Das Leben ist zu kurz für ein langes Gesicht - Seraphina Kalze - E-Book

Das Leben ist zu kurz für ein langes Gesicht E-Book

Seraphina Kalze

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Beschreibung

Dieses Buch trifft mitten ins Herz – nicht nur, weil es mit einer Herz-OP beginnt: Schonungslos ehrlich, anekdotenreich und mit einzigartigem Humor schildert Seraphina Kalze den Alltag mit ihrem schwerkranken Vater und die Hürden, die sie meistern. Eine Geschichte vom Hinfallen und Aufstehen, von Trauer, Liebe und Lachen. Seraphina Kalze ist Moderatorin, Musikerin, Unterhaltungskünstlerin, ein Multitalent – im Netz begeistert sie eine riesige Followerschaft mit ihren Witzen, dem mitreißenden Lachen und unverbrüchlicher Lebensfreude. Aber Seraphina ist auch die Tochter eines schwerkranken Vaters, den sie seit einem Schicksalsschlag vor Jahren neben Kindern und Karriere versorgt. "Kommt ein Mann zum Arzt": So beginnt nicht nur manch guter Witz, sondern auch dieses sehr persönliche Buch, in dem Seraphina Kalze den Alltag von Vater und Tochter zwischen Tränen und Situationskomik erzählt – zutiefst berührend, lebensklug und mit dem unverkennbaren "Fine"-Humor. Ein Buch, das Mut macht, denn eins steht fest: Das Leben ist zu kurz für ein langes Gesicht.

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Seitenzahl: 207

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Seraphina Kalze

Das Leben ist zu kurz für ein langes Gesicht

Mein Vater und ich auf der Suche nach dem Glück

Für Papa

Ihr Lieben,

am Ende des Buches warten spezielle QR-Codes auf euch! Sie führen direkt zu meiner Musik. Die Songs wurden zum Teil extra für dieses Buch geschrieben und produziert. Lasst euch überraschen!

Viel Spaß beim Anhören!

 

Seraphina

1Der Anruf

»Was sollte Helene Fischer nicht auf der Intensivstation singen?«

»Atemlos«

Ihr Vater hatte während der Operation einen schweren Schlaganfall erlitten. Es tut mir wirklich sehr leid. Können sie herkommen?«

Wenn man Witze kategorisieren wollte, dann gehörte dieser hier in die Rubrik: disqualifiziert. Es war nämlich keiner. Was am Morgen als harmlose Bypass-Operation am Herzen meines Vaters begann, endete in einem schweren Schlaganfall und in einem künstlichen Koma, in das er versetzt wurde, damit er – hoffentlich – irgendwann überhaupt wieder aufwachte.

Nachdem ich aufgelegt hatte, hörte ich förmlich, wie etwas in mir zerbrach. Mein Schutzschild, auf das ich mich sonst so gut verlassen konnte, lag zerschmettert in zig Einzelteilen auf dem Gehweg verstreut. Der Straßenlärm hämmerte in meinen Ohren. Mir war schwindelig. Meine Füße konnten keinen Schritt machen, und doch bewegte sich alles um mich herum. Ich wollte mich verstecken, aber da war nichts. Keine Zuflucht. Dann wurde alles schwarz, und ich brach mitten in der Hamburger City, genauer gesagt in der Rathausstraße, Ecke Pelzerstraße, gleich beim TUI Reisecenter, zusammen.

 

Ich weiß nicht mehr genau, wie ich kurz danach in das Auto meines Mannes stieg, um es knapp vier Stunden später vor dem Krankenhauseingang des Klinikums in Halle wieder zu verlassen. Aber nur wenige Stunden nach dem denkwürdigen Anruf des Arztes, einer freundlichen Passantin, die mich für irre gehalten haben musste, weil ich ständig nach meinem Papa gefragt und was von Koma gefaselt hatte, und ein paar Traubenzucker später war ich bereits bei meinem Vater angekommen. Meinem Vater, von dem ich grad gar nicht wusste, wer er eigentlich war.

