Wenn's einfach wär, würd's jeder machen - Petra Hülsmann - E-Book
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Wenn's einfach wär, würd's jeder machen E-Book

Petra Hülsmann

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Beschreibung

Damit hatte die beliebte Musiklehrerin Annika nicht gerechnet: Aus heiterem Himmel wird sie von ihrer Traumschule im Hamburger Elbvorort an eine Albtraumschule im absoluten Problembezirk versetzt. Nicht nur, dass die Schüler dort mehr an YouTube als an Hausaufgaben interessiert sind - die Musical-AG, die Annika gründet, stellt sich auch noch als völlig talentfrei heraus. Aber wenn's einfach wär, würd's schließlich jeder machen. Annika gibt nicht auf und wendet sich hilfesuchend an Tristan, ihre erste große Liebe und inzwischen Regisseur. Von nun an spielt sich das Theater jedoch mehr vor als auf der Bühne ab, und das Chaos geht erst richtig los.

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungEin missratener GeburtstagPrinz WilliamSmells Like Teen SpiritKeinen BockGrenzenloser OptimismusMusical ist immer noch besser als MathefüchseWenn’s einfach wär, würd’s jeder machenKurswechselTristan ist ganz schön alt geworden!Du bitte helfen?Coole vs. NerdsTristesse und EisbärenDrama oder Comedy?Panne-AnneGefühlsverwirrungenDrama, Baby!StrategiespieleGanz schön heiß hierCruella de VilSchattenseitenSouveränes Verhalten in jeder Lebenslage– Lektion 1Der Wind dreht sich– und dreht sichKüsst du mich jetzt endlich, oder was?Verliebtsein grenzt an GeisteskrankheitTeenagerverzweiflungManchmal kannste nix machen, außer weiterEllerbrook!Himbeermuffins mit weißer SchokoladeDie Songs zum BuchDanksagungen

Über dieses Buch

Damit hatte die beliebte Musiklehrerin Annika nicht gerechnet: Aus heiterem Himmel wird sie von ihrer Traumschule im Hamburger Elbvorort an eine Albtraumschule im absoluten Problembezirk versetzt. Nicht nur, dass die Schüler dort mehr an YouTube als an Hausaufgaben interessiert sind - die Musical-AG, die Annika gründet, stellt sich auch noch als völlig talentfrei heraus. Aber wenn‘s einfach wär, würd‘s schließlich jeder machen. Annika gibt nicht auf und wendet sich hilfesuchend an Tristan, ihre erste große Liebe und inzwischen Regisseur. Von nun an spielt sich das Theater jedoch mehr vor als auf der Bühne ab, und das Chaos geht erst richtig los.

Über die Autorin

Petra Hülsmann, Jahrgang 1976, wuchs in einer niedersächsischen Kleinstadt auf. Nach einem erfolgreich abgebrochenen Studium der Germanistik und Kulturwissenschaft arbeitete sie in Anwaltskanzleien und reiste sechs Monate mit dem Rucksack durch Südostasien, bevor sie mit ihren Romanen die Beststellerliste eroberte. Petra Hülsmann lebt mit ihrem Mann in Hamburg.

Petra Hülsmann

Wenn’s einfach wär,würd’s jeder machen

Roman

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Dieses Werk wurde vermittelt durch dieLiterarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30131 Hannover

Copyright © 2018/2023 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Stefanie Kruschandl, Hamburg

Titelgestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Motiven von © Olga_Angelloz/Shutterstock; Piyapong89/Shutterstock;

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-5663-2

luebbe.de

lesejury.de

Für alle Nerds, Spinner, Streber, Träumer und Außenseiter.Für alle, die anders sind und sich deswegen manchmal fehl am Platz fühlen.Bleibt, wie ihr seid, die Welt braucht euch.

Ein missratener Geburtstag

»Hi, Frau Paulsen!«

Erschrocken fuhr ich zusammen. Fast wären mir der Plastikbehälter mit Schokoladenkuchen und das Buch he­run­tergefallen, in dem ich gerade las. Die Geschichte war so spannend, dass ich mich selbst auf den wenigen Metern von der S-Bahn bis zur Schule nicht davon trennen konnte. Ich drehte mich um und entdeckte Carla, eine meiner Schülerinnen aus der fünften Klasse, die mich fröhlich angrinste.

Ich erwiderte das Lächeln. »Hallo, Carla.«

Sie deutete auf den eingetupperten Schokokuchen, das Buch sowie meine Schultasche. »Soll ich Ihnen was abnehmen?«

Hach, sie war wirklich ein ganz besonders nettes Mädchen. »Das ist lieb, aber ich schaffe das schon.« Schließlich wollte ich vermeiden, dass sie von ihren Mitschülern dabei erwischt wurde, wie sie der Lehrerin die Tasche trug. »Und, was hast du in den Ferien Schönes vor? Fährst du mit deinen Eltern in den Urlaub?«, erkundigte ich mich, während wir nebeneinander in Richtung Schule gingen. Schon übermorgen hieß es für mich wieder: ›Tag der richtigen Berufswahl‹, denn dann würden die Sommerferien beginnen.

»Nee, die müssen arbeiten«, erwiderte Carla. »Aber ich darf ins Reitcamp, das wird auch cool.«

»Schön«, meinte ich. Carlas Eltern waren Ärzte und die meiste Zeit damit beschäftigt, Leben zu retten. Leider vergaßen sie da­rüber immer wieder das Leben ihrer Tochter.

»Sind Sie auch geritten, als Sie noch jung waren?«, erkundigte Carla sich.

Autsch. Heute war mein siebenundzwanzigster Geburtstag, und eigentlich fühlte ich mich nicht besonders alt. Das hatte sich vor zwei Sekunden jedoch schlagartig geändert. »Nein, ich hatte es nie so mit Pferden. Die sind mir zu groß. Ich habe lieber Klavier gespielt.«

»Aber ein Klavier ist doch auch groß.«

Ich lachte. »Stimmt. Aber es wiehert nicht. Und falls doch, hat man ganz gewaltig danebengegriffen.«

Inzwischen waren wir auf dem Schulhof angekommen, und unsere Wege trennten sich. Carla winkte mir noch einmal zu und eilte dann in Richtung Hauptgebäude. Nach fünf Schritten hielt sie inne. »Wa­rum haben Sie eigentlich Kuchen dabei? Ist der für uns?«

Bedauernd schüttelte ich den Kopf. »Nein, für die Kollegen. Ich habe heute Geburtstag.«

Carlas Augen weiteten sich. »Oh. Dann herzlichen Glückwunsch. Ist aber schon fies, dass nur die Lehrer Kuchen kriegen.«

»Ich weiß. Nach den Ferien bringe ich euch mal wieder welchen mit, okay?«

»Ja, das wär super. Bis später, Frau Paulsen.«

Ich ging über den Pausenhof auf die Schule zu. Das Werther-Gymnasium war ein altehrwürdiges, verschnörkeltes Gebäude, das unter hohen Eichen stand und mich an ein Schloss erinnerte. Es zählte zu den besten Schulen der Stadt, und ich konnte mein Glück noch immer kaum fassen, dass ich hier Musik und Geografie unterrichten durfte. Ich betrat das Gebäude, und sofort stieg mir der typische Geruch von Bohnerwachs und altem Holz in die Nase. Ein Geräuschgewirr aus Lachen, aufgeregtem Geplauder und Fußgetrappel umfing mich. Ich liebte diese kribbelige Atmosphäre kurz vor den Ferien. Auf dem Weg zum Lehrerzimmer wurde ich von unzähligen Schülern gegrüßt. Noch etwas, das ich am Werther-Gymnasium mochte: Der Großteil der Schüler war freundlich und gut erzogen. Natürlich gab es auch ein paar weniger nette, aber ich wusste, dass man es als Lehrerin kaum einfacher haben konnte als hier. Und Einfachheit war etwas, das ich in meinem Leben sehr zu schätzen wusste.

»Hey, Annika, alles Gute zum Siebenundzwanzigsten«, begrüßte mich Maike, meine Lieblingskollegin. Sie fiel mir um den Hals und drückte mir einen Blumenstrauß in die Hand. »Hier, für dich.«

»Danke schön«, sagte ich gerührt, war nun allerdings mit dem Strauß, dem Kuchen und meiner Schultasche ziemlich überfordert. »Äh, warte, lass mich nur kurz …«

»Gib schon her, bevor noch ein Unglück passiert.« Sie nahm mir den Strauß wieder ab.

Ich stellte den Kuchen auf dem Tisch ab und steuerte gerade die Kaffeeküche an, um die Blumen in eine Vase zu stellen, als unser Schulleiter Herr Dr. Friedrich rief: »Liebe Kolleginnen und Kollegen, würden Sie mir kurz Ihre Aufmerksamkeit schenken? Ich möchte Sie da­rum bitten, sich vor dem Nachmittagsunterricht im Lehrerzimmer zu versammeln. Wir müssen reden!« Dann verschwand er in seinem Büro.

Das war ja eine Formulierung, die gemeinhin nichts Gutes verhieß, und die soeben noch fröhlichen Gespräche verwandelten sich augenblicklich in aufgeregte Spekulationen da­rüber, was er wohl wollte.

»Oh, oh«, raunte Maike mir zu, als ich die Blumen auf unserem Tisch abstellte. »Mir schwant Böses.«

»Was soll denn schon passieren?«, fragte ich und musste kichern. »Glaubst du, er will mit uns allen Schluss machen?«

»Nein, aber ich wittere etwas Unangenehmes, das nach Arbeit riecht.«

»Ach, Quatsch«, winkte ich ab. »Wahrscheinlich geht es nur mal wieder um die Parkplatzsituation. So, ich muss dringend los. Bis später.« Ich griff nach meiner Schultasche und hetzte zur 8d, wo eine Doppelstunde Musik anstand. In den Pausen war ich mit der Aufsicht dran und schaffte es nicht mehr ins Lehrerzimmer. Daher war die Ankündigung von Herrn Friedrich schon völlig aus meinem Gehirn verschwunden, als ich mich nach Unterrichtsschluss zu meinen Kollegen gesellte.

