Das Leben ist ein großes - Hanna Kappus - E-Book

Das Leben ist ein großes E-Book

Hanna Kappus

5,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wenn die Welt zerbricht – Leben mit Alzheimer

Die Krankheit Demenz ist eine schreckliche Herausforderung: Es geht immer nur abwärts und weil die Krankheit sehr individuell abläuft, lassen sich kaum Vorhersagen darüber machen, wie die Symptome sich entwickeln.

In ihrem berührenden Buch schildert Hanna Kappus den Weg ihres Ehemannes in das Vergessen. Die Erfahrungen, die sie als pflegende Ehefrau dabei gemacht hat, können für andere Betroffene nicht nur sehr hilfreich, sondern auch tröstlich sein. Denn bei allen Defiziten und Veränderungen, die der Kranke erleidet, bleibt er doch ein Individuum mit liebenswerten Fähigkeiten. Wenn man demenzkranken Menschen ermöglicht, sich in ihrer kleinen Welt ohne Angst zu entfalten, dann erfährt man Glück und Dankbarkeit.

  • Alzheimer beim Ehepartner: Ein hilfreicher und Mut machender Erfahrungsbericht einer Ehefrau
  • Wie pflegende Angehörige dem Kranken Halt und Selbstbewusstsein geben
  • Alle Infos zur Planung und Realisierung einer Wohngemeinschaft für demenzkranke Menschen

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 214

Bewertungen
5,0 (18 Bewertungen)
18
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Ein Wort zuvorDie Diagnose AlzheimerNach der DiagnoseLeben im Alltag mit Demenz im AnfangsstadiumKonsequenzen der DiagnoseThema SterbenEntwicklung der Krankheit im mittleren StadiumHilfe bei der Pflege: TagespflegePlanungen für eine WohngemeinschaftEinzug in die WGEingewöhnung mit SchwierigkeitenAlltagsleben in der WGDer PflegedienstPflege und VerhaltensauffälligkeitenDie Weiterentwicklung der Demenz
Gedächtnis und KognitionSpracheWahrnehmung und SinneEmotionen
Mein Leben alleinDas Fortschreiten der KrankheitDas Leben ist ein großesLiteraturliste
EinführungenRatgeber für AngehörigeErfahrungsberichtePflege und TherapieEinzelthemenRomane und ErzählungenFilmeKinderbücher
Copyright

