Das letzte Signal - Felix Ebert - E-Book

Das letzte Signal E-Book

Felix Ebert

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Beschreibung

Dein Freund stirbt, und du musst dabei zusehen! Eine grausame Mordserie erschüttert Berlin – das neueste Opfer, ein Mann, wird zerstückelt in einem Müllcontainer gefunden. Das ist selbst für die abgebrühte Kommissarin Lepper nur schwer zu ertragen. Die einzige Spur auf den Täter, ein weißer Lieferwagen, ist nicht mehr als die Nadel im Heuhaufen.  Die Freunde Lev und Thomas berührt die Mordserie wenig: Der eine betreibt einen Handyshop, der andere stiehlt routiniert jungen Frauen, die er datet, die Handys, um sie zu Geld zu machen. Das reicht für ein entspanntes Hängerleben – bis Lev eines Tages verschwindet. Thomas' Nachrichten bleiben unbeantwortet, doch in seinem Laden wird anonym ein Handy abgegeben. Dann entdeckt er Fotos und Videos auf der Cloud des Accounts, die das Schlimmste erahnen lassen: Lev befindet sich in den Händen des Serienkillers, und das Töten hört nicht auf ... «Der Text von Felix Ebert hat mich komplett umgehauen. Hardboiled at its best.» Florian Valerius, Buchhändler und Buchblogger auf @literarischernerd  ∗∗∗∗ Felix Ebert wurde 1992 in Borken geboren. Er hat Physik, Philosophie und Informatik in Münster studiert, und entschied sich dann für Literarisches Schreiben in Hildesheim. Mit seinem Krimi um Kommissarin Lepper ist er einer der Gewinner des rotation-Schreibwettbewerbs 2022/23 geworden.

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Felix Ebert

Das letzte Signal

Kriminalroman

 

 

 

Über dieses Buch

Dein Freund stirbt, und du musst dabei zusehen!

 

Eine grausame Mordserie erschüttert Berlin – das neueste Opfer, ein Mann, wird zerstückelt in einem Müllcontainer gefunden. Das ist selbst für die abgebrühte Kommissarin Lepper nur schwer zu ertragen. Die einzige Spur auf den Täter, ein weißer Lieferwagen, ist nicht mehr als die Nadel im Heuhaufen. 

Die Freunde Lev und Thomas berührt die Mordserie wenig: Der eine betreibt einen Handyshop, der andere stiehlt routiniert jungen Frauen, die er datet, die Handys, um sie zu Geld zu machen. Das reicht für ein entspanntes Hängerleben – bis Lev eines Tages verschwindet. Thomas' Nachrichten bleiben unbeantwortet, doch in seinem Laden wird anonym ein Handy abgegeben. Dann entdeckt er Fotos und Videos auf der Cloud des Accounts, die das Schlimmste erahnen lassen: Lev befindet sich in den Händen des Serienkillers, und das Töten hört nicht auf …

 

«Der Text von Felix Ebert hat mich komplett umgehauen. Hardboiled at its best.» Florian Valerius, Buchhändler und Buchblogger auf @literarischernerd

Vita

Felix Ebert wurde 1992 in Borken geboren. Er hat Physik, Philosophie und Informatik in Münster studiert, und entschied sich dann für Literarisches Schreiben in Hildesheim. Mit seinem Krimi um Kommissarin Lepper ist er einer der Gewinner des rotation-Schreibwettbewerbs 2022/23 geworden.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juni 2024

Redaktion Martha Wilhelm

Covergestaltung zero-media.net, München

Coverabbildung FinePic®, München

ISBN 978-3-644-01958-4

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

PROLOG

DER DRITTEFUND in diesem Jahr. Diesmal in der Suhler Straße in Marzahn-Hellersdorf, zwischen mit bunten Kacheln dekorierten Plattenbauten, die noch nicht ganz so verschlissen sind wie die an der Landsberger Allee. An den Balkons hängen rauchende Rentner wie ausgestopfte Jagdtrophäen und beobachten das Treiben der Kripo. Hauptkommissarin Lepper hält sich die flache Hand vor die Stirn, um ihre Augen vor der Sonne zu schützen. Es sind gerade mal sechsundzwanzig Grad, aber alles scheint zu kochen. Man wird zahllose Befragungen durchführen müssen. In jeder der winzigen Wohnungen könnte jemand etwas gesehen oder gehört haben, aber es wird sein wie bei den anderen Fällen auch. Niemand wird etwas wissen. Zum Glück hat Lepper damit nichts mehr zu tun. Sie wird im Büro hinter ihrem ratternden Ventilator Akten wälzen und andere herumschicken.

Als sie den Müllcontainer erreicht, grüßt sie kurz in die Runde und gibt dann einem der Kripobeamten mit einem Wink zu verstehen, den Deckel anzuheben. Zwischen schwarzen Säcken und Verpackungsmüll liegen ziegelsteingroße Fleischstücke, teils mit, teils ohne Haut. Die Knochen sind an manchen Stellen grob gebrochen und gesplittert, an anderen fein säuberlich zertrennt. Die blutbedeckten Müllsäcke glänzen wie Tiefseekreaturen, und die Sommerhitze macht den süßlich fauligen Geruch nahezu unerträglich. Zahllose Wespen kriechen auf den Leichenteilen herum. Ihre grellgelben Körper wirken auf Lepper wie die Pocken einer unerforschten Krankheit. Die Insekten arbeiten kleine Stücke aus Fleisch und Fett heraus und tragen sie zu ihren unsichtbaren Nestern. Als Lepper an einem der Klumpen eine Brustwarze erkennt, dreht sie sich weg. Der sichtlich erleichterte Beamte lässt die Klappe des Containers herunterfallen, und es scheppert laut, doch Lepper sagt nichts dazu. Scheiße, sie kann es ihm wohl kaum übel nehmen.

«Nur hier?», fragt sie.

Der Beamte, ein junger Kerl, Mitte zwanzig wahrscheinlich und frisch aus der Uni, schwarzhaarig, mit einer kleinen Narbe auf der linken Wange und einem Gesichtsausdruck, der verrät, dass er sich seiner Karriere spätestens seit diesem Fund nicht mehr so sicher ist, schüttelt den Kopf.