Maike saß bereits an ihrem Platz, und auch Volker Dannemann, der so wie ich Geografie und Musik unterrichtete, hatte es sich auf seinem Stuhl bequem gemacht. »Hey, Annika, alles Gute zum Geburtstag«, sagte er und deutete auf den Kuchen, der noch immer auf dem Tisch stand. »Ist der für uns? Der lacht mich den ganzen Tag schon so an.«

»Klar ist der für euch.« Ich wollte gerade den Kuchen anschneiden, als Herr Friedrich ins Lehrerzimmer kam. Er klopfte mit den Knöcheln auf die Tischplatte und rief: »Wie heute Morgen schon angedeutet, habe ich etwas Wichtiges zu verkünden.«

»Verdammte Axt, jetzt muss ich noch länger auf den Kuchen warten«, murrte Volker leise.

Herr Friedrich rückte seine tadellos sitzende Krawatte zurecht. »Ich will gar nicht lang drum he­rumschnacken. Über den akuten Lehrermangel in Hamburg müssen wir nicht diskutieren, die Situation ist hinlänglich bekannt. Wie Sie wissen, werden deshalb Gymnasiallehrer zeitweilig an andere Schulen abgeordnet. Bislang waren wir am Werther-Gymnasium von diesen Abordnungen nicht betroffen, aber es ist nun mal so, dass wir statistisch gesehen überdurchschnittlich gut besetzt sind. Angesichts dieser Tatsache kommen wir den Kolleginnen und Kollegen an anderen Schulen selbstverständlich gern zu Hilfe.«

»Das halte ich aber für ein Gerücht«, wisperte ich, wo­rauf­hin Maike und Volker zustimmend nickten.

Herr Friedrich räusperte sich. »Uns hat ein Hilferuf der Astrid-Lindgren-Schule in Ellerbrook erreicht.«

Ein Raunen ging durchs Kollegium.

»Gott steh uns bei, die ALS«, stieß Maike aus.

Die Astrid-Lindgren-Schule war eine in Lehrerkreisen berüchtigte und weithin gefürchtete Stadtteilschule in einem der größten Prob­lembezirke Hamburgs. Es wurde über Gewalt gemunkelt, über Drogen und Kriminalität. Wenn irgendwo eine Fernsehdokumentation über die schlimmsten Schulen Deutschlands gezeigt wurde, konnte man sicher sein, dass die ALS erwähnt wurde. Und wenn es etwas gab, das man als Lehrer keinesfalls wollte, dann war es, an dieser Schule unterrichten zu müssen. Aber wa­rum sollte das ausgerechnet mir oder einem meiner Lieblingskollegen passieren?

»Die Astrid-Lindgren-Schule ist ohnehin schon stark unterbesetzt, und nun sind auch noch zwei Kollegen auf unbestimmte Zeit krank geworden«, erklärte Herr Friedrich.

Maike lehnte sich zu Volker und mir rüber. »Im UKE haben die ja angeblich in der Psychiatrie einen ganzen Flur für die Lehrer der ALS reserviert.«

»Meine Güte, jetzt beruhig dich mal.« Ich sah Maike aufmunternd an. »Es geht sowieso wieder nur um Englisch und Mathe. Wir sind auf der sicheren Seite, also keine Panik.«

Herr Friedrich fuhr gnadenlos fort: »Die Kollegen benötigen dringend Unterstützung in den Fächern Musik und Geografie.«

Huch! Das Herz rutschte mir in die Hose, und ich verstärkte unwillkürlich den Griff um meine Stuhllehnen. Auch die anderen betroffenen Kolleginnen und Kollegen verspannten sich, allen vo­ran Volker neben mir. Die Glückspilze, die weder Musik noch Geografie unterrichteten, atmeten hingegen erleichtert auf.

»Gibt es Freiwillige?«, fragte Herr Friedrich.

Vereinzelt ertönte ein ungläubiges Lachen, doch ansonsten machte niemand einen Mucks. Volker duckte sich unter den Tisch und fing an, in seiner Schultasche zu wühlen. An­dreas Berthold musterte intensiv seine Fingernägel, und Wiebke Mattischek ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, als würde es gar nicht um sie, sondern um jemand völlig anderen gehen. Ich sackte tiefer in meinen Stuhl.

Herr Friedrich seufzte. »Ich weiß ja, dass die Astrid-Lindgren-Schule nicht den besten Ruf genießt, aber es ist doch nur für ein, zwei Jahre. Maximal drei.«

Für drei Jahre?! Um Himmels willen! Weiterhin wurden eifrig Fingernägel angestarrt oder Rekorde im Möglichst-unauffällig-Verhalten aufgestellt.

»Ich muss doch sehr an Ihre Solidarität appellieren, liebe Kolleginnen und Kollegen«, sagte Herr Friedrich streng.

Keine Reaktion. So solidarisch, freiwillig an die ALS zu gehen, war niemand.

»Na schön. Da sich kein Freiwilliger gemeldet hat, bleibt mir nichts anderes übrig, als jemanden zu bestimmen. Ich habe dieses Szenario bereits durchdacht und mit dem Personalrat besprochen. Er hat meiner Entscheidung zugestimmt.«

Dann stand es also schon längst fest? Ich knetete meine Hände, während ich innerlich Hieronymus, den Schutzpatron der Lehrer, anflehte, diesen Kelch an mir vorbeigehen zu lassen. Doch dann rief ich mich zur Ordnung. Nur keine Panik. Wa­rum sollte es ausgerechnet mich treffen? Okay, ich war die Jüngste unter den zur Auswahl Stehenden, aber andererseits war ich doch ganz beliebt. Und zwar sowohl bei den Schülern als auch im Kollegium. Also, wen würde es wohl treffen? Andreas Berthold, entschied ich. Er kam bei den Schülern nämlich nicht besonders gut an, unter anderem deshalb, weil er extrem gerne Mettbrötchen mit Zwiebeln aß. Wer mochte schon Menschen mit permanentem Zwiebelmundgeruch? Außerdem hatte er es mit stummen Landkarten – also Karten, bei denen die Beschriftung fehlte. Zu Beginn jeder Stunde suchte sich Andreas ein Opfer he­raus, das er vor der ganzen Klasse demütigte, indem er es dazu aufforderte, auf die Loire, Ulan Bator oder das Atlas-Gebirge zu zeigen. Offen gestanden liebte ich diese stummen Karten auch, aber ich ließ lieber unangekündigte Tests schreiben. Falls sich jemand blamierte, geschah das dann wenigstens nicht öffentlich.

»Frau Paulsen«, hörte ich Herrn Friedrichs Stimme.

»Ja?«, fragte ich, noch immer in meine Überlegungen vertieft.

Maike zog scharf die Luft ein und griff nach meinem Arm, und ich spürte die mitleidigen Blicke aller auf mir.

»Nun, Frau Paulsen, ich denke, dass Sie genau die Richtige sind, um das Team an der Astrid-Lindgren-Schule zu unterstützen.«

Mein Atem stockte, und in meinem Kopf begann es zu rauschen. Eine eiskalte Faust klammerte sich um mein Herz. »Was, ich? Aber … nein! Ich bin ganz sicher nicht die Richtige für diesen Job. Und außerdem habe ich heute Geburtstag«, fügte ich schwachsinnigerweise hinzu.

»Na dann, alles Gute.« Herr Friedrich lächelte mich an, doch ich meinte, eine Spur von schlechtem Gewissen in seiner Miene zu erkennen. »Und nur keine falsche Bescheidenheit. Sie sind eine ausgezeichnete Lehrerin, fachlich sehr kompetent, und Sie haben ein exzellentes Händchen im Umgang mit Kindern.«

Meine Kollegen – allen vo­ran die Herrschaften aus dem Personalrat und die Glücklichen, die aus dem Schneider waren – nickten zustimmend und klopften mit den Fingerknöcheln auf die Tische. Diese Heuchler!

»Ich hab ja keine volle Stelle, sonst hätt ich’s echt gern gemacht«, behauptete Wiebke, während in ihren Augen Erleichterung und Schadenfreude miteinander tanzten.

»Ja, und bist du nicht vor Kurzem erst in den Osten der Stadt gezogen?«, fragte Zwiebelmett-Andreas scheinheilig. »Dann ist dein Weg zur Arbeit doch zukünftig viel kürzer.«

Ich hatte nicht übel Lust, ihm eine stumme Hamburg-Karte ums Gesicht zu wickeln und mit einem Dartpfeil auf den Osten der Stadt zu zielen. Allerdings war Andreas jetzt nicht mein größtes Prob­lem, also wandte ich mich wieder an meinen Schulleiter. »Aber ich verstehe wirklich nicht, wieso ausgerechnet ich das machen soll.«

»Na, weil Sie jung sind, Frau Paulsen, und motiviert. Sie sind doch kein Mensch, der He­rausforderungen scheut.«

»Da täuschen Sie sich ganz gewaltig«, protestierte ich. »Ich brauche keine He­rausforderungen, echt nicht. Und ich bin auch überhaupt nicht so moti … Äh, ich meine, ich bin so gern an dieser Schule, und ich …« Fieberhaft suchte ich nach Gründen, die mich unverzichtbar machten, doch mir fiel keiner ein. ›Ich rieche nicht nach Zwiebelmett‹ oder ›Die Schüler mögen mich‹ würde Herrn Friedrich wohl kaum überzeugen. »… will echt nicht an die ALS«, sagte ich schließlich mit schwacher Stimme, doch ich wusste, dass ich keine Chance hatte. Ich war nun mal die Jüngste. Die Letzte, die gekommen war. Das schwächste Glied in der Kette.