Ich lief direkt zur »Stroke Unit« der Intensivstation, der speziellen Klinikabteilung für Schlaganfallpatienten. Ich klingelte und wurde in einen Vorraum gelassen, eine Art Schleuse. Hier standen Tische, Stühle, eine Couch, ein paar Zeitschriften lagen herum; es gab ein Fenster mit Blick auf einen weiteren Krankenhauskomplex. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass dieses kleine Zimmer mein neuer Aufenthaltsraum für die nächsten Wochen werden würde. Hier lernte ich auch die wahre Bedeutung des Wortes »Warte-Zimmer« kennen. Denn nie zuvor habe ich je so viel Zeit mit Warten, Hoffen und Bangen verbracht wie auf diesen zwölf Quadratmetern.

Vor der Operation war mein Papa ein starker Mann gewesen, groß und ganz gut in Shape. Klar, kleine Wampe, aber nichts, wo man dachte, der Typ klappt gleich ab. Er war humorvoll. Sehr. Konnte keiner Fliege was zuleide tun. Er hatte Sinn für Poesie und liebte Musik (im jungen Erwachsenenleben war er selbst Sänger und Gitarrist gewesen). Er konnte supercharmant sein, war mehr als hilfsbereit und vor allem war er das: der beste Vater der Welt. Kurzum, er war ein vitaler, kräftiger Mensch, der sich nach dem Tod seiner Frau wieder aufgerappelt hatte.

Und dann das …

Meine Mutter war 2012 plötzlich und unerwartet gestorben. Vielleicht erklärt das auch, warum mir in dieser Situation so gar kein lockerer Spruch mehr über die Lippen kommen wollte. Wenn das Leben so richtig todernst wird, kann man auch keine Tränen mehr lachen. Ich hatte jedenfalls eine Scheißangst, ihn nun auch noch zu verlieren.

Irgendwann durfte ich dann doch in das Zimmer meines Vaters. Er lag in einem Bett, das umzingelt war von Geräten, die blinkten und piepsten und unangenehme Geräusche machten. Um ihn herum wuselten hektisch mehrere Menschen. Mein Vater bewegte sich währenddessen unkontrolliert und ruckartig. Es schien so, als wollte er aufstehen oder sich aufrichten, aber er konnte nicht. Die Bewegungen liefen irgendwie ins Leere.

»Er kämpft um sein Leben«, dachte ich, und Tränen schossen mir in die Augen. Ich blieb stehen. Ich konnte nicht an sein Bett herantreten. Ich verstand nicht, was da geschah, was mit ihm geschah, und es wirkte auf mich, als würde er es auch nicht verstehen.

Es waren nur Sekunden, die vergingen, bis ich doch zu ihm ging, seine Hände nahm, mich direkt über ihn beugte und sagte: »Papa. Ich bin da!«

Er blickte in meine Augen und atmete laut und hörbar erleichtert aus. Er umklammerte meine Hände, zog mich zu sich, bewegte den Kopf in meine Richtung, als wollte er mir etwas sagen, aber es kam nichts. Ich hatte das Gefühl, seine Augen fragten: »Was ist los?, Was ist passiert?«

In seinem Blick spürte ich so viel Angst und Verzweiflung. Ich habe mal gehört, dass es im Kopf von Schlaganfallpatienten nach dem Infarkt im Gehirn furchtbar laut ist, mit vielen Blitzen und bunten leuchtenden Kreisen. Als steckte man den Kopf zwischen zwei riesige Orchesterbecken, die über einem zusammengeschlagen werden.

Meine Tränen schluckte ich hinunter. Mir war klar, ich musste jetzt stark sein, musste ihm Sicherheit vermitteln, dieser eine Strohhalm, an den er sich klammern konnte. Und ich sag’s euch, das war ich dann auch. Ich war stark wie zehn Riesen, hielt ihn fest in meinen Armen, versuchte ihn zu beruhigen und war zum ersten Mal in meinem Leben, mit einunddreißig Jahren, stärker als mein Papa.