Ein Wort zuvor

Die Krankheit Demenz ist eine schreckliche Herausforderung. Nach dem Ausbruch der Krankheit, die häufig lange vor der Diagnosestellung liegt, kommt es zu einer stetigen Verschlechterung. Dabei läuft die Krankheit sehr individuell ab. Es lassen sich kaum Vorhersagen darüber treffen, wie sich Verlauf und Symptomatik entwickeln werden. Bei dem einen ist die Sprache sehr früh betroffen, bei dem anderen die Orientierung oder das Alltagswissen. In dem vorliegenden Buch schildere ich die Entwicklung meines Mannes, weil bei aller individuellen Entwicklung der Krankheit auch immer ein Stück des generellen Krankheitsbildes sichtbar wird: die immer stärker werdende Abhängigkeit von Menschen, die sich um einen kümmern, und die schwächer werdende Fähigkeit, sich anderen Menschen mitzuteilen und zu verstehen. Dabei bleibt aber jeder Kranke ein Individuum mit seinen liebenswerten Fähigkeiten. Das zu entdecken ist manchmal schwer, weil die Defizite bei der Beobachtung im Vordergrund stehen. Als Angehörige von Demenzkranken haben wir immer wieder das Ende vor Augen, das unausweichlich auf uns zukommt, und vergessen darüber die fröhlichen Begegnungen, die wir haben könnten, wenn wir uns unbeschwert auf die Erkrankten einlassen würden. Natürlich verändern sich die Menschen mit Demenz, natürlich erleben die Angehörigen einen großen Verlust, doch wenn wir diesen Menschen Möglichkeiten geben, sich in ihrer kleinen Welt ohne Angst zu entfalten, dann können wir Glück und Dankbarkeit erfahren. In den Jahren der Pflege meines Mannes habe ich erlebt, wie schnell sich die Situationen verändern. Kaum hatte ich eine Schwierigkeit im Griff, tauchte die nächste auf. Jede Situation war einmalig und jede Schwierigkeit musste wieder neu bewältigt werden. Trotzdem habe ich viel von den Erfahrungen anderer Betroffener, Angehöriger und Pfleger gelernt. Sowohl Bücher als auch Gespräche halfen mir sehr. Vieles hätte ich früher besser machen können, wenn ich mehr gewusst hätte. Aber zu Beginn der Erkrankung kann man nur ahnen, was auf die Betroffenen zukommt. An manchem Tag klappt etwas, am nächsten gar nicht mehr, weil die Stimmung gerade anders ist oder Irritationen dazukommen. Immer wieder miteinander sprechen und sich immer wieder Anregungen durch Bücher oder Gespräche holen ist eine gute Möglichkeit, dem Kranken nahe zu sein. Ich habe versucht, ein Fotoalbum mit Kindheitsfotos anzubieten, wie es in vielen Büchern zur Erinnerungsarbeit empfohlen wird. Mein Mann hat es nur ganz kurze Zeit angesehen, dann fand er das Zerreißen des Papiers viel interessanter. Auf den Fotos erkannte er kaum jemanden. Ich packte das Album in den Schrank, vielleicht würde es später noch nützlich sein. Diejenigen, die meinen Mann gut gekannt haben in gesunden Zeiten, sind auch jetzt gute Ratgeber. So rede ich viel mit der Familie, mit der Schwester meines Mannes, mit meinen Geschwistern und Freunden. Insofern stellt Biographiearbeit eine nützliche Ergänzung zu der Professionalität der Pflegekräfte dar. Den Demenzkranken zerbricht ihre Welt, sie können sich immer weniger zurechtfinden, haben immer weniger Haltepunkte. Wir Pflegende müssen versuchen, ihren Halt und ihr Selbstbewusstsein lange zu bewahren. Es ist schwer, weil wir vieles am Verhalten des Kranken nicht mehr verstehen können. Reden Sie über Ihre Probleme und holen Sie sich Hilfe! Haben Sie Mut!

IhreHanna Kappus

Die Diagnose Alzheimer

»Es ist Alzheimer« – ich hätte es wissen können. Selten empfand ich diese Welle von Empathie bei einem Arztbesuch. Wir kannten den Arzt noch nicht lange, es war erst der zweite Besuch in der Praxis und ich begleitete meinen Lebensgefährten. Ich fand es sehr einfühlsam, als er sich nach unseren persönlichen Verhältnissen und unserer Beziehung erkundigte. Er wollte wissen, wie lange wir uns schon kannten. Ich ahnte nicht, dass er nur prüfte, ob unsere Beziehung diese Diagnose aushalten könnte.

Axel, mein späterer Mann, war seit vier Monaten krank. Er arbeitete seit 12 Jahren in einer Gemeinschaftspraxis als Internist und die Kollegen hatten vor einigen Monaten Gespräche mit ihm geführt, weil sie meinten, er sei den Anforderungen des Arbeitsalltags nicht mehr gewachsen. Nicht dass irgendwelche Fehldiagnosen zu beanstanden gewesen wären, aber die Akten stapelten sich und die Arztbriefe wurden nicht mehr rechtzeitig geschrieben. Er solle eine Auszeit nehmen. Diese Gespräche bedeuteten eine große Kränkung für meinen Mann. Wir sprachen viel darüber. Die objektiven Tatsachen waren nicht zu übersehen. Mir war auch seit längerem aufgefallen, dass mein Mann sich nicht konzentrieren konnte. Termine wurden übersehen, er vergaß Sachen, die ich ihm morgens gesagt hatte, und er reagierte unwirsch auf Anforderungen. Finanzielle Verhandlungen mit Banken, die er eigentlich souverän führen konnte, machten ihm jetzt Schwierigkeiten.

Merkwürdige Erlebnisse im Laufe der letzten Monate hatten mich irritiert. Nach einer Hochzeitsfeier übernachteten wir im Hotel. Nachts wachte ich auf, weil es an der Tür klopfte. Axel lag nicht mehr neben mir. Ich ging an die Tür, öffnete vorsichtig und sah ihn nackt vor mir stehen. »Lass mich schnell rein, ich hab mich in der Tür versehen«, flüsterte er hastig. Er hatte den Weg vom Bad ins Bett nicht gefunden und war auf dem Flur gelandet. Während eines Besuches bei einem Freund in Bukarest geschah Ähnliches. Der Freund kam nachts in das Gästezimmer, weckte mich und sagte: »Hol mal deinen Mann ab, der hat sich in mein Bett gelegt und will nicht wieder raus.« Erneut hatte er sich auf dem Weg von der Toilette verirrt und war im falschen Zimmer gelandet. Diese Ereignisse verwirrten mich. Mein Mann sah es gelassen und behauptete, er sei als Kind schon geschlafwandelt, was seine Mutter bestätigte.

