Vater ist schon kurz vorm Explodieren, weil Sie zu spät sind.«

Oh, wie ich diesen Spießer hasste! »Vielen Dank, dass Sie mich darauf hingewiesen haben, sonst hätte ich noch stundenlang mit Ihnen geplaudert. Wissen Sie was? Ich sage es meinem Vater, dann kriegen Sie bestimmt ein Leckerli.« Damit drehte ich mich um und marschierte in Richtung Werftgelände.

Die Feier fand wie jedes Jahr auf dem Hof hinter der Produktionshalle statt, denn von dort hatte man den besten Blick auf die Elbe. Auf der Suche nach meinem Vater oder Christine ging ich langsam durch die Menge. Die Leute lachten, tanzten oder bedienten sich am Büfett. Vor der Elbe war eine Bühne aufgebaut, auf der ein DJ gerade La Paloma in der Version von Achim Reichel aufgelegt hatte. Es gab einen Bierpavillon, doch zusätzlich flitzten ein paar Kellner übers Gelände, die Tabletts voll beladen mit Wein und Prosecco trugen.

»Marie! Hey, Mariiieee!«

Ein kleiner, dünner dunkelhaariger Junge kam auf mich zugerannt. Max, mein siebenjähriger Neffe. Seine Haare sahen aus, als hätte er in eine Steckdose gefasst, seine Nase war von Sommersprossen übersät, und er strahlte über das ganze Gesicht. Ihm dicht auf den Fersen war seine zwei Jahre ältere Schwester Antonia, von allen nur Toni genannt. Toni war ebenso dunkelhaarig und sommersprossig, aber nicht ganz so dünn. Max breitete die Arme aus, und ich hob ihn hoch. »Hey, wie viel wiegst du? Ein Sack Zement ist ja nichts gegen dich«, zog ich ihn auf. Toni hatte es nicht so mit Umarmungen, aber auch sie strahlte freudig, als ich Max wieder abgesetzt hatte und ihr über die aufwendige Flechtfrisur strich. »Schick siehst du aus.«

Sie fuhr sich mit der Hand übers Haar. »Ja, oder? Hat Mama gemacht. Opa ist voll sauer auf dich, weil du so spät bist.«

»Dann zeigt mir mal besser, wo er ist.«

Auf dem Weg dorthin sah ich ein paar entfernt bekannte Gesichter, Werftmitarbeiter, Stammkunden und Händler, die mir zunickten und mich neugierig anglotzten. Augenblicklich dachte ich daran, wie ich im letzten Jahr zusammen mit Florian Fechtner erst Unmengen Prosecco in mich reingeschüttet und anschließend mit ihm rumgeknutscht hatte. Aber, mein Gott, so schlimm war dieser Vorfall nun auch wieder nicht gewesen. Jedenfalls kein Grund dafür, mich blöd anzugaffen. Ich zog die Schultern zurück, hob das Kinn und setzte ein freundliches Lächeln auf, während ich mit Toni und Max durch die Menge schritt.

»Guck mal, da ist Opa!«, rief Max, und an einem Stehtisch in der Nähe des Büfetts entdeckte ich meinen Vater.

Seit unserer letzten Begegnung war er noch dünner geworden, sein Gesicht war verhärmt und grau, und er wirkte nicht wesentlich fitter als nach seinem Herzinfarkt vor drei Monaten. Trotzdem strahlte er noch immer Härte und Unnachgiebigkeit aus.

»Hallo, Papa«, sagte ich, als ich bei ihm angekommen war.

Er kniff die Augen zusammen und fixierte mich mit seinem stählernen Blick. Seine Hand klammerte sich so fest um sein Wasserglas, dass die Knöchel weiß hervortraten.

»Gut siehst du aus. Sylt scheint dir zu bekommen«, log ich und umarmte ihn, wobei ich darauf achtete, ihm nicht allzu nah zu kommen.

Er blieb stocksteif stehen. »Was ist das denn schon wieder für ein Aufzug?«, stieß er statt einer Begrüßung hervor und deutete mit seiner freien Hand auf mein Kleid.

Toni und Max, die wahrscheinlich dicke Luft witterten, suchten schnell das Weite.

Ich sah an mir herunter. »Das ist ein Designer-Kleid.«

»Und für mehr Stoff war kein Geld da, oder was?«

»Doch, aber da Frauen bereits seit den Sechzigerjahren Bein zeigen dürfen, finde ich das eigentlich ganz okay so.«

Unwillig schüttelte er den Kopf. »Was fällt dir eigentlich ein, so spät zu kommen? Kannst du nicht wenigstens einmal im Jahr pünktlich sein?«

»Es tut mir leid. Mir ist etwas dazwischengekommen.«

»Ach ja?«, schnappte mein Vater höhnisch. »Was denn? Eine Party? Oder etwa dein wichtiger Job im Kassenhäuschen des Spaßbads?«

Ich atmete tief durch. »Nein, das mache ich schon seit über einem Jahr nicht mehr.«

»Na, dann eben der Eiswagen im Tierpark Hagenbeck.«

»Da habe ich vor vier Wochen gekündigt. War mir zu kalt.«

»Ach. Und was machst du jetzt?«

»Ich arbeite in einem Café«, erklärte ich und konnte es mir nicht verkneifen, hinzuzufügen: »Das ist cool, da kann ich so viel Kaffee trinken, wie ich will, und ab und zu fällt sogar ein Muffin für mich ab.«

Mein Vater lachte bitter auf. »Es ist eine Schande, was du aus deinem Leben machst. Ich kann nicht begreifen, wieso du …«

»Ich bin glücklich, Papa! Ich bin glücklich mit dem, was ich bin und was ich tue. Finde dich endlich damit ab und krieg dich wieder ein.«

Wir sahen uns ein paar Sekunden lang stumm in die Augen. Schließlich fuhr er sich mit der Hand über sein kurz geschorenes graues Haar. »Tut mir leid, ich … Du hast die Präsentation des Ocean Cruisers verpasst. Ich wollte, dass du dabei bist, das war mir sehr wichtig.«

Sehnsüchtig blickte ich mich nach einem der Kellner mit den Prosecco-Tabletts um, doch es war weit und breit keiner zu sehen. »Tja, ich habe sogar verpasst, dass dieses Boot überhaupt in Planung war, geschweige denn, dass es gebaut wurde. Warum hat mir niemand davon erzählt?«

»Warum hätten wir es dir erzählen sollen? Es hätte dich doch sowieso nicht interessiert.«

Es gab keinen Menschen auf der Welt, der so zielsicher meine verletzlichsten Punkte fand wie mein Vater. Ich trat einen Schritt zurück und umfasste den Griff meiner Handtasche etwas fester. »Da hast du recht. Es hätte mich sowieso nicht interessiert. Die Präsentation des Boots allerdings auch nicht. Na gut, ich geh mal Christine suchen. Nettes Fest. Mutig, es draußen stattfinden zu lassen, aber das Wetter hätte es wahrscheinlich sowieso nicht gewagt, schlecht zu werden, was?« Mit der Hand deutete ich unbestimmt um mich, und kurz bevor ich mich umdrehte, entdeckte ich für den Bruchteil einer Sekunde einen Ausdruck von Traurigkeit in seinen Augen. Doch im nächsten Moment wirkte er wieder so streng und unnahbar wie zuvor, und als ich mich auf die Suche nach meiner Schwester machte, glaubte ich schon, mir das Ganze nur eingebildet zu haben.