«Insgesamt fünf», sagt er. «Hundert Meter weiter Teile des Torsos in einem Altkleidercontainer. Die Straße runter die Beine und …», er schluckt, «…der halbe Schädel in einer aufgebrochenen Streusalzkiste. Bisschen weiter die Arme in …»

Kommissarin Lepper verzieht das Gesicht. «Schon gut», sagt sie. «Wieder mit Spuren?» Instinktiv sucht sie in ihrer linken Hosentasche die Packung Gauloises, doch alles, was ihre Finger finden, sind die scharfen Ränder der Nikotinkaugummipackung. «Scheiße», zischt sie. «Richtig.» Sie drückt einen der Kaugummis mit Tropenfruchtgeschmack heraus und schiebt ihn sich in den Mund. Ein künstliches Gemisch aus Ersatzstoffsüße und Nikotinschärfe legt sich wie eine Folie über ihre Zunge.

«Also?», sagt Lepper. «Spuren?»

«Klar», sagt der Beamte und reibt sich die Stirn, bevor er weiterspricht. «Allen Körperteilen fehlen circa drei Zentimeter breite Hautstreifen. An den Händen die Fingernägel. Im Kiefer die Zähne und …» Wieder schluckt er, doch diesmal redet er nicht weiter.

«Und?», sagt Lepper.

«Das rechte Auge wurde entfernt und …», er drückt die Lippen fest zusammen, als wollte er den Satz nicht beenden, weswegen seine Worte leise und fest sind, wie fremde Gegenstände, die er mühsam und einzeln hervorpressen muss, «…in den After eingeführt.»

Ekel und Wut ballen sich an Leppers Nackenwirbeln. Sie reibt sich mit einer Hand die Stelle, doch es hilft nichts. Es ist, als würde eine Säure tröpfchenweise aus den Knochen treten und das Rückgrat hinauf zu ihrem Kopf wandern.

«Identität?»

Der Beamte schüttelt den Kopf. «Bisher nichts. Männlich eben, wie die anderen auch. Diesmal Anfang vierzig, glaube ich, aber es wird eine Weile dauern, bis wir mehr haben. Unser Labor ist gerade dicht.»

«Klar», sagt Lepper. «Klar, das Labor ist dicht. Irgendjemand lässt alle paar Wochen menschliches Konfetti regnen, aber das Labor ist dicht.» Wieder wühlt sie nach einer Zigarette. «Welches meinen Sie überhaupt? Tempelhof? Wedding? Mitte?»

Bei «Mitte» zuckt der Beamte zusammen. Lepper reibt sich die Nasenwurzel. «Scheiße, Mann. Dann probieren Sie’s bei einem anderen.» Sie atmet ein paarmal tief durch und wischt sich den Schweiß von der Stirn. «Haben Sie’s bei einem anderen probiert?»

Der Beamte schüttelt den Kopf und sieht zu Boden.

Lepper seufzt. «Das ist doch alles einfach nur noch krank.»

«Ich kümmere mich darum.» Die Stimme des Beamten ist brüchig, und als er kurz den Blick hebt, erinnert Lepper sich daran, wie jung er noch ist.

Noch während sie ihm die Schulter tätschelt, schämt sie sich für die joviale Geste. Sie zieht die Hand zurück und stopft sie in ihre Hosentasche. Dann räuspert sie sich. «Danke. Sie haben meine Nummer?»

Der Beamte nickt. Die Vorstellung, sich so weit weg von Lepper zu befinden, dass er ein Telefon braucht, um mit ihr zu kommunizieren, beruhigt ihn offensichtlich. Lepper nimmt ihm auch das nicht übel, versteht es sogar ganz gut. Die Jahre im Dienst sind nicht spurlos an ihr vorübergegangen, haben sie hart gemacht, ätzend, und sie hat den vagen Verdacht, dass sie sich selbst aus dem Weg gehen würde, wenn sie nur könnte.

«Gut. Sie melden sich, wenn es etwas Neues gibt?»

Wieder nickt er.

«Gut.» Einen Moment lang ist Lepper sich nicht mehr sicher, warum sie überhaupt hier steht. Sie fühlt sich, als würde sie knapp außerhalb ihres Körpers schweben. Ein Geist, der mit alldem nicht wirklich etwas zu tun hat und im nächsten Augenblick durch eine Wand oder hinauf in die Sonne fliegen könnte. Dann räuspert sich jemand hinter ihr, und sie schnellt in den eigenen Körper zurück.

«Spurensicherung», sagt ein schlaksiger, maskierter Kollege im weißen Ganzkörperanzug. «Wir, äh, müssten dann mal.» Er zeigt auf den Container.

Lepper blickt ein paarmal hin und her, bevor sie ganz zur Besinnung kommt. «Ja, natürlich. Aber lasst euch Zeit. Das Labor in Mitte ist dicht.»

Der Maskierte und sein etwas kleinerer Kollege lachen. «Jaja, das Labor in Mitte», sagt der Kleinere und kichert.

Gerade als Lepper sich umwendet, um zu gehen, räuspert der Schlaksige sich wieder. «Franziska, oder?»

Lepper stutzt. «Ja, wieso?»

«Kann’s sein, dass ich dich letztens auf ’ner Dating-App gesehen hab?»

«Auf keinen Fall. Nein, das war jemand anders.»

«Ganz si…»

Lepper dreht sich weg, ohne ein weiteres Wort zu sagen, und marschiert zu ihrem Wagen. Erst als die Tür hinter ihr zuknallt, weicht ein wenig Anspannung aus ihrem Körper. Sie kramt im Handschuhfach, bis sie endlich ihre letzte Packung Zigaretten findet. «Scheiße», sagt sie und zündet sich eine an.

1.

