Morgen mach ich bessere Fehler - Petra Hülsmann - E-Book

Morgen mach ich bessere Fehler E-Book

Petra Hülsmann

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Beschreibung

Eigentlich ist Elli auf dem Weg zu einer Familienfeier ins Allgäu, zusammen mit ihrer sechsjährigen Tochter Paula und dem chronisch schlecht gelaunten Großonkel Heinz. Aber als ihr der Rechtsanwalt Cano fünfhundert Euro bietet, wenn sie ihn umgehend nach München bringt, greift Elli zu, denn das Geld ist knapp. Die Fahrt quer durch die Republik erweist sich als echte Herausforderung für das ungleiche Quartett. Heinz hat an allem etwas auszusetzen, Cano treibt Elli mit seiner Arroganz zur Weißglut, Murphys Gesetz schlägt erbarmungslos zu, und alles geht schief. Wenn sie jemals in München ankommen wollen, müssen die vier sich zusammenraufen und so manches Vorurteil über Bord werfen. Elli und Cano, die Chaos-Queen und der Paragrafenreiter, kommen sich dabei unerwartet näher, als ihnen lieb ist ...

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Seitenzahl: 537

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungEs lief alles nach Plan. Nur der Plan war halt leider scheiße.PoldiAugen auf und durchDie Lass-mich-in-Frieden-mit-deinen-Verordnungen-VerordnungDie ToilettenmafiaPannen-ElliDie Engel-ParadeAls Elli das fette schwere Kaninchen stahl retteteSabineRosa wird schlechtSchützenelliKiller QueenIch halte nichts von MünchenAllgäuer ErkenntnisseDinner for one hundred oder: Der achtzigste GeburtstagHome, sweet homeVerhandlung am KüchentischDanksagungen

Über dieses Buch

Eigentlich ist Elli auf dem Weg zu einer Familienfeier ins Allgäu, zusammen mit ihrer sechsjährigen Tochter Paula und dem chronisch schlecht gelaunten Großonkel Heinz. Aber als ihr der Rechtsanwalt Cano fünfhundert Euro bietet, wenn sie ihn umgehend nach München bringt, greift Elli zu, denn das Geld ist knapp. Die Fahrt quer durch die Republik erweist sich als echte Herausforderung für das ungleiche Quartett. Heinz hat an allem etwas auszusetzen, Cano treibt Elli mit seiner Arroganz zur Weißglut, Murphys Gesetz schlägt erbarmungslos zu, und alles geht schief. Wenn sie jemals in München ankommen wollen, müssen die vier sich zusammenraufen und so manches Vorurteil über Bord werfen. Elli und Cano, die Chaos-Queen und der Paragrafenreiter, kommen sich dabei unerwartet näher, als ihnen lieb ist …

Über die Autorin

Petra Hülsmann wuchs in einer niedersächsischen Kleinstadt auf. Nach einem erfolgreich abgebrochenen Studium der Germanistik und Kulturwissenschaft arbeitete sie in Anwaltskanzleien und reiste sechs Monate mit dem Rucksack durch Südostasien, bevor sie mit ihren Romanen die Bestsellerliste eroberte. Petra Hülsmann lebt mit ihrem Mann in ihrer Lieblingsstadt Hamburg.

www.petrahuelsmann.de

PETRAHÜLSMANN

Morgen mach ichbessere Fehler

ROMAN

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch dieLiterarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30131 Hannover

Copyright © 2023 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Illustrationen von © shutterstock: Piyapong89

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-4754-7

luebbe.de

lesejury.de

Für Alex, Andreas, Heike, Inga, Juana, Katrin, Lars, Petra und Sascha.Gemeinsam haben wir uns auf den spannendsten Roadtrip überhaupt gemacht – den zu uns selbst.

Es lief alles nach Plan. Nur der Plan war halt leider scheiße.

Man hat im Leben immer eine Wahl. Immer. Selbst wenn man glaubt, keine Wahl zu haben. Ob man stehen bleibt oder die Richtung ändert, ob man eine Sache durchzieht oder einen Rückzieher macht – es ist die eigene Entscheidung, die eigene Wahl. Klingt einfach, ist es aber nicht. Denn erstens ist es oft so, dass einem die zur Verfügung stehende Alternative nicht besonders gefällt, und zweitens stellt sich immer erst hinterher heraus, ob man eine gute oder eine schlechte Wahl getroffen hat. Und die Suppe, die man sich einbrockt, ist nicht immer lecker, so viel steht fest.

Bei mir war es leider so, dass ich ein unleugbares Talent dafür hatte, mich für das Falsche zu entscheiden, egal, wie sehr ich auch versuchte, das Richtige zu tun. Selbst wenn ich nicht spontan aus dem Bauch heraus handelte, sondern erst mal tief durchatmete, über die Sache nachdachte und sämtliche Eventualitäten in Erwägung zog, hinterher saß ich trotzdem viel zu oft vor einem Teller unappetitlicher Miese-Wahl-Suppe.

So wie auch jetzt, als ich nachts um vier im strömenden Regen in Gummistiefeln und durchweichter Funktionsjacke durch den Schmodder stapfte, einen Beutel mit Seed Bombs in den klammen kalten Händen. War es mir wie eine gute Idee erschienen, heute Nacht aktiv bei der neuesten Aktion meiner Umweltgruppe mitzumachen, anstatt wie sonst nur im Hintergrund an den Vorbereitungen und Planungen beteiligt zu sein? Absolut nicht. Immerhin hatte ich eine Tochter, und das, was wir hier taten, war eher so semilegal. Um nicht zu sagen, illegal. Hatte ich mich trotzdem bereit erklärt zu helfen, weil vier von zehn Mitgliedern krank geworden waren und die Aktion kurz vor dem Platzen stand? Natürlich. Ich konnte meine Freunde doch nicht hängen lassen. Es war also meine Wahl gewesen, meine Entscheidung. Monatelang hatten wir geplant, den Vorgarten der FIB Chem – des größten Chemieunternehmens Hamburgs – umzugestalten und aus dieser Schotterwüste einen Naturgarten zu machen. Eine Oase mitten in der Großstadt, neuer Lebensraum für unzählige Insekten, Vögel und Reptilien. Trotz aller widrigen Umstände, Grippe, Regen und Sturm hatte sich die Security bislang nicht blicken lassen, und es lief absolut reibungslos. Sogar einen kleinen Naturteich hatten wir innerhalb kürzester Zeit angelegt und zusätzlich zu den sporadisch geworfenen Samenbomben heimische Wildstauden gepflanzt. Ich war stolz darauf, an dieser Aktion beteiligt zu sein. Nur die Umstände waren es, die mich an meiner Entscheidung zweifeln ließen. Kalter Regen drang am Kragen in meine Jacke ein, lief in einem Rinnsal über meine Brust und versickerte in meinem BH. Bei jedem Schritt schmatzten meine Gummistiefel im Matsch. Mein Rücken tat weh, ich war hundemüde, und schon in ein paar Stunden musste ich meine sechsjährige Tochter Paula wecken, in die Kita bringen und anschließend im Bioladen arbeiten. Mit einem tiefen Seufzer warf ich meine letzten Seed Bombs und steckte meine klammen Hände in die Jackentaschen, um sie zu wärmen. Meine Finger berührten Rosa, die kleine Stoffhasendame, die Paula mir mitgegeben hatte, damit sie auf mich aufpasste. Meine Tochter war der beste Grund, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, und genau das taten wir hier. Also Schluss mit der Jammerei. Jammern hatte mich noch nie weitergebracht.

Ein paar Meter entfernt entdeckte ich meinen Mitbewohner Samuel, der auf dem Boden hockte und Äste und Zweige zu einem Totholzstapel aufschichtete. Ich ging zu ihm, hockte mich ebenfalls hin und sagte: »Hey, Sami, ich helfe dir.«

Dankbar lächelte er mich an. »Das ist nett, Elli.«

»Ist doch klar.«

Für eine Weile arbeiteten wir einträchtig schweigend vor uns hin, während unsere Mitstreiter unsere Spuren beseitigten und die Transporter mit Schubkarren, Spaten und sonstigen Gerätschaften beluden.

»Kommt mal zum Ende, ihr beiden«, ermahnte uns Antje, die zusammen mit Sami und mir diese Aktion geplant hatte und die ebenfalls Teil unserer Hausgemeinschaft war. »Wir müssen bald los, bevor die Security doch noch auftaucht oder die ersten Mitarbeiter eintrudeln.«

»Nur kein Stress, Antje«, erwiderte Sami. Das war sein Lebensmotto. Er ließ sich durch absolut gar nichts aus der Ruhe bringen, niemals. »Es dauert eben so lang, wie es dauert, stimmt’s, Elli?«

»Schon irgendwie, aber ich hätte auch nichts dagegen, bald nach Hause zu kommen. Dann könnte ich wenigstens noch ein kleines Nickerchen machen.«

Er nickte verständnisvoll. Als mein Mitbewohner und guter Freund bekam er tagtäglich mit, wie turbulent mein Leben war und wie wenig Zeit mir neben Tochter, zwei Jobs und der Gartengruppe für mich blieb. Seine Tiefenentspanntheit in jeder Lebenslage konnte ich nur bewundern. Ich selbst gab mir zwar Mühe, entspannt zu bleiben, aber es gelang mir leider nicht immer. Von dieser Kleinigkeit mal abgesehen, waren Sami und ich uns sehr ähnlich. Wir hatten die gleichen Ansichten, Geschmäcker und Interessen, verbrachten die Abende gemeinsam in der WG-Küche, und in letzter Zeit fingen wir sogar an, die Sätze des anderen zu vervollständigen. Irgendetwas veränderte sich zwischen uns. Es kam mir vor, als würde Sami mir tiefer in die Augen schauen. Er berührte mich häufiger, wenn auch meist wie zufällig. Und er bezog Paula und mich automatisch in seine Pläne mit ein, als wären wir zu einem wir geworden, ohne dass ich es wirklich bemerkt hatte. Wir waren kein Paar oder so, aber mich beschlich immer wieder das Gefühl, dass wir diese Richtung eingeschlagen hatten. Was wirklich toll war. Sami war ein prima Kerl, eigentlich der ideale Vater für Paula, und den brauchte sie ganz dringend. Für mich wäre er natürlich auch der ideale Mann, alle sagten das. Sami war lieb, intelligent und wahnsinnig fürsorglich. Neulich hatte er mir sogar mit einem Taschentuch die Nase abgewischt, nachdem ich geniest hatte. So fürsorglich war er!