Was war nun eigentlich passiert? So eine Bypass-Operation dauert in der Regel drei bis sechs Stunden. Natürlich immer abhängig vom Gesundheitszustand des Patienten, der Schwere des Eingriffs bis hin zu eventuellen Komplikationen, die auftreten können. Wenn sie denn auffallen! Der Schlaganfall meines Vaters fiel aber nicht auf, und so brachte man ihn, nachdem die neuen Leitungen verlegt und der Brustkorb wieder zugenäht worden war, auf die Intensivstation zur Überwachung. Die Geräte blinkten, wie sie sollten, und normalerweise wachte man irgendwann halbwegs klar wieder auf. Mein Papa jedoch nicht. Wenn man so wollte, hatte er seinen Schlaganfall verschlafen. Und von außen deutete erst mal nichts darauf hin. Dadurch hatte der Infarkt viel Zeit, sich in seinem Gehirn auszubreiten und so ziemlich alles anzugreifen, was man zum Leben braucht: Koordination der Muskeln, Bewegung, das Gleichgewicht, motorische Kontrolle, Sprechen, Schlucken, Aufmerksamkeit, Steuerung der Augenbewegung, aufrechter Gang und einiges mehr.

Ist ein aktives gesundes Gehirn auf dem CT-Monitor weiß, so war das meines Vaters fast überall schwarz. »Geistige Umnachtung« ist ein zu schöner Ausdruck für diese totale zerebrale Sonnenfinsternis. Er war, auf Deutsch gesagt, am Arsch!

Zeig mir mal dein Taschentuch!

»Was ist der Unterschied zwischen einer alten Uhr und einem Camper?«

»Der Camper bleibt öfter stehen.«

Mein Vater lag nun im künstlichen Koma. Angeschlossen an all den Geräten, die bei der kleinsten Unregelmäßigkeit Alarm machten. Ich legte meinen Job beim MDR aufs Eis und war nur für ihn da. Jeden Tag ging ich ins Krankenhaus und blieb, so lange es ging, bei ihm an seiner Seite. Ich erzählte und feixte und hatte dabei ein Lieblingsthema: die Zukunft.

Ehrlich gesagt, in dem Moment sah sie einfach scheiße aus, aber ich malte sie in den buntesten Farben. Unser seit Ewigkeiten geplanter Besuch eines Rolling-Stones-Konzertes stand ganz weit oben auf der Liste der zu erledigenden Dinge, dicht gefolgt von all den Abenteuern und Reisen, die wir noch mit dem Camper machen wollten. Während ich an seinem Bett wachte und dafür sorgte, dass er mir nicht gänzlich einschlief, erinnerte ich mich an unsere ersten gemeinsamen Trips.

Zu dem allerersten musste ich ihn 2014 fast hintragen wie ein Nilpferd zum Ballettunterricht. Unser Leben hatte sich durch den plötzlichen Tod meiner Mama zwei Jahre zuvor komplett verändert. Mein Vater war eher derjenige, der sich verkrümelte und der Meinung war, dass es sich nicht lohnte, noch mal etwas Neues auszuprobieren. Ich hielt das für Unfug. Das Leben ist zu kurz für ein langes Gesicht, dachte ich. Und sagte ihm das auch.

Also ließ er sich erweichen, und ab gings hoch in den Norden, in die schottischen Highlands. Wir bretterten im Linksverkehr mit einem alten Camper über die Straßen, saßen abends am Lagerfeuer und rieten Sternenbilder. Das half schon.

Weil das so gut geklappt hatte, lieh ich mir ein Jahr später das Wohnmobil von einem Bekannten und fuhr los Richtung Baltikum. Als ich meinen Papa in Halle abholte und sah, was er alles mitschleppen wollte, sprach ich ein kleines Machtwort. Unsere Reise durch Schottland hatte, bedingt durch den Flug, ein klares Gepäcklimit, aber wenn du direkt von der Haustür aus losfährst, verleitet das schon dazu, erst mal alles einzupacken.