»Wir haben Sie ja auch sehr gern bei uns. Aber unterm Strich bin ich der Meinung, dass Ihnen diese He­rausforderung guttun und Sie sowohl beruflich als auch menschlich unheimlich weiterbringen wird. Also, nur Mut, Frau Paulsen.«

Noch immer hoffte ich, dass gleich mein Wecker klingeln und mich aus diesem Albtraum befreien würde. Doch nichts tat sich. »Und wann?«

Herr Friedrich rückte erneut seine noch immer 1A sitzende Krawatte zurecht. »Nach den Sommerferien können Sie an Ihrer neuen Schule durchstarten.«

»Was?!«, rief ich entsetzt.

»Das ist auf den ersten Blick vielleicht alles etwas kurzfristig, aber die ALS braucht Sie wirklich ganz dringend.«

Was für eine schreiende Ungerechtigkeit, dass es ausgerechnet mich erwischt hatte. Da musste dieser blöde Hieronymus doch wohl gepennt haben! »Na schön.« Ich stand auf und deutete mit ausgestrecktem Finger auf den Kuchen. »Aber den gibt es dann nicht!« Mir war klar, dass das albern war. Aber es war alles, was ich hatte. Die einzige Form von Protest, die ich äußern konnte.

Herr Friedrich erhob sich ebenfalls. »Das ist sehr schade, aber durchaus nachvollziehbar. Bitte kommen Sie doch morgen noch mal in mein Büro, damit wir die Formalitäten erledigen können.« Damit verließ er das Lehrerzimmer.

Wie versteinert ließ ich es über mich ergehen, dass Maike, Volker und sämtliche anderen Kollegen sich um mich versammelten, mir ihr Beileid bekundeten oder aufmunternde Worte von sich gaben. Irgendwann konnte ich es nicht mehr ertragen. Ich packte meine Sachen zusammen und verließ die Schule. Nur noch ein Tag. Ein Tag in der Idylle des Werther-Gymnasiums, bevor ich jahrelang in die Abgründe der Menschheit blicken musste. Was für ein Geburtstagsgeschenk!

Die Fahrt mit der S-Bahn nahm ich wie durch einen Nebelschleier wahr. Ich war so in meine finsteren Zukunftsaussichten vertieft, dass ich beinahe meine Haltestelle verpasst hätte. Gerade noch rechtzeitig kam ich wieder zu mir, hetzte zum Ausgang und sprang in letzter Sekunde auf den Bahnsteig, bevor die sich schließenden Türen mich einklemmen konnten. Ich fuhr die Rolltreppe hoch und ging die Wandsbeker Chaussee entlang. Niemand konnte behaupten, dass Eilbek, der Stadtteil, in den meine beste Freundin Nele und ich vor drei Monaten gezogen waren, vor Schönheit nur so strotzte. Touristen kamen nie hierher, denn Sehenswürdigkeiten, hippe Kneipen und Restaurants suchte man vergebens. Aber es störte mich nicht im Geringsten, dass es hier keine Szene gab. Alles, was wir brauchten, lag in fußläufiger Entfernung von unserer Wohnung. Wir hatten eine Stammkneipe und zwei Stammrestaurants, einen Kiosk, zwei Supermärkte und eine Tchibo-Filiale, in der ich die Non-Food-Artikel kaufen konnte, die ich heiß und innig liebte. Wir wohnten nur zwei Minuten vom Park und dem Eilbekkanal entfernt, an dem entlang man bis zur Alster spazieren konnte. Also, was wollte man mehr? Doch als ich heute in unsere ruhige Straße einbog und schließlich vor unserem vierstöckigen Rotklinker-Mietshaus stand, kam mir der Gedanke, dass mir mein Umzug in den Hamburger Osten zum Verhängnis geworden war. Ja, okay, die Straße war gesäumt von alten, hohen Linden, und es gefiel mir, dass dieses Viertel so bodenständig war. Ich wohnte gern hier. Doch Zwiebelmett-Andreas zufolge war nicht zuletzt dieser Stadtteil schuld da­ran, dass ich an die Astrid-Lindgren-Schule verdonnert worden war.

Kaum hatte ich aufgeschlossen und den großzügig geschnittenen Flur betreten, kam Nele aus der Küche geschossen. »Happy Birthday to you, happy Birthday to youuuu«, sang sie laut und ziemlich schief, doch ihr Strahlen und die Erdbeer-Geburtstagstorte mit Wunderkerzen drauf, die sie in der Hand hielt, machten den Gesang wieder wett. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, endete sie ihr Ständchen und fiel mir um den Hals, wobei sie sich schwer anstrengen musste, dass der Torte nichts passierte.

Aus der Küche kamen zwei weitere Gestalten, der eine groß und breitschultrig, der andere klein und stämmig. Sebastian und Kai, unsere Nachbarn, die wir irgendwie mitgemietet hatten, auch wenn sie nicht im Mietvertrag standen. Vor unserem Einzug hatten sie uns beim Malern und Holzdielenabschleifen geholfen. Während des Einzugs waren sie beim Möbelschleppen und -aufbauen behilflich gewesen (beziehungsweise, eigentlich hatten sie mehr oder weniger alles allein gemacht), und seitdem waren sie immer zur Stelle, wenn es was zu reparieren gab. Im Laufe der Zeit kamen Nele und ich dann dahinter, dass sie im Gegenzug sehr gerne zur Abendbrotzeit bei uns auftauchten, um sich bei uns durchzufressen. Anfangs hatte das Nele und mich ziemlich irritiert, doch inzwischen waren wir alle zu der stillschweigenden Übereinkunft gekommen, dass das eben die Grundlage unserer Beziehung war: Sie spielten für uns den Mann im Haus, dafür plünderten sie regelmäßig unseren Kühlschrank. Inzwischen hingen Sebastian und Kai eigentlich immer bei uns rum. Sie waren in unserem Alter, Sebastian arbeitete als Maler, Kai als Elektriker, und da­rüber hi­naus konnten beide ziemlich gut Getränkekisten die Treppe hochschleppen und den Müll runterbringen. Also ziemlich praktische Nachbarn. Nur dass wir ihnen vor zwei Monaten unseren Wohnungsschlüssel gegeben hatten, um während Neles und meiner Abwesenheit den Schornsteinfeger he­reinzulassen, hatte sich als Fehler erwiesen. Seitdem hatten wir den Schlüssel nämlich nie wiedergesehen, und es war des Öfteren vorgekommen, dass einer von ihnen oder gleich beide völlig unangekündigt in unserer Bude standen. Was peinlich sein konnte, wenn Nele gerade mit Haarkur und Schlamm-Gesichtsmaske in Snoopy-Unterwäsche aus dem Bad kam oder ich beim Kochen den Erlkönig vor mich hin trällerte und mit dramatischen Gesten untermalte. Nachdem Nele und ich allerdings mit den Jungs ein ernstes Gespräch über Grenzen geführt hatten, klingelten sie immer, statt einfach so reinzuplatzen.

»Alles Gute zum Geburtstag«, sagte Sebastian, der Große, Breitschultrige, und grinste mich an. Sebastian und ich hatten eigentlich absolut nichts gemeinsam – außer vielleicht unseren Sinn für Humor. Er spielte Fußball, guckte jede Sportsendung im Fernsehen an, die es zu sehen gab, und machte sich liebend gern über mich lustig. Mit seiner überaus direkten Art gelang es ihm andauernd, mich aus dem Konzept zu bringen. Außerdem hatte er ein Tattoo auf dem rechten Oberarm, und tätowierte Typen waren mir irgendwie suspekt. Wir kannten uns seit drei Monaten, aber ich wusste immer noch nicht so genau, ob wir uns nun verstanden oder nicht.

»Von mir auch alles Gute, Anni«, sagte Kai und fuhr sich mit der Hand verlegen über die Fünf-Millimeter-Borsten auf dem Kopf. Kai redete nicht besonders viel, weswegen Nele und ich anfangs geglaubt hatten, er wäre ein großartiger Zuhörer. Doch im Laufe der Zeit hatten wir gemerkt, dass er gedanklich meist einfach nur in völlig anderen Sphären schwebte. Er liebte World of Warcraft und Fantasy-Live-Rollenspiele, die er immer LARP nannte. Außerdem schrieb er an einer Herr-der-Ringe-Fanfiction, die er mir vor einer Weile mal zum Korrekturlesen gegeben hatte. Ich fand seine Story über Odorf, Frodos bösartigen Zwilling als Herrscher von Mordor, ziemlich spannend und las seitdem regelmäßig die neuen Kapitel.

Nele deutete auf die Erdbeertorte, auf der die Wunderkerzen inzwischen verglüht waren, sodass sich im Flur der Duft von Silvester breitgemacht hatte. »Lasst uns bitte endlich diesen Kuchen essen. Der wird allmählich ganz schön schwer.«

Kai, Sebastian und ich folgten ihr in unsere winzige Küche, in die außer einer Kochzeile, dem Kühlschrank, einem Regal und einem Tisch mit zwei Stühlen eigentlich nichts hin­einpasste. Doch aufgrund von Kais und Sebastians Quasi-Einzug hatten wir zwei weitere Stühle an den viel zu kleinen Tisch gequetscht. Nele hatte die Küche liebevoll mit Luftschlangen und Kerzen geschmückt. Eine »Happy-Birthday«-Girlande spannte sich quer durch den Raum, und mein Platz am Tisch war mit einem Strauß bunter Gerbera und Weingummikirschen dekoriert. »Das ist ja süß«, sagte ich. »Vielen Dank.«

Nele stellte die Erdbeertorte auf dem Tisch ab und holte eine Flasche Sekt aus dem Kühlschrank. »Gern geschehen. Ich finde, wir sollten unsere Zeit gar nicht erst mit Kaffee verschwenden, sondern gleich zum Wesentlichen kommen. Was meint ihr?«

»Unbedingt.« Ich stellte meinen unangetasteten Schokokuchen auf der Arbeitsfläche ab. Dann ließ ich mich kraftlos auf einen Stuhl plumpsen.