»Hör mal«, sagte Sami unvermittelt, während wir die letzten Zweige aufschichteten. »Ich denke, es wäre gut, wenn wir beide mal ganz in Ruhe miteinander sprechen würden. So, über uns. Ich meine, du hast vielleicht bemerkt, dass ich …«

»Scheiße, da kommt jemand!«, rief Antje aus einiger Entfernung. »Rückzug! Sofort!«

Mein Herz machte einen Riesensatz und rutschte mir dann mit Karacho in die Hose. Wie angenagelt hockte ich im Matsch, starrte in Antjes Richtung und hatte plötzlich vergessen, wie man atmete oder sich bewegte.

»Komm schon, Elli, schnell!«, rief Sami.

»Ja, aber …«, setzte ich an, doch in meinem Hirn herrschte gähnende Leere, und Sami war ohnehin schon verschwunden. Das war genau der Grund, warum ich bei diesen Aktionen fast nie aktiv mitwirkte. Wenn die Devise ›fight or flight‹ hieß, entschied mein Gehirn sich leider stets für die Option, die eigentlich nicht zur Wahl stand: freeze. Ich hörte, wie meine Mitstreiter alles stehen und liegen ließen, und erkannte in der Morgendämmerung schemenhaft, wie sie zu den Transportern liefen. Mein Blick glitt in die andere Richtung, wo vor dem Verwaltungsgebäude ein paar Lichtkegel, vermutlich von Taschenlampen, ein Tänzchen aufführten. Während ich reglos und mit weit aufgerissenen Augen im Regen hockte, waren die Neuronen in der Schaltzentrale meines Gehirns offenbar schwer damit beschäftigt, die Situation erst mal ausführlich zu analysieren, auszuwerten und durchzudiskutieren. Zum Glück für mich wurde der Beschluss gefasst – und sogar auch prompt umgesetzt –, den Panic Button zu drücken und folgende Botschaft rauszuschicken: Cortex an Motoneurone, Cortex an Motoneurone: Bewegen! Abhauen! Jetzt! Ich sprang auf, nur um gleich mit meinen eingeschlafenen Beinen einzuknicken und wieder im Matsch zu landen. Aber ich rappelte mich auf und rannte, besser gesagt, humpelte zu den Transportern. Die ersten beiden waren schon weg, also lief ich, so schnell es mit eingeschlafenen Beinen eben ging, stolperte über einen liegen gebliebenen Spaten, fing mich aber gerade noch rechtzeitig und legte einen olympiagoldwürdigen Endspurt zum letzten Wagen hin, der bereits im Anrollen war.

»Komm schon, Elli!« Gesine streckte mir durch die offene Tür eine Hand entgegen. Ich ergriff sie und rannte verzweifelt neben dem Transporter her. »Jetzt halt doch mal an«, rief Gesine Sami zu, der daraufhin langsamer fuhr. In dem Moment zog ich mich mit ihrer Hilfe hoch und landete halb auf ihrem Schoß. »Scheiße«, stieß ich wild schnaufend aus und schlug die Tür zu. »Das war knapp.«

Sami drückte das Gaspedal durch, und ich ließ mich auf den Sitz neben Gesine fallen. Unwillkürlich glitt meine Hand in meine Jackentasche, um mir Beistand bei Rosa, Paulas Stoffkaninchen, zu holen, doch ich griff ins Leere. Oh nein. Rosa war Paulas Ein und Alles, und meine Tochter hatte mich hoch und heilig schwören lassen, Rosa heil und unversehrt wieder mit nach Hause zu bringen. Ohne Rosa ging Paula nirgendwo hin. Keine Paula ohne Rosa, keine Rosa ohne Paula; die beiden waren eine Einheit. Ohne Rosa würde Paula nie wieder schlafen! »Stopp«, rief ich. »Anhalten!«

»Was?«

»Halt an!«

»Spinnst du?«, brüllte Sami und hörte sich nun doch minimal gestresst an.

»Rosa ist noch da, ich muss sie holen!«

Sami, der Paulas Fixierung auf ihr Kuscheltier nur zu gut kannte, legte eine Vollbremsung ein. Auf der Ladefläche des Transporters purzelten die Spaten und Schubkarren mit einem Heidenlärm durcheinander. »Beeil dich, Elli!«

Ich öffnete die Tür und sprang aus dem Transporter. Im Weglaufen hörte ich Gesine rufen: »Habt ihr sie noch alle? Fahr weiter, Herrgott noch mal!«

»Ich lasse keinen zurück«, erwiderte Sami. Mein Held!

Den Rest der Diskussion bekam ich nicht mehr mit, denn ich rannte durch Regen, Wind und Matsch zurück zum Totholzstapel. Die Lichtkegel der Taschenlampen tanzten immer näher an mich heran, doch zum Glück war die knallig pinke Rosa selbst im schummrigen Frühmorgenlicht nicht zu übersehen. Vorwurfsvoll schaute sie mich an. Ich konnte förmlich hören, wie sie pikiert mit der Zunge schnalzte. ›Wenn ich das Paula erzähle.‹ Ich grabschte nach Rosa und machte auf dem Absatz kehrt. Im Umdrehen bemerkte ich, dass die Taschenlampen fast bei mir angekommen waren. Es waren drei, und sie wurden gehalten von drei ziemlich angepisst aussehenden männlichen Gestalten. Schnell, noch schneller hastete ich auf den Transporter zu, während ich hinter mir einen der Typen rufen hörte »Ich hab ihn gleich!«, womit offensichtlich ich gemeint war. Die Schritte kamen immer näher, das Schmatzen im Matsch wurde immer lauter. »Stehen bleiben!«, forderte der Typ mich auf. Zum Glück war ich fast am Tor angekommen, der rettende Transporter nur noch maximal zwanzig Meter entfernt, doch dann – fuhr er mit quietschenden Reifen davon.

»Was zur Hölle?«, stieß ich aus und sah die Rücklichter in der Morgendämmerung immer kleiner werden. »Das kann doch nicht euer verfluchter Scheißernst sein!« Es war sinnlos weiterzulaufen. Wo sollte ich auch hin, mitten im Nirgendwo eines Industriegebiets, in aller Herrgottsfrühe? Die hatten mich hängen lassen. Mein fürsorglicher Sami hatte mich allen Ernstes hängen lassen! Schwer atmend beugte ich mich vor, die Hände auf meine Oberschenkel gestützt.

»Aha«, rief mein Verfolger, als er bei mir angekommen war. Unsanft packte er mich am Arm. Er schnaufte noch mehr als ich. »Wen haben …«, ein Japsen, »… wir denn da?«

»Nehmen Sie Ihre Hände weg!« Ich versuchte, meinen Arm aus seinem Klammergriff zu befreien.

»Geht’s noch? Erst so eine … Schweinerei veranstalten …«, wieder schnappte er nach Luft, »… und dann auch noch frech werden.« Er war ganz sicher kein Security-Mensch. Mit seinen grau melierten Haaren, den Fältchen um die Augen und dem dunklen Anzug sah er aus wie ein distinguierter älterer Herr, ein Kavalier der alten Schule. Wenn er sich doch nur auch so benehmen würde. Ein Kavalier der alten Schule hätte mich garantiert nie mit wutverzerrter Miene an den Schultern gepackt und geschüttelt, so wie er es gerade tat. »Sag mir sofort deinen Namen!«

»Lassen Sie mich los! Ich mach doch gar nichts.«

»Das nennst du gar nichts? Eine Riesensauerei ist das hier!«

Inzwischen war auch der Rest der Taschenlampentruppe zu uns gestoßen. Die beiden anderen Typen trugen ebenfalls Anzüge und Krawatten. Sicher irgendwelche hohen Tiere der FIB Chem, schlussfolgerte ich brillant. Wer sonst sollte sich um diese Zeit im feinen Zwirn hier rumtreiben? Hatten wahrscheinlich die Nacht durchgeackert und wichtige Geschäfte gemacht. Noch ein paar Chemieunfälle verursacht, wie den letztes Jahr im Breisgau. Jedenfalls stand es auf diesem Spielfeld nun drei Chemieindustrieschwerverbrecher gegen eine harmlose Umweltschützerin.

»Wie du heißt, habe ich gefragt«, wiederholte der Typ, der mich im Schwitzkasten hatte, und schüttelte mich noch mal.

Einer der anderen Typen, der nicht weniger distinguiert aussah, aber etwas jünger zu sein schien als der vermeintlich nette ältere Herr, mischte sich ein. »Muss das sein, Helmut? Können wir das nicht wie zivilisierte Menschen regeln?«

»Ja, sehr gerne«, erwiderte ich, obwohl ich definitiv nicht Helmut war.