Mein Papa wollte für jedes Problem gewappnet sein. Entsprechend musste für den Baltikum-Trip unbedingt sein Jagdmesser, der Weltempfänger und ein Kompass mitgenommen werden! Wofür? Wir können in den Supermarkt an die Fleischtheke, wir haben ein Navi, und das Radio läuft auch super. Aber er ließ sich nicht davon abbringen, und ich muss ehrlich sagen, das Fahren mit Karte und Kompass, ohne Navi, das Holzschnitzen abends am Feuer und das Knacken des Weltempfängers im Norden Estlands, das hat, wenn man es erlebt, seine ganz eigene Magie.

Diese Reisen, diese Abenteuer, diese Roadmovies, die wir drehten, die Tränen, die wir zusammen weinten, weil uns Mama fehlte, und das laute Lachen, als wir später die Fotos anschauten und bemerkten, dass er jeden Tag immer dasselbe Shirt anhatte – das hat uns zusammengeschweißt, uns Kraft und Energie für eine neue Zukunft gegeben.

Und genau so würde ich es jetzt wieder machen, dachte ich, während ich an seinem von Maschinen eingerahmten Bett saß und seine Hand hielt.

Ich habe auf diesen Reisen begriffen, dass ich nur eine begrenzte Zeit auf dieser Erdkugel habe und dass es so vieles zu sehen und zu entdecken gibt. Dass Freiheit ein Gefühl ist, das unglaublich beflügelt und eine Kreativität freisetzt, von der ich vorher nichts ahnte.

Ich hatte meinen Vater ins kalte Wasser geworfen, als ich ihn dazu nötigte, sich auf planlose Abenteuer und unbekannte Ziele einzulassen – Ausgang ungewiss! Mein Vater ist in der ehemaligen DDR geboren, aufgewachsen und erwachsen geworden. Er war sechzig Jahre alt und frisch verwitwet. Wie sehr wärt ihr da bereit, ins kalte Wasser zu springen?

Aber wir haben es gemacht. Und als mein Vater dann auch noch anfing, darüber nachzudenken, den Jakobsweg zu gehen, bewies mir das, dass meine erste Therapie anschlug und mein Papa doch noch Lust hatte, vom Kuchen des Lebens ein Stück abzubeißen.

Bei mir war das ja nicht anders. Durch ihn fand auch ich meinen Glauben zurück, dass Verlust und Schmerz eines Tages erträglicher sein werden, dass auch Gutes wieder seinen Platz haben wird. Denn die Zeit vergeht nicht nur, sie nimmt uns mit jedem Ticken der Zeiger auch mit in Richtung »vorwärts«.

Wir knüpften uns also auf diese Weise und durch diese intensiven Momente ein Tau, das zwischen uns gespannt war und das ich im nun tosenden Ozean, in dem mein Papa gerade unterzugehen drohte, um keinen Preis loslassen wollte. Denn unser stilles Versprechen nach unseren Abenteuern lautete: Egal wie hoch die Wellen schlagen, ich halte dich fest!

 

Na ja, und nun lag er da. Ein paar Monate später. Bewegungslos. Augen geschlossen. An einer Maschine, die für ihn atmete.

Ich sagte oft: »Komm, du musst kämpfen, wir haben doch noch so viel vor!« Oder: »Ich kann noch nicht ohne euch beide leben. Bitte bleib du noch hier!«

Ich habe keine Ahnung, ob das gut war, oder ob es meinen Vater eher unter Druck setzte. Glaubt nicht, dass Menschen im Koma nichts mitbekommen. Die Herzfrequenz meines Vaters passte sich oft meiner Stimmung an. Saß ich verloren und mutlos an seinem Bett und hielt seine Hände umschlossen, rollten Tränen aus seinen Augen, und sein Herz schlug schneller.

So verging der März, und der April begann wieder mit einem wichtigen Anruf. Ich saß wie so oft kerzengerade am Krankenbett, als mein Handy leise vibrierte. Auf dem Display erkannte ich die Nummer von Daniel. Daniel war zu dieser Zeit mein Manager und immer über alles informiert. Er würde mich nur stören, wenn es wirklich wichtig war. Also ging ich ran. Daniel klang ungewöhnlich verhalten. Normalerweise plauderte der Kölner mit einem beherzten »Kalzi« drauf los, dieses Mal aber nicht.