Zu meiner großen Erleichterung entdeckte ich endlich einen Kellner mit gut gefülltem Prosecco-Tablett. Ich nahm mir ein Glas, trank es mit einem Schluck aus und griff gleich nach einem neuen. »So, das war’s fürs Erste. Aber jedes Mal, wenn Sie mich heute sehen, kommen Sie bitte bei mir vorbei. Okay?« Ich lächelte dem jungen Mann freundlich zu und schlenderte mit dem Prosecco-Glas in der Hand über das Gelände. Als ich Christine endlich am Bierpavillon entdeckte, schlich ich mich an sie heran, um ihr überfallartig meinen Arm um die Schulter zu legen. »Hab ich dich erwischt!«

Sie zuckte heftig zusammen und drehte sich zu mir um, doch als sie sah, wen sie vor sich hatte, erschien ein Grinsen auf ihrem Gesicht. »Meine Güte, Marie. Erschreck mich doch nicht so.« Christine hatte die dunklen Haare und blauen Augen meiner Mutter geerbt. Ich konnte mich zwar kaum an sie erinnern, da sie kurz nach meinem sechsten Geburtstag an einem Hirnschlag gestorben war, aber Fotos zufolge sahen die beiden sich sehr ähnlich. Heute hatte Christine allerdings dunkle Schatten unter den Augen, und sie wirkte ziemlich fertig. »Was ist los mit dir? Hast du nicht gut geschlafen?«

Christine schwieg eine Weile und starrte so angestrengt in ihr Glas, als würde sie den Inhalt mittels bloßer Gedankenkraft in den Mund befördern wollen. Schließlich blickte sie wieder auf, und in ihren Augen lag ein ernster Ausdruck. »Es ist alles ein bisschen viel im Moment.« Sie machte eine kleine Pause, dann fragte sie: »Kann ich mal mit dir reden? Ich meine, ganz in Ruhe. Nicht hier.«

Automatisch machte sich Sorge in mir breit. »Ja, natürlich. Jederzeit.«

»Morgen Abend?«

»Klar. Ich hab einen Termin für eine Thai-Massage, weil ich einen Gutschein einlösen muss, den ich von Hanna bekommen habe. Wie wäre es, wenn ich dich auch anmelde? Ein bisschen Entspannung und Wellness würden dir bestimmt guttun. Und hinterher hauen wir uns den Bauch voll mit leckerem thailändischen Essen.«

»Gute Idee, das machen wir. Schicker Fummel übrigens«, sagte sie anerkennend und deutete auf mein Kleid.

Geschmeichelt strich ich mir über den Rock. »Das ist von Hanna. Papa fand es allerdings nicht standesgemäß.«

Sie winkte ab. »Ach, mach dir nichts draus, er wird sich niemals dran gewöhnen, dass du keine wadenlangen Faltenröcke und Rüschenblusen trägst.«

Ich lachte laut. »Du doch auch nicht.«

»Nein, aber ich bin ja auch die Ältere. Du kannst es dir auf jeden Fall erlauben, bei deinen Beinen, also hör nicht auf Papa. Allerdings solltest du in dem Kleid lieber nicht Florian Fechtner unter die Augen kommen. Sonst wird er wieder schwach.«

Mir blieb beinahe das Herz stehen, und ich sah mich hektisch um. »Was, der ist hier?«

»Ja, sowohl er als auch sein Vater. Geh ihnen besser aus dem Weg, Marie«, sagte sie mahnend. »Nicht dass es wieder zu peinlichen Zwischenfällen kommt. So, ich misch mich wieder unter die Leute. Sag mal, hast du eine Ahnung, wo Toni und Max sind?«

»Nein, ich hab sie zuletzt bei Papa gesehen.«

»Dann mach ich mich mal lieber auf die Suche«, sagte Christine und ließ ihren Blick unruhig über die Menge schweifen. »Wer weiß, wo die sich wieder rumtreiben.«

»Ich helfe dir. Guck du draußen, ich schau in der Halle nach.« Ohne Umschweife machte ich mich auf den Weg dorthin, wobei ich von Weitem Herrn Fechtner mitsamt Florian entdeckte. Hastig senkte ich den Kopf und ging weiter. Hoffentlich hatten sie mich nicht gesehen.

Die Tür der Produktionshalle war nicht abgeschlossen und das Licht brannte. Ich konnte mich kaum noch daran erinnern, wann ich das letzte Mal hier drin gewesen war, doch sofort kam mir alles vertraut vor. Ich nahm den Geruch von Leim und Holz wahr und sah die Maschinen, Werktische und die Yachten vor mir, die sich im Bau oder in Reparatur befanden.

»Toni? Max?« Ich durchsuchte die ganze Halle, schaute hinter den Maschinen nach und unter den Werkbänken, konnte die beiden aber nirgends entdecken. Gerade wollte ich an Bord eines halbfertigen Daysailers klettern, als ich eine tiefe Stimme hinter mir hörte.

»Hallo, Marie.«

Ich drehte mich um und vor mir stand niemand anderer als Florian Fechtner, die Hände in den Taschen seiner Chinos vergraben.