»Hier.« Nele hielt mir strahlend ein furchtbar kitschiges, mit Strasssteinchen besetztes Prinzessinnen-Diadem hin. »Ich habe dir ein Geburtstags-Krönchen besorgt.«

Zweifelnd starrte ich es an. Ein Krönchen passte so gar nicht zum heutigen Tag.

»Jetzt setz es schon auf.«

Sie wollte mir ganz offensichtlich eine Freude machen, also nahm ich ihr seufzend das Diadem aus der Hand und platzierte es auf meinem Kopf. »Das ist lieb, Nele. Danke.«

»Wie eine richtige Prinzessin«, sagte sie verzückt, wo­rauf­hin Sebastian laut hustete. »Und da du das Geburtstags-Krönchen aufhast, hast du Narrenfreiheit. Wir werden dir jeden Wunsch von den Lippen ablesen und alles machen, wo­rauf du Lust hast.«

»Könntest du das ›wir‹ bitte genauer definieren?«, fragte Sebastian. »Ich werde das nämlich ganz bestimmt nicht tun.«

»Hach, du bist so ein Charmeur, Sebastian«, sagte ich und griff nach der Flasche, um sie zu öffnen. »Wer möchte?« Ohne die Antworten abzuwarten, schenkte ich den Sekt aus.

Nele klatschte mir und den Jungs je ein dickes Stück Torte auf den Teller und beobachtete uns gespannt beim Probieren. »Ich hoffe, er schmeckt.«

Kai verzog das Gesicht, und Sebastian schüttelte sich. Auch ich musste mich schwer zusammenreißen, um keine Regung zu zeigen. Der Boden war ziemlich matschig und nicht wirklich gar. Nele hatte offensichtlich das Backpulver vergessen, aber das größte Prob­lem war ein anderes.

»Der ist ganz pur, ohne Chemie, und vor allem ohne Zucker«, erklärte sie prompt. »Es ist ja der reine Wahnsinn, wie viel Zucker wir uns tagtäglich reinstopfen. Wir haben doch alle schon längst den natürlichen Eigengeschmack der Zutaten vergessen. Es wird Zeit, dass wir das wieder schätzen lernen.«

Ich schluckte schwer und nickte zustimmend. Dies war immerhin mein Geburtstagskuchen, den Nele extra für mich gebacken hatte. »Schmeckt lecker.«

Sebastian schob seinen Teller von sich weg. »Da ist kein Zucker dran. Und so schmeckt er auch.«

»Jetzt hör schon auf«, sagte ich, als ich Neles enttäuschtes Gesicht bemerkte. »Ich finde den Kuchen gut.«

Er sah mich durchdringend an. »Du lügst.«

»Ist er echt so schlimm?«, fragte Nele.

»Ja«, sagte Sebastian.

»Ein bisschen … sauer vielleicht«, sagte Kai.

»Nein, Quatsch, so schlimm ist er nicht«, sagte ich.

Nele nahm ihre Gabel und schob sich etwas von dem Kuchen in den Mund. Es dauerte etwa drei Sekunden, bis auch sie angewidert das Gesicht verzog. »Ach du Schande. Der ist ja grauenhaft.«

»Er ist mit Liebe gebacken, das ist die Hauptsache«, meinte ich.

»Hm«, murrte Nele. »So was Blödes. Das kommt nur von dieser dämlichen 40-Tage-ohne-Zucker-Challenge, die momentan so angesagt ist.« Nele arbeitete in einer Werbeagentur und wusste immer ganz genau, was momentan angesagt war. Ihre große Leidenschaft waren Trends, und sie hatte ein ziemlich gutes Gespür dafür, Stimmungen und Tendenzen wahrzunehmen. Oftmals spürte sie diese Stimmungen sogar, bevor sie den Leuten selbst bewusst geworden waren, und aus genau diesem Grund war sie in ihrem Job unschlagbar. Nele ließ klirrend die Gabel auf ihren Teller fallen und nahm stattdessen einen großen Schluck Sekt. »Tut mir leid, dass dein Geburtstagskuchen so missraten ist. Sag mal, von deinem Schokokuchen ist nicht zufällig was übrig geblieben?«

Kai richtete sich auf und blickte hoffnungsvoll in Richtung Arbeitsfläche.

»Doch«, sagte ich. »Gib mal her, Sebastian.«

Sebastian, der zwischen Arbeitsfläche und Tisch eingequetscht saß, drehte sich um, griff nach dem Plastikbehälter und stellte ihn vor uns hin.

Ich nahm den Deckel ab, und der unangetastete Schokokuchen mit extra viel Schoko kam zum Vorschein. »Bitte schön.«

In Kais Augen trat ein gieriger Glanz. »Der ist garantiert nicht ohne Zucker«, flüsterte er, als er den mit Zartbitterkuvertüre umhüllten und einer cremigen Ganache gefüllten Kuchen musterte.

Auch Sebastian starrte die Torte wie hypnotisiert an. »Wenn du mir davon etwas abgibst, mach ich tatsächlich alles, was du willst.«

Ich nahm das große Messer, teilte den Kuchen auf und gab jedem ein Stück auf den Teller.

Nele schob sich eine Gabel voll in den Mund und schloss kurz da­rauf die Augen. »Mmmh. Oh mein Gott, Anni, du backst so gut. Ich schwöre dir, eines Tages werden wir definitiv unser Café eröffnen.«

Das war eine unserer Lieblingsfantasien. In regelmäßigen Abständen malten Nele und ich uns aus, wie wir beide irgendwann vor dem Scherbenhaufen unseres Lebens stehen, von einer bislang unbekannten Tante ein Haus erben und da­rin ein Café eröffnen würden.

»Das würde ich lieber heute als morgen tun, das kannst du mir glauben. Ich habe vorhin nämlich eine absolute Hiobsbotschaft bekommen: Ich bin abgeordnet worden. Und zwar an eine Stadtteilschule«, sagte ich mit Todesverachtung.

Nele ließ die Kuchengabel sinken, die sie gerade zum Mund führen wollte, Kai futterte unbeeindruckt weiter, und Sebastian schien auf die Pointe zu warten, denn er sah mich erwartungsvoll an. »Und?«, fragte er schließlich.

»Was, und? Ich muss an die schlimmste Brennpunktschule Hamburgs!«

»Aber wieso ausgerechnet du? Die können dich doch nicht dazu zwingen!«, rief Nele.

»Was bleibt ihnen denn anderes übrig, wenn niemand freiwillig dort hinwill?«, wandte Sebastian ein.

»Tja, ich fürchte, sie können mich sehr wohl dazu zwingen.« Während ich Nele ausführlich die Lage erklärte, regte ich mich mehr und mehr über die monströse Ungerechtigkeit auf, die mir widerfahren war. »Nur, weil ich jung bin, denkt dieser Idiot von Friedrich automatisch, ich wäre motiviert, oder was? Und dann dieser Zwiebelmett-Berthold oder diese blöde Wiebke. Wie die sich da rausgewunden haben, das war echt unerträglich. Aber den Kuchen«, rief ich und zeigte mit ausgestrecktem Finger auf die Tischmitte, »den hab ich wieder mitgenommen! Davon haben die nichts bekommen. Die nicht!«

»Krass. Denen hast du es aber gezeigt«, bemerkte Sebastian.

»Ich finde, das hast du absolut richtig gemacht«, meinte Kai und schob sich genüsslich noch ein Stück Kuchen rein.

»Genau«, stimmte ich ihm zu. »Im Grunde genommen ist das doch ein klarer Fall von Diskriminierung. Nur, weil ich im Hamburger Osten wohne, werde ich zwangsversetzt.«

»Dein Ernst?«, fragte Sebastian. »Du fühlst dich diskriminiert, weil du in Eilbek wohnst?«

»Ja!« Kaum hatte ich es ausgesprochen, wurde mir klar, dass das vielleicht ein klein bisschen übertrieben war. »Na ja, und weil ich eine der Jüngsten im Kollegium bin. Das ist doch ungerecht.«

Sebastian sah mich übertrieben mitleidig an. »Schon heftig, wie übel das Leben dir mitspielt, du armes Akademikertöchterlein.«

»Was weißt du schon über mein Leben? Nicht besonders viel, oder? Also halte dich mit Urteilen über mich lieber zurück.«

»Wo genau ist deine neue Schule überhaupt?«, wollte Nele wissen.

»In Ellerbrook. Es ist übrigens die Astrid-Lindgren-Schule.«

Sebastian brach in lautes Gelächter aus. »Die ALS? Das ist meine alte Schule! Nicht zu fassen, dass du Lehrerin an meiner alten Schule wirst.«

»Du kommst aus Ellerbrook?«, fragte ich entgeistert.

Sebastian schlug sich mit der Faust zweimal an den Brustkorb, dort wo sich das Herz befand (beziehungsweise bei ihm wohl eher ein rabenschwarzes, verklumptes Etwas). »Mein Gheddo. Geboren und aufgewachsen. Tja, sieht so aus, als wüsstest du auch nicht viel über mein Leben, was?«

»Ich habe nie etwas anderes behauptet«, sagte ich und deutete auf seinen Oberarm, auf dem sich das Adler-Tribal befand. »Dann ist das da ein Gang-Tattoo, nehme ich an? Oder ein Knast-Tattoo?«, fragte ich gespielt unschuldig.