Ein anderes Mal war er mit seinem Bruder in einem Restaurant, das etwa zwanzig Minuten zu Fuß entfernt lag. Für den Rückweg brauchten sie aber über eine Stunde. Mein Schwager sagte nur: »Wir sind ganz schön kreuz und quer gegangen.« Während eines Besuches bei meiner Schwester wollte Axel noch einmal kurz Luft schöpfen. Er ging ohne Jacke raus, kam aber nicht wieder, so dass ich mir große Sorgen machte. Wir suchten ihn vergeblich überall. Erst nach ungefähr zwei Stunden kam er durchgefroren wieder zurück. Er sei nur in die Nebenstraße gegangen, sagte er. Diese Stadt mit den kleinen Straßen sei verwirrend. Ein weiteres Erlebnis dieser Kette von Seltsamkeiten war gravierender. Mein Mann kam von einer Fortbildungsveranstaltung spät abends nach Hause, wir gingen sofort ins Bett. Gleich darauf klingelte es. Es war die Polizei. Sie fragten höflich, ob mein Mann mit seinem Fahrzeug gerade getankt hätte. »Ja, natürlich«, antwortete mein Mann. Es sei Anzeige wegen Benzindiebstahl erstattet worden. Sofort sagte mein Mann: »Ich habe vergessen zu bezahlen. Ich habe noch den Ölstand geprüft und dann hab ich es doch tatsächlich vergessen.« Er fuhr sofort hin, beglich den Schaden und nach ein paar Briefen und Gesprächen mit dem Rechtsanwalt wurde das Verfahren eingestellt.

Vielleicht hätte ich dieses Puzzle schon damals lösen können, aber es lagen immer Wochen zwischen den Episoden. Wir hakten diese Ereignisse daher eher unter dem Kapitel Kurioses ab. Manchmal glaubte ich, dass mein Mann ein Alkoholproblem hätte, denn zum Teil waren diese Vorfälle unter Alkoholeinfluss geschehen. Auf jeden Fall sah ich, dass mein Mann überlastet war. Er brauchte dringend Urlaub.

Wir hatten viele Reisen gemeinsam unternommen, waren in Asien und Afrika herumgereist, immer voller Neugier auf neue Erfahrungen und Erlebnisse. Nun mussten wir aber vor allem zur Ruhe kommen. Daher versuchten wir auf Reisen jetzt, einen Kompromiss zu finden zwischen Aktivitäten, Erwartungen an eine anregende Urlaubsatmosphäre und Möglichkeiten, von den Belastungen des Berufsalltags auszuspannen. Wir wählten Griechenland und mieteten uns für zwei Wochen auf Santorin ein wunderschönes Appartement mit Blick auf das Meer. Was als Rückzug und Erholung mit der Aussicht auf einen kraftvollen Neuanfang gedacht war, erwies sich als Beginn eines Albtraums.

MeinMann, dessen Lebenslust sonst kaum zu bremsen gewesen war, der immer ungeduldig alles erkunden und erleben wollte, saß stundenlang auf dem Balkon, starrte auf das Meer und ließ sich kaum auf Gespräche ein. So hatte ich meinen Mann noch nicht erlebt. Mit Mühe überredete ich ihn zu kleinen Ausflügen. Er hatte in den Urlauben immer die Organisation in die Hand genommen, weil er sich viel leichter tat als ich, Kontakte zu Menschen aufzunehmen. Die englische Sprache machte ihm weit weniger Mühe als mir. Ich machte die Arbeit im Hintergrund. So hatten wir eine gute Arbeitsteilung gehabt. Aber jetzt fiel es ihm schon schwer, sich telefonisch nach Fährverbindungen zu erkundigen. Er musste immer wieder nachfragen und verhaspelte sich dabei. Selbst die einfachsten Fragen konnte er nicht mehr auf Englisch formulieren. Es war, als hätte er die Sprache verloren. Schließlich bat er mich verzweifelt: »Komm, mach du das doch mal.« Ich übernahm und regelte die Anfragen.