»Wie zivilisierte Menschen?«, empörte sich Helmut, wobei seine Stimme sich überschlug. Fast glaubte ich, seine Halsschlagader pochen zu sehen. »Was bitte ist zivilisiert daran, hier einzubrechen und ein Schlachtfeld zu hinterlassen? Das ist Einbruch, Vandalismus und Diebstahl und mit Sicherheit auch noch …« Mitten im Satz brach Helmut ab und wandte sich an den dritten Chemieverbrecher. »Nun sagen Sie doch auch mal was.«

Er war der Jüngste von ihnen und der Schnöseligste. Im Gegensatz zu Helmut und dem Zivilisierten, deren Hemden verknittert waren und unter deren Augen dunkle Schatten lagen, sah er wie aus dem Ei gepellt aus. Seine dunklen Haare waren ordentlich zurückgekämmt, wenn auch nass vom Regen. Mit kalter Berechnung ließ er seinen Blick von meinen matschigen Stiefeln über meine schlammdurchweichten Klamotten und die pinke Stoffrosa in meiner Hand bis hin zu meinen Haaren schweifen, die feucht an meinem Gesicht klebten. Schließlich sagte er, ohne den Blick von mir abzuwenden: »Ich kann Ihnen nur dringend raten, die … Dame loszulassen und Ihre und meine Zeit nicht mit dieser Sache zu verschwenden. Rufen Sie lieber die Polizei. Sollen die sich damit herumplagen.«

Mein Herz setzte einen Schlag lang aus. Nur nicht die Polizei! Man würde mich wegsperren und mir Paula wegnehmen. Wobei … Vielleicht konnte ich sie auch behalten, aber dann müsste sie im Knast aufwachsen, und das war nun wirklich nicht das, was ich mir für ihre Kindheit wünschte. Immerhin ließ Helmut mich los, und ich trat schnell zwei Schritte von ihm weg. Fieberhaft versuchte ich, mir eine Geschichte auszudenken, die plausibel machte, wieso ich mich genau zu dieser Zeit an genau diesem Ort befand, ohne auch nur das Geringste mit der Gartenumgestaltung zu tun zu haben. Doch da fehlte mir schlichtweg die Fantasie. Mir blieb im Grunde nur eins, Paula zuliebe: mich nett und umgänglich zeigen und hoffen, dass die Polizei nicht gerufen wurde. Notfalls würde ich auch betteln. Ich atmete tief durch und erklärte: »Wir haben nichts geklaut, wirklich nicht.«

»Ach«, stieß Helmut aus. »Und was ist mit dem Marmorkies?«

»Der ist dort drüben.« Ich deutete auf den Kieshügel auf der anderen Seite des Tors, auf dem wir obenauf ein Schild hinterlassen hatten – unser Erkennungszeichen.

»NDEN«, las der Schnösel vor.

»Wofür steht NDEN?«, fragte der Zivilisierte, der mir der umgänglichste von den dreien zu sein schien.

»Das ist nur die Rückseite des Schildes«, erwiderte ich. »Auf der Vorderseite war nicht mehr genug Platz.«

»Und was steht auf der Vorderseite?«, wollte der Zivilisierte wissen.

»Schluss mit Schotter! Die Guerilla-Gärtner.«

»NDEN«, wiederholte der Schnösel. »Das ergibt immer noch keinen Sinn.«

»Das wird nicht buchstabiert«, erklärte ich möglichst freundlich, obwohl mich seine arrogante Art extrem nervte. Immerhin waren jetzt alle so beschäftigt mit dem Schild, dass keine Rede mehr von der Polizei war.

Schließlich ging dem Zivilisierten ein Licht auf. »Ah, jetzt verstehe ich. Gärtner…nden. Die Guerilla-Gärtnernden.«

»Genau.« Um das Thema noch weiter von der Polizei abzulenken, plapperte ich munter drauflos: »Ein Teil der Gruppe hat nämlich kritisiert, dass wir uns immer noch Gärtner nennen, immerhin machen ja auch Menschen ohne Penis bei uns mit. Also haben wir einstimmig beschlossen, uns umzubenennen. Die Guerilla-Gärtner-Sternchen-Innen oder Die Guerilla-Gardeners fanden wir aber alle nicht so toll, und wir hatten keine Zeit mehr, weiter nach einem neuen Namen zu suchen. Das Schild war sowieso schon fertig, also haben wir, bevor wir losgefahren sind, auf der Rückseite noch schnell gegendert, als Notlösung. Optimal ist das zwar nicht, aber einfach stehen lassen wollten wir Gärtner halt auch nicht.«

Die drei Typen sahen mich wortlos an.

Ich räusperte mich und wagte einen Vorstoß: »Gut, ich müsste allmählich los, also …«

Der Schnösel hob nur eine Augenbraue, zeigte ansonsten jedoch keine Regung, während sich der Zivilisierte nachdenklich das Kinn rieb. Helmut, der Fiese, hingegen schnaubte verächtlich. »Glaub bloß nicht, dass du hier einfach so davonspazieren kannst, Fräulein! Und so genau wollte es übrigens keiner wissen.«

»Fräulein?«, wiederholte ich fassungslos. »Echt jetzt?«

»Ja, echt jetzt! Ihr könnt mich alle mal am Arsch lecken mit eurem scheiß Gendern!« Ein Muskel unter seinem linken Auge zuckte wild.

»Helmut, jetzt beruhige dich mal«, schaltete sich der Zivilisierte ein. »Denk dran, was die Ärztin und der Gleichstellungsbeauftragte dir geraten haben.« Zu mir sagte er: »Wie wäre es übrigens mit Garten-Guerillas?«

Ich stutzte. »Hey, das ist gut. Vielen Dank.«

»Können wir bitte wieder auf die Sauerei zurückkommen, die hier veranstaltet wurde?«, meckerte Helmut. »Mir reicht’s, ich rufe jetzt die Polizei.«

Er griff nach seinem Handy, doch bevor er wählen konnte, rief ich: »Warten Sie! Ich gebe ja zu, dass es hier im Moment noch ein bisschen chaotisch aussieht, aber wir haben einen Naturgarten angelegt. Das ist wirklich eine gute Sache, viel besser als die Schotterwüste, die Sie hier hatten.«

Helmut sah von seinem Handy auf. »Sollen wir etwa dankbar sein?«

»Äh … na ja.« Eigentlich schon, aber das sagte ich lieber nicht laut.

»Hat denn jemand Sie damit beauftragt, hier einen Naturgarten anzulegen?«, wollte der Schnösel wissen.

Obwohl es eine rhetorische Frage war, antwortete ich: »Leider nicht. Manchmal muss man die Menschen eben dazu zwingen, das Richtige zu tun.«

»Und was das Richtige ist, entscheiden Sie?«, fragte er von oben herab.

Ich zog die Schultern zurück und hob das Kinn. »Ja, ich und die Hamburgische Bauordnung, die die Versiegelung von Vorgärten und somit auch Kieswüsten verbietet.«

»Sie könnten Verstöße gegen die Bauordnung ja auch einfach bei der entsprechenden Behörde melden.«

Ich schnaubte. »Ja, klar. Wissen Sie, was dann passiert?« Natürlich tat er mir nicht den Gefallen zu antworten, also übernahm ich es selbst. »Nichts passiert dann. Absolut gar nichts. Also nehmen wir die Sache halt selbst in die Hand. Diese Kieswüsten sind nämlich das Allerletzte. Wahrscheinlich ist Ihnen das nicht klar, aber die Fläche an sämtlichen Privatgärten zusammengerechnet würde das größte Naturschutzgebiet Deutschlands ergeben, Lebensraum für Abertausende gefährdete Arten. Wenn die Leute nicht so versessen wären auf ihre Kiesgärten, sterilen Rasenflächen und exotischen Pflanzen, mit denen die heimische Tierwelt überhaupt nichts anfangen kann, könnte das hier ein Paradies sein. Ständig wird als Argument angeführt, dass man keine Arbeit mit dem Garten haben will, dabei gibt es überhaupt nichts Pflegeleichteres als einen Naturgarten.« Schwer atmend hielt ich inne.

Für ein paar Sekunden blieb es still. Nur der Regen plätscherte leise. »Das ist ja alles sehr rührend«, sagte der Schnösel schließlich, entgegen seiner Behauptung absolut ungerührt. »Aber es ändert rein gar nichts an der Tatsache, dass Sie hier ungebeten eingedrungen sind und Änderungen vorgenommen haben. Das ist Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung …«

»Vandalismus«, warf Helmut ein.

»Im Grunde ja, wir haben es hier zweifelsohne mit vorsätzlicher Zerstörung von Privateigentum zu tun.«

Instinktiv trat ich einen Schritt zurück und zog die Nase kraus. Der Typ stank doch nach Anwalt! Natürlich, schon allein, wie der aussah, konnte er ja nur Jurist sein. »Zerstörung?«, wiederholte ich entrüstet.

»Zerstörung«, bestätigte er. An Helmut gerichtet fuhr er fort: »Allerdings muss die Staatsanwaltschaft nicht zwangsläufig auf Vandalismus plädieren, weil hier zwar zerstört, aber auch für Ersatz gesorgt wurde. Wenn man denn einen Acker als Ersatz ansehen kann«, sagte er mit einem Seitenblick auf unseren frisch angelegten Naturgarten. »In einem Zivilpro…«

»Moment mal«, fiel ich ihm ins Wort. »In ein paar Wochen wird es hier wunderschön blühen und vor Leben nur so …«

»In einem Zivilprozess sehe ich aber durchaus Argumentationsspielraum«, beendete der Schnösel gnadenlos seinen Satz, wobei er mich ansah, als wäre ich ein lästiges Insekt, das es zu zertreten galt. Was für ein ätzender Typ.