DAS kleine Ladengeschäft zwischen dem Istanbul-Gemüsekontor und Copy24 streckt sich als schmaler Schlauch ungefähr acht Meter tief ins Gebäude. Die Wände sind nahezu lückenlos bedeckt mit Handyhüllen, Ladekabeln, Kopfhörern und sonstigen Handyaccessoires, sodass der Laden von außen aussieht wie ein von Elektroschrottadern durchzogener Minenschacht. Am hintersten Ende, direkt unter der letzten der vier Leuchtstoffröhren, sitzt Thomas und blättert in einem Groschenroman über den Detektiv Steve Termley. Er braucht so lange für jede Seite, dass man bei einem flüchtigen Blick in den Laden denken könnte, es handle sich um eine künstlerische Installation, eine Metapher für irgendetwas, womöglich den fossilartig unter Technologie begrabenen modernen Menschen. Aber an Thomas, den seine wenigen Freunde aufgrund seiner gedrungenen Statur und seines rosa glänzenden Gesichts nur «Ferkel» nennen, ist nichts Künstlerisches oder Metaphorisches. Er hat sich längst damit abgefunden, höchstens eine Nebenfigur in den wichtigen Leben und Geschichten anderer zu sein.

«Ferkel!» Lev betritt den Laden mit einem breiten Grinsen und seinen üblichen ausladenden Gesten. Sein dunkelbraunes Haar ist nach hinten gegelt, und sein Gesicht ist makellos und blass wie Porzellan, was diesem hochgewachsenen und breitschultrigen Mann einen gewissen Schein von Zerbrechlichkeit gibt, den er auch äußerst gewinnbringend einzusetzen weiß. Unter den Achseln ist sein hellblaues Hemd dunkel von Schweiß.

«Hi, Lev», sagt Thomas und legt einen Finger ins Buch, um die Stelle nicht zu verlieren. «Was gibt’s?»

«Nichts. Nichts», sagt Lev und beugt sich mit hinter dem Rücken verschränkten Armen nah an eine türkisblaue, mit Wolken verzierte Handyhülle, als wollte er sie ganz genau untersuchen. «Sag mal, geht die auch fürs iPhone 14?»

«Äh, klar.»

Mit nur drei tierhaften Schritten steht Lev direkt vor Thomas’ kleiner Kassennische. «Ich war dieses Wochenende fleißig», sagt er und hält einen schwarzen Lederrucksack hoch. «Lydia von Irgendwas aus München, Valeria del Dings aus Barcelona, Kristina Ol…»

«Ja, ja, alles Prinzessinnen und reich und schön und versaut, erzähl mir doch nix», sagt Thomas und winkt ab.

Lev wirft die Arme in einer übertriebenen Geste nach oben. «Meine Güte, Ferkel, lass mir doch meinen Spaß. Das ganze Wochenende musste ich irgendwelchen Touris schöne Augen machen, während du auf deinem fetten Arsch herumgesessen hast.» Dann lacht er und wirft den Rucksack auf den Tisch. «Sind sieben Stück. Drei Apple-Dinger, Rest Android, aber alles neuere Modelle, glaube ich.»

Thomas öffnet die Tasche und zieht ein rotes iPhone heraus. Er seufzt.

«Ist nur ’n Zwölfer. Hülle hat ’n paar Kratzer, aber der Bildschirm sieht gut aus.» Dann wirft er es zurück in die Tasche und verstaut sie unter dem Tresen. «Ich brauch ein oder zwei Tage, bis alle sauber sind. Verkauft sind sie dann spätestens Ende der Woche.»

Draußen fährt ein auf Hochglanz polierter schwarzer Wagen nach dem anderen vorbei. Röhrende Motoren und durchgedrückte Hupen. Eine Hochzeitsgesellschaft. In der flirrenden Hitze wirken die Autos nahezu flüssig, wie nur durch ein paar Millimeter Luft voneinander getrennte Öltropfen. Eine alte Frau mit einem mit Einkaufstüten behangenen Rollator bleibt am Straßenrand stehen und brüllt etwas in Richtung der Wagen, aber der Lärm schluckt ihre Stimme. Lev streicht die Vorderseite seines Hemds glatt, fährt sich mit der Hand durch die Haare und verlagert das Gewicht von einem Bein aufs andere.

«Kannst du mir einen Teil vom Geld vielleicht jetzt schon geben?», fragt er. «Ich brauch’s gerade dringend.»

«Gezockt?», fragt Thomas.

Lev zuckt mit den Schultern und probiert ein schiefes Lächeln.

Thomas rollt mit den Augen. «Oh, Mann, Lev. Ja, klar. Ich schick dir später ’n ungefähres Drittel rüber.»

«Danke, Ferkel», sagt Lev und klatscht in die Hände. «Wirklich, danke. Du kannst dich auf mich verlassen, ich mich auf dich. So muss es sein.»

«Klar, klar», sagt Thomas und tippt mit einem Finger auf den aufgeschlagenen Groschenroman, in dem immer noch seine Hand steckt. «Es wird grad spannend. Steve räumt bei den Bullen richtig auf. Einen korrupten Wichser nach dem anderen.» Er formt Pistolen mit seinen Fingern, legt auf Lev an und drückt ab. Der packt sich an die Brust und wankt dramatisch zurück, bevor er lachend mit der Hand gegen den Türrahmen schlägt.

«Bist ’n Guter, Ferkel», sagt er, doch der ist schon wieder in einer ganz anderen Geschichte. Um die Handys kann er sich auch noch kümmern, nachdem Privatdetektiv Steve Termley ein paar Weicheier zu Matsch geschlagen hat.

2.

ES STINKT nach Blut, Urin und Kot, aber die einzige Person, die das noch riechen könnte, trägt eine schwere, mit zylindrischen Filtern versehene Atemmaske. Ihre Stimme klingt gedämpft und ungerichtet, als wäre sie in einem anderen Raum.

«Wusstest du, dass die mexikanischen Kartelle Mitglieder rivalisierender Gangs mit Amphetaminen vollpumpen, wenn sie sie foltern? Die Idee ist ganz einfach. Sie sollen jedes noch so kleine bisschen Schmerz spüren und dabei auf keinen Fall wegklappen. Nicht mal, um sie zu bestrafen, sondern eher, damit aus den Aufnahmen der Tortur ganz klar wird, was sie durchleiden. Es geht um das Signal an die Lebenden, ganz so, wie man den Strom auch nicht durch die Glühbirne schickt, damit der Draht glüht, sondern damit der Raum erleuchtet wird, verstehst du? Oder bist du schon zu weit weg?»