Was zu Hause zu den kleinen Episoden des Alltags gehörte, dass von Zeit zu Zeit etwas verloren ging und wir etwas suchen mussten, gehörte jetzt täglich dazu. Mal vergaß er die Brille im Restaurant, dann das Fernglas an der Aussichtsplattform oder die Mütze im Auto. Ich schwankte in meinen Gefühlen zwischen Ungeduld und Angst und machte mir Sorgen, weil er den Weg zu unserer Wohnung nie fand. Ich hatte das Gefühl, ihn nicht allein weggehen lassen zu können. Er war in dem Gassengewirr von ähnlichen Häusern hoffnungslos verloren. Vielleicht war es dieses Verlorensein, das ihn so antriebslos werden ließ. Morgens lag er lange im Bett, schlief oder döste vor sich hin, viel zu lange für einen schönen Sommertag, an dem man doch so viele schöne Sachen hätte machen können.

Eines Tages äußerte er, er würde gerne noch einmal nach Athen fahren. Es sei so lange her, dass er da gewesen sei. Auf meinen Einwand, dass sei aber eine etwas aufwändige Reise und für einen Tagesausflug zu weit, meinte er, es müsse aber doch eine Brücke nach Athen geben. Wir seien doch nicht auf die Fähre angewiesen. Mir stockte der Atem. Das konnte er doch nicht ernsthaft meinen. Eine Brücke nach Athen? Ich machte mir große Sorgen und war vollkommen verwirrt. Dieses Gefühl hielt den ganzen Urlaub an. Abends im Bett weinte ich und wusste instinktiv, dass es hier nicht nur um eine Überarbeitung ging. Mir wurde klar, dass Axel schwer krank war.

Als wir nach Hause zurückgekehrt waren, besserte sich die Situation. Der Alltag in Hamburg lief normal. Mein Mann war in seiner gewohnten Umgebung, Verwandte und Freunde waren wieder da. Dennoch drängte ich zusammen mit den Kollegen auf einen Arztbesuch. Axel gab nach und ging zu einem Neurologen.

Um ihm den Arbeitsdruck zu nehmen, wurde Axel krankgeschrieben. So konnten in Ruhe Untersuchungen durchgeführt werden. Da ich voll berufstätig war, ging mein Mann allein zum Arzttermin. Ich war mir sicher, dass er das schaffen würde, und es gab auch keinen Anlass, ihn dabei zu unterstützen. Er war trotz der Vorfälle im Urlaub fähig, seinen Alltag zu organisieren, und vor allem waren ihm alle medizinischen Diagnosen geläufig. Er war sich als Arzt bewusst, dass er krank war, und so konnten wir vor dem Arztbesuch gemeinsam eine Liste von Auffälligkeiten in seinem Verhalten der letzten Monate erstellen.

Behutsam gingen wir die Entwicklung des Jahres durch und vermerkten die Stichpunkte: manchmal fehlende räumliche Orientierung, Antriebslosigkeit bei der Arbeit, Wortfindungsstörungen. Während unseres Gespräches erschienen mir meine Beobachtungen sehr viel gravierender als seine Darstellungen. Aber ich wollte ihn nicht kränken und die Situation nicht unnötig dramatisieren, darum schwieg ich über die Diskrepanz.

Der Neurologe begann die Untersuchung mit einer ausführlichen Bestandsaufnahme der Lebensumstände. Mein Mann war ein 53-jähriger Kollege, der seit 12 Jahren in einer internistischen Gemeinschaftspraxis arbeitete und für den eine Arbeitszeit von bis zu sechzig Stunden in der Woche nicht selten war. Das war seit Jahren die berufliche Belastung. Hinzugekommen waren allerdings große Probleme im persönlichen Bereich.