»Florian. Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt.«

»Tut mir leid.« Er strich sich über die zurückgegelten blonden Haare. »Ich hab dich vorhin gesehen. Bist du vor mir weggelaufen?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Ich muss unbedingt mit dir sprechen.« Florian kam zwei Schritte auf mich zu und stand nun unmittelbar vor mir. »Das mit uns letztes Jahr … das war schon heftig, oder?«

Diese zehnminütige Knutscherei??? Florian Fechtner hatte offenbar noch nicht viel erlebt in seinen achtzehn – nein, Moment – in seinen neunzehn Lebensjahren. »Ja, das … war schon ziemlich heftig.«

»Hast du manchmal auch an mich gedacht?«

»Also, ehrlich gesagt …«

»Du bist bestimmt verletzt, weil ich mich nie bei dir gemeldet habe, aber glaub mir, erst als ich dich vorhin wiedergesehen habe, ist mir schlagartig klar geworden, was ich für dich empfinde.«

»Ja, und was soll das bitte sein?«

Er griff nach meinen Händen. »Ich hab mich total in dich verknallt«, brach es aus ihm hervor. Seine Handflächen fühlten sich feucht an, auf den Wangen zeigte sich eine flammende Röte, und sein Blick war geradezu glühend. Sein Atem roch nach Alkohol und allmählich dämmerte mir, dass dieser glühende Blick wohl hauptsächlich daher kam, dass er heute ein paar Schnäpse zu viel gekippt hatte. Ich war schon kurz davor, in Gelächter auszubrechen, aber das wäre mir dann doch gemein vorgekommen. »Hör mal, wir wissen doch beide, dass das mit uns nichts werden kann. Wir sind, äh … nicht füreinander bestimmt. Ich bin ein ganzes Stück älter als du und …«

»Das ist mir egal!«, rief er hitzig. »Und wenn du fünfzig wärst, es interessiert mich nicht, was die Leute reden!«

Das musste ich ihm zugutehalten. Mich interessierte das im Regelfall auch nicht. »Aber das ist doch nicht das Einzige, was zwischen uns steht. Unsere Familien … verstehst du, das mit uns darf einfach nicht sein!«, rief ich dramatisch und verfiel wie von selbst in den Jargon der Barbara-Cartland-Kitschromane, die ich als Teenie in einer alten Kiste meiner Mutter gefunden und förmlich verschlungen hatte.

»Aber warum denn nicht?«

»Du kommst aus einer schwerreichen Familie, während wir nur einfache Bootsbauer sind. Eines Tages wirst du eine Frau finden, die besser geeignet ist. Eine, die aus gutem Hause stammt.« Allmählich machte mir diese Inszenierung richtig Spaß, und ich steigerte mich so sehr in meine Rolle hinein, dass mir Tränen in die Augen stiegen.

»Aber du stammst doch auch aus gutem Hause«, sagte Florian verdutzt. »Deine Familie besitzt immerhin eine Werft.«

Meine Güte, der machte es einem echt nicht leicht. »Ja, aber nur eine kleine. Und ich, Florian, bin wirklich keine gute Partie. Christine erbt alles.« Traurig sah ich zu Boden. »Ich bekomme keinen Pfifferling.«

Er zog ein ziemlich langes Gesicht und sagte: »Ach so.«

Entweder war er nicht besonders helle oder zu betrunken, um zu merken, dass ich ihm den Inhalt einer brasilianischen Telenovela erzählte.

»Klag doch dagegen«, schlug er ganz pragmatisch vor.

»Nein!«, rief ich und griff mir ans Herz. »Mein Vater ist ein kranker Mann, das würde ihn umbringen! Glaub mir, Florian, es ist besser, wenn du mich vergisst.«

»Hm.« Florian stierte eine Weile auf seine Schuhspitzen. »Okay, wahrscheinlich hast du recht«, sagte er schließlich. »Aber ich würde dich wahnsinnig gern ein letztes Mal küssen. Darf ich?«

»Also, eigentlich …« Ich sollte Nein sagen. Ich wusste, dass ich Nein sagen sollte. Nein war die einzig richtige Antwort. »Ach, was soll’s. Warum nicht?«

Ungestüm riss er mich an sich und presste seine Lippen auf meine. Er war kein besonders guter Küsser, aber das störte die arme Bootsbauertochter nicht, die sich nun für alle Zeiten von ihrem Geliebten verabschieden musste. Und überhaupt – ich küsste nun mal gern.

»Das glaub ich jetzt nicht«, hörte ich jemanden hinter uns sagen, woraufhin Florian mich eilig von sich stieß. Über seine Schulter hinweg entdeckte ich ausgerechnet Daniel Behnecke, der uns fassungslos ansah. »Nach allem, was im letzten Jahr passiert ist? Das ist nicht euer Ernst.«

Florian lief hochrot an und verließ ohne ein weiteres Wort die Halle.

»Adieu, Florian.« In gespielter Verzweiflung sah ich ihm nach.

Daniel Behnecke schüttelte den Kopf. »Machen Sie eigentlich jeden Fehler zweimal?«

»Mindestens«, sagte ich und gab mich möglichst ungerührt, obwohl seine herablassende Art mich extrem nervte.

»Warum wundert mich das nicht? Was hatten Sie überhaupt hier in der Halle zu suchen?«

»Meine Nichte und meinen Neffen. Sie waren verschwunden, und ich dachte, vielleicht stecken sie hier. So, und jetzt entschuldigen Sie mich, ich möchte unbedingt meinen Pflichten nachkommen.« Damit drehte ich mich um und ging Richtung Ausgang. Nach wenigen Schritten hatte Daniel Behnecke mich eingeholt. »Was Sie nicht sagen. Es wäre allerdings das erste Mal in Ihrem Leben, dass Sie irgendwelchen Pflichten nachkommen möchten.«

Ich hatte nicht übel Lust, ihn anzurempeln und zum Sturz zu bringen, doch stattdessen ging ich gemäßigten Schrittes weiter. »Finden Sie nicht, dass Sie zur Tochter Ihres Chefs ein bisschen netter sein sollten? Ich bin eine Ahrens, haben Sie bei denen normalerweise nicht das Bedürfnis, sich einzuschleimen?«

»Doch, natürlich, ich mache den ganzen Tag nichts anderes. Und ich gebe mir wirklich wahnsinnig große Mühe, nett zu Ihnen zu sein, allerdings fällt mir das ziemlich schwer. Ich kann nämlich mit dreißigjährigen Frauen, die sich benehmen wie Teenager, nicht besonders viel anfangen.« Damit öffnete er die Tür, hielt sie mir übertrieben galant auf und machte mir ein Zeichen, dass ich rausgehen sollte. »Schönen Abend noch und bis nächstes Jahr.«

Für einen Moment war ich sprachlos, dann sagte ich: »Wow. Sie sind heute richtig in Fahrt, was? Ich bin übrigens noch nicht dreißig. Was für ein Glück, sonst hätten Ihre Worte mich zutiefst getroffen. Beschissenen Abend noch und bis hoffentlich niemals.« Wir tauschten einen letzten Blick voll gegenseitiger Ablehnung, dann rauschte ich an ihm vorbei. Wutschnaubend ging ich zum Pavillon, um mir ein großes Bier zu besorgen, und traf dort auf Christine, Max und Toni. »Hey, ihr Rotzlöffel«, sagte ich zu den Kindern, die gerade ihre wahrscheinlich zwölfte Cola inhalierten. »Wo wart ihr denn vorhin?«

»Wir haben mit den anderen Kindern hinter der Bühne Verstecken gespielt«, erklärte Max.