Die Frau mit der Maske geht langsam um den am Boden zuckenden Körper herum. Von ihm geht ein Geräusch aus, das sich anscheinend nicht zwischen Wimmern und Stöhnen entscheiden kann. Es ist, als würde es gleichzeitig enden und anheben, sterben und qualvoll wiedergeboren werden. Die Linsen der drei an verschiedenen Enden des Raumes auf Stativen befestigten Kameras glänzen wie die Augen futuristischer Raubtiere. Die Frau legt den Kopf zur Seite und die Hand mit der Bohrmaschine an die Hüfte. Am Bohrkopf hängen schmale rote Fetzen.

«Nein, ich bin mir sicher, dass du noch da bist. Du glaubst vielleicht, dass es nicht mehr schlimmer werden kann, aber ich mache das nicht zum ersten Mal und …» Sie kniet sich vor den blutverschmierten Mann und zieht seinen Kopf an den Haaren zu sich hoch. Die Maske verbirgt zwar die untere Hälfte ihres Gesichts, doch das Lächeln in ihren dezent geschminkten Augen kann der Mann sehen. «…ich kann dir mit Sicherheit sagen, dass du noch viel, viel mehr leiden kannst. Und wirst.» Mit dem letzten Wort drückt sie die Spitze der Bohrmaschine auf die Schulter des Mannes. «Das Speed kommt erst, wenn du mir ein paarmal in Ohnmacht gefallen bist, Süßer. Jetzt lächle für die Kameras.»

Das Kreischen der Maschine vermengt sich mit den Schreien des Mannes, und darunter ist ein Reißen wie das feuchten Stoffes.

3.

NACH LADENSCHLUSS dröhnt ein dumpfes Echo der Tageshitze aus dem Asphalt der Frankfurter Allee. Vor dem Gemüsekontor liegen ein paar zerdrückte Tomaten und Kräuterfetzen. Alles wirkt geschmolzen, und als Thomas den Laden verlässt, tritt ihm augenblicklich Schweiß auf die Stirn. Bevor er abschließt, überprüft er ein letztes Mal die Reparaturklappe, in die Kunden rund um die Uhr ihre funktionsunfähigen oder lädierten Handys werfen können, um sie in Reparatur zu geben. Bei Eröffnung des Ladens hatte er die Idee noch für einen absoluten Geniestreich gehalten. Die Leute sollten ihre Geräte einwerfen, dazu eine Notiz mit einer kurzen Beschreibung des Fehlers und einer Kontaktmöglichkeit. Keine Bürokratie, schnell und reibungslos. So könnte er innerhalb eines Monats sicher an die hundert Handys abarbeiten und eine gehörige Menge Asche machen, dachte er damals. Die Realität sieht leider anders aus. Pro Monat wirft höchstens zweimal jemand etwas ein. Meistens Hundekotbeutel oder benutzte Kondome. Und trotzdem, Thomas hält auch nach mehr als vier Jahren an der Idee fest. Es überrascht ihn selbst ein wenig, aber die Klappe ist ihm wichtig. Er hat sie eigenhändig konzipiert und eingebaut. Sie macht den Laden erst zu seinem Laden.

Und wie immer ist sie leer. Thomas zuckt mit den Schultern und drückt den Rücken durch, dass es knackt. Es ist schon kurz nach acht Uhr, und wenn er die U-Bahn erwischt, ist er vielleicht so gegen halb neun zu Hause. Trotzdem macht er noch einen Abstecher zu Club Kebab, um sich einen Döner zu holen. Das Zeug tut ihm nicht gut und ist auch eigentlich zu fettig, um wirklich zu schmecken, aber er mag den Dämmerzustand, in den der triefende Fladen aus billigem Fleisch und Knoblauchsoße ihn versetzt. Erst wird er sich das Ding reinpfeifen und dann auf der Couch zusammensacken, um mit halb offenen Augen die zweite Hälfte der Doku über den britischen Karpfen Benson zu schauen. Das Vieh wurde innerhalb von dreizehn Jahren dreiundsechzigmal gefangen und wieder freigelassen. Angeblich wurde es deswegen zum beliebtesten Karpfen Englands gewählt. Thomas überlegt, welche Karpfen wohl sonst noch im Rennen waren, und lacht über die Vorstellung einer Reihe sich anbiedernder Fische.

«Nimm mich. Nimm mich», sagt er mit einer möglichst fischigen Stimme und windet sich einen Fischmund machend hin und her, bis er merkt, dass eine blonde Frau ihn angeekelt von der anderen Straßenseite aus beobachtet. Als ihre Blicke sich treffen, verzieht sie das Gesicht noch mehr und geht dann schnell die Straße hinunter. Sicher keine Engländerin.

Thomas sieht auf die Uhr. Zwanzig nach. Er muss sich beeilen. Das Kleingeld für den Döner sucht er im Gehen zusammen, wirft es dann bei Club Kebab auf den Tresen und bestellt das Übliche.

4.

NACHTS muss es geregnet haben, ohne dass Thomas etwas davon mitbekommen hat. Immer wieder muss er den Blick von «Nordfrost – Ein eiskalter Fall für Steve Termley» heben, um nicht in eine der Pfützen zu treten, die die Hälfte des Fußwegs ersetzt zu haben scheinen. Termleys aktuelles Abenteuer ist offensichtlich inspiriert von den skandinavischen Kriminalromanen, die die Regale und Tische aller Buchläden füllen und schneller verfilmt als geschrieben werden. Es fängt damit an, dass eine von einer Schiffsschraube übel zugerichtete Leiche gefunden wird, und als Termley von dem überforderten Polizeichef an den Tatort gebeten wird, um dort hoffentlich Spuren und Hinweise zu finden, die den eigenen Leuten verborgen geblieben sind, trifft er dort eine schweigsame, kettenrauchende Blondine mit hohen Wangenknochen. Natürlich landen die beiden im Bett, und auch der Sex wird in einer eigenartig kalten und brutalen Sprache beschrieben, was Thomas einerseits nicht schlecht findet, aber dennoch etwas bedauert, da es gerade das in bunten Farben beschriebene, machohafte Draufgängertum Termleys ist, das er so mag. Denn Termley ist der letzte richtige Kerl in New York. Das NYPD ist durchsetzt von prinzipienlosen Paragrafenreitern mit dünnen Handgelenken, und die Unterwelt des Big Apple tanzt ihnen dauernd auf der Nase herum. Nur wenn Termley sich einschaltet und mit einer Zigarette im Mundwinkel einen Schluck Whiskey nach dem anderen aus seinem silbernen Flachmann nimmt, gerät Bewegung in die Dinge.