Das Lachen verschwand aus Sebastians Gesicht. »Das willst du nicht wissen.«

»Doch, will ich. Jetzt erst recht.«

»Nein, willst du nicht.«

»Natürlich, sonst hätte ich doch nicht gefragt. Sag schon, warst du mal im Knast?«

Sebastian verdrehte genervt die Augen. »Es ist weder ein Gang- noch ein Knast-Tattoo. Es gab vielleicht mal eine Zeit in meinem Leben, in der ich ein Idiot war, aber so ein großer Idiot dann auch wieder nicht.«

Ich konnte meine Neugier kaum zügeln, doch Sebastian war deutlich anzusehen, dass er nicht vorhatte, weitere Auskünfte zu erteilen. Also verkniff ich es mir fürs Erste, weiter nachzubohren. Irgendwann würde ich schon noch mehr aus ihm he­rausbekommen.

Als Kai und Sebastian später gegangen waren, öffnete ich noch eine Flasche Sekt und ging mit Nele in mein Zimmer, wo wir es uns auf dem Fußboden bequem machten und ich mein Handy an die Anlage anklemmte. Das letzte Stück, das ich gehört hatte, erklang in voller Lautstärke: Beethovens Mondscheinsonate.

»Dieses Geklimper will ich aber nicht hören«, meckerte Nele. »Wenn du das spielst, ist es ja okay, aber von anderen nicht.«

»Ist ja gut, ich will es doch auch nicht hören«, beruhigte ich sie. »Zumindest jetzt nicht.«

Nele sah mich nachdenklich an. »Da fällt mir auf … Seit wir beide zusammen wohnen, hast du noch gar nicht Klavier gespielt.«

»Stimmt.« Ich suchte meine Gute-Laune-Playlist he­raus, die auch Nele liebte. Kurz da­rauf erklang Bad Ideas von Alle Farben aus den Boxen.

»Wa­rum nicht?«

»Ach … eigentlich spiele ich seit dem Abschluss meines Studiums nur noch in der Schule. Nach fast zwanzig Jahren Klavierausbildung ist es irgendwann auch mal gut.« Jetzt hörte ich nur noch anderen beim Spielen zu. Denen, die es wirklich konnten.

Bevor Nele weiter auf diesem Thema he­rumreiten konnte, hielt ich ihr ein gefülltes Sektglas hin. »Prost.« Damit ließ sie sich zum Glück leicht ablenken. Zunächst quatschten wir vor allem, und die Musik lief eher im Hintergrund, doch irgendwann kamen unsere absoluten Lieblingsstücke, und wir wurden immer ausgelassener. Bei Hey, Soul Sister von Train fingen wir an, mitzusingen, und spätestens als Paolo Nutini sich New Shoes anzog, und alles wieder gut für ihn war, tanzten wir wild he­rum.

Um halb drei klopfte Sebastian, dessen Zimmer direkt neben meinem lag, gegen die Wand. »Ach herrje«, stieß Nele aus. »Hat er nicht gesagt, dass er morgen um sechs Uhr losmuss?«

Ich nickte. »Ja, das hat er gesagt.«

»Vielleicht sollten wir dann besser Feierabend machen. Ich bin eh ganz schön müde.«

»Ja, ist wohl besser.« Ich stellte die Musik ab, dann sagten Nele und ich uns gute Nacht.

Als ich im Bett lag, starrte ich an die Decke, auf die das Mondlicht bizarre Schatten malte. Auf einmal war ich wieder stocknüchtern, und die Tatsache, die ich so eifrig zu verdrängen versucht hatte, kam zurück in mein Bewusstsein: Morgen war mein letzter Tag am Werther-Gymnasium. Das alles war so plötzlich über mich he­reingebrochen, dass ich es immer noch nicht wirklich begreifen konnte.

Prinz William

Sebastians Rache war fürchterlich. Sie kam um fünf Uhr morgens in Form von Nirvanas Smells Like Teen Spirit. Er stellte die Anlage auf volle Lautstärke, grölte mit und fuhrwerkte nebenbei noch mit dem Staubsauger he­rum.

»Nein«, wimmerte ich und vergrub mich tief unter der Bettdecke. Doch auch dort war ich nicht sicher vor Sebastians furchtbarem Gesang, den hämmernden Drums, schrillen E-Gitarren und dem penetranten Jaulen des Staubsaugers. »Dieser blöde Idiot«, fluchte ich, setzte mich im Bett auf und wollte schon mit der Faust gegen die Wand klopfen und »Ruhe!« brüllen. Doch dann wurde mir klar, dass ich Sebastian vermutlich am effektivsten die Freude an seiner Rache vermieste, wenn ich ihn einfach ignorierte. Also hielt ich mir die Ohren zu und ertrug die Folter, bis er endlich losmusste. Zum Glück lagen unsere Wohnungen im obersten Stockwerk, und auf der Etage unter uns lebten nur fast taube Rentner, die von Sebastians und meinem Krach-Kleinkrieg mit Sicherheit nichts mitbekamen.

Der letzte Tag am Werther-Gymnasium rauschte nur so an mir vorbei. Die Schüler reagierten extrem bestürzt auf meine Eröffnung, dass ich ab dem nächsten Schuljahr an einer anderen Schule unterrichten würde. Was mich auf der einen Seite natürlich freute, aber auf der anderen Seite nur noch trauriger machte. Bei meinen Kleinen aus der Fünften fingen Carla und ihre Freundin sogar an zu weinen, sodass ich kurz davor war, ebenfalls loszuheulen. Die 9d wollte eine Petition gegen meine Abordnung starten und plante schon die Transparente für eine Riesendemo. Nur mit Mühe konnte ich sie davon abhalten, gleich die Schulbehörde zu informieren.

Auch im Lehrerzimmer fiel mir der Abschied schwer. Mit Maike und Volker war ich zwar befreundet, daher würden wir uns weiterhin sehen. Aber nicht mehr mit ihnen zusammenzuarbeiten und nicht mehr täglich mit ihnen ablästern und lachen zu können, war eine schreckliche Vorstellung. Am Ende des Tages übergab ich meine Schlüssel, umarmte Maike und Volker und verließ schweren Herzens das Schulgelände. »Ich werde wiederkommen«, schwor ich mir, als ich am Tor noch mal stehen blieb und auf die altehrwürdigen Mauern schaute. Dann atmete ich tief durch, drehte mich um und machte mich auf den Weg zu meinen Eltern.

In der S-Bahn sprach ich mir innerlich Mut zu und wappnete mich für den anstehenden Besuch. Meine Eltern waren manchmal etwas … anstrengend. Okay, nicht nur manchmal, sondern immer. Und nicht nur etwas, sondern ziemlich. Sie waren beide Lehrer an dem Gymnasium, auf das auch ich bis zur zehnten Klasse gegangen war – eine Tatsache, die so manche Eltern-Kind-Beziehung hart auf die Probe stellen konnte. Meine Mutter unterrichtete Musik und Biologie, während mein Vater Kunst- und Englischlehrer war. Und die beiden lehrten diese Fächer nicht nur – sie lebten sie. Ihre eigenen Interessen hatten sie natürlich auch bei mir, ihrem einzigen Kind, von klein auf fördern wollen, und so waren sie regelmäßig mit mir in Museen gegangen, in Kunstausstellungen oder die Oper. Mit vier Jahren besuchte ich einen Malkurs, spielte Geige und Flöte und ab meinem fünften Geburtstag Klavier. Beim Klavierspielen war ich dann geblieben, und zwar mit so viel Ehrgeiz, Disziplin und teurem Unterricht bei den besten Lehrern, dass ich es bis zur Begabtenförderung am Konservatorium geschafft hatte. Es war mein erklärtes Ziel gewesen, Pianistin zu werden, und dafür hatte ich gekämpft bis zum Umfallen. Am Ende hatte es dann allerdings nur für einen Job als Musiklehrerin gereicht.

Schon als Sechsjährige hatte meine Mutter mit mir Pflanzen im Wald bestimmt und mein Vater mich in einfache ›in English, please‹-Unterhaltungen verstrickt. Unsere Wohnung war vollgestopft mit Büchern gewesen, meine Eltern hatten mir vorgelesen und mich dazu ermuntert, mit ihnen über das Gelesene zu sprechen. So kam es, dass ich ein vielseitig interessiertes Kind und, na ja, wohl auch ziemlich wunderlich geworden war. Bis zu einem bestimmten Alter hatte ich gar nicht gemerkt, dass ich irgendwie anders war als die meisten anderen Kinder. Erst in der fünften Klasse war mir bewusst geworden, dass ich außer meinen Eltern und ein paar Freunden am Konservatorium niemanden hatte. Meine Schulkameraden hatten absolut nichts mit mir anfangen können – und das war noch harmlos ausgedrückt. Niemand von ihnen war auch nur ansatzweise an Robert Schumann, Korbblütlern oder van Goghs Gemälden interessiert gewesen, und über Christine Nöstlingers Romane hatte auch keiner mit mir sprechen wollen.

Als ich nach der zehnten Klasse an ein anderes Gymnasium gewechselt war und mit siebzehn mein Ziel, Pianistin zu werden, aufgegeben hatte, war es allmählich besser geworden. Es hatte zwar eine Weile gedauert, die Nerdigkeit aus mir rauszukriegen und mich anzupassen, doch ich hatte es geschafft. Heute, als Erwachsene, war mir klar, dass meine Eltern es damals nur gut gemeint hatten, dass sie mich fördern und zu einem vielseitig interessierten Menschen erziehen wollten. Dass ich dabei vieles verpasst hatte und im Grunde genommen sehr einsam gewesen war, war ihnen wohl nicht bewusst gewesen. Aber egal, heute war ich nicht mehr einsam und wunderlich, sondern normal. Und ich hatte Freunde.