»Wo warst du überhaupt, Marie?«, wollte Christine wissen.

Ich nahm einen großen Schluck Bier. »Na, ich hab doch in der Halle nach den beiden gesucht.«

»Da musst du aber sehr gründlich gesucht haben. Und es war nicht zufällig die Produktionshalle, in der auch Florian Fechtner verschwunden ist?«

»Doch, er hat mir beim Suchen geholfen«, sagte ich und wich ihrem Blick aus.

»Hey, guck mal, da ist Daniel!«, rief Toni und stieß ihren Bruder so aufgeregt in die Seite, dass seine Cola überschwappte. »Los, komm, wir fragen ihn, ob er uns noch mal das neue Boot zeigt.«

Christine seufzte. »Lasst doch den armen Mann in Ruhe.« Aber noch während sie es aussprach, waren die Kinder schon davongestürmt.

»Der arme Mann geht mir heute extrem auf die Nerven«, motzte ich. »Ich verstehe nicht, was alle so toll an dem finden.«

»Und ich hab noch nie verstanden, was ihr beide für ein Problem miteinander habt«, meinte Christine. »Er hat einfach einen miesen Tag. Seine Freundin hat ihn vor einer Weile verlassen, und heute hat sie ihre Sachen aus der Wohnung geholt.«

Beinahe hätte ich mich an meinem Bier verschluckt. »Was?! Aber die waren doch immer so megasuperhappy miteinander, dass einem kotzübel davon geworden ist.« Mit heller Stimme flötete ich: »Ich liebe dich, Schatz.« Und dann mit tiefer Stimme: »Aber ich liebe dich mehr. – Nein, ich liebe dich mehr. – Nein, ich lie …«

»Hör auf«, unterbrach Christine mich lachend. »So waren sie gar nicht.«

»Na ja. Jedenfalls ist es nicht meine Schuld, dass seine Freundin ihn verlassen hat.«

»Wie gesagt, ich habe keine Ahnung, wieso ihr beide immer wieder aneinandergeratet. Ist doch auch egal, wahrscheinlich seht ihr euch sowieso erst nächstes Jahr wieder. Und was war nun mit Florian Fechtner in der Produktionshalle?«

Ich räusperte mich. »Er hat mir seine Liebe gestanden.«

Christine riss die Augen auf. »Ernsthaft? Das glaub ich nicht!«

»Oh doch. Ich vermute allerdings, dass etwa zwanzig Schnäpse seine Gefühle stark befeuert haben. Jedenfalls habe ich ihn filmreif zurückgewiesen. Wusstest du eigentlich, dass ich total gut schauspielern kann?«

»Du?«, kicherte Christine. »Ich weiß nicht so recht. Deine Maria damals im Krippenspiel gehörte mit zum Schlechtesten, was ich je in meinem Leben ertragen musste.«

»Also, ich fand mich super.«

»Und wie hat er auf deine oscarreife Zurückweisung reagiert?«

Um die Dramatik zu steigern, nahm ich in aller Ruhe noch einen Schluck Bier und zündete mir eine Zigarette an. »Er wollte einen Abschiedskuss.«

»Aber du hast doch nicht etwa …?«

Ich zuckte nur mit den Schultern.

»Hast du doch!«, rief Christine und fing an zu gackern. »Das ist ja wohl nicht zu fassen.« Sie schlang die Arme um mich und drückte mich fest an sich. »Ach Mariechen, du verrücktes Huhn. Es tut so gut, dich zu sehen.«

Völlig überrumpelt erwiderte ich ihre Umarmung. Normalerweise neigte sie nicht zu solchen spontanen Gefühlsbezeugungen, und schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Das lag bei uns in der Familie. Wir redeten nicht über unsere Gefühle, solange wir es irgendwie vermeiden konnten, und wir zeigten sie im Regelfall auch nicht. Bei meinem Vater war ich mir sogar manchmal nicht sicher, ob er überhaupt Gefühle hatte. Wahrscheinlich hatte er sie nach dem Tod meiner Mutter einfach abgestellt. »Es tut auch gut, dich zu sehen, Christine. Und bis zum nächsten Mal lassen wir nicht wieder sechs Wochen vergehen, okay?«

Sie löste sich von mir und sah mich mit erhobenen Augenbrauen an. »Wir sind morgen Abend verabredet, schon vergessen?«

»Ähm … Nein, ich wollte es nur noch mal gesagt haben.«

»Mhm, klar. Okay, ich muss mal wieder.« Sie streckte den Rücken durch und hob das Kinn. »Bis später.«

Den Rest des Abends kam ich tatsächlich meinen Pflichten nach. Ich hielt Smalltalk, tanzte mit den Geschäftspartnern meines Vaters, trank hier einen Prosecco, da einen Schnaps und versprühte meinen Charme so gut ich konnte. Später gesellte ich mich zu meinem Vater, der sich inzwischen wieder beruhigt hatte und einigermaßen umgänglich geworden war. Florian Fechtner lief mir zum Glück nicht mehr über den Weg, und Daniel Behnecke schien mich ebenso eifrig zu meiden wie ich ihn, sodass das Fest doch noch ganz nett wurde.

Gegen zehn Uhr verabschiedete sich Christine, da sie die Kinder dringend ins Bett bringen musste, und das nutzte ich als mein Stichwort, um auch verschwinden zu können.

»Tschüs, Papa«, sagte ich, legte meinen Arm um seine Schulter und drückte ihn kurz an mich. »Mach’s gut. Pass auf dich auf, ja?«

»Jaja. Bis zum nächsten Mal. Also wahrscheinlich bis Weihnachten«, sagte er und erwiderte die Umarmung. »Da bist du dann aber pünktlich.«

Auf der Fähre Richtung Landungsbrücken stellte ich mich an die Reling, ließ mir den Wind um die Nase wehen und genoss den Blick auf die Lichter des Hafens. Je näher die Stadt auf mich zukam und je weiter ich mich von der Werft entfernte, desto leichter wurde mir ums Herz.

Ich traf Hanna im Saal II, unserer Stammkneipe im Schanzenviertel, die fast schon so etwas wie unser Wohnzimmer war. Sie saß mit Hector und Ebru, zwei unserer engsten Freunde, an einem Tisch im hinteren Bereich und schlürfte Gin Tonic.

»Marie, mein Sonnenschein!«, rief Hector, als er mich erblickte. Er sprang von seinem Stuhl auf und hauchte Küsschen in die Luft neben meinen Wangen. Hector war einen Kopf kleiner als ich, hatte tiefschwarzes Haar und die schönsten braunen Augen, die ich je in meinem Leben gesehen hatte. Er arbeitete zusammen mit Hanna als Designer für dasselbe Label und behauptete, gebürtiger Spanier zu sein. Allerdings hatte Hanna mal bei ihm zu Hause auf der Kommode seinen Pass liegen sehen, demzufolge er in Wahrheit Albaner war und auch nicht Hector hieß, sondern Besim. Kurzum, Hector war eine ziemliche Mogelpackung, aber ich mochte ihn sehr. Wenn einem der Sinn nach Tanzen, einem Bier, einer Party oder allem zusammen stand, konnte man ihn zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen, er war immer mit an Bord.