Axel und ich hatten uns im November 1978 kennengelernt. Für uns beide war es eine Ausnahmesituation: Ich wohnte und arbeitete in Hamburg und lebte seit kurzem von meinem ersten Mann getrennt. Axel hatte als Assistenzarzt in Freiburg gearbeitet und schrieb noch an seiner Doktorarbeit. Auch er hatte sich gerade von seiner langjährigen Freundin getrennt. Wir lernten uns kennen, als er Freunde in Hamburg besuchte, und verliebten uns. Er verlängerte seinen Aufenthalt und blieb einige Tage bei mir. Wir redeten Tag und Nacht. Ich ging nur noch wie in Trance zur Arbeit. An einem Tag brachte ich ihn zum Bahnhof, er wollte in den Zug steigen, entschied sich dann aber anders und wir fuhren wieder zurück zu mir. Diese Tage erlebten wir beide wie im Rausch.

Es folgten vier Jahre mit der örtlichen Distanz Freiburg – Hamburg mit hohen Telefonkosten. Mindestens ein Wochenende im Monat verbrachten wir miteinander und natürlich die Urlaube. Axel hätte wohl noch länger weiter so leben können, aber ich sehnte mich nach einem gemeinsamen Leben mit ihm auch im Alltag. Diese unterschiedlichen Auffassungen prägten unsere Auseinandersetzungen. Dennoch entschieden wir uns, 1982 zusammenzuziehen. Axel kam nach Hamburg, wir wohnten in meiner Wohnung. Es folgten schöne gemeinsame Jahre, in denen wir uns ausgezeichnet ergänzten. Axel lebte sehr intensiv, er genoss das Leben und strahlte Freude aus. Wir hatten einen großen Freundeskreis, feierten viel, machten viele Reisen, lernten andere Länder kennen und schlossen auch dort Freundschaften. Axel fiel es leicht, Kontakt aufzunehmen. Er war offen und fröhlich, konnte gut unterhalten, hatte Witz und war für die meisten Gesellschaften eine Bereicherung. Für mich, die ich eher zurückhaltend bin, war es die optimale Ergänzung. Ich hatte mit ihm einen Partner, der mich forderte, aber auch förderte, der nie langweilig war. Wir lebten eine intensive Beziehung, die dennoch nicht einengend war. Gegenseitig ließen wir uns viele Freiräume und mein Mann unterstützte mich immer, wenn ich neue Ideen umsetzen wollte, ob beruflich oder bei meinen zahlreichen Hobbys. Vor allem verband uns ein ähnliches Lebensgefühl, wir wollten Liebe und Freiheit. »You can’t always get what you want, but try sometimes« in Anlehnung an den Song der Rolling Stones war das Motto meines späteren Mannes. Wir beide waren Teil der 68er Generation. Ich hatte 1966 angefangen zu studieren, Axel war drei Jahre jünger und war bereits als Schüler mit den Gedanken der Studentenbewegung konfrontiert worden. Prägend waren für uns beide sexuelle Revolution und Politisierung, auch wenn wir nicht politisch aktiv waren. Aber wir wollten Verantwortung tragen und uns engagieren. Für uns stand fest, dass wir für unsere Verbindung keinen rechtlichen Rahmen brauchten. Ich hatte bereits eine Ehe hinter mir und wusste, dass die Ehe nur scheinbar Sicherheit bot. So musste ich es nicht ein zweites Mal probieren. Für Axel war Heiraten überhaupt kein Thema.

In den ersten Jahren des Zusammenlebens entwickelte und festigte jeder seine berufliche Position. Ich wurde Lektorin, später Abteilungsleiterin in einem Bibliothekssystem, Axel war Arzt und machte sich nach einigen Jahren im Krankenhaus und der Facharztausbildung als Internist selbstständig.

Wir lebten schon fast 20 Jahre zusammen und hatten uns inzwischen eine Wohnung gekauft. Das Leben hätte so weitergehen können. Aber kurz nach seinem 50. Geburtstag, den wir sehr aufwändig und fröhlich gefeiert hatten, wurde ich mit seinem Geständnis konfrontiert, dass er Vater werden würde. Für mich brach eine Welt zusammen und ich brauchte viele Tage, um mit dieser Tatsache fertigzuwerden. Es gab zahlreiche Auseinandersetzungen, bis ich so weit war, mit ihm gemeinsam zu versuchen, die Verantwortung für das Kind zu übernehmen.