Die S-Bahn hielt an der Haltestelle Bahrenfeld, und den Rest des Wegs zum Haus meiner Eltern legte ich zu Fuß zurück. Noch immer lebten sie in der Vier-Zimmer-Wohnung, in der ich aufgewachsen war. Mit dreiundzwanzig, als ich mein erstes Referendariatsgehalt bekommen hatte, war ich in ein Einzimmer-Appartement in Eimsbüttel gezogen. Danach hatten meine Eltern aus meinem Zimmer ein Arbeitszimmer plus Bibliothek gemacht. Ansonsten hatte sich in der Wohnung nicht viel verändert. Nach wie vor war sie chaotisch, viel zu voll und viel zu klein, um den Hobbys meiner Eltern und all dem Kram, den sie anschleppten und horteten, ausreichend Platz zu bieten.

Ich schloss die Haustür auf und betrat den Flur. »Jemand zu Hause?«

»Annika?«, rief meine Mutter aus der Küche. Dann hörte ich etwas klappern, und kurz da­rauf kam sie auch schon auf mich zugestürmt, um mich in ihre Arme zu ziehen und fest an sich zu drücken. »Alles, alles Gute zum Geburtstag, Anni.«

»Danke«, nuschelte ich an ihrer Schulter. Schon bald bekam ich keine Luft mehr und wand mich aus ihrem Klammergriff.

Sie musterte mich eindringlich aus den braunen Augen, die ich von ihr geerbt hatte. »Ist irgendwas?« Typisch. Ihr Mutter-Radar hatte mal wieder angeschlagen. Meist hörte sie schon am Telefon anhand meines »Hallo«, ob etwas nicht in Ordnung war.

Bevor ich antworten konnte, öffnete sich die Tür der Arbeitszimmer-Bibliothek, und mein Vater kam he­raus. Als er mich sah, breitete sich ein Strahlen auf seinem Gesicht aus. »Wusste ich doch, dass ich deine Stimme gehört habe. Herzlichen Glückwunsch, meine Kleine.« Auch er zog mich in eine feste Umarmung. »Siebenundzwanzig, das ist doch nicht zu fassen.«

»Mit Annika stimmt was nicht«, informierte meine Mutter ihn und deutete auf mein Gesicht. »Guck doch nur, wie bedrückt sie aussieht.«

Nun musterte mein Vater mich eingehend. »Stimmt. Was ist los?«

»Können wir uns bitte erst mal setzen? Ich will euch das nicht im Flur erzählen.«

»Oha«, stieß meine Mutter aus. »Wir sollen uns setzen. Dann muss es was Schlimmes sein. Du nimmst doch hoffentlich keine Drogen?«

»Nein, ich nehme keine Drogen, Mama«, sagte ich beruhigend. Seltsamerweise war das schon immer ihre größte Angst gewesen, obwohl ich nie auch nur ansatzweise etwas damit zu tun gehabt hatte.

»So, jetzt aber raus damit«, forderte meine Mutter mich auf, als wir alle auf dem Balkon an der gedeckten Kaffeetafel saßen. »Was ist los?«

Ich erzählte meinen Eltern von meiner Zwangsabordnung und meinem letzten Schultag am Werther-Gymnasium. »Tja, und nach den Sommerferien heißt es dann für mich: Brennpunktschule. Genau das, was ich nie gewollt habe«, endete ich meinen Bericht.

Meine Mutter wiegte bedächtig den Kopf. »Es ist vielleicht nicht das, was du gewollt hast, aber unterm Strich glaube ich, dass diese He­rausforderung dir guttun wird. Es ist doch nun mal so, dass du dich in den letzten Jahren nie wirklich anstrengen musstest. Oder kämpfen. Vielleicht wird es ja mal Zeit, dass du wieder …«

Ich knallte meine Tasse so heftig auf den Tisch, dass der heiße Kaffee auf meine Hand schwappte, doch ich merkte es kaum. »Ihr wisst genau, dass ich in meinem Leben schon extrem harte Kämpfe ausfechten musste! Und ich bin nun mal der Meinung, dass das für alle Zeiten langt.«

»Ja, natürlich wissen wir das«, erwiderte meine Mutter beschwichtigend. »Aber das mit dem Kämpfen hört leider nie auf. Und ich glaube, es wäre gut für dich, wenn du mal wieder in den Ring steigst.«

»Pff«, machte ich. »Schon erstaunlich, was in den Augen aller anderen gut für mich sein soll.«

»Jetzt nimm es mal nicht so schwer.« Mein Vater tätschelte mir aufmunternd die Hand. »Die ALS soll gar nicht so schlimm sein wie ihr Ruf. Ich habe neulich erst einen Bericht da­rüber gelesen. Da hieß es, dass diese Schule im Vergleich zu anderen Brennpunktschulen eine ganz gute Abschlussquote hat.«

»Hurra!«, rief ich sarkastisch. »Dann unterrichte ich also bald Elite-Honks.«

Meine Mutter zog scharf die Luft ein. »Annika! Das hast du jetzt nicht wirklich gesagt, oder?«

»Zu dieser Arroganz haben wir dich nicht erzogen«, fügte mein Vater hinzu. »Hältst du dich etwa für was Besseres?«

»Nein, das tue ich nicht. Und das mit den Honks habe ich nicht so gemeint, es ist nur … Ach, verdammt.« Ich fuhr mir mit den Händen durchs Haar. »Ich bin so gern am Werther-Gymnasium, und es ist einfach ätzend, zwangsweise da wegzumüssen.«

»Das verstehe ich.« Mein Vater legte einen Arm um meine Schulter und zog mich an sich. »Aber lass es doch erst mal auf dich zukommen. Geh unvoreingenommen ran. Am Ende willst du da vielleicht gar nicht mehr weg.«

Ich lachte humorlos auf. »Klar. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Nee, lass mal. Ich werde zusehen, dass ich schnellstmöglich zurück ans Werther-Gymnasium komme.«

»Letzten Endes musst du deinen eigenen Weg finden, Anni«, sagte meine Mutter. »Aber mir scheint, dass du neuerdings auf einem hohen Ross sitzt, und es wäre gut, wenn du da wieder runterkommst. So warst du früher doch auch nicht.«

Nein, vielleicht nicht. Früher hatte ich nicht auf einem hohen Ross gesessen, sondern am Boden gekauert und versucht, mich zu verstecken. Dann war es mir so schon lieber.

Meine Eltern wechselten bald da­rauf zum Glück das Thema, und für den Rest des Abends feierten wir friedlich meinen Geburtstag.

Am Samstag trafen Nele und ich uns mit Lisa und Gülcan, zwei Freundinnen, die wir noch aus Schulzeiten kannten. Die beiden hatten ihre Freunde Tim und Sascha mitgebracht. Da wir meinen Geburtstag nachfeierten, durfte ich bestimmen, wohin es ging. Ich entschied mich für eine meiner Lieblingskneipen: die Haifischbar. Dort spendierte ich jedem ein großes Bier, und wir quetschten uns an einen freien Tisch, um auf meinen Siebenundzwanzigsten anzustoßen.

»Auf dich, Anni«, sagte Lisa mit erhobenem Glas. »Da­rauf, dass all deine Träume sich erfüllen. Und da­rauf, dass du endlich mehr für deine Altersvorsorge tust.« Lisa war Bankkauffrau und immer sehr besorgt um unsere Rücklagen und Ersparnisse. Ihren Freund Tim hatte sie in der Ausbildung kennengelernt, die beiden waren seit sieben Jahren zusammen und gerade in die erste gemeinsame Wohnung gezogen.

Gülcan zog ächzend ein großes Paket unter dem Tisch hervor. »Hier, Anni. Das ist von uns allen für dich.«

»Ihr habt ein Geschenk für mich?«, fragte ich in gespieltem Erstaunen, denn natürlich war mir das Paket sofort aufgefallen, als ich Gülcan vor der Kneipe getroffen hatte. »Hast du das selbst importiert?« Gülcan hatte BWL studiert und war in das Unternehmen ihres Vaters eingestiegen, das Oliven und andere Köstlichkeiten aus der Türkei einführte und vertrieb.

Gülcan lachte. »Oh nein. Ganz sicher nicht.«

»Wir haben überlegt, was du noch brauchen könntest. Dabei ist uns aufgefallen, dass du eigentlich schon alles hast«, meinte Sascha. Ihn kannte ich noch nicht so gut, denn Gülcan war erst seit zwei Monaten mit ihm zusammen. Sie hatte ihn sich »getindert«, wie sie es nannte. Ich wusste von ihm eigentlich nur, dass er nett war und wahnsinnig in Gülcan verliebt. Das reichte mir, um ihn zu mögen.

»Nur ein Kerl fehlt dir noch«, fügte Tim hinzu.

»Immerhin ist das mit Leo schon zwei Jahre her«, meinte Nele.

»Na ja. Eigentlich fehlt mir ein Kerl gar nicht so sehr«, erwiderte ich, als ich das Geschenk entgegennahm. »Ich meine, ich weine mich nicht jeden Abend in den Schlaf und verzehre mich vor Sehnsucht.« Die Zeiten, in denen ich mich in den Schlaf geweint und vor Sehnsucht nach einem Mann verzehrt hatte, waren lange vorbei. So lange, dass derjenige welcher noch nicht mal ein Mann gewesen war, sondern ein Junge. Und zwar – in meinen Augen – der großartigste, intelligenteste und sensibelste Junge der Welt: Tristan. Und ich war ein dummes Teeniemädchen gewesen, das jahrelang hoffnungslos verliebt in ihn gewesen war. Er war der Richtige für mich gewesen, ich aber leider nicht die Richtige für ihn. Das Traurige da­ran war, dass kein Mann nach Tristan jemals wieder diese Wirkung auf mich gehabt hatte. Keiner hatte gegen ihn anstinken können. Wobei es nach ihm sowieso nur zwei Männer in meinem Leben gegeben hatte. Ich war definitiv kein Vamp.