Als Nächstes begrüßte mich Ebru, die Model war. Obwohl sie mit ihrer Größe und Schönheit auf die meisten Menschen ziemlich einschüchternd wirkte, hatte ich sie von Anfang an gemocht. Im Gegensatz zum überemotionalen Hector war sie eher von schroffer Natur. »Na, hast du es hinter dir?«, fragte sie und drückte mir einen Gin Tonic in die Hand.

»War es sehr schlimm?«, wollte Hanna wissen und sah mich aus ihren großen grünen Augen mitleidig an.

»Hätte schlimmer sein können.« Ich setzte mich neben sie und nahm einen Schluck Gin Tonic. Dann klaute ich mir eine Zigarette von Hanna und steckte sie mir an.

»Und dein Eklat vom letzten Jahr?«, fragte Hector und hing geradezu an meinen Lippen. »Dieser junge Mann, den du verführt hast? War er da?«

»Ich habe ihn nicht verführt, und er war da, ja. Und auch dieses Jahr habe ich ihn nicht verführt, wir haben nur einmal kurz geknutscht.«

Ebru lachte und hielt mir ihre Faust hin, damit ich mit meiner dagegenschlagen konnte.

Hanna schürzte missbilligend die Lippen. »Wieso knutschst du denn schon wieder mit dem rum? Dein Vater war doch letztes Jahr schon total sauer deswegen.«

Ich hob die Schultern. »Keine Ahnung, hat sich halt so ergeben. War ja auch nicht lange, wir sind erwischt worden.« Mir fielen Daniel Behneckes kalter Blick und die unmöglichen Dinge wieder ein, die er zu mir gesagt hatte.

Hector hob theatralisch die Hände. »Ach, du liebe Güte! Herrlich, Marie, mit dir ist es spannender als im Kino!«

Ich nahm einen Zug von meiner Zigarette und stieß den Rauch in die ohnehin schon stickige Kneipenluft. »Findet ihr eigentlich, dass ich mich wie ein Teenager benehme?«

Hector beugte sich vor und legte mir eine Hand auf den Arm. »So ein Unsinn, du benimmst dich überhaupt nicht wie ein Teenager. Du bist doch nicht unreif. Nein, du bist herrlich frei und fröhlich, und du hast einen Sinn für das Wesentliche: joie de vivre.«

»Was?«, fragte ich irritiert.

»Na Lebensfreude, du dummes Ding«, sagte er gütig lächelnd.

»Wie kommst du überhaupt auf den Gedanken, Marie?«, fragte Hanna.

Energisch drückte ich meine Zigarette im Aschenbecher aus. »Ach, keine Ahnung. Wahrscheinlich war das heute alles ein bisschen viel.«

Hector ging an den Tresen, um kurz darauf mit vier Tequila zu uns zurückzukehren. »Lasst uns die Gläser heben. Und danach gehen wir tanzen. Joie de vivre!«

»Joie de vivre«, wiederholten Ebru, Hanna und ich. Dann stießen wir an und kippten den Tequila runter. Und ich wusste, dass es nicht der letzte in dieser Nacht bleiben würde.

Es ist erst gut, wenn es vorbei ist

Den Sonntag verbrachte ich mit Hanna in ihrem Bett, wo wir Sex and the City auf DVD schauten und Chips futterten. Nachdem wir noch bis sieben Uhr morgens durch die Clubs gezogen waren, war heute Katerpflege angesagt.

»Was war gestern eigentlich mit Sam los?«, fragte Hanna mich unvermittelt, als Mr Big Carrie mitteilte, dass er sich nach Paris verziehen würde. »Er hat richtig verstört gewirkt und behauptet, du hättest auf einmal angefangen zu klammern.«

Ich verdrehte die Augen. »Ach, der soll sich bloß nichts einbilden. Ich habe ihn nur gefragt, ob er mitkommt aufs Frühlingsfest. Aber zwei Sekunden später wurde mir schon klar, dass ich das auch sehr gut allein hinkriege. Wie alles andere.«

Hanna sah nachdenklich auf die verzweifelte Carrie. »Fändest du es nicht schön, jemanden zu haben, der für dich da ist?«

»Und der dann irgendwann nach Paris abhaut? Nein danke.«

»Aber so muss es doch nicht sein. Es kann auch gut gehen.«

»Klar«, sagte ich abfällig und stopfte mir eine Hand voll Chips in den Mund. »Bis jetzt ist es bei dir ja immer gut gegangen.«

»Du bist fies.« Hanna riss mir die Tüte aus der Hand, um sich ihrerseits daraus zu bedienen. Ich drehte den Kopf zur Seite und sah Hanna prüfend an. Obwohl sie sich bemühte, einen gleichgültigen Gesichtsausdruck aufzusetzen, verrieten ihre Augen, dass ich sie verletzt hatte.

»Hey, tut mir leid. Das war blöd«, sagte ich und deutete auf Carrie und Mr Big. »Aber guck dir die beiden an. Sind die etwa glücklich? Willst du so was?«

»Nein«, seufzte sie.

»Siehst du. Ich auch nicht.«

Wir kuschelten uns enger aneinander und inhalierten eine Folge nach der anderen. »Sag mal, wollen wir was zu essen bestellen?«, fragte ich irgendwann, als mein Magen knurrte.

»Klar. Thailändisch?«

Thailändisch … da war doch irgendwas … »Ach du Schande!« Ich sprang aus dem Bett und rief: »Wie spät ist es? Wie spät ist es?!«

»Viertel vor sieben«, sagte Hanna verwundert. »Wieso?«

»Um sieben muss ich doch bei der Thai-Massage sein! Ich hab mich mit Christine verabredet. Ach verdammt, ich hätte für sie auch einen Termin machen sollen.« Ohne ein weiteres Wort rannte ich ins Badezimmer, duschte im Rekordtempo, zog mich an und suchte verzweifelt nach meiner Handtasche. Letzten Endes fand ich sie auf dem Hängeschrank in der Küche und konnte mir keinen Reim darauf machen, warum um alles in der Welt ich sie heute Morgen dorthin verfrachtet hatte. Ich rief Hanna ein schnelles »Tschüs« zu und hastete durch die Straßen des Schanzenviertels zum Siam Orchid Massage Center, das zum Glück nur zehn Minuten von unserer Wohnung entfernt lag.