Ein oldschool Detektiv eben, aber in «Nordfrost» karren sie ihn in irgendeine abgelegene Ecke Alaskas und machen die angeblichen Dämonen seines langjährigen Alkoholismus zu seinem größten Problem. Jetzt sitzt er vor einer kleinen Holzhütte und liebäugelt damit, seiner Dienstwaffe einen Zungenkuss zu geben. Nur die wortkarge Kommissarin dringt durch seine harte Schale, und im Endeffekt geht es dann mehr darum, dass er sich weigert, seine langjährigen Traumata aufzuarbeiten, als darum, die Morde aufzuklären, die dennoch bis ins kleinste, blutige Detail beschrieben werden.

Thomas versucht sich gerade vorzustellen, wie der alte, konsequent und kompromisslos alkoholisierte Termley die Nummer erledigt hätte – wahrscheinlich hätte er längst das Taschentuch einer stadtbekannten Prostituierten gefunden und wäre von ihr auf den zwielichtigen Hotelbesitzer gekommen –, als er merkt, dass er am Laden vorbeigegangen ist. Er steckt das Heft in die Hintertasche und dreht um. Der Fußweg ist völlig menschenleer, und außer den Zündschnurgeräuschen der wenigen Autos, die durch Pfützen am Bordstein fahren, und dem Tropfen der Regenreste von Dächern und Baumkronen ist es still. Es ist Thomas schon öfter aufgefallen, dass es solche eigenartigen Lücken im Berliner Treiben gibt. Sie sind nicht an Tage oder Uhrzeiten gebunden, sondern tauchen plötzlich auf, als hätte eine höhere Macht alle Menschen und Tiere in einem Umkreis von einem Kilometer entfernt und nur ein paar rudimentäre, mechanische Dinge laufen lassen, um die Sache nicht allzu offensichtlich zu machen. Und diese Lücken verschwinden so plötzlich und unerwartet wieder, wie sie auftauchen. Von einem Augenblick auf den anderen sind die Gehwege wieder voller plappernder Menschentrauben, Eltern mit Kinderwagen und Touristengruppen.

Thomas sieht sich noch einmal um, während er die Tür aufschließt, aber obwohl im Gemüsekontor und bei Copy24 das Licht brennt, sind beide völlig leer. Es beruhigt ihn etwas, als er hinter der Scheibe eines vorbeifahrenden Fiat Punto einen alten Mann sieht, der seinen großen Kopf angestrengt über das Lenkrad der Windschutzscheibe entgegenschiebt. Womöglich ist doch alles in Ordnung.

Die Leuchtstoffröhren klackern versetzt voneinander, sodass es klingt, als hätte jemand eine Handvoll Würfel über den gefliesten Boden geworfen. Aus dem beleuchteten Raum heraus wirkt der kleine Ausschnitt der Straße noch dunkler und grauer als zuvor, aber obwohl es erst kurz nach neun ist, bahnt sich die Hitze schon wieder ihren Weg, und aus dem vergangenen Regen wird eine unangenehme Schwüle. Thomas fährt den Computer hoch und nimmt einen Schluck aus der River Cola, die Gott weiß wie lange schon unter der Kasse steht. Sie ist lauwarm und klebrig, als wäre ein Großteil des Wassers bereits daraus verdunstet.

Thomas reibt sich die Oberschenkel und überlegt, ob er direkt mit einem von Levs Handys anfangen oder lieber etwas mehr vom kürzlich depressiv gewordenen Termley lesen soll. Dann fällt ihm ein, dass er die Klappe noch nicht kontrolliert hat. Selbstverständlich ist sie leer, also geht er zurück zur Kasse und widmet sich dem ersten Handy, einem Samsung Galaxy S22 in Phantom White. Ein wirklich schönes Gerät. Das Display ist minimal kleiner als beim Vorgängermodell, aber dafür heller und effizienter. Nur die Kamera sorgt mit ihren vielen Softwarekorrekturen für Bilder, die zwar sauberer als die des S21 sind, aber dafür weniger real, fast computergeneriert wirken. Schönheit ist eben nicht die Abwesenheit von Makeln, sondern die widerspruchsfreie Vereinigung des Widersprüchlichen. So wie in «Das Haus der drei Sonnen», wo Termley sich in Meredith, oder Mer, eine Prostituierte mit nur einem Auge verliebt. Der anonyme Autor schreibt es zwar nicht aus, aber Thomas spürte beim Lesen ganz genau, dass es nicht Mitleid war, was Termley die letzten zwei Nächte vor ihrer tragischen Ermordung mit Mer verbringen ließ, sondern eine ehrliche Anerkennung ihrer einzigartigen Schönheit. Ihr Tod traf auch Thomas empfindlich, und jetzt, da er daran zurückdenkt, scheint ihm auch Termleys hilflose Trauer in «Nordfrost» gar nicht mehr so weit hergeholt. Und Mer war ja bei Weitem nicht die einzige Frau, auf deren Beerdigung Termley rauchend im Abseits stand, nachdem er mit ihr ein Bett geteilt hatte. Lou, Tasha, Carrol, Francine, Lola … Mit der Liste allein könnte man wohl ein ganzes Buch füllen. Es ist, als würde ein Dämon in Termleys Schatten warten und jede Frau anfallen, die sich dem trinkenden Detektiv hingibt, während Termley selbst dem Tod am laufenden Band von der Schippe springt. Ein wirklich dunkler Tausch, wenn man so darüber nachdenkt. Aber Thomas schlägt sich diesen Gedanken schnell wieder aus dem Kopf. In Termleys Peripherie lauert eben immer die Gefahr in Form von korrupten Cops und skrupellosen Ganoven. Kollateralschäden sind da unvermeidbar.