Wir hatten uns entschieden, unsere Beziehung weiterzuleben. Seine Tochter wuchs bei der Mutter auf. Mein Mann kümmerte sich um seine Tochter, sooft es seine Zeit zuließ. Ich lernte, diese Tatsache zu akzeptieren. Aber unsere Beziehung war schwierig geworden und die Auseinandersetzungen kosteten ihn und mich viel Zeit und Kraft. In meinem Tagebuch schrieb ich, wie aufwühlend diese Zeit war:

Axel, es ist gut, dass Du ein paar Tage nicht da bist. Ich bin jetzt gern mit mir allein und überlege viel. Ich möchte mich mit klarem Kopf entscheiden. Wenn Du da bist oder anrufst, werde ich weggeschwemmt von meinen Gefühlen. Trauer, Bitterkeit, auch Selbstmitleid lassen Gedanken nicht mehr zu. Beim Spaziergang vorhin war ich ganz klar und heiter, konnte mich freuen am Wasser, an den knospenden Pflanzen, an den wenigen Menschen, die schon so früh am Morgen vielleicht etwas verwundert die einsame Spaziergängerin grüßten. Trotz Regen war es einfach schön und ich konnte trotz des Schmerzes sagen, dass das Leben lebenswert ist – mit Dir, ohne Dich, allein für mich. Und ich habe darüber nachgedacht, was Leben eigentlich für mich bedeutet, ich habe an die Diskussionen mit meinem Vater gedacht, der meine Lust nach Intensität und emotionaler Befriedigung immer für unglücklich machend hielt und eher glaubte, Stabilität und starke Familienbindungen seien die sichere Basis für eine glückliche Partnerschaft. Ich habe mich schon früh dagegen gesträubt, habe Familie oft als zu eng, Ehe als Fassade und erdrückend empfunden. Nie wollte ich eine Beziehung eingehen, die nur noch tot ist und auf dem Papier besteht. Ich träumte von einer Verbindung von Freiheit und Liebe. Aber ich wollte natürlich auch die große, allgewaltige Liebe, die alle Schranken überwindet. Diese Liebe konnte ich gar nicht leben, denn da gab es außer der großmütigen, freiheitsliebenden, weitherzigen Hanna auch noch die kleine, ängstliche, die Geborgenheit, Vertrauen und Nähe brauchte. Als ich Dich kennenlernte, hast Du den Teil in mir gestärkt, der mutig, offen und tatkräftig ist. Du hast mir ermöglicht, fröhlicher auf die Welt zuzugehen. Über Dich konnte ich den Teil ausleben, der ich gerne sein möchte, aber nicht immer sein kann. Und für Dich gilt – glaube ich – auch, dass Du beide Teile in Dir hast: den offenen, weltsprengenden, kritischen und auch den, der Bindung und Beständigkeit sucht. Vielleicht nur in umgekehrtem Verhältnis. Vielleicht ergänzen wir uns beide deshalb so gut, weil wir beide lebensintensiv leben möchten und gleichzeitig die Wurzeln brauchen. (Tagebuch 2000)

Es hat einige Zeit gedauert, bis wir wieder ganz vertrauensvoll miteinander umgehen konnten, und es war sicher nicht so leicht, wie es sich hier anhört. Aber das ist eine andere Geschichte. Hier ist von Bedeutung, dass wir beide emotional stark belastet waren. Ob diese Belastung den Ausbruch der Krankheit gefördert hat, vermag ich nicht zu sagen. Aber Folgen für die Diagnose hatte sie in jedem Fall.

Denn allen schien die Diagnose, die der Neurologe stellte, sinnvoll: Depression aufgrund eines Burnout-Syndroms. Eine MRT (Magnetresonanztomographie) des Gehirns war unauffällig gewesen. Hirnorganische Ursachen wie ein Tumor wurden ausgeschlossen. Mit dieser Diagnose konnten wir gut umgehen. Ein wenig Ruhe, vielleicht eine Kur in einer Spezialklinik, dann würde schon wieder alles in Ordnung kommen, so dachten wir. Auch alternative Ursachen wurden noch diskutiert: Axel hatte als Kind eine Kohlenmonoxydvergiftung mit lange andauernden Ausfällen gehabt. Die Frage war, ob die Symptome späte Folgeerscheinungen sein könnten. Der Arzt überlegte zusätzlich, ob Vergiftungen in Lebensmitteln oder Störungen im Wohnumfeld Ursache sein könnten. Aus seiner Sicht sprach alles für die Diagnose depressives Syndrom aufgrund der außergewöhnlichen Belastungen.