Christine stand bereits draußen und sah strafend auf ihre Uhr. »Du bist mal wieder zu spät.«

»Aber nur ’ne Viertelstunde«, hechelte ich. »Das zählt doch fast gar nicht. Akademisches Viertel und so.«

»Akademisches Viertel, alles klar. Hast du mir einen Termin gemacht?«

»Jaja, hab ich. Also, genauer gesagt, ich hatte es wirklich vor.«

»Aber du hast es vergessen«, stellte Christine fest und klang dabei so nüchtern, als hätte sie mit nichts anderem gerechnet.

»Ja, okay, hab ich. Aber das ist bestimmt kein Problem, ich bin mir sicher, dass man da auch einfach so vorbeigehen kann. Und wenn alle Stricke reißen, kriegst du meinen Termin.«

»Das will ich doch auch wohl hoffen! Ich hab mir eine verdammte Massage so was von verdient, das kannst du dir gar nicht vorstellen.«

Huch, normalerweise fluchte Christine nie. Im Gegensatz zu mir sagte und tat sie immer das Richtige. Heute trug sie kein Make-up, und es war deutlich, wie übernächtigt und fertig sie war. Sie hatte ein bisschen Wellness offensichtlich wirklich nötig.

»Marie, hör auf, mich anzustarren und lass uns endlich reingehen.«

Wir wurden von gedämpftem Licht und leiser asiatischer Meditationsmusik empfangen. Es duftete nach exotischen Ölen, und augenblicklich stellte sich relaxte Stimmung bei mir ein. Ich trat an den Tresen, wo mich eine wunderhübsche, zierliche Thailänderin anstrahlte. »Sawadee kaaa«, sagte sie langgezogen und verbeugte sich mit aneinandergelegten Händen. »Ich bin Mae.«

Christine und ich imitierten die Bewegung. »Hallo. Mein Name ist Marie Ahrens, ich habe jetzt einen Termin. Eigentlich hätte er schon vor zwanzig Minuten angefangen, ich hoffe, das ist kein Problem?«

Mae lächelte gütig. »Nein, nein, kein Problem.« Nun wandte sie sich an Christine. »Termin? Sie haben auch?«

»Nein, ich wollte eigentlich einen Termin für sie abmachen, aber leider ist mir etwas Dringendes dazwischengekommen«, erklärte ich schnell und ignorierte Christines Schnauben. »Haben Sie noch was frei?«

»Jaja«, sagte die bezaubernde Mae. »Kein Problem. Kommen Sie.«

Als sie hinter dem Tresen hervorkam, erkannte ich, dass sie einen langen Rock und eine Wickelbluse aus wunderschönen bunten Stoffen trug. Sie ging uns voraus in einen Raum, der einladend und exotisch wirkte und meine Wohlfühlstimmung noch verstärkte. Die Wände waren mit Bambusmatten verkleidet, und außer zwei dünnen Matratzen auf dem Boden enthielt er keine Möbel. »Kommen Sie«, wiederholte Mae und deutete auf zwei Umkleidekabinen. »Darin ausziehen, bis auf Slip, Kleidung an, rauskommen.«

Christine und ich tauschten einen Blick.

»Welche Kleidung an?«, fragte Christine verwirrt.

»Kleidung«, wiederholte Mae und deutete erneut auf die Umkleidekabine. »Ausziehen, Kleidung an, rauskommen, kein Problem.«

»Das klärt sich bestimmt von selbst«, raunte ich und ging in die Umkleidekabine. Und tatsächlich lagen dort eine weite Hose und eine Art OP-Shirt aus weichem Stoff.

Als ich aus der Kabine trat, hatte sich ein weiteres zartes Persönchen zu Mae und Christine gesellt, die inzwischen ebenfalls die Kleidung gewechselt hatte.

»Das ist Tida«, sagte Mae und zeigte auf ihre Kollegin. Wir lächelten uns alle vier an und verbeugten uns, dann deutete Tida auf die beiden Matratzen. »Hinlegen.«

»Auf den Rücken oder auf den Bauch?«, fragte Christine, die wie üblich alles richtig machen wollte.

»Hinlegen«, wiederholte Tida. »Da, hinlegen.«

Artig trotteten wir zu den Matratzen, und mir fiel auf, dass der Befehlston von Tida und Mae im krassen Gegensatz zu ihrem zarten Wesen und ihren freundlichen Gesichtern stand. »Ist doch völlig egal, wie wir uns hinlegen«, sagte ich zu Christine.

Wir legten uns auf den Rücken, was jedoch offenbar nicht richtig war, denn Tida und Mae, die sich neben uns gekniet hatten, stupsten uns an und gaben uns ein Zeichen, dass wir uns auf den Bauch drehen sollten.

»Siehst du«, flüsterte Christine. »Wir haben es falsch gemacht.«

»Na und?«, wisperte ich zurück. »Das wird hier nicht benotet, also entspann dich mal.«

Christine atmete laut aus und schloss die Augen. »Hast ja recht. Ich muss mich dringend entspannen.«

»Allerdings.« Ich schloss ebenfalls die Augen, in freudiger Erwartung darauf, von Tida, die neben mir hockte, ins Relax-Nirvana befördert zu werden. Doch was dann kam, hätte ich in meinen kühnsten Träumen nicht erwartet. Schon nach den ersten Sekunden wurde mir klar: Eine Thai-Massage, zumindest die Art, die Tida praktizierte, war nichts für zarte Gemüter. Das war nicht, als würden süße Hundewelpen einen abschlecken. Das! Tat! Weh! Sie knetete, kniff und haute mich, trampelte auf mir herum, zerrte mich hin und her und quälte mich auf jede nur erdenkliche Art. Es war mir ein völliges Rätsel, wie in einem so zarten Persönchen eine derart rohe Kraft stecken konnte. Meine Gedanken schwankten von »Warum bist du so böse auf mich, ich hab dir doch nichts getan!« über »Ja, ich gestehe alles, was du willst«, bis hin zu »Hör sofort auf oder ich hau zurück!« Allerdings hielt ich meine Klappe, weil ich a) Angst vor Tida hatte und sie sowieso stärker als ich war, sodass ich mich gar nicht getraut hätte, sie zu hauen, b) ich nicht als verweichlichte Deutsche dastehen wollte, die nicht mal eine Thai-Massage aushielt und c) Christine das Ganze auch noch zu genießen schien. Irgendwann fragte Tida mich: »Alles okay, kein Problem?«

Mit schwacher Stimme antwortete ich: »Das tut irgendwie ganz schön weh.«

Daraufhin lächelte sie milde und sagte: »Thai-Massage muss wehtun. Ist erst gut, wenn es vorbei ist.«

»Ach so«, wimmerte ich und ließ es über mich ergehen, dass sie einen unfassbar starken Daumen so heftig in meine Fußsohle drückte, dass ich befürchtete, er würde oben wieder herauskommen. »Du, Christine?«, fragte ich mit einem Blick auf die Nachbarmatratze, auf der meine Schwester bäuchlings lag, während Mae auf ihren Oberschenkeln hockte. »Wie geht’s dir denn so?«

»Beschissen«, antwortete sie ächzend, als Mae ihren Oberkörper an den Armen hochzog, sodass ihr Rücken beinahe einen 90-Grad-Winkel zu ihrem Hinterteil bildete.