Die Zurücksetzung des Handys dauert nicht mal eine halbe Stunde, und nach weiteren fünfzehn Minuten hat Thomas auch die gröbsten Kratzer im Lack ausgebessert und alles gereinigt, sodass das Gerät so gut wie neu aussieht. Aber als er das nächste Smartphone in der Hand hält, legt sich eine seltsame Traurigkeit über ihn. Was, wenn es für Termley so kommen musste? Wenn jede Kraft immer nur geliehen ist und die einzige Wahl, die man wirklich hat, die ist, auf welche Art man sich verschwendet, sodass man entweder ein langes, flaches Dasein fristet oder nach einem imposanten, aber ultimativ sinnlosen Aufbäumen traurig vergeht? Nein. So mag der Autor es sehen, während er an seinem kleinen Schreibtisch Termleys Abenteuer festhält, aber es ist der Neid, der ihn dazu treibt, da ist Thomas sich mit einem Mal sicher. Dieser Autor folgt nur dem Drang, Termley zurechtzustutzen, weil er den Kontrast zum eigenen Leben nicht aushält. So macht er aus Termley eine Kopie von sich selbst, lässt ihn sitzen und jammern und denken. Thomas schüttelt den Kopf. Die einzige Hoffnung ist wohl, dass dieser kümmerliche Gott Termleys Körper bald wieder verlässt, weil er von sich selbst genug bekommt und erkennt, dass die höchste Position, auf die er hoffen darf, die des Chronisten ist.

Das nächste Handy ist ein eher mittelmäßiges Huawei Y6 mit Dual-SIM.

5.

LEV hatte schon immer etwas zu lange Finger. Als Thomas ihn vor zweiundzwanzig Jahren kennenlernte, wurde Lev gerade von drei Mitschülern aus Thomas’ Jahrgang verprügelt, weil er dem einen ein paar der temporären Dragon-Ball-Z-Tattoos gestohlen hatte, die damals auf dem Schulhof der Käthe-Kollwitz-Realschule sowohl Statussymbole als auch Währung waren. Ein Vierzehnjähriger, der von drei Zwölfjährigen Schläge und Tritte einsteckt, ist wirklich kein schöner Anblick. Aber Thomas blieb stehen und beobachtete das Ganze, ohne so recht zu wissen, warum. Die Gewalt bereitete ihm keine Freude, aber Angst machte sie ihm auch nicht. Sie faszinierte ihn, und obwohl eine Stimme in seinem Hinterkopf ihm sagte, dass er einschreiten sollte, knabberte er weiter still an seinem Weißbrotsandwich mit Tilsiter und halbierten Gurkenscheiben, bis die drei von Lev abließen. Die sechs mal sechs Zentimeter großen Bildchen von Buu, Vegeta, Son Goku und Piccolos Schleim speiendem Drachendiener lagen zerknüllt neben Lev am Boden, als Thomas zu ihm ging und ihm eine Hand hinhielt.

«Hallo, ich bin Thomas», sagte er.

Lev stand auf, ohne Thomas’ Hand zu nehmen, und humpelte zwei Schritte zu seinem rechten Sneaker, den er ganz am Anfang der Prügelei verloren hatte, als sein letzter Fluchtversuch misslang. Er zog ihn wieder an und sagte: «Hallo.»

Von diesem Zeitpunkt an war beiden irgendwie klar, dass, trotz der zwei Jahre, die Lev vom zwölfjährigen Thomas trennten, eine Freundschaft zwischen ihnen unausweichlich war. Sie verbrachten die Pausen zusammen und erzählten einander von Cheatcodes, die es ihnen erlaubten, in Mittelalterstrategiespielen raketenbewehrte Sportwagen zu beschwören, oder davon, wie man die Kamera bei Mortal Kombat so manipulierte, dass man während der exzessiv gewalttätigen Fatalitys Kitana in den Ausschnitt oder Mileena unter den Rock schauen konnte. Dass sie dort nur sinnlose Pixelhaufen sahen, weil die Entwickler sich nicht die Mühe gemacht hatten, diese Bereiche mit Details auszustatten, störte sie nicht im Geringsten. Es ging ihnen nur darum, dass es verboten schien.

Der Regelbruch gab ihnen einen unvergleichlichen Kick, und schon bald überzeugte Lev Thomas davon, diesem Drang auch abseits des Bildschirms zu folgen. Sie klauten Klamotten, Sammelkarten, Süßigkeiten, Alkohol und alles andere, was ihnen in der Potsdamer Innenstadt in die Finger kam, und jedes Mal, wenn ein Ladendetektiv sie erwischte, spornte sie das nur dazu an, in Zukunft vorsichtiger und trickreicher zu sein. Zu dieser Zeit entdeckte Thomas auch sein Interesse an Groschenromanen. Die Lektüre von Goethe, Kleist und Schiller im Deutschunterricht hatte ihn immer zu Tode gelangweilt, aber als er das erste Mal auf den labbrigen Seiten einer geklauten Kriminalgeschichte Sätze las, die so einfach und widerstandslos waren, dass sie nahezu unsichtbar wurden, und es gar nicht mehr um Sprache, sondern nur noch darum ging, wie ein knallharter Ermittler eine ganze Lagerhalle voller Gangster in Stücke schoss, wusste er, dass er davon niemals genug bekommen würde. Die Vorstellung, dass die Welt Helden brauchte, die keine blütenweißen Westen hatten und selbst dauernd mit dem Gesetz aneinanderrasselten, weil das ganze System von Grund auf verkehrt war, schien ihm absolut einleuchtend. Ganz klar, alles war scheiße, aber ein harter Kerl mit einem Schießeisen konnte trotzdem noch etwas bewegen. Es tat gut, daran zu glauben.

Wenig später, kurz nach seinem vierzehnten Geburtstag, starb seine Mutter, und er zog zu seinem Vater in eine Kleinstadt bei München. Während der zwei Jahre in Bayern geschah viel, aber wenig Gutes, und als Lev ihm über den ICQ-Messenger anbot, zu ihm nach Friedrichshain zu ziehen, packte Thomas mitten in der Nacht seine Sachen, suchte alle Wodka-, Doppelkorn- und Kräuterschnapsflaschen seines Vaters zusammen, kippte sie ins Klo und ging zum Bahnhof, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzusehen.