»Pass auf, ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht!« Irgendwie hatte ich Schiss, denn die letzten Wochen waren voller Nachrichten, und egal ob schlecht oder gut, allein der Umstand, dass es eine Nachricht war, die übermittelt werden musste und beim Adressaten, also mir, für Verspannung sorgte, stresste mich. Machte mir irgendwie Angst.

»Kabel Eins möchte dich als Moderatorin haben! Die schlechte Nachricht ist, es geht schon nächste Woche los!«

Wäre ich in Hamburg gewesen, so Ecke Rathausstraße, Pelzerstraße, wäre ich jetzt vielleicht wieder zusammengebrochen. Aber diesmal war das kein Schock wegen Schock, sondern ein Schock wegen Freude. Kabel.Eins.Wollte.Mich.Haben. Als Moderatorin? Ich konnte mein Glück kaum fassen, aber ich fühlte rasch auch die angezogene Handbremse. Eine neue Herausforderung gerade jetzt? In mir machte sich Panik breit. Wie sollte ich das wuppen, wenn ich anderweitig gebraucht wurde.

Ohne mir große Hoffnungen zu machen, hatte ich mich da vor einer Weile beworben. Es war schon lange mein Traum gewesen, eine »echte« TV-Moderatorin zu werden, also in einem richtigen Studio zu stehen. Nach dem Casting dachte ich, dass sie eine der hübschen, großen Langbeinigen mit dem dezenten Lächeln, diesem: »Sie wissen nicht, wer ich bin, ach! Ihr Pech!«-Lächeln nehmen würden. Aber meine Moderation über Erkältungskrankheiten hatte die Verantwortlichen wohl überzeugt. Also ausgerechnet die, die ich mit meinem Vater zusammen vor dem Casting – und kurz vor seiner OP – geschrieben und geübt hatte.

»So liebe Zuschauer, schauen Sie mal, das hier – ich griff in meine Hosentasche und zog ein Taschentuch raus – hab ich wirklich stets dabei! Denn kurz bevor ich früher immer mit meinen Freunden losgezogen bin, sagte mein Papa an der Tür: ›Zeig mir mal dein Taschentuch!‹ Ich dann immer so ›Hab ich nicht!‹ Er: ›Wie machst ’n das dann?‹ Und wissen Sie, in diesem Moment zog ich dann immer ganz provokativ die Nase vor ihm hoch! Urrgh, merken Sie selber, ne?!«

Das war also meine Nummer. Vor der Kamera mal schön die Nase hochziehen. Und die zog! Aber wie!

Was will mich das Leben damit lehren? Wisst ihr, dieser Moment, also der Abend nach der Zusage, der hat mein Leben ein Stück weit verändert. Ich glaube nicht an Gott als »Person«. Aber ich glaube! Und zwar an das Leben selbst. Es passiert. Ständig und andauernd. Die Welt steht nicht still, sie dreht sich weiter. In guten und in schlechten Zeiten. Wir können sagen, dass wir dem Leben »ausgeliefert« sind, aber mir ist das zu negativ. »Alles kommt, wie es kommt« oder »… wie es kommen muss.« Ist mir zu banal. An Schicksal glaube ich ein bisschen, aber nicht komplett. Karma ist ein großes Wort. Mir gefällt der Gedanke nicht, mit Absicht gute Dinge zu tun, um Gutes zurückzubekommen. Ich habe viele Menschen erlebt, die so weniger aus dem Herzen handeln, sondern eher aus der Intention heraus, Anerkennung für ihr Handeln zu bekommen.

Ich sage für mich: Ich vertraue auf das Gute! Aber sind wir mal ehrlich, wenn man sich umschaut, ist es momentan nicht einfach, viel Gutes zu entdecken. Bei all den Krisen, bei all den Kriegen, bei all dem politischen Chaos, ist die Welt ein ziemlich unüberschaubarer Ort. Aber ich glaube an meine eigene Welt! Die, die in mir ist! Und die auch ziemlich groß ist. Ich kenne sie heute mit vierzig in- und auswendig. Und ich meine auch schon vor zehn Jahren die Regeln, nach denen ich mit mir gut leben kann, erkannt zu haben. Und ist es nicht so, dass, wenn man gut in seiner eigenen Welt lebt, das nach außen auch ausstrahlt?