»Das tut ganz schön weh, oder?«

»Nein, das ist es nicht. Ich mach doch Yoga.«

Angeberin. Tida war inzwischen anscheinend mit mir durch, denn sie deutete mir an, mich hinzusetzen. Vor Erleichterung hätte ich beinahe geweint, und ich dankte dem Himmel, dass ich, abgesehen von der einen oder anderen gebrochenen Rippe, noch mal davongekommen war. Doch dann stellte Tida sich hinter mich, und mir schwante Böses.

»Du wolltest doch gestern wissen, was mit mir los ist und warum ich so blass bin, oder?«, fragte Christine.

»Ja. Du siehst echt krank aus«, sagte ich, während Tida meine Arme hinter meinem Nacken verschränkte und mir unter die Achseln griff.

»Bin ich auch«, sagte Christine. »Ich hab Krebs.«

In diesem Moment passierten zwei Dinge gleichzeitig: Mein Herz setzte einen Schlag lang aus, und Tida renkte mir derart den Rücken ein, dass man es wahrscheinlich noch in Bangkok knacken hören konnte. »Waaaaaas?!«, schrie ich, vor Entsetzen und Schmerz.

Mae und Tida, die wohl beide mitgekriegt hatten, was Christine mir da soeben eröffnet hatte, ließen erschrocken von uns ab. »Ist fertig, jetzt anziehen, kein Problem«, sagte Mae sanft. Ihr Lächeln war verschwunden, und ihre mandelförmigen Augen blickten kummervoll, als sie Christine über die Schulter strich. Dann verbeugten die beiden sich und zogen sich dezent zurück.

Ich saß wie versteinert da und starrte meine Schwester an. »Was … Ich versteh das nicht, wie …«, stammelte ich und war einfach nicht in der Lage, einen zusammenhängenden Satz oder eine vernünftige Frage auf die Reihe zu kriegen.

Christine studierte intensiv ihre Fingernägel. »Na ja, so sieht’s aus. Ich hab Brustkrebs.«

Brustkrebs. Wie oft hatte ich schon davon gehört, ich hatte darüber gelesen, Plakate gesehen und immer gedacht: »Verdammt, das ist übel.« Promis hatten Brustkrebs, mir unbekannte Frauen hatten Brustkrebs, Freundinnen von Schwestern von Bekannten hatten Brustkrebs. Aber es betraf niemals mich selbst, niemals jemanden aus meinem engeren Umfeld. Und auf gar keinen Fall meine Schwester. Christine, die so gesund lebte wie sonst niemand, die immer alles im Griff hatte. Okay, ihre Ehe war in die Hose gegangen, aber ansonsten verlief alles nach Plan bei ihr. Sie war schon immer meine Heldin gewesen. Sie war Superwoman. Das hier musste ein böser Traum sein, aus dem ich hoffentlich bald erwachen würde. Oder die Diagnose war einfach falsch. So was hörte man doch andauernd.

Christine sah zu mir auf. In ihren Augen glänzten Tränen, doch an ihren hervortretenden Kiefermuskeln und ihrem schweren Atem erkannte ich, wie viel Mühe sie sich gab, nicht zu weinen.

Da kam endlich wieder Leben in mich. »Oh Mann, Christine«, stieß ich aus, robbte zu ihr, schlang meine Arme um sie und drückte sie so fest an mich, dass ich Angst hatte, sie zu zerbrechen. Zuerst blieb sie steif sitzen, doch irgendwann ließ die Anspannung in ihrem Körper nach. Sie schmiegte sich an meine Schulter und fing leise an zu weinen.

Während ich meine große Schwester festhielt, dämmerte mir allmählich, dass das hier womöglich real war, und kein böser Traum. Was, wenn es keine Fehldiagnose war? Wenn Christine tatsächlich Krebs hatte? Plötzlich fühlte es sich an, als hätte mir jemand das Herz aus der Brust gerissen. Weinen konnte ich trotzdem nicht. Es kamen keine Tränen. »Was für eine Scheiße«, flüsterte ich nur. Mir fiel beim besten Willen nichts anderes ein, keine schlauen oder tröstenden Worte, keine Lebensweisheiten oder Durchhalteparolen. Das Einzige, was ich sagen konnte, war: »So eine verfluchte Scheiße. Was für ein verdammter, beschissener Sch …«

»Hör auf zu fluchen«, ermahnte Christine mich mit zitternder Stimme. »Du klingst manchmal echt, als kämst du aus der Gosse.« Sie löste sich von mir, wischte sich die Tränen von den Wangen und zog ein paarmal die Nase hoch.

»Sorry, aber ein ›verflixt noch mal‹ reicht mir dafür einfach nicht. Ich hol dir ein Taschentuch«, sagte ich und sprang auf, um zu meiner Umkleidekabine zu gehen. Von Tidas Folterbehandlung tat mir alles weh. Allerdings hätte ich mich lieber zehntausend Stunden von ihr malträtieren lassen, als mich mit dieser Ungeheuerlichkeit auseinanderzusetzen, die Christine mir soeben eröffnet hatte. Denn das tat unendlich mehr weh.

»Es wäre besser, wenn wir uns umziehen und gehen, meinst du nicht?«, fragte Christine und erhob sich ebenfalls. »Wir können ja nicht stundenlang diesen Raum blockieren.«

»Ja, lass uns abhauen. Irgendwohin, wo wir in Ruhe reden können.«

Zehn Minuten später traten wir auf die Straße, mitten rein ins muntere Leben des Schanzenviertels an diesem milden Frühlingsabend. Die Leute saßen in den Außenbereichen der Kneipen und Restaurants, tranken kühle Getränke, aßen, plauderten und lachten. Es fühlte sich an, als wäre ich auf einem anderen Planeten gelandet. »Gehen wir zu mir?«, fragte ich.