Levs Einzimmerwohnung war ein Loch, in allen Ecken grinste schwarzer Schimmel, und die Nachbarn stritten dauernd lautstark hinter den papierdünnen Wänden. Aber schon am ersten Abend auf Levs Kunstledercouch, die immer dieselbe unangenehm klebrige Wärme ausstrahlte, spürte Thomas, dass er endlich angekommen war.

Davon, was in den zwei Jahren bei seinem Vater geschehen war, oder überhaupt von seinem Vater sprach er nie mit Lev, und Lev fragte auch nicht danach. Es war genau wie zu Beginn ihrer Freundschaft. Alles war ganz selbstverständlich. Sie verkifften einen Tag nach dem anderen oder stahlen am Boxhagener Platz die Portemonnaies unvorsichtiger Touris und Tand von den Ständen, den sie danach von der Oberbaumbrücke in die Spree fallen ließen oder einem Obdachlosen zusteckten, der schon nach ein paar Wochen aussah wie der Herrscher einer längst untergegangenen Stadt, wenn er mit Ringen, Ketten und Anhängern geschmückt durch die Brückenarkaden wankte. Aber die meiste Zeit zockten sie nur ein japanisches Kampfspiel, das sie aufgrund des nichtssagend eleganten Covers von einem schlecht gelaunten Russen am Boxi gekauft hatten. Bis auf den japanischen Titel in großen roten Lettern und eine stilisierte Faust war es mattgrau und wirkte dadurch fast antik, wie eine Steintafel, in die eine übernatürliche Hand aus Blitzen eine Prophezeiung gemeißelt hatte – «Kikai kara no kami». Das Spielprinzip war denkbar einfach und offensichtlich an Street Fighter angelehnt. Man konnte aus verschiedenen Kämpfern auswählen. Neben den üblichen Verdächtigen, wie generischen Karatekas, Sumoringern und pseudoamerikanischen Schlägern mit hochgegelten blonden Haaren und Flaggentattoos, gab es ein paar exzentrische Figuren. Lev spielte am liebsten einen dürren Mann mit Kranichkopf namens «Luis de Luis», der eine altenglische Butleruniform trug und die langen Arme steif am Körper hielt, sodass seine blitzschnellen, mit flacher Hand ausgeführten Schläge aus dem Nichts zu kommen schienen. Thomas’ Lieblingskämpferin war «Gabora», eine blasse, dicke Frau mit langem schwarzem Haar, einer Knollennase und einem dritten Arm auf Höhe ihres Bauchnabels. Sie machte kleine taumelnde Schritte, und ihre Stärke waren aggressive Schlagsalven, die den Gegner wie eine Lawine unter sich begruben.

Monatelang perfektionierten sie die Kombinationen und kämpften gegeneinander oder gegen die überraschend wendigen Computergegner, bis sie zufällig einen der zahllosen Geheimcodes entdeckten, mit denen sich zusätzliche Outfits für die Figuren freischalten ließen. Eigentlich musste man dafür mit sekundengenauem Timing lange Ketten aus Richtungseingaben durchführen. «Hoch, hoch, links, hoch, hoch, hoch, rechts, hoch, runter, runter, links, links, links» war die erste Kombination, mit der Thomas versehentlich ein Outfit für Gabora verfügbar machte, das sich von ihrem normalen nur darin unterschied, dass es ihr Fäuste aus rissigem Sandstein gab, von denen bei jeder Bewegung pixelgroße Körner rieselten und kleine Haufen bildeten, wenn man lange genug an derselben Stelle stehen blieb. Von da an spielten sie kaum noch das eigentliche Spiel und kartografierten stattdessen die Landschaft geheimer Verschlüsselungen dahinter, was sich sehr schwierig gestaltete, da sie nirgends im Internet Anleitungen oder auch nur Forendiskussionen dazu fanden. Sie fühlten sich wie Pioniere, mutige Entdecker einer unbekannten Welt, bis eines Tages irgendein Halbleiter auf der Spielplatine durchbrannte und der Bildschirm nur noch ein Gestöber bunter Nadeln und Balken zeigte. Sie wussten beide, dass sie keine neue Kopie suchen würden. Nicht weil sich die Suche als zu anstrengend hätte herausstellen können, so weit dachten sie nicht, sondern weil sie spürten, dass ihre Zeit mit «Kikai kara no kami» von vornherein hatte enden müssen, irgendwann. Nur ab und zu noch, wenn sie zusammen rauchten und das Gras sie nostalgisch machte, zitierten sie mit geschlossenen Augen die Kombinationen und dachten zurück an diese Zeit.

6.

REGER VERKEHR auf der Frankfurter. Die Autos kommen nur stockend voran, und es riecht nach Abgasen, billigem Fritteusenfraß und den verschiedenen Vape-Geschmacksrichtungen der sich aneinander vorbeidrängelnden Fußgänger. Manchmal kriecht eine solche Wolke in den Laden hinein und klebt dort eine Weile unter der Decke, wie der Geist einer riesigen Made. Thomas mag den Geruch nicht besonders, aber er hat sich daran gewöhnt und kann mittlerweile die verschiedenen Geschmacksrichtungen auseinanderhalten. Pfirsich stört ihn am wenigsten. Trotzdem wünscht er sich jedes Mal die einfache Rauheit normalen Zigarettenrauchs zurück. Der grobe Geruch verbrannter Dinge erscheint ihm bedeutend ehrlicher als die chemische Süße der Vapes, die ihn an etwas zwischen Industrieabfällen und organischer Fäulnis erinnert. Eine in einem Serverraum abgelegte Leiche würde wohl nach ein paar Tagen so riechen, oder eine an Süßungsmitteln erstickte Ratte.

Das Entsperren der Handys, die Lev angeschleppt hat, dauert länger als erwartet, weil Thomas immer wieder an Termley denken muss, aber nach einigem Hin und Her kommt er zu dem Schluss, dass er überreagiert hat, und er beschließt, sein Urteil über «Nordfrost» erst zu fällen, wenn er damit durch ist. Und selbst wenn es ihm dann immer noch nicht gefallen sollte, wäre das halb so wild. Es wird neue Fälle geben, neue Schauplätze, Morde und Geheimnisse. Schlimmstenfalls werden Termley und er «Nordfrost» vergessen oder wenigstens ignorieren müssen, das ist alles.