Ich vertraue darauf, dass Dinge sich fügen. Ich glaube an die eigene Stärke in uns selbst. Ich glaube daran, dass, wenn ich will, ich alles schaffen kann!

Ich muss es also »wollen«, den Job zu wollen. Crazy! Ich weiß, das klingt verrückt. Ich musste mich überlisten!

Also dachte ich nach. Das Schlachtfeld vor mir, es war fürchterlich. Ich brauchte Kraft! Die tanke ich normalerweise aus Dingen, die mir Spaß machen. Leute zu unterhalten war nie mein Job, es war immer meine Berufung. Diese Arbeit bei Kabel Eins würde mir Kraft geben für meinen Papa und ganz nebenbei auch mein Ego streicheln. Ein Schritt auf der Karriereleiter. Aber vor allem: mein Rettungsring, der mich über Wasser halten, mir einen klaren Kopf für mein Leben und das meines Vaters verschaffen würde.

Für die TV-Moderation müsste ich für eineinhalb Tage in der Woche nach München und hätte so kurz Pause vom Krankenhausalltag. Ich müsste nicht unbedingt witzig sein, dazu fehlte mir in dieser Zeit auch die Spontaneität und das Glücklichsein. Ich müsste eigentlich »nur« Magazinbeiträge anmoderieren, die nicht davon leben, dass ich unterhaltsam bin, sondern lediglich darüber informieren, dass es gesünder ist, den Rotz nicht hochzuziehen.

Das klang doch machbar, oder?

2Die Halbschwester

»Als was arbeiten Sie?«

»Zauberkünstler!«

»Ah, und was machen Sie da?«

»Körper zersägen.«

»Haben Sie auch Geschwister?«

»Ja, zwei Halbschwestern.«

2016 auf der Intensivstation Halle/Saale. Die Atmung meines Vaters versagte. Der Schlaganfall breitete sich so sehr aus, er hatte schlichtweg vergessen, wie man das macht. Deswegen hat man ihn auch ins künstliche Koma versetzt. Damit eine Maschine das Atmen nun für ihn übernahm.

Da es gerade bei Schlaganfallpatienten wichtig ist, die Rübe am Laufen zu halten, bespielte ich ihm einen kleinen iPod mit seinen Lieblingssongs. Sterncombo Meißen, Gruppe Renft, die Rolling Stones. Es gab ein Lied von Silly, aus der Zeit mit Tamara Danz, das ihn immer, auch wenn er nicht wollte, zu Tränen rührte. Selbst im Koma. Das zu spüren, hat mir echt die Schuhe ausgezo gen.

»Vertraute Geräusche«, dachte ich, würden ihm auch guttun. Grund genug für mich, weiter den iPod vollzusabbeln. Ich nahm mich beim Abwaschen in seiner Küche auf, sprach mit ihm, als stünde er neben mir. Ich röhrte in seinem alten Mercedes durch die Gegend und nahm den Sound auf, inklusive Autoradio und Motorgrollen. Lampen an im Kopf! Teilnehmen am Alltag, wenn es auch der meine ist. Ich glaubte und glaube heute noch an Bilder, die dadurch im Kopf entstehen und wie sehr sie uns lebendig halten.

Es ist überaus wichtig, während des Komas auch die motorischen Fähigkeiten am Leben zu erhalten. Klingt wie ein Widerspruch, regungslos im Bett die Laufmuskeln trainieren? Ganz und gar nicht. Alles, was wir aktiv tun, beginnt im Kopf. Mein Papa war halbseitig gelähmt und hatte die Kontrolle, das Gefühl für seine rechte Körperhälfte verloren. Die Synapsen mussten neu verknüpft werden. Der alte Weg war zerstört, und ein neuer musste her. Wir wollen zu unserer Lieblingskneipe, doch die Straße ist gesperrt? Na ja, dann suchen wir halt einen anderen Weg. Und den gehen wir dann immer und immer wieder, bis wir über die eigentliche Straßensperrung gar nicht mehr nachdenken, sondern der neu gelernte Pfad ins »Café Nöö« der richtige ist.