»Nein, ich würde gerne draußen bleiben. Unter Leuten. Nicht, dass das alles zu emotional wird.«

Das war mal wieder typisch. In unserer Familie wurde großer Wert darauf gelegt, dass die Dinge niemals zu emotional wurden. »Na schön. Wenn dir das lieber ist.« Wir ergatterten mit viel Glück noch einen freien Zweiertisch vor einer Kneipe am Schulterblatt und bestellten uns etwas zu trinken. Mir war sehr nach einem dreifachen Wodka, doch ich wollte nicht taktlos erscheinen, daher entschied ich mich wie Christine für eine Limonade. Ein Teil von mir weigerte sich immer noch, zu glauben, was meine Schwester mir gesagt hatte, und tausend Fragen kamen in mir auf. Als die Bedienung die Getränke vor uns abgestellt hatte, platzte es aus mir heraus: »Jetzt erzähl aber bitte mal. Seit wann weißt du davon? Ist das überhaupt schon sicher? Oder müssen die das erst noch richtig untersuchen?«

Christine nahm einen Schluck von ihrer Limonade. »Nein, das ist bombensicher. Vor ein paar Wochen habe ich einen Knoten in meiner Brust ertastet. Man soll ja regelmäßig seine Brust abtasten, ich hoffe, du machst das auch.« Sie sah mich mahnend an, wartete meine Antwort jedoch nicht ab. »Ich bin natürlich gleich zur Frauenärztin gegangen. Dann wurden eine Biopsie und ungefähr zehntausend Untersuchungen und Tests gemacht, und dabei kam heraus, dass es Krebs ist.«

Ich stützte meinen Kopf mit der Hand ab, weil er mir mit all diesen Informationen auf einmal viel zu schwer vorkam. »Du weißt das alles also schon seit ein paar Wochen und sagst nichts?«

»Ich wollte niemanden damit belasten, solange es nicht sicher ist.« Sie räusperte sich. »Jedenfalls, meine Art von Brustkrebs ist wohl ziemlich aggressiv, und die Tumoren sind schon ziemlich groß.«

Am liebsten hätte ich mir die Finger in die Ohren gesteckt, so furchtbar fühlten ihre Worte sich an. Doch Christine fuhr gnadenlos fort: »Als Erstes wird eine Chemotherapie gemacht, damit möglichst brusterhaltend operiert werden kann. Nach der OP wird dann bestrahlt.«

»Aber …« Hilflos suchte ich nach den richtigen Worten und kam mir unfassbar dumm und unsensibel vor. »Hast du dir überhaupt schon eine Zweitmeinung eingeholt? Und eine Drittmeinung? Vielleicht ist das ja doch nur ein Irrtum. Und was sagen die Ärzte denn, ich meine, ist das gut zu behandeln?«

»Es ist kein Irrtum, Marie«, sagte Christine ruhig. »Und ich brauche keine weiteren Meinungen. Was die Aussichten und die Behandlung angeht, hab ich natürlich gegoogelt, aber da liest man so viele unterschiedliche Sachen und wird völlig verunsichert. Das mach ich garantiert nie wieder. Ich habe beschlossen, meinem Arzt zu vertrauen. Fest steht: Es ist Krebs. Es ist ätzend.«

»Das tut mir so leid«, stieß ich hervor. »Dass du das jetzt alles durchstehen musst, tut mir so leid.«

»Das muss es nicht«, sagte Christine scharf. »Ich krieg das wieder hin und habe nicht vor abzukratzen.«

Ich griff nach ihren Händen und spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. »Ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll«, flüsterte ich.

Christine umklammerte meine Hände fest mit ihren. »Marie, bitte. Nicht heulen. Du heulst nie, also fang jetzt nicht damit an.«

»Aber wenn meine große Schwester mir so was erzählt, werde ich ja wohl heulen dürfen«, schniefte ich.

»Wenn du allein bist, kannst du heulen, so viel du willst, aber bitte, bitte nicht in meiner Gegenwart«, sagte Christine eindringlich. Sie sah mich so verzweifelt an, dass ich am liebsten in haltloses Schluchzen ausgebrochen wäre. »Ich brauche die lustige, verrückte, unerschütterliche Marie, die mich immer zum Lachen bringt und felsenfest davon überzeugt ist, dass alles gut wird. Okay?«

Mit zusammengebissenen Zähnen atmete ich ein paarmal tief durch. Ich musste schwer schlucken, um den Kloß aus meinem Hals wegzukriegen. »Ja, natürlich. Entschuldige, das ist nur alles so …«

»Ich weiß.« Christine nickte. »Ich weiß genau, was du meinst.«

Für eine Weile saßen wir stumm da und hielten uns an den Händen, während rings um uns die Leute redeten und lachten.

»Kann ich was für dich tun?«, fragte ich schließlich. »Kann ich dir irgendwie helfen?«

Sie lehnte sich zurück und griff nach ihrem Glas. »Da ist tatsächlich etwas, das du für mich tun kannst. Aber das ist schon ein ziemlich großer Gefallen.«

»Egal, sag, was es ist, ich mach’s.«

Sie nahm einen Schluck Limonade, dann sagte sie: »Nächste Woche Mittwoch geht die Chemo los.«

»Musst du dann ins Krankenhaus? Und wie lange dauert das überhaupt?«

»Das wird in einer Tagesklinik gemacht. Ich fahr mit dem Taxi hin, bekomme eine Infusion und kann anschließend wieder nach Hause. Das sind zwei Phasen und zwei verschiedene Medikamente. In der ersten Phase muss ich einmal die Woche hin. Und in der zweiten Phase alle zwei Wochen. Pro Phase sind es vier Termine. Ich habe nicht vor, mich zimperlich anzustellen, und meine Recherchen haben ergeben, dass nicht wenige Frauen die Chemo ganz gut wegstecken. Zu denen will ich gehören. Aber ich weiß eben noch nicht, wie ich das alles vertrage, daher wäre es schön …« Sie machte eine kurze Pause, dann gab sie sich einen Ruck. »Es wäre schön, wenn du in der Zeit zu mir ziehen könntest. Wegen Toni und Max. Ich wäre dir wirklich sehr dankbar, wenn du mir mit den beiden helfen könntest.«

Reglos saß ich da und starrte Christine an.

»Keine Angst, das wird alles halb so wild«, sagte sie schnell. »Die Kinder sind nach der Schule bis vier Uhr in der Ganztagsbetreuung, danach werden sie von der Nanny abgeholt, die bis sechs Uhr abends da ist. Wahrscheinlich hast du letzten Endes gar nichts zu tun. Es würde mich nur irgendwie beruhigen, wenn du da wärst«, sagte sie leise.

Endlich war ich in der Lage, mich aus meiner Erstarrung zu lösen. »Ja, natürlich! Natürlich ziehe ich zu dir und helfe dir mit den Kindern. Aber bist du dir wirklich sicher, dass ich die Richtige dafür bin? Ich meine, wir wissen doch beide, dass ich es nicht so hab mit Verantwortung, und von Kinderbetreuung habe ich auch keine Ahnung.«