»Das wissen wir doch«, sagte Lisa besänftigend. »Wir fanden die Idee einfach witzig, also pack schon aus.«

»Übrigens kommt nicht alles von selbst«, belehrte mich Gülcan. »Auch der Richtige nicht. Manchmal muss man da ein bisschen nachhelfen.« Sie strahlte Sascha an, und die beiden versanken in einen leidenschaftlichen Kuss.

Ich schüttelte den Gedanken an Tristan ab und gab mich möglichst locker. »Ach, irgendwann wird sich schon jemand für mich finden. Auch ohne dass ich groß etwas dafür tun muss.«

Lisa grinste. »Du hattest ja immer schon ein seltenes Talent dafür, mit minimalem Aufwand das maximale Ergebnis zu erzielen.«

»Nein, nicht immer schon«, erwiderte ich. »Aber irgendwann war ich halt klug genug, meine Energien nicht mehr zu verschwenden. Wozu soll ich mich abquälen, wenn es auch einfach geht?« Ich machte mich da­ran, das Geschenk auszupacken. Unter dem Papier kam eine Pappschachtel zum Vorschein, auf der ein nackter Gummimann abgebildet war. Verdutzt blickte ich auf und sah in die gespannten Gesichter meiner Freunde. »Was zur Hölle ist das?«

Alle prusteten los. »Das ist Big John, dein Ersatz-Boyfriend«, erklärte Gülcan und kriegte sich gar nicht mehr ein vor Lachen.

»Ihr seid doch echt bekloppt«, meinte ich kopfschüttelnd, musste dann aber auch lachen. »Tja, dann äh … vielen Dank. Jetzt bin ich wirklich wunschlos glücklich.«

»Los, blas ihn auf«, sagte Nele, wo­rauf­hin Lisa derartig gackern musste, dass ihr das Bier, von dem sie gerade einen Schluck genommen hatte, aus der Nase he­rauskam.

»Aber wir wollen später noch auf den Kiez, da kann ich doch nicht mit einer Gummipuppe rumlaufen«, protestierte ich.

»Wieso nicht?«, meinte Tim. »Ist doch normal da, das wird keinem auffallen.«

Seufzend riss ich den Karton auf. »Womit hab ich Freunde wie euch nur verdient?« Unter lautem Gejohle blies ich die Gummipuppe auf, bis schließlich ein etwa ein Meter achtzig großer, untenrum prächtig ausgestatteter Typ mit Gummisixpack, Schnurrbart und aufgemalten dunklen Haaren auf Kopf und Brust auf dem Tisch lag und gleichgültig an die Decke starrte.

»Was hat er nur?«, fragte ich. »Meint ihr, es gefällt ihm hier nicht?« Ich schlug mir eine Hand vor den Mund. »Oder gefalle ich ihm nicht?«

Gülcan kraulte seinen Kopf, wo­rauf­hin ein lautes Quietschen erklang. »Ich glaube, er will hier nicht auf dem Präsentierteller liegen.«

»Du hast recht.« Entschlossen holte ich Big John vom Tisch und setzte ihn neben mich. »So ist es schon besser, oder, Big John?« Noch immer blickte er ziemlich ungerührt aus der Wäsche. »Ich finde, er sieht gar nicht aus wie ein Big John.«

»Na ja.« Nele warf einen bedeutungsvollen Blick auf seine Körpermitte.

»Aber er möchte bestimmt nicht so auf seine körperlichen Merkmale reduziert werden. Nein, ich finde er sieht eher aus wie ein …« Nachdenklich betrachtete ich ihn. »Prinz William.«

»Hä? Der sieht null aus wie Prinz William.«

»Ich weiß, aber was anderes fällt mir gerade nicht ein.«

»Na dann.« Lisa stellte William fürsorglich ein Bier hin. »Auf Prinz William.«

»Auf Prinz William«, wiederholten wir alle, stießen unsere Gläser gegen seins und tranken einen Schluck.

»Er ist nicht besonders emotional, oder?«, fragte Gülcan mit einem Blick auf Williams unbeeindruckten Gesichtsausdruck.

»Tja, so sind sie, die Windsors«, meinte ich. »Die zeigen nach außen hin doch nie ihre Gefühle.«

»Aber wenigstens lächeln sie immer, im Gegensatz zu ihm hier«, warf Sascha ein.

Für den Rest des Abends hatten wir einen Heidenspaß mit William. Genauer gesagt: Meine Freunde hatten einen Heidenspaß da­ran, dass ich eine Gummipuppe mit über den Kiez schlörte. Da ich ihn nicht so nackt und schutzlos den Blicken der Öffentlichkeit aussetzen wollte, kaufte ich ihm eine Unterhose. Leider waren um diese Uhrzeit nur noch Sexshops auf dem Kiez geöffnet, und dementsprechend erinnerten sämtliche Männer-Dessous an einen drittklassigen Porno. Die schlichteste Variante war ein eng anliegender Slip mit Leopardenprint. Ich hätte ihm gerne etwas Stilvolleres gekauft, aber besser das als nichts. Spätestens, als William im Kaiserkeller auf der Großen Freiheit neben mir an der Theke saß, hatte ich ihn richtig ins Herz geschlossen. Es war mir zwar schon ein bisschen peinlich, und ich erntete durch Williams Anwesenheit weitaus mehr Aufmerksamkeit, als mir lieb war, aber er war schließlich ein Geschenk von meinen Freunden. Wir Mädels kauften ihm Getränke und alberten mit ihm he­rum, indem wir ihn immer wieder ins Gespräch einbezogen. »Er ist ein bisschen schweigsam, aber ein richtig guter Zuhörer«, sagte ich und stieß mein Bierglas an seins.

Gegen vier Uhr machten Nele und ich uns auf den Heimweg. Als wir an unserem Wohnhaus ankamen, entdeckte ich Sebastian, der auf den Stufen vor der Tür saß und bei unserem Anblick aufsprang. »Wieso sitzt du denn hier draußen rum?«, erkundigte ich mich.

»Ich warte auf euch!«, rief er ungehalten. »Seit einer Stunde versuche ich, euch zu erreichen. Guckt ihr nie auf eure Handys?«

»In der letzten Stunde nicht, nein. Was ist denn los?« Ich schob William von einem Arm in den anderen.

»Ich habe …« Sebastians Blick fiel auf meinen neuen Gummifreund, und er unterbrach sich mitten im Satz. »Was zur Hölle ist das?«

»Ein Geburtstagsgeschenk. Und das ist kein ›Was‹, das ist William.«

»William?«, wiederholte Sebastian irritiert.

»Ja, Prinz William«, erklärte Nele, die gerade damit beschäftigt war, die Haustür aufzuschließen.

»Ernsthaft? Du nennst eine Sexpuppe Prinz William?« Sebastian brach in Gelächter aus. »Also ist von allen Männern auf der Welt ausgerechnet Prinz William der Star deiner feuchten Träume? Langweiliger geht es ja wohl gar nicht.«

»Er ist nicht der Star meiner … du spinnst ja wohl«, protestierte ich, während wir die Treppen zu unserer Etage raufstiegen.

»Wer denn dann?«, fragte Nele.

»Ihr glaubt doch wohl nicht wirklich, dass ich mit euch über so etwas spreche, oder?«

Nachdem Nele aufgeschlossen hatte, betraten wir unsere Wohnung. »Nein«, meinte sie grinsend. »Du bist ja schon immer ein bisschen verklemmt gewesen.«

»Ich bin überhaupt nicht verklemmt. Sex ist halt etwas, wo­rüber ich nicht rede. Jedenfalls nicht mit jedem.« Ich setzte William auf dem Fußboden ab, zog mir meine Jacke aus und wandte mich dann an Sebastian. »Was willst du überhaupt?«

»Ich hab meinen Schlüssel vergessen, und Kai pennt heute bei einem Kumpel in Pinneberg.«

»Pinneberg? Was will er denn da?«, fragte Nele naserümpfend.

»Keine Ahnung, irgendeine Party. Jedenfalls brauche ich unseren Ersatzschlüssel.«

Ich holte den Schlüssel aus unserer Kramschublade und drückte ihn Sebastian in die Hand. »Bitte schön.«

»Vielen Dank. Also, gute Nacht.« Er deutete mit dem Kopf auf Prinz William. »Und seid bitte nicht so laut heut Nacht, ihr zwei, ja? Du weißt ja, mein Zimmer liegt direkt nebenan.«

Nele kicherte, doch ich verdrehte nur entnervt die Augen. »Zwischen William und mir läuft nichts. Wir sind nur Freunde.«

»Das sagen sie alle«, meinte Sebastian lachend. Er gab William im Vorbeigehen eine Ghetto-Faust und verschwand durch die Wohnungstür.

Ich deponierte William auf meinem Sessel und legte ihm eine Decke über. Einfach nur in Unterhose war es ihm bestimmt zu kalt. Als ich im Bett lag und William ansah, der vom Mondlicht erleuchtet auf seinem Stuhl chillte, überlegte ich, ob es nicht allmählich an der Zeit war, mir fünfzehn Katzen anzuschaffen. Immerhin war es doch wohl besser, die wunderliche Frau mit den Katzen zu sein als die wunderliche Frau mit dem Gummimann. Aber egal. Ich war zu müde, da­rüber nachzudenken, und außerdem war es sowieso zu spät. Ich hatte William ja bereits ins Herz geschlossen.