Um beweglich zu bleiben und neurologisch in Sachen Motorik nicht noch mehr abzubauen, gibt es im Krankenhaus Physiotherapie. Auch auf der Intensivstation. Auch für Komapatienten! Drei Mal die Woche zehn Minuten. Das sind dreißig Minuten Mobilisation die Woche.

Im ersten Moment war mir das viel zu wenig! Ich wollte natürlich das Beste für meinen Papa, und davon möglichst viel. Ich wünschte mir eine individuelle Therapie, basierend auf den Bedürfnissen und der Belastbarkeit meines Vaters, ohne Blick auf die Kosten. Aber »Wünsch dir was« gibt’s im Krankenhaus maximal auf dem Speiseplan. Und da hat mir persönlich das Ergebnis auch noch nie geschmeckt!

Wie nennt man das Haus der Ungeduld?

Wartehäuschen

Der Zustand meines Vaters im Koma war anfangs sehr kritisch. Immer wieder verschlechterten sich seine Vitalwerte. Manchmal ohne erkennbaren Grund massiv. Das passierte ohne Ankündigung. So wie an jenem bis dahin gänzlich unaufgeregten Tag. Wie schon in den letzten zwei Wochen wachte ich neben seinem Bett, als die Geräte Alarm schlugen. Ich konnte erkennen, wie sein Herzrhythmus verrücktspielte, sein Puls schwächer wurde und die hässliche rote Linie auftauchte. Sofort rannten Ärzte und Pflegepersonal in sein Zimmer, leiteten eine Reanimation ein und begleiteten mich behutsam in den Aufenthaltsraum, diese »Schleuse« des Wartens, Hoffens und Bangens, von der ich euch erzählt habe. Alles ging furchtbar schnell: Es war, als ob ich wie eingefroren in einem Raum stand und alle anderen im Zeitraffer um mich herumrasten. Ich war wie in Schockstarre, Angst stieg auf, und ich hatte das Gefühl, mein Papa würde über mir vor meinen Augen schweben, außerhalb seines Körpers.

Glaubt mir, ich weiß selbst, wie irre das klingt! Diese große Uhr im Raum, mit dem lauten Knacken der Zeiger, sie verstummte für mich. Ich fühlte mich verloren. Ich spürte, jetzt ist es so weit. Ich verliere ihn. Gleichzeitig presste ich ein Stoßgebet nach dem anderen zu wem auch immer hervor und flehte, dass das Schlimmste nicht eintreffen möge, als plötzlich die hintere Tür zur Schleuse aufging. Eine Frau stand vor mir. Ich wusste, ich kannte sie, obwohl mir ihr Name nicht direkt einfiel.

»Seraphina! Was machst du denn hier?«, fragte sie mich.

»Ich glaube, mein Papa stirbt gerade.« Sie nahm mich sofort in den Arm, ich weinte, und sie hielt mich fest. Welches Wort gibt man einem Menschen, der plötzlich in der schlimmsten Minute da ist und einen festhält? Ich finde, Engel trifft es. Sie, mein Engel Luise-Karen also, hat mich gehalten bis zu dem Moment, als die Tür zur Intensivstation wieder aufschwang und eine der Ärztinnen mich hereinbat.

Sofort scannte ich das Gesicht der Ärztin. War es traurig und würde sie mir eine schlimme Nachricht überbringen? Nein. Es strahlte zu einhundert Prozent Erleichterung aus.

»Wir haben Ihren Vater wieder. Sie dürfen jetzt noch einmal kurz zu ihm.«

Luise-Karen nickte mir mit einem Lächeln zu. Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und lief sofort zum Bett meines Vaters, gab ihm einen Kuss auf die Stirn und bedankte mich bei ihm. Fürs Kämpfen. Dafür, dass er mich nicht allein ließ. Ich war so erleichtert und froh, dass wir beide dem Tod wieder einmal entkommen waren. Später, als ich meine Sachen nahm und die Intensivstation verließ, wartete Luise-Karen immer noch in der Schleuse.