»Ihnen geht die Zerstörung der Umwelt am Arsch vorbei, oder?«

»Das steht hier nicht zur Debatte.«

Mit zusammengekniffenen Augen sah ich ihn an. »Wissen Sie, was mich bei Typen wie Ihnen echt tröstet? Karma hat kein Verfallsdatum, und Karma regelt das. Immer.«

»Ist das so?«, erwiderte er kaltschnäuzig. »Und woher haben Sie diese Weisheit, von Ihrem ayurvedischen Küchenkalender? Im Übrigen lenkt nichts, was Sie sagen, von der Tatsache ab, dass Sie und Ihre Guerilla-Freunde eine Straftat begangen haben.«

»Sehr richtig«, sagte Helmut. »Deswegen rufe ich jetzt auch die Polizei.«

Mist, Mist, Mist, verdammter! »Bitte, nicht die Polizei! Ich bin alleinerziehend, ich muss meine Tochter wecken, in den Kindergarten bringen, und zur Arbeit muss ich auch«, rief ich verzweifelt, kurz davor, mich auf die Knie zu werfen.

»Nee, nee, nee, ruf mal noch nicht an«, schaltete der Zivilisierte sich wieder ein. »Lasst uns erst laut nachdenken.«

Ich nickte heftig, obwohl er aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mich damit gemeint hatte.

»Mein Gott, Christian«, stieß Helmut aus, ließ aber sein Handy sinken. »Was gibt es denn noch zu überlegen?«

Der Zivilisierte, der offensichtlich Christian hieß, betrachtete mich nachdenklich und rieb sich dabei das Kinn. Schließlich sagte er: »Sie haben also einen Naturgarten angelegt. Richtig?«

»Äh … ja. Wie gesagt.«

»Einen umweltfreundlichen Naturgarten?«

»Absolut umweltfreundlich, ja«, beteuerte ich.

»Der gut ist für …« Er wedelte mit einer Hand in der Luft herum. »Bienen und so was?«

»Klar. Für sämtliche Insekten. Somit auch für Vögel. Und nicht zu vergessen Reptilien, immerhin haben wir sogar einen Naturteich angelegt. Für eine Natursteinmauer fehlte leider die Zeit.«

Helmut schnaubte, doch Christian ließ sich davon nicht irritieren. »Hm, Hm, Hm«, machte er. »So ein Naturgarten ist doch ziemlich nachhaltig, würde ich meinen.« Er wandte sich an Helmut und den Schnösel. »Oder? Kann man doch so sagen.«

Helmut schüttelte irritiert den Kopf, doch der Schnösel schien zu verstehen, worauf Christian hinauswollte, denn ein hinterhältiger Ausdruck machte sich auf seinem Gesicht breit. »Doch, ja. Absolut.«

Christian nickte. »Wenn wir also auf unsere Schotterwüste, wie die junge Dame es genannt hat, verzichten, dann würde uns das doch sicherlich einige Pluspunkte einbringen. Zum Beispiel in den Medien.«

»Ganz sicher sogar«, pflichtete der Schnösel bei.

Allmählich schien auch Helmut ein Licht aufzugehen. »Natürlich«, rief er. »Das würde die Gemüter dieser Presseheinis bestimmt etwas beruhigen, gerade nach dieser dummen Sache im Breisgau.«

»Dumme Sache?«, platzte es aus mir heraus, doch die Herren waren so vertieft in ihr Brainstorming, dass sie mich gar nicht beachteten. Diese »dumme Sache« war eine Riesensauerei gewesen. Ein ganzer See war durch die Verseuchung mit Fluorchemikalien abgestorben. Mysteriöserweise hatte niemand herausfinden können, wie es zu dieser Verseuchung gekommen war, obwohl Polizei und Staatsanwaltschaft natürlich auf Hochtouren ermittelt hatten – nicht. Nur dass das benachbarte Werk der FIB Chem rein gar nichts mit der Sache zu tun hatte, darüber waren sich alle sehr schnell einig gewesen. Und für diesen Umweltskandal waren genau die Typen verantwortlich, die jetzt vor mir standen.

»Denken wir doch auch an die Anleger«, sagte der Schnösel.

»An die denken wir doch immer«, schmunzelte Christian.

»Denen würde es sehr gefallen, wenn die FIB Chem in Sachen Nachhaltigkeit positiv auffallen würde.«

Christian nickte zufrieden. »Genau. Wo doch heutzutage jeder unbedingt grüne Aktien im Portfolio haben will. Die Leute müssen halt nur noch erfahren, wie sehr die heimische Insektenwelt uns am Herzen liegt.«

»Bienen und Schmetterlinge liegen nicht nur der FIB Chem sehr am Herzen, sondern vor allem voll im Trend«, pflichtete Helmut bei.

»Weswegen die FIB Chem ja auch diesen Naturgarten angelegt hat«, meinte der Schnösel. »Das wird allen gefallen, der Presse, den Fondsmanagern, den Anlegern …«

Christian klatschte zufrieden in die Hände. »Sehr schön. Dann werde ich gleich mit dem Rest des Vorstands sprechen und anschließend die PR-Abteilung briefen. Die kann alles in die Wege leiten.«

Wie versteinert verfolgte ich den Wortwechsel und konnte kaum fassen, wie perfide diese Typen waren. Wir, die Guerilla-Gärtnernden, hatten diese Aktion wochenlang geplant und viel Zeit und Geld investiert. Das sollte unsere große Stunde sein. Wir wollten Aufmerksamkeit erregen, für uns, für unsere Sache! Es war alles vorbereitet, wir hatten Fotos gemacht, wollten mit einem Artikel an die Presse gehen und unseren Coup natürlich auch in den sozialen Medien verbreiten. Und jetzt kassierten die die Lorbeeren? Das war ja wohl das Allerletzte! »Niemand wird Ihnen das abkaufen«, sagte ich mit schwacher Stimme. »Wirklich niemand, der oder die noch alle fünfe beisammenhat, wird Ihnen abkaufen, dass Ihnen die heimische Insektenwelt am Herzen liegt. So was Lächerliches hab ich ja noch nie gehört.«

»Das lass mal unsere Sorge sein«, riet Helmut mir.

»Ja, Frau … äh … ist ja auch egal. Lassen wir es gut sein, hm?«, sagte Christian gönnerhaft. »Auf die Polizei können wir unter diesen Umständen wohl verzichten. Also, vielen Dank, auch an die restlichen Guerillas, dass Sie diesen schönen Garten für uns angelegt haben.«

Pah, und der war mir eben noch wie der netteste der drei erschienen? Er war der hinterhältigste und schlimmste von ihnen!

»Und das auch noch kostenlos«, fügte Helmut grinsend hinzu.

»Und in aller Stille und Bescheidenheit, ohne in der Öffentlichkeit erwähnt werden zu wollen«, ergänzte der Schnösel.

Oh, wie ich diese Typen hasste! Ich wollte protestieren, kämpfen, mich mit ihnen anlegen, bis aufs Blut. Doch dann fiel mir Paula ein, und mir wurde klar, dass mir nichts anderes übrig blieb, als diese bittere Pille zu schlucken und mich verarschen zu lassen. Schließlich sagte ich: »Tja, wie gesagt … Ich muss dann auch mal los.«

»Guten Heimweg«, wünschte mir Christian.

»Vergessen Sie Ihr Schild nicht«, fügte der Anwaltsschnösel hinzu und wagte es dabei auch noch, mich anzulächeln. Es war ein fieses Lächeln, aber was konnte ich von einem wie ihm auch anderes erwarten?

Nachdem ein Zug ausgefallen war und der nächste sich ewig verspätet hatte, rollte ich fast drei Stunden später endlich in den Bahnhof von Plön ein. Ich hatte die ganze Fahrt über geschlafen, doch wie durch ein Wunder wachte ich im allerletzten Augenblick auf, raffte meine Sachen zusammen und konnte gerade noch rechtzeitig auf den Bahnsteig springen. Ich schloss mein klappriges Fahrrad auf, klemmte das Schluss-mit-Schotter-Schild auf den Gepäckträger und radelte die letzten Kilometer nach Hause. An manchen Tagen hätte ich mir dafür in den Hintern treten können, dass ich vom Hamburger Schanzenviertel auf einen alten Bauernhof in der Holsteinischen Schweiz gezogen war. Dann vermisste ich mein altes Leben als Kunststudentin in der Großstadt und hatte furchtbares Heimweh. Aber das verging meistens wieder ganz schnell, denn der Hof lag in wunderschöner Landschaft direkt am Plöner See. So musste Paula nicht in der Großstadt aufwachsen, sondern konnte frische Luft atmen und hatte Platz zum Spielen. Dafür war Antjes Ökohof einfach perfekt. Antje und ihre Frau Kirsten, das fünfte Mitglied in unserer WG, waren meine besten Freundinnen geworden und für Paula schon fast Ersatzeltern. Und dann war da ja noch Sami, der vielleicht sogar ein bisschen mehr als nur ein Freund für mich war. Wenn ich mal von der Tatsache absah, dass er mich heute früh gewissermaßen dem Feind zum Fraß vorgeworfen hatte – darüber würde noch zu diskutieren sein.

Mühsam trat ich in die Pedale und war heilfroh, dass ich den stürmischen Wind im Rücken hatte. Die Bezeichnung Schweiz war für diesen Landstrich zwar maßlos übertrieben, aber gebürtige Hamburgerinnen wie mich brachten die Hügel beim Fahrradfahren regelmäßig zum Fluchen. Mit letzter Kraft fuhr ich die Auffahrt zum Hof hoch. Nachdem ich meinen Drahtesel abgestellt hatte, wäre ich fast vor dem alten windschiefen Fachwerkhaus auf die Knie gefallen und hätte »Home, sweet home« gerufen. Stattdessen ging ich mit zitternden Beinen zum Eingang und trat ein. »Hallo, jemand da?«, rief ich und warf die hölzerne Haustür versehentlich etwas zu heftig hinter mir zu. Eines Tages wird uns unser Heim noch über dem Kopf zusammenbrechen, unkte ich, als ein Stück Putz aus der Wand brach und herunterfiel.