Smells Like Teen Spirit

Die Sommerferien vergingen wie im Flug. Ich verdrängte den Gedanken an die Astrid-Lindgren-Schule, so gut es ging, aber spätestens, als ich am letzten Ferientag abends im Bett lag, konnte ich die Tatsache nicht länger leugnen, dass es endgültig ernst wurde. In meinem Magen kribbelte es, mir war übel, und meine Hände waren eiskalt. Zuerst konnte ich ewig nicht einschlafen, und als ich es dann doch tat, hatte ich wieder meinen Albtraum, der mich schon seit Jahren quälte: Ich wurde von einem riesigen zähnefletschenden Monster gejagt, das mich umbringen und fressen wollte. Egal, wohin ich rannte, egal, zu wem ich flüchtete – das Monster tauchte immer wieder auf, ich war nirgends sicher. Wie jedes Mal erwachte ich weinend, schweißgebadet und völlig verängstigt. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich aus diesem Traum lösen konnte. Die Angst hatte mich fest im Griff. Also holte ich schließlich mein Buch he­raus, vergrub ich mich unter die Bettdecke und las so lange, bis ich wieder in einen unruhigen Schlaf fiel.

Eins stand fest: Der Weg zur Astrid-Lindgren-Schule war tatsächlich kürzer als der zum Werther-Gymnasium. Nach nur fünfundzwanzig Minuten stieg ich aus dem Bus und ging den Rest des Weges durch das trostlose Ellerbrook. Zu allem Überfluss regnete es, was die Umgebung noch abstoßender wirken ließ. So weit ich blicken konnte, ragten riesige graue Wohnsilos in die Höhe. He­run­tergekommene Spielplätze säumten die Straßen, Mauern und Häuserwände waren mit Graffitis besprayt. Der Stadtteil war zwar geradezu exzessiv begrünt worden, doch auch das konnte dem Ganzen nicht zu einem fröhlicheren Gesamteindruck verhelfen. Ich überholte eine junge Frau im Jogginganzug, die einen Zwillingswagen vor sich herschob und eine Kippe im Mundwinkel balancierte, während sie lautstark telefonierte. Jedes zweite Wort war »Arsch«. ›Wer hier wohnt, ist so richtig in selbigen gekniffen‹, dachte ich mir und merkte, wie meine Schritte immer langsamer wurden, je näher ich der Schule kam.

Schließlich stand ich vor meinem zukünftigen Arbeitsplatz, der Astrid-Lindgren-Schule. Was ich sah, entsprach genau meinen Erwartungen: Ein typischer Sechzigerjahre-Flachdachbau in U-Form lag vor mir, die Wände teils schmuddelig gelb gekachelt, teils rot verklinkert. ›Chabos wissen wer der Babo ist‹, behauptete ein Graffiti-Sprühzug an der Wand. Ich vermisste schmerzlich ein Komma und wusste da­rüber hi­naus weder was Chabos noch was Babos waren. Der Innenhof war betoniert, und nichts lud dazu ein, hier die Pause zu verbringen – weder das kaputte Klettergerüst noch das Basketballfeld mit den halb abgerissenen Körben. Sollten die Gerüchte tatsächlich stimmen und die Schüler ständig stiften gehen, um irgendwo eine zu rauchen oder eine Tankstelle auszurauben, hätte ich vollstes Verständnis für sie.

Apropos Schüler – die trotteten allein oder in Grüppchen auf das Schulgebäude zu oder standen im Innenhof, spielten an ihren Handys rum und quatschten. Es war eine bunt gemischte Truppe aus den unterschiedlichsten Herkunftsländern. Ich hörte Türkisch, Arabisch, Russisch, Polnisch und Deutsch, sah viele Jogginganzüge, haarspraytoupierte Mähnen, Smokey Eyes und viel zu viel Make-up für diese Tageszeit. Und zu viel Armut. Mich überkam das dringende Bedürfnis, all diese Kinder einzupacken und mitzunehmen ans Werther-Gymnasium. ›Hier habt ihr verloren‹, dachte ich.

Aber vielleicht täuschte ich mich ja. Vielleicht waren das alles blöde Vorurteile, für die ich mich schämen sollte. Ich atmete tief durch und betrat die Schule. Der Geruch von Bohnerwachs stach scharf in meine Nase, und ein orkanartiges Stimmengewirr schlug mir entgegen. Aber immerhin das war ich gewöhnt. Ich sprach einen etwa zwölfjährigen Schüler an, der allein auf einer Bank in der Pausenhalle saß und in einem zerfledderten Spiderman-Comic las. Er trug eine Jogginghose, ein T-Shirt mit Star-Wars-Aufdruck, und an den Füßen uralte, zerlatschte Chucks, die aussahen, als würden sie jeden Moment auseinanderfallen. Statt eines Schulranzens hing ein HamBank-Werbegeschenk-Rucksack über seiner schmächtigen Schulter. »Hey, kannst du mir sagen, wo das Lehrerzimmer ist?«, sprach ich ihn an.

Er musterte mich aus ernsten, dunkel umschatteten Augen und nickte. Ich wartete da­rauf, dass er antworten würde, doch als er nach etwa fünf Sekunden immer noch nichts gesagt hatte, wurde mir klar, dass ich auf einen uralten Scherz he­reingefallen war. »Machst du es denn auch?«

Er hielt sich die Hand vor den Mund und stieß einen komischen Laut aus, der wohl ein Lachen sein sollte, aber eher wie ein Grunzen klang. Seine Augen leuchteten auf vor Freude da­rüber, dass ich ihm auf den Leim gegangen war.

Ohne es wirklich zu wollen, musste ich mitlachen. »Witzbold.«

Der Junge schaute sich nach allen Seiten um, als hätte er Angst, bei irgendwas erwischt zu werden. »Ich kann Sie hinbringen«, sagte er schließlich. Seine Stimme klang überraschend tief.

»Machst du es denn auch?«, fragte ich grinsend.

Erneut stieß er sein Grunzen aus. Dann stand er auf und zog mich kurz am Ärmel, was wohl bedeutete, dass ich mitkommen sollte. »Sind Sie eine Mutter? Oder eine neue Lehrerin?«, fragte er, während wir den Flur entlanggingen. Durch die geöffneten Türen konnte ich Blicke auf die Klassenzimmer erhaschen. An den Wänden hingen Bilder, die die Schüler gemalt hatten. Das Thema war offensichtlich »Sommer« gewesen. Einige der Bilder waren gar nicht so schlecht.

»Ich bin eine neue Lehrerin«, erwiderte ich. »Heute ist mein erster Tag.«

Er nickte wissend und deutete auf die Ledertasche, die über meiner Schulter hing. »Hab ich mir schon gedacht. Wegen der Tasche. Und für eine Mutter sehen Sie viel zu schick aus.«

War ich wirklich so schick? Prüfend blickte ich an mir herab. Ich hatte ein Sommerkleid an, eine dünne Strickjacke und Ballerinas. Die Haare hatte ich mir aufgesteckt, und ich war dezent geschminkt. Wie immer, wenn ich das Haus verließ, trug ich Kontaktlinsen. Übermäßig schick fand ich mich eigentlich nicht, aber was wusste ich schon? Schließlich ging Nele mit mir einkaufen und kleidete mich gewissermaßen ein. Ich selbst interessierte mich nicht besonders für Mode und landete daher mit meiner Klamottenauswahl regelmäßig einen Griff ins Klo, wie Nele sagte.

»Was unterrichten Sie denn?«, wollte der Junge wissen.

»Musik und Geografie. Ich springe ein, weil hier so viele Lehrer krank geworden sind.« Wir bogen ab in einen weiteren langen Flur, an dessen Ende ich bereits die typische zweiflüglige Glastür erkannte, die in sämtlichen Schulen den Eingang in die heiligen Lehrerhallen markierte.

»Ach so. Dann kriege ich Sie ja vielleicht auch in einem der Fächer.«

»Wie heißt du denn?«

»Michael.« Er sprach es englisch aus.

»Wie Michael Jackson?«

Sein Gesicht war ein einziges Fragezeichen. »Wer?«

Ich winkte ab. »Egal. Ich bin übrigens Annika Paulsen.« Inzwischen waren wir vor dem Lehrerzimmer angekommen. »Da ist es«, sagte er und deutete auf die Glastür.

»Vielen Dank für deine Hilfe, Michael. Würd mich freuen, wenn wir uns im Unterricht wiedertreffen.«

Er neigte seinen Kopf zur Seite, legte seine Stirn in Falten und betrachtete mich eingehend. Fast schien es mir, als müsste er überlegen, ob ich das wirklich ernst gemeint hatte. »Ja, wär schon okay.« Er nickte mir noch mal zu, drehte sich um und lief schnellen Schritts auf seinen Chucks den Flur hi­nab. Der linke Schuh hatte in der Sohle ein Loch.

Ich öffnete die Glastür zum Lehrerzimmer und fragte mich durch, bis ich das Büro des Schulleiters gefunden hatte. Allmählich verließ mich das beklommene Gefühl und wich Nervosität. Es war mein erster Schultag, ich war neu hier, und ich hasste es, irgendwo neu zu sein. Was, wenn niemand mich leiden konnte? Mit zittriger Hand klopfte ich an. Nachdem von innen ein »Ja, bitte« ertönt war, trat ich ein.

Hinter einem überdimensional großen und von Papieren fast vollständig bedeckten Schreibtisch saß ein schlanker Mann, den ich auf Mitte vierzig schätzte. Er trug Jeans, ein kurzärmliges Hemd, hatte schütteres blondes Haar und sehr kluge braune Augen.

»Hallo«, sagte ich, leicht atemlos, wie immer, wenn ich aufgeregt war. »Mein Name ist Annika Paulsen, Musik und Geografie. Ich wurde vom Werther-Gymnasium zw…abgeordnet.«