Meine Stimme war nicht mehr tränenerstickt, und ich konnte endlich reden. Wir kannten uns vom Sehen, eher flüchtig. Jetzt hörte sie mir zu und erzählte mir, dass auch ihr Papa einen Schlaganfall hatte und sie ihn persönlich wieder aufpäppelte. Sie sprach davon, dass, auch wenn alles verloren schien, viele Chancen im Verborgenen lägen. Man müsste zum Beispiel nur rechtzeitig mit der Mobilisierung beginnen.

Da war es wieder. Das Problem mit den zehn Minuten drei Mal die Woche. Es gab einfach zu wenig Kontingente für Physiotherapie. Bei Luise-Karens Vater war das nicht das Problem, denn Luise-Karen selbst war Physiotherapeutin, und zwar so eine, die ihrem Vater so richtig aufs Schwein gegangen ist mit ihren Therapien. Ich empfand das wie einen Sechser mit Zusatzzahl im Schlaganfall-Patienten-Lotto.

Und jetzt kommt der Euro-Jackpot!

»Ich habe mir was überlegt, Seraphina! Wie wäre es, wenn ich deinen Vater zusätzlich zu der Krankenhausphysio therapiere?«

Ein Satz wie in Stein gemeißelt. Von Luise-Karen.

Ich habe nicht gleich verstanden, was sie damit meinte, also erzählte sie mir von ihrer eigenen Praxis – und dass sie auch hier im Krankenhaus schon auf der Intensivstation als Physio- und Ergotherapeutin gearbeitet habe. »Das Problem wird sein, dass wir eine zusätzliche Therapie offiziell nicht genehmigt bekommen«, fuhr sie fort. »Und dass meinen Vater neben dem behandelnden Therapeuten nur die engsten Verwandten besuchen dürfen«, vervollständigte ich.

Wir schauten uns an, lachten und hatten die perfekte Lösung. Vor mir stand Luise-Karen – meine Retterin in der Not, meine Halbschwester! Wenn ich das jetzt hier niederschreibe, dann muss ich immer noch lachen, weil es ein ganz billiger Trick war und wir es mit dieser lebensnotwendigen Lüge tatsächlich geschafft haben, dass Luise-Karen jeden Tag zu meinem Vater durfte. Na ja, und wenn sie dann schon mal bei ihm war, konnte sie ja gleich noch ein bisschen Arme und Beine mobilisieren.

Selbstverständlich wurde ich auch im Krankenhaus auf meine »Halbschwester« angesprochen. Einmal wurde ich sogar angerufen: »Frau Kalze, wie viele Halbschwestern haben Sie eigentlich?« Denn als Luise-Laren krank war, schickte sie eine ihrer Mitarbeiterinnen. Diese hatte allerdings keine blonden langen Haare, sondern eher dunkle kurze. Meine Antwort kam prompt: »Tja, wissen sie, mein Vater war früher Gitarrist!«

Rückblickend waren das für mich die ersten kleinen Momente, wo ich innerlich mal wieder lachen und durchatmen konnte. Ich war nicht mehr ganz allein, ich bekam seelischen Beistand, und mein Vater machte Fortschritte. Auf der Wetterkarte meiner Seele waren neben den Gewitterwolken also erstmals wieder vereinzelt ein paar Sonnenstrahlen zu sehen.

 

Die Wochen auf der Intensivstation bestanden vor allem aus Hoffen und Bangen, Fortschritten, Rückschritten, doch letztendlich hat mein Papa sich langsam berappelt.

Damals, in diesen Momenten, wenn ich in seinem alten übergroßen Pullover eingemummelt still an seinem Bett saß, ihn beobachtete, seine Hand hielt und den Geräten lauschte, überschlugen sich meine Gedanken. Hatte er im Vorfeld etwas geahnt? War etwas komisch vor der Operation, was ich hätte bemerken können? Immer wieder spulte ich in Gedanken die letzten Wochen vor der OP