Ausgestattet mit den Medikamenten und der Hoffnung auf baldige Genesung machte Axel noch zweimal kurze Versuche, seinen Beruf wiederaufzunehmen. Aber es ergab sich keine Besserung. Die Ausfälle nahmen zu. Die Orientierung im Hamburger Stadtverkehr fiel Axel zunehmend schwerer. Auch den Weg zur Praxis des Neurologen, den er jetzt schon häufiger gefahren war, fand er nicht sicher. Eines Tages hatte er sich wieder einmal verirrt, fand aber einen Ausweg, wie er mir stolz hinterher verkündete. Er hatte einen Taxifahrer angehalten, ihn gebeten, zu der Adresse des Arztes zu fahren und war ihm in seinem Auto gefolgt. Zurück hatte er den Weg allein gefunden. Auf diese Weise verstand er es lange Zeit, seine Defizite zu kompensieren. Auch in Gesprächen gelang es ihm mit seiner Eloquenz, die Fassade aufrechtzuerhalten. Nur seine engsten Vertrauten wunderten sich über seine zunehmenden Worthülsen.

Als sich nach fast drei Monaten keine Veränderungen in seinem Verhalten abzeichneten, schlug der Neurologe vor, einen weiteren Facharzt von der Universitätsklinik zu Rate zu ziehen. Nach einigen Sitzungen war diesem Facharzt klar, dass es hier nicht ausschließlich um psychische Belastungen gehen konnte. Ausschlaggebend waren vermutlich Fragen nach der familiären Situation meines Mannes. Er konnte die Geburts- und Todesdaten seiner Eltern nicht nennen, tat sich mit Daten überhaupt außerordentlich schwer. Auch wenn man ihn fragte, wie alt er sei, kam die ausweichende Antwort: »Ich bin Jahrgang 49.« So umging er die genaue Antwort und gab sich keine Blöße. Der Arzt schlug eine weitere Überweisung vor.

Vier Monate waren inzwischen vergangen, als der Besuch des dritten Arztes anstand, von dem wir die Auflösung des Rätsels »Was ist mit Axel?« erwarteten. Nach dem Anamnesegespräch wurden zahlreiche Tests durchgeführt. Es gibt verschiedene psychometrische Tests, mit denen Hirnleistungen untersucht werden können. Der MMST (Mini-Mental-Status-Test) fragt alltägliche Dinge wie Zeit und Ort ab, um Orientierung, Gedächtnis, aber auch Sprachverständnis, Lesen und Rechnen zu prüfen. Der Uhrentest, bei dem eine Uhr mit einer zuvor angegebenen Uhrzeit gezeichnet werden soll, lässt Rückschlüsse auf die Gedächtnisleistung zu. Der Arzt setzte weitere Testverfahren wie das Nachzeichnen vorgegebener Figuren und verschiedene Gedächtnistests ein. Bereits nach zwei Tagen gingen wir zusammen wieder zum Arzt, um über das Ergebnis zu sprechen.

Von nun an hatte die Krankheit einen Namen: Alzheimer.

Nach der Diagnose

Der Mediziner fragte mich: »Wissen Sie, was das bedeutet?« Natürlich hatte ich von dieser Krankheit gehört. Ich betreute in der Bibliothek, in der ich arbeitete, die Sprachenabteilung und die Geisteswissenschaften, aber auch den Bereich Medizin. Ich hatte etliche Bücher zum Thema Alzheimer gekauft und auch angelesen und wusste etwas über die Problematik. Bisher war ich davon ausgegangen, Alzheimer sei eine Krankheit der Alten. Trotzdem sagte ich: »Also das ist es, dann kann ich mir vieles erklären.« Es klang, als ob ich erleichtert sei, endlich eine Antwort gefunden zu haben auf die Frage, was der Grund für das sonderbare Verhalten meines Mannes ist. Weder Axel noch ich haben in diesem Moment begriffen, was das für uns bedeutete.

Nach dem Arztbesuch ging ich zurück ins Büro. Ich konnte nichts anderes denken als diesen verdammten Satz: »Er hat Alzheimer, er hat Alzheimer.« Ich versuchte, meine Arbeit zu tun und war unendlich froh, als ich endlich Feierabend hatte. Mein Mann hatte die Diagnose erstaunlich gelassen aufgenommen. Auch die Feststellung des Arztes, er müsse seine Arbeit jetzt aufgeben, nahm er erst einmal ruhig auf. An eine Rückkehr in die Praxis war nicht mehr zu denken. Ich mutmaßte, dass auch er froh war, eine Erklärung zu haben und sich jetzt dem Druck, etwas leisten zu müssen, entziehen zu können.