»Elli?«, hörte ich Kirstens Stimme, dann tauchte sie auch schon im Flur auf. »Gütiger Himmel, Elli«, rief sie bei meinem Anblick, stürzte auf mich zu und riss mich in die Arme, als wäre ich ihre seit zwanzig Jahren tot geglaubte Schwester. »Ist alles okay?« Sie hielt mich ein Stück von sich weg und musterte mich von oben bis unten, nur um mich wieder an sich zu drücken. »Wir haben uns solche Sorgen gemacht. Wo warst du denn so lange? Warum hast du nicht angerufen?«

Hinter Kirstens Rücken tauchte Antje auf, eine Tasse Kaffee in der einen und ein Brot in der anderen Hand. »Vielleicht hatte sie ja nur einen Anruf, und der galt ihrem Anwalt«, witzelte sie, doch als ich ihre besorgte Miene sah, wurde mir klar, dass das gar nicht witzig gemeint gewesen war.

»Nein, zum Glück bin ich nicht im Knast gelandet. Und hör mir bloß mit Anwälten auf.« Sanft befreite ich mich aus Kirstens Klammergriff. »Was ist mit Paula?«

»Alles in Ordnung, ich hab sie gerade in die Kita gebracht. Jetzt komm, setz dich erst mal.«

»Ich würde ja gern, aber ich muss dringend duschen und mich umziehen, bevor ich mich auf den Weg zum Laden mache.«

»Nein, Gesine übernimmt deine Schicht. Um den Laden musst du dir also keine Gedanken machen«, sagte Antje.

Erleichtert atmete ich auf und folgte Antje und Kirsten in die Küche, wo ich mich ächzend auf einen Stuhl fallen ließ und meinen Kopf auf den riesigen alten Holztisch legte. »Ich hatte echt eine Scheißnacht, das kann ich euch sagen«, stöhnte ich. »Hat Paula sich Sorgen gemacht, weil ich nicht da war?«

»Klar, aber ich hab sie davon überzeugt, dass alles in Ordnung ist. Immerhin war Rosa bei dir, da konnte ja gar nichts schiefgehen.«

Bei dem Stichwort griff ich in meine Jackentasche, wo das durchnässte Kaninchen sich von den Strapazen der Nacht erholte.

Antje stellte eine Tasse dampfenden Kaffee vor mir ab und gesellte sich zu Kirsten und mir. Sie war keine Frau der großen Worte, sondern der kleinen Gesten. Das mochte ich an ihr.

»Vielen Dank, ihr seid echt großartig.« Mit meinen eiskalten Händen umschloss ich die Tasse, hob sie an die Lippen und nahm einen Schluck. »Das tut gut«, stieß ich aus, als ich spürte, wie die Wärme sich in meinem Inneren ausbreitete. Doch dann kam Sami in die Küche geschlichen, und augenblicklich spannte sich jeder Muskel in meinem Körper wieder an.

»Elli, ich …«, setzte er an, aber weiter kam er nicht, denn ich sprang auf und zeigte mit ausgestrecktem Finger auf ihn. »Du! Du … Judas! Erst verkündest du großspurig, dass du keinen zurücklässt, und dann haust du einfach ab. Dabei war ich doch schon fast am Wagen.«

Mit beschwichtigend erhobenen Händen kam Sami auf mich zu. »Versuch doch, das zu verstehen. Ich wollte auf dich warten, aber Gesine ist in Panik ausgebrochen und hat mich angeschrien, dass ich abhauen soll. Und ich hatte auch die Hosen voll, als diese Typen immer näher kamen. Du weißt doch, dass ich mit Stress nicht umgehen kann, Elli. Unter Druck funktioniere ich einfach nicht.«

»Und das soll es jetzt besser machen, oder was?«

»Nein, natürlich nicht, aber …« Hilflos hob er die Schultern. »Tut mir leid. Das ist echt richtig blöd gelaufen.«

»Blöd gelaufen ist ja wohl die Untertreibung des Jahrhunderts.« Missmutig ließ ich mich wieder an den Tisch fallen und griff nach meinem Kaffee.

Sami setzte sich mir gegenüber und sah mich mit zerknirschtem Blick an. »Ich hab immer wieder versucht, dich anzurufen, aber ich konnte dich nicht erreichen.«

»Mein Akku war leer.«

Antje seufzte. »Das hätten wir uns auch denken können. Dabei predige ich dir schon seit Monaten, dass du dringend einen neuen brauchst.«

»Wozu, theoretisch funktioniert das Ding doch noch. Es ist also nicht notwendig, Elektromüll zu produzieren.«

Kirsten stand auf, um die Keksdose zu holen und geöffnet auf den Tisch zu stellen. »So. Jetzt essen wir alle erst mal einen Keks, dann sieht die Welt gleich wieder anders aus.«

Der verführerische Duft von Zimt und Nüssen stieg mir in die Nase und ließ das Wasser in meinem Mund zusammenlaufen. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie hungrig ich war. Ich nahm mir einen Keks, ließ ihn komplett im Mund verschwinden und schloss beim Kauen genüsslich die Augen. Ich liebte Kirstens Kekse, sie waren unfassbar lecker, und das, obwohl sie megagesund, ohne Zucker und ohne Mehl waren. Mit dem köstlichen Geschmack von Gewürzen, Nüssen und Trockenfrüchten auf der Zunge fühlte ich mich gleich viel umgänglicher.

Sami, der meine Schwäche genau kannte, legte eine Hand auf meine. »Verzeihst du mir? Ich verspreche dir hoch und heilig, dass ich dich beim nächsten Mal nicht zurücklasse, komme, was da wolle.« Dabei sah er mich so ernst und aufrichtig an, dass ich gar nicht anders konnte, als weich zu werden. »Schon gut.« Ich entzog ihm meine Hand und nahm mir noch einen Keks. »Aber vergiss dein Versprechen besser nicht.«

»Mach ich nicht«, beteuerte er.

»Dann wäre das ja geklärt«, sagte Antje mit vollem Mund. »Und eins steht doch fest: Auch wenn die neueste Aktion der Guerilla-Gärtnernden ein bisschen holprig gelaufen ist, war sie unterm Strich doch ein Erfolg.«

»Ähm … na ja«, meinte ich kleinlaut, »wie man es nimmt.« Und dann erzählte ich in aller Ausführlichkeit und in den schillerndsten Farben von der Begegnung mit Helmut, seinem vermeintlich netten Kollegen Christian und dem Schnöselanwalt. »Und nun kassieren diese Verbrecher die Lorbeeren für unsere Aktion«, beendete ich schließlich meinen Bericht. »Um sich grün zu waschen für die Anleger, das muss man sich mal vorstellen. Am liebsten würde ich hinfahren und alles wieder zuschottern.«

»Um Himmels willen, bloß nicht!«, rief Sami. »Seien wir doch einfach froh, dass sie dich haben laufen lassen.«

»Hm.« Ich griff erneut in die Keksdose und kaute eine Weile schweigend vor mich hin. »Es nervt mich aber extrem, dass dieser Schnöselanwalt …«

»Jetzt vergiss diesen Schnöselanwalt mal«, unterbrach Kirsten mich. »Sehen wir doch das Positive: Wo gestern noch eine Schotterwüste war, ist jetzt ein Naturgarten. Konzentrieren wir uns darauf.«

Antje schlug mit den Händen leicht auf die Tischplatte und stand auf. »Absolut richtig. Es ist durchaus ein Sieg für unsere Sache. So, ich muss draußen nach dem Rechten sehen, bevor der nächste Sturm kommt.« Aufmunternd tätschelte sie mir die Wange und beugte sich anschließend zu Kirsten, um ihr einen Kuss zu geben.

Zärtlich lächelte sie Antje an. »Ich helfe dir gleich mit den Hühnern.«

Antje erwiderte ihr Lächeln, dann stapfte sie hinaus. Bald darauf hörten wir, wie sie auf ihrem altersschwachen Traktor Richtung Felder davonknatterte.

Antje und Kirsten waren seit ihrem sechzehnten Lebensjahr ein Paar, also seit fast dreißig Jahren. Noch immer benahmen sie sich wie Frischverliebte und waren verrückt nacheinander. So ein Glück wie sie hatte nicht jeder, das war mir klar. Es war ein Kunststück, es auf so viele gemeinsame Jahre zu bringen, ohne sich gegenseitig anzuöden oder an die Gurgel zu gehen. Meine Eltern hatten mir bis zu ihrer Scheidung vorgelebt, wie unglücklich man in einer Beziehung sein konnte. Ich war zwölf Jahre alt gewesen, als meine Eltern mir erzählten, dass mein Vater ausziehen würde. Natürlich war es erst mal ein Schock, aber ein Teil von mir war alles andere als überrascht. Ja, ein nicht unerheblicher Teil von mir war sogar erleichtert, dass es vorbei war. Dass ich nicht mehr nachts wach im Bett liegen und mir die Ohren zuhalten musste, weil meine Eltern mal wieder stritten. Dass ich nicht mehr so tun musste, als würde ich die rot geweinten Augen meiner Mutter am nächsten Morgen nicht sehen, denn wenn ich sie darauf ansprach, fing sie nur wieder an zu weinen, und ich hatte keine Ahnung, wie ich sie trösten sollte. Beziehungen schienen mir allzu oft von vornherein zum Scheitern verurteilt zu sein. Ich selbst hatte auch schon die ein oder andere schmerzhafte Bruchlandung erlitten und hielt seit Langem lieber Abstand zu Männern. Verstohlen schielte ich zu Sami. Vielleicht wäre mit ihm ja alles anders. Er könnte doch der Volltreffer sein, mit dem ich gemeinsam den Alltag teilen, Sorgen weglachen und Herausforderungen meistern konnte. Sami stippte einen Keks in seinen Kaffee und saugte die Flüssigkeit aus. Leidenschaft spürte ich nicht, wenn ich ihn ansah. Aber waren Freundschaft und Vertrauen nicht viel wichtiger? Am allerwichtigsten aber war Paula, und die liebte Sami. Und sie wünschte sich so sehr jemanden, für den sie in der Kita beim Vatertagsgeschenkebasteln mitmachen konnte. In diesem Moment schaute Sami zu mir. Er lächelte und zwinkerte mir zu, als wüsste er genau, worüber ich gerade nachdachte. Wenn ich ganz genau darauf achtete, konnte ich spüren, wie mein Herz ein bisschen schneller schlug. Das war doch schon mal ein Anfang.

»Hey, ihr beiden«, unterbrach Kirsten unseren Blickkontakt. »Habt ihr eigentlich schon die neuesten Guerilla-Gärtnernden-News gehört?«

Da fiel mir wieder ein, was der vermeintlich nette Christian vorhin gesagt hatte. »Übrigens, was haltet ihr von Garten-Guerillas?«

Sami nickte zustimmend. »Finde ich gut.«

»Ich auch«, meinte Kirsten. »Darüber können wir ja beim nächsten Treffen abstimmen. Aber jetzt passt mal auf: Wir haben eine E-Mail vom Hamburger Bürgermeister bekommen! Ja genau, von niemand Geringerem als Rüdiger Hofmann-Klasing und seinem Umweltsenator Christian Lambrecht!« Beifall heischend sah sie uns an.

»Was wollen die denn?«, fragte Sami verblüfft.

»Na, Hofmann-Klasing ist auf uns aufmerksam geworden und würde sich gerne mit uns treffen. Er ist nämlich total pro Schluss mit Schotter, und der Umweltsenator wohl auch. Ist das nicht der Hammer?«

Ungläubig schüttelte ich den Kopf. »Die sind also dafür, nachts heimlich Schotterwüsten in Naturgärten zu verwandeln?«

Kirsten schnalzte ungeduldig mit der Zunge. »Nein, natürlich nicht. Aber sie finden es grundsätzlich gut, Schotterwüsten in Naturgärten zu verwandeln. Vielleicht sollen wir die Außenanlagen von Behörden umgestalten oder bei der Gestaltung mitwirken oder …« Sie hielt mitten im Satz inne und sah uns stirnrunzelnd an. »Warum seht ihr so unbegeistert aus?«

»Ist das überhaupt ein Wort?«, fragte Sami.

»Ist mir egal. Warum findet ihr das nicht großartig?«

Sami und ich tauschten einen Blick. Schließlich sagte ich: »Das ist schon toll, irgendwie. Aber wenn wir mit dem Senat zusammenarbeiten und unsere Aktionen ganz offen und nach vorheriger Absprache durchziehen … dann sind wir eigentlich keine Guerillas mehr, oder?«

Sami nickte zustimmend. »Ich sehe das wie Elli. Wir sollten im Untergrund bleiben. Verdeckt arbeiten. Den Industriebossen so richtig einen reinwürgen.«

Kirsten hob eine Augenbraue. »Und dabei riskieren, im Knast zu landen, so wie es Elli heute fast passiert wäre?«

»Fast, wohlgemerkt«, betonte ich.

»Ja, weil du ein Riesenschwein hattest.«

»Ach, ich glaube nicht, dass Elli im Knast gelandet wäre«, meinte Sami. »Sie ist doch ein vollkommen unbeschriebenes Blatt.«

Ich wich seinem Blick aus und musterte interessiert meine leere Kaffeetasse. »Mhm.«

Für eine Weile wurde es still in der Küche, während Kirsten, Sami und ich unseren Gedanken nachhingen. In der Ferne hörten wir Antjes Trecker stottern, und eine Sturmbö klatschte Regen gegen die Sprossenfenster. Ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen, aber in der Stille fiel mir auf, wie sehr es in meinem Kopf dröhnte. Ich konnte kaum die Augen offen halten. Mit den Händen rieb ich mir übers Gesicht und schob dann meinen Stuhl zurück. »Nehmt es mir nicht übel, aber es war echt ’ne lange Nacht. Ich kann mir gerade keine Gedanken über irgendwelche Bürgermeister oder Umweltsenatoren oder sonst etwas machen.« Ich gähnte herzhaft.

»Klar, kein Problem«, sagte Kirsten. »Wir müssen hier und jetzt sowieso keine Entscheidung treffen. Das können wir in aller Ruhe mit der gesamten Gruppe besprechen.«

»Und demokratisch darüber abstimmen«, fügte Sami hinzu.

»Dann leg dich mal hin und sammle Kraft, Elli«, sagte Kirsten. »Morgen geht es ja auf große Fahrt.«

Sami horchte auf. »Ach, echt? Wohin fährst du denn?«

»Paula und ich müssen doch nach Oberstdorf, um meine Mutter mal wieder zu besuchen.« Mama war gebürtige Allgäuerin und der Liebe wegen nach Hamburg gezogen. Nach der Scheidung von meinem Vater war ihr Heimweh immer größer geworden, und nachdem ich angefangen hatte zu studieren und in einer WG wohnte, war sie in ihre alte Heimat zurückgekehrt. »Am Sonntag steht dann noch der Achtzigste von meiner Großtante Fini an.«

»Stimmt«, meinte Sami, »davon hast du erzählt. Mir war nur nicht klar, dass ihr schon morgen aufbrechen wollt.«

Ich seufzte tief. »Allein, wenn ich an die Bahnfahrt denke … lange Bahnfahrten mit Hibbel-Paula sind nie ein Spaß.«

»Ich bin gespannt, ob du überhaupt loskommst«, sagte er. »Heute Mittag wird doch der nächste Jahrhundertsturm erwartet, und wie wir alle wissen, kapituliert die Deutsche Bahn schon bei ’n büschn Wind.«

Kaum hatte er es gesagt, drückte eine Windbö gegen die Fenster, und Paulas Ball kullerte über den Hof. Irgendwo im Haus klapperte es, aber das tat es eigentlich immer, also ließ ich mich davon nicht verunsichern. »Ach, das wird bestimmt nicht so schlimm. Die kündigen doch ständig Stürme an, die dann gar nicht kommen.« Ich sagte Kirsten und Sami gute Nacht. Dann ging ich in mein Zimmer, wo ich unter die Bettdecke kroch und sofort in einen tiefen Schlaf fiel.

Poldi

Entgegen meiner Erwartungen hatten die Meteorologen dieses Mal richtiggelegen. Der Orkan Poldi fegte über Norddeutschland hinweg und hinterließ eine Schneise der Verwüstung. Er entwurzelte Bäume, setzte Häfen und Strände unter Wasser, deckte Hausdächer ab, legte den Bahn- und Flugverkehr in ganz Deutschland lahm und kostete drei Menschen das Leben. Die Zugfahrt nach Oberstdorf konnten Paula und ich knicken, denn bis auf Weiteres fuhr nördlich von Frankfurt keine einzige Bahn mehr. Da die Busse ausgebucht waren und Fliegen auch nicht infrage kam, war ich gezwungen, mit Antjes klapprigem VW Passat zu fahren. Ich fuhr alles andere als gern Auto, und das nicht nur wegen der Umwelt. Absagen konnte ich allerdings nicht, schließlich waren Paula und ich schon seit zwei Jahren nicht mehr bei meiner Mutter gewesen. Und meine Großtante wurde ja auch nur einmal achtzig.

Also fegte ich am nächsten Tag wie Poldi höchstpersönlich durchs Haus und kramte Paulas und meine Sachen für die Reise zusammen. Ich war spät dran, denn in dieser Woche schloss Paulas Kita wegen einer Fortbildung schon um halb eins. Ich hatte hoch und heilig geschworen, sie pünktlich abzuholen, doch daraus wurde leider nichts. Paula und ihre Erzieherin Malu würden mich mit stummen vorwurfsvollen Blicken strafen, wie jedes Mal, wenn ich ein kleines bisschen zu spät kam. Dabei konnte ich heute nun wirklich nichts dafür. Schuld war dieser Typ im Bioladen, der sich erst ausführlich von mir über unser Gewürzsortiment hatte beraten lassen, nur um mich anschließend mit einer endlosen Diskussion über den Sinn und Unsinn von Ökolandwirtschaft aufzuhalten. Immerhin hatte ich ihm noch zwei Gläser Pumpkin-Spice-Latte-Gewürz verkaufen können, und das, obwohl gar keine Pumpkin-Spice-Latte-Saison war. Nur ein schwacher Trost, wenn man bedachte, wie sehr ich nun unter Zeitdruck stand.

Ob zwei Packungen veganer Leberkäse für eine Woche im Allgäu reichen würden? Egal, ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Zusammen mit Paulas heiß geliebtem Früchtetee warf ich die Packungen in meine Tasche. Ich flitzte hoch in Paulas Zimmer und suchte ein paar Klamotten, ihre Lieblingsbücher, Malsachen und ihre Musikbox nebst Kopfhörer zusammen. Als ich gerade dabei war, unsere Kulturbeutel zu packen, klingelte mein Handy. Ich stöhnte auf, als ich den Namen auf dem Display sah: Mama. Wie immer im ungünstigsten Moment. Mit einer Hand hielt ich das Telefon ans Ohr, während ich mit der anderen Zahnbürsten und Zahnpasta in den Kulturbeutel schmiss. »Hallo, Mama. Ich hab leider keine Zeit zum Quatschen, aber ich kann dich beruhigen: Wir sind so gut wie unterwegs.«

»Also seid ihr noch gar nicht losgefahren?«

»Nein, aber wirklich fast.« Ich lief in mein Zimmer, öffnete den Kleiderschrank und zerrte wahllos ein paar Klamotten hervor.