Im Nachhinein wurde auch mir klar, welchem Druck er in den letzten Monaten ausgesetzt war, als er noch gearbeitet hatte. Lange hatte er versucht, die Fassade zu wahren. Aber er musste dabei immer mehr Kritik seiner Kollegen aushalten, die das Nachlassen seiner Arbeitsleistungen bemängelten. Auch ich hatte ihn häufig kritisiert, dass er sich immer weniger konzentrierte und Termine vergaß oder abends nicht mehr wusste, was wir morgens verabredet hatten. Nun verstand ich, weshalb er manchmal abends in seinem Sessel saß, nicht ansprechbar war und nur seinen Rotwein trank. Ich dachte, er grübelte über unsere Probleme, aber ihm zerfiel sein Leben.

Tatsache war, dass er als Arzt merkte, dass ihm das Leben aus den Händen glitt. So war es für ihn auch eine Erleichterung, dass er nun ein Wort hatte für das, was mit ihm passierte. Er ging in der folgenden Zeit ganz offen mit der Diagnose um. »Ich habe Alzheimer, einen klassischen Alzheimer«, so erzählte er allen Freunden, die wir zwei Tage nach der Diagnose bei einer Geburtstagsfeier trafen. Alle reagierten erschrocken und betroffen, für ihn war es nach meinem Eindruck aber auch eine Entlastung. Es schien mir, als spräche er über jemand anderen, der die Verantwortung für seine Schwächen und Unzulänglichkeiten übernommen hatte.

Es gab aber auch die andere Seite, die sich auflehnte gegen diese Diagnose und sie nicht akzeptieren wollte. Er hatte beim Neurologen die verschiedenen Tests gemacht und wusste, dass diese wiederholt werden würden. Wir sprachen über die Ergebnisse, ich stellte ihm Informationen aus dem Internet über diese Tests zusammen. Er setzte sich hin und trainierte sein Gehirn in der Hoffnung, seine Ergebnisse verbessern zu können. So zeichnete er verzweifelt Uhren und übte, um den Uhrentest besser zu bestehen. Ich war berührt und schrecklich traurig, ihn in seinem Bemühen zu beobachten und zu wissen, dass alles Üben nichts nützen würde. Irgendwann gab er auf, tat diese Tests als Kinderkram ab und vertraute darauf, dass er mit seiner Intelligenz die Defizite kompensieren könne. Das war sicher auch eine lange Zeit möglich. Man merkte nicht auf den ersten Blick, dass mein Mann dement war.

In den nächsten Wochen nach der Diagnose waren wir gezwungen, die Konsequenzen der Krankheit zu überdenken. Mein Mann als Arzt konnte sehr gut abschätzen, was auf ihn zukommen würde. Ich war erstaunt, wie rational er in seinem Vorgehen war. »Wenn es um so eine schwerwiegende Diagnose geht, muss man eine Zweitmeinung einholen. Ich lasse weitere Untersuchungen machen. Vielleicht habe ich doch noch eine Chance«, äußerte er. Nach Absprache mit dem Neurologen ließ er sich in der nächsten Zeit weiter untersuchen. In der Universitätsklinik wurden eine Positronen-Emissions-Tomographie und ein EEG durchgeführt. Zudem standen weitere Tests in der »Gedächtnissprechstunde« auf dem Programm, einer Einrichtung der Universitätsklinik, die sich auf die Diagnose und Therapie von Demenzen spezialisiert hat.

Axel fuhr zu einem Mediziner-Kongress nach Hannover, motiviert durch das Programm mit dem Hauptthema Alzheimer. Die Mutter seiner Tochter, die ebenfalls Ärztin ist, begleitete ihn. Auf dem Kongress trafen sie einen Neurologen, der Chefarzt einer Klinik in Schleswig-Holstein war. Im Anschluss an die Tagung konsultierte Axel den Kollegen und wurde eingehend von ihm untersucht. Alle Ergebnisse, auch Untersuchungen zum Eiweißgehalt im Liquor, bestätigten die Diagnose Demenz vom Typ Alzheimer, eine alternative Diagnose gab es nicht mehr.