»Denk dran, etwas Schickes, Adrettes einzupacken«, mahnte meine Mutter, als könnte sie mich sehen. »Auf Tante Finis Achtzigstem sind eure üblichen … das, was ihr sonst tragt, wirklich nicht angemessen.«

Sie wollte eigentlich »Lumpen« sagen, darauf hätte ich meinen Hintern verwettet. »Ja, Mama, unsere wadenlangen Faltenröcke und Rüschenblusen habe ich selbstverständlich dabei.« Ich stopfte ein einigermaßen schlichtes schwarzes Kleid in die Tasche.

»Am liebsten wäre es mir ja, ihr würdet eure Dirndl anziehen, wenn ihr schon mal zu mir nach Oberstdorf kommt.«

Ungläubig lachte ich auf. »Welche Dirndl? Wir wohnen in Schleswig-Holstein, Mama.«

»Aber inzwischen wird doch in ganz Deutschland das Oktoberfest gefeiert. Bestimmt auch bei euch in der Holsteinischen Schweiz.«

»Das mag sein, aber weder Paula noch ich feiern da mit.« Mit entschlossener Stimme fuhr ich fort: »War sonst noch was? Ich hab’s wirklich furchtbar eilig, also …«

»Ja, da ist tatsächlich noch was.« Nach einem Räuspern sagte meine Mutter: »Ich hätte da eine kleine Bitte, da ihr ja nun mit dem Auto fahrt. Kommt ihr auf dem Weg nach Oberstdorf zufällig an Hamburg vorbei?«

»Äh … Ja, daran führt kaum ein Weg vorbei, es sei denn, wir fahren mit der Fähre von Kiel nach Klaipeda und nehmen dann die Ostroute durch das Baltikum, Polen und Tschechien.«

»Kein Grund, schnippisch zu werden, Elisabeth.«

Elisabeth. So hatte sie mich schon immer genannt, wenn ich mich ihrer Meinung nach völlig danebenbenahm. Was häufig der Fall war. »Entschuldige, Mutter«, erwiderte ich in ergebenem Tonfall.

»Schon gut. Jedenfalls, wenn du über Hamburg fährst, wäre es doch ein Leichtes für dich, Onkel Heinz aus der Seniorenresidenz abzuholen und mitzunehmen.«

Rumms. Mit einem dumpfen Laut fiel mein Handy auf den Boden. Alles, nur das nicht! Nicht Onkel Heinz! Kurz zog ich in Erwägung, so zu tun, als wäre mein Akku leer, was zwar meistens der Wahrheit entsprach, in diesem Fall allerdings leider nicht. Immerhin hatte ich das Teil gerade erst voll aufgeladen und somit noch etwa acht Minuten Gesprächszeit. Also hob ich das Handy vom Boden auf und versuchte, mich irgendwie rauszureden. »Na ja. Extra von der Autobahn abfahren und dann noch nach Hamburg rein, bei dem Verkehr … das ist echt ungünstig. Was ich da an zusätzlichem Sprit verpulvere. Mal abgesehen von den Abgasen, die ich in die Luft blase. Und dann ist da noch der … äh, die Sache mit … ähm …« Verdammt. Mir fiel nichts mehr ein, außer der Wahrheit: Onkel Heinz war die Boshaftigkeit in Person. Er hasste mich und machte daraus auch keinen Hehl, und ich wollte ihn einfach nicht mitnehmen. Aber das würde meine Mutter niemals als Argument gelten lassen, also hielt ich hilflos inne.

»Elisabeth, sei nicht so herzlos! Onkel Heinz wollte morgen mit dem Zug fahren, aber wie es aussieht, geht bei der Bahn in der nördlichen Hälfte Deutschlands bis auf Weiteres gar nichts mehr. Mal wieder.«

»Er könnte doch einen Bus nehmen«, schlug ich vor. Ich wusste natürlich, dass es keine Busse gab, schließlich hatte ich diese Möglichkeit selbst in Erwägung gezogen, und so wunderte es mich nicht, dass meine Mutter antwortete: »Nein, Fini und ich haben uns bereits erkundigt, die Busse sind restlos ausgebucht. Flüge auch, zumal der Flugverkehr ohnehin noch lahmliegt. Man kommt momentan nur mit dem Auto nach Süddeutschland. Also gib dir einen Ruck und nimm deinen alten Onkel Heinz mit. Er hat doch sonst nichts vom Leben und wäre dir so dankbar.«

»Pff, klar. Onkel Heinz hasst mich, und das weißt du auch. Außerdem ist er ein fieser Griesgram, er wird Paula und mich die ganze Fahrt über anmaulen.«

Ein missbilligendes Zungenschnalzen erklang vom anderen Ende der Leitung. »Nun spring mal über deinen Schatten. Er ist ein alter Mann, da musst du doch nicht alles auf die Goldwaage legen, was er von sich gibt. Er will bestimmt auch seine Großgroßnichte endlich kennenlernen. Er hat sie doch nur einmal ganz kurz gesehen.«

»Du hast offensichtlich vergessen, was dabei passiert ist.«

»Das ist doch schon Jahre her, und es tut Onkel Heinz ganz bestimmt leid.«

Ganz bestimmt nicht, dachte ich. »Aber ich habe doch gar keine Ahnung, wie man mit alten Leuten umgeht«, startete ich einen letzten Versuch.

»Du musst ihn lediglich im Auto mitnehmen, dafür brauchst du keine Ausbildung als Altenpflegerin. Er ist ja nicht in der Seniorenresidenz, weil er pflegebedürftig ist, sondern weil er in Hamburg niemanden hat und nicht allein sein wollte, falls mal was passiert. Zugegeben, er ist schon ein bisschen klapprig, aber er kann noch ganz gut für sich selbst sorgen. Und unten rum ist er auch noch dicht.«

Ich zog eine schmerzvolle Grimasse. Allein die Vorstellung!

»Also, holst du ihn ab?«, bohrte Mama nach.

Mit geschlossenen Augen atmete ich tief durch. Offensichtlich blieb mir nichts anderes übrig, es sei denn, ich wollte es Onkel Heinz verwehren, zum womöglich letzten Mal in seinem Leben seine bayerische Heimat und Verwandtschaft zu sehen. Und das wollte ich nicht, denn es verstieß gegen eine meiner wichtigsten Lebensregeln: Anderen Lebewesen tat ich niemals etwas Schlechtes an. Egal wie bösartig Onkel Heinz auch sein mochte – er war ein alter Mann. Alte Menschen wurden sowieso schon an den Rand der Gesellschaft gedrängt. In einer Welt, in der auch noch die eigene Verwandtschaft ihnen den Rücken zukehrte, wollte ich nun wirklich nicht leben. »Also gut. Ich nehme ihn mit.«

»Sehr schön, Elli«, sagte meine Mutter zufrieden. Sie nannte mir die Adresse und ermahnte mich noch zweimal, auch ja schicke (!) Klamotten einzupacken.

Als wir aufgelegt hatten, warf ich einen Blick auf die Uhr. Verdammt, dieses Telefonat hatte mich sechs Minuten gekostet, und mein Handy war am Ende seiner Kräfte. In Windeseile packte ich Paulas und meine Tasche fertig. Anschließend band ich mir ein buntes Tuch ins Haar, dessen Farben sich mit meiner roten Mähne bissen, aber egal. Ich schnappte meine Sonnenbrille von der Kommode im Flur und stürmte nach draußen. Im Hof lagen noch die Dachziegel, die Poldi heruntergefegt hatte, und ein dicker Ast war ins Fenster des ehemaligen Kuhstalls gekracht, den Kirsten und ich als Atelier nutzten. Zum Glück war weder unseren Kunstwerken noch den Materialien und Werkzeugen etwas passiert. Ich öffnete die Tür und entdeckte Kirsten, die in voller Montur mit dem Schweißgerät an einer ihrer Skulpturen arbeitete. Sie sah zu mir auf, stellte das Gerät ab und öffnete das Visier ihres Helms. »Hey, Elli, geht’s los?«

»Ja, mir fehlt nur noch der Schlüssel für den Passat. Hast du ihn zufällig?«

»Nein, aber Antje vielleicht.«

Ich wollte mich schon umdrehen, da rief Kirsten: »Warte mal.«

»Hm?«

»Dein neuestes Bild«, sagte sie und deutete auf das zwei mal drei Meter große Ölgemälde, das an der Wand lehnte. »Es ist genial. Ich liebe es. Das musste unbedingt noch gesagt werden, bevor du fährst.«

Ich winkte ab. »Ach, Quatsch. Das ist einfach nur Spielerei mit Farben. Kitsch.«

Sie verdrehte die Augen und zeigte mit dem Schweißgerät auf mich. »Hör auf, deinen eigenen Kram ständig schlechtzumachen. Auf der Fahrt nach Bayern hast du ja schön viel Zeit, dir zu überlegen, ob du nicht doch noch bei der Ausstellung mitmachen willst.«

Damit lag sie mir seit Ewigkeiten in den Ohren. Sie plante mit ein paar anderen Künstlerinnen eine Ausstellung und wollte mich unbedingt dazu überreden, ein paar meiner Bilder dort zu zeigen. Dabei fühlte ich mich nicht mal mehr als Künstlerin. Seitdem ich mein Kunststudium abgebrochen hatte, malte ich nur noch zum Spaß, und das noch nicht mal besonders gut. »Okay, ich überlege es mir«, behauptete ich, obwohl meine Entscheidung längst gefällt war. Ich und meine Bilder wären bei dieser Ausstellung vollkommen fehl am Platz.

Ich verabschiedete mich von Kirsten und überquerte den Hof auf der Suche nach Antje. Zum Glück fand ich sie dort, wo ich als Erstes nachsah – im Hühnerstall –, und sie hatte die Passatschlüssel tatsächlich bei sich. Im Laufschritt holte ich die gepackten Taschen aus dem Haus und schleppte sie zu dem altersschwachen laubgrünen VW Passat, der unter einer Plastikplane neben dem Trecker in der Scheune stand. Ich war gerade damit beschäftigt, die Plane runterzuschieben, als ich hinter mir Samis Stimme hörte.

»Hey, Elli, brauchst du Hilfe?«

Ich drehte mich um und blickte in seine grauen Augen hinter der John-Lennon-Gedächtnisbrille. »Hey, Sami. Eigentlich komme ich klar, aber wenn du schon fragst … ein bisschen Hilfe wäre super.« Nachdem wir den Wagen mit vereinten Kräften befreit hatten, ging ich zum Kofferraum und zog heftig an der störrischen Klappe, bis sie sich mit einem Quietschen öffnete. Sami lud unsere Taschen ein, dann drehte er sich zu mir um. »Hör mal, Elli … Ich hatte ja bei der FIB-Chem-Aktion schon gesagt, dass ich echt gerne mal mit dir reden würde. Du weißt schon«, mit dem Finger zeigte er zwischen uns beiden hin und her, »über uns. Über das, was wir füreinander empfinden, möglicherweise. Also … Hättest du vielleicht ein paar Minuten?«

Erschrocken zuckte ich zusammen. Er wollte dieses Gespräch ernsthaft jetzt führen, DAS Gespräch? Es sah ganz danach aus. Sami wollte es amtlich machen, und zwar auf der Stelle. Definieren, was wir waren, mich um ein Date bitten, offiziell eine Beziehung eingehen, oder was auch immer. Sack zu, Nägel mit Köpfen, Tabula rasa, Heiratsantrag! Dabei hatte ich gedacht, wir könnten einfach abwarten, Zeit miteinander verbringen und schauen, was passierte. Ach, Sami. Er war so klug und so süß, mit seinem lockigen Haar und der Jacke, die ich ihm zu Weihnachten gestrickt hatte und die eigentlich viel zu warm für diese Jahreszeit war. Und er wollte über Gefühle reden. Welcher Mann wollte denn schon freiwillig über Gefühle reden? Sami wäre der ideale Mann für mich. Eine Beziehung mit ihm wäre so naheliegend, so richtig, so … praktisch.

Mir wurde bewusst, dass allmählich eine Reaktion meinerseits fällig war. Ich klopfte ihm freundlich auf die Schulter. »Wir müssen unbedingt reden, ja. Das machen wir auch auf jeden Fall. Aber ich bin wirklich spät dran. Und so zwischen Tür und Angel … ich weiß auch nicht.«

»Klar.« Sami schob mit dem Zeigefinger seine Brille näher an die Augen. »Du hast ja recht. Ich will dir natürlich keinen Stress machen. Wir reden, wenn du wieder da bist. Ganz entspannt.«

»Klingt gut«, erwiderte ich, klopfte ihm noch mal auf die Schulter und setzte mich ins Auto.

Sami beugte sich durch die offene Tür. »Fahr vorsichtig, ja? Und drück Paula ganz lieb von mir.«

»Mach ich.« Ich musste mich schwer zusammenreißen, ihm nicht schon wieder auf die Schulter zu klopfen. Hilfe, was hatte es damit nur auf sich? Wann war ich zur Schulterklopferin geworden? Wieso küsste ich ihn nicht einfach, darüber würde er sich bestimmt freuen. Um meine Verlegenheit zu überbrücken, startete ich den Wagen, doch es erklang nur ein verzweifeltes Röcheln. Noch ein Versuch. Das Röcheln wurde zur bösen Lungenentzündung. »Spring an, mein Freund«, beschwor ich den Passat. »Zur Belohnung bekommst du auch leckeres Benzin von mir.«

»Diesel, Elli«, warf Sami ein. »Das ist ein Diesel.«

Verdammt, ein Diesel! Das bedeutete ein fettes Minus für meinen ökologischen Fußabdruck. Da hätten wir ja auch gleich fliegen können. »Na, dann verwöhne ich Passat-Opi eben mit Diesel.« Ich drehte den Schlüssel nochmals um, und wie durch ein Wunder sprang der Motor nach einem letzten Husten an. »Siehst du, er freut sich«, triumphierte ich. Schließlich gab ich mir einen Ruck, hob den Kopf und spitzte die Lippen. Mal abgesehen von einer betrunkenen Knutschsession an Silvester hatten Sami und ich uns noch nie geküsst. Aber angesichts der Tatsache, dass wir beide jetzt quasi nur noch ein Gespräch von einer Beziehung entfernt waren, war ein Kuss wohl angemessen. Sami zögerte für eine Sekunde, dann beugte er sich zu mir und drückte seine Lippen auf meine. Na also. Das war doch viel besser als Schulterklopfen. Gut gemacht. »Also, bis nächste Woche, Sami.«

»Bis nächste Woche.«

»Und dann reden wir. Versprochen.« Vielleicht sollte ich zum Abschied noch etwas Persönliches sagen. So etwas wie »Ich hab dich lieb« oder »Ich freu mich auf dich« oder so. Das wäre doch nett. »Du, Sami?«

»Ja?«

»Ich … Ähm, wir sehen uns dann.«

Im Schneckentempo kroch ich die Auffahrt zur Straße hinab. Ich fuhr so gut wie nie Auto, und dementsprechend unsicher fühlte ich mich. Nachdem ich auf die Landstraße in Richtung Plön abgebogen war, fasste ich mir ein Herz und zog das Tempo an. Noch immer war es stürmisch und verregnet und vor allem viel zu kalt für Anfang Juni. Ich dachte an das unbeholfene Gespräch mit Sami, während ich durch die hügelige grüne Landschaft fuhr. Warum verschüchterte seine Offensive mich derart? Eigentlich müsste ich überglücklich sein und mich kopfüber in eine Beziehung mit ihm stürzen wollen. Andererseits, nach den Erfahrungen, die ich mit kopflosem Hineinstürzen gemacht hatte, war es wohl verständlich, dass ich zögerte. Immerhin holte ich das Ergebnis einer dieser Erfahrungen jetzt von der Kita ab.

Ich grübelte die ganze Fahrt über die sich anbahnende Beziehung mit Sami und hielt schließlich mit rauchendem Kopf vor Paulas Kita, den Wurzelzwergen. Kaum war ich ausgestiegen, kam meine Tochter auf mich zugestürmt. Wie immer, wenn ich sie sah, wurde mir ganz warm ums Herz vor Liebe. Ihre süßen Kulleraugen leuchteten, und die dunkelbraune Haut ließ ihr Strahlen noch heller erscheinen. Sie trug bunte Flatterhosen, so wie ich, und ein langärmeliges T-Shirt, das wir gemeinsam gebatikt hatten. Um den Hals baumelte ihre Eulen-Kindergartentasche, die ich selbst gefilzt und mit ihrem Namen bestickt hatte. Über ihren dicken geflochtenen Zöpfen trug sie den roten Fahrradhelm, den sie über alles liebte. Seit zwei Wochen weigerte sie sich strikt, ihn abzusetzen – sogar nachts.

»Da bist du ja endlich«, rief sie und umarmte mich stürmisch.

»Hey, Motte.« Ich klopfte auf ihren Helm und gab ihr einen dicken Kuss. »Tut mir leid, dass ich zu spät bin.«

»Du bist voll oft zu spät. Die anderen Mamas sind immer pünktlich.« Vorwurfsvoll und leicht strafend sah sie mich an und erinnerte mich in diesem Moment stark an ihre Großmutter.

»Entschuldige, Paula. Ich verspreche dir, dass ich versuchen werde, in Zukunft pünktlich zu sein«, sagte ich, während ich ihr dabei half, in den Kindersitz auf der Rückbank zu klettern.

»Versuchen reicht nicht, Elli.« Ich drehte mich um und blickte geradewegs in Malus Augen. Fahrig strich sie sich das graue Haar aus der Stirn. »Das geht so nicht weiter. Ich weiß ja, dass die Zeit bei dir ein bisschen anders tickt, aber es wäre schön, wenn du deine Uhr auf uns Normalsterbliche stellen könntest.«

»Tut mir leid, Malu. Aber dieses Mal war es echt nicht meine Schuld. Da war dieser Kunde im Laden, der mich aufgehalten hat, und dann hat meine Mutter angerufen, und Sami wollte über Gefühle sprechen, und der Wagen ist nicht angesprungen, und als er dann lief, musste ich mich erst mal wieder ans Fahren gewöhnen.«

»Jaja, und der Hund hat die Hausaufgaben gefressen, und der Goldhamster ist gestorben.«

»Bodo frisst keine Hausaufgaben«, warf Paula korrekterweise ein. »Außerdem haben wir gar keinen Goldhamster. Find ich eigentlich schade.«

Malu seufzte tief. »Na schön. Lassen wir es gut sein.« Sie verabschiedete sich von Paula und schlug die Tür zu. »Da ist allerdings noch etwas, worüber wir dringend miteinander reden müssen, Elli«, sagte sie leise.

Wieso wollte ausgerechnet heute jeder ernste Gespräche mit mir führen? »Worum geht es denn?«

»Paula sagt, dass sie Geschenke und Briefe von ihrem Vater bekommt. Habt ihr jetzt doch Kontakt zu ihm?«