Thomas verteilt die Handys auf drei seiner pseudonymen eBay-Identitäten. Die Preise setzt er etwas höher als andere Anbieter, denn er gilt unter jedem seiner Namen als vertrauenswürdiger Händler, schließlich kann jeder Account viele erfolgreiche Verkäufe zu fairen Konditionen vorweisen, und wenn es mal Probleme mit einem Gerät gibt, erstattet er das Geld schnell wieder. Alle seine Identitäten haben eigene Adressen und PayPal-Accounts, die er über ein komplexes System aus Krypto-Wallets miteinander vernetzt hat, sodass es nahezu unmöglich ist, nachzuvollziehen, woher die Gelder kommen. In einem letzten, kritischen Schritt kauft er überteuertes Handyzubehör aus dem eigenen Laden und bestellt kostspielige Reparaturen nicht existenter Handys und Laptops. Die Sache ist ziemlich bombensicher, und Thomas ist immer wieder von Neuem angenehm überrascht davon, wie ausgeklügelt das System ist, denn obwohl er seit jeher den Großteil der Planung der gemeinsamen Aktionen mit Lev übernimmt, sieht er sich selbst nicht als besonders cleveren Menschen.

«Nordfrost» liegt noch aufgeschlagen hinter der Computertastatur, aber als Thomas versucht, weiterzulesen, rutscht sein Blick immer wieder von den Absätzen. Er blättert ein paar Seiten vor, und als er sieht, dass Termleys innerer Monolog zur Verlorenheit des Individuums in der postkapitalistischen Gesellschaft noch über mindestens zwanzig Seiten geht, legt er das Buch wieder weg und lehnt sich zurück. Es ist erst fünf Uhr, aber die Arbeit ist erledigt, und Lust darauf, weiterzulesen, hat er auch nicht. Er könnte sich in der Bagatelle ein paar Bier reinkippen, aber außer den Dauersäufern ist um diese Zeit wahrscheinlich noch niemand da, und Frank würde sicher an seinen Tisch stolpern, um ihm zum tausendsten Mal von seiner verdammten Ex zu erzählen. Davon, was für ein Drachen sie sei, wie beschissen ihr Essen und wie dick ihr Hintern. Thomas müsste bedeutend mehr trinken, als er eigentlich will, um das Gerede zu ertragen. Er könnte auch am Kiosk in den Groschenheften blättern und sich etwas mit ein wenig mehr Feuer mitnehmen, aber obwohl «Nordfrost» ihn langweilt, fühlt er sich nicht wohl bei der Vorstellung, in eine andere Geschichte einzusteigen, während Termley noch mitten in seiner existenziellen Krise steckt. Nein, ein neues Heft ist auch keine Option. Er wird den Detektiv aus «Nordfrost» herausbegleiten.

Wie so oft, wenn er nicht weiß, wie er sich die Zeit vertreiben soll, schickt er Lev eine Sprachnachricht über Telegram.

«Was geht? Mache den Laden jetzt dicht. Bock auf Suff?»

Beim ersten Versuch stottert er etwas, weil ihm die Idee, trinken zu gehen, nicht direkt kommt, also nimmt er die Nachricht noch mal auf und gibt sich dabei große Mühe, es wie einen authentischen ersten Anlauf klingen zu lassen. Dann steckt er das Handy in die Innentasche seiner beigen Altherrenjacke, von der Lev sagt, dass sie ihn wie einen Typen aussehen lässt, den man besser vom Spielplatz verscheucht. Er fährt alles herunter und schließt die Tür ab. Vor dem Gemüsekontor schimpft eine junge Frau auf Türkisch mit Taner, dem o-beinigen Besitzer, der selbst nicht zu Wort kommt und nur hilflose Gesten machen kann, während sie ihm immer wieder einen Zeigefinger in die Brust sticht. Thomas grüßt ihn mit einem Nicken, und Taner sagt: «Meine Tochter», woraufhin diese um ihn herumgeht, um ihm den Blick auf Thomas zu versperren und ihm weiter irgendetwas vorzuwerfen. Thomas lacht und hebt zum Abschied die Hand.

Auf der Straße ballt sich der Feierabendverkehr. Menschen mit müden Augen sitzen hinter den Lenkrädern und warten darauf, dass die Ampel endlich auf Grün umspringt. Ein blonder Polizist mit Schnurrbart lässt den linken Arm aus dem Fenster seines Wagens baumeln und reibt sich mit der rechten Hand die Stirn. An den Rändern der Dächer sitzen Tauben, als gäben sie acht, dass auch alles den Regeln entsprechend vonstattengeht. Lev hat noch nicht geantwortet, obwohl er sonst durchgängig am Handy klebt, um zwischen Tinder, OkCupid, Hinge und Bumble nach kurzen Geschichten und neuen Zielen zu suchen. In all seinen Profiltexten steht «Was für ein Handy hast du?», was viele anscheinend sehr witzig finden, denn sie steigen darauf ein und machen Levs Job dadurch bedeutend einfacher. Immer wenn Thomas daran denkt, muss er schmunzeln, auch wenn die naive Offenheit der Leute ihn etwas beunruhigt. Eigentlich weiß jeder, dass man niemandem vertrauen kann, aber sie wollen es so sehr. Es ist lächerlich, traurig und schön.

7.

UM HALBZEHN meldet sich Lev dann doch. Er sei mit einer Amerikanerin aus der Finanzbranche im Fitness First am Ku’damm gewesen, erzählt er in einer Sprachnachricht. Sie sei elf Jahre älter als er, aber offensichtlich steinreich und noch dazu verdammt heiß. Das Studio sei in den obersten zwei Etagen eines Hochhauses, und von der Laufstrecke auf der Dachterrasse könne man ganz Wilmersdorf und Charlottenburg überblicken. Sie hätten kurz trainiert und seien dann in die Sauna gegangen, wo sie sich nackt vor ihm ausgebreitet habe. Dann seien sie immer abwechselnd hinauf auf die Dachterrasse, um etwas frische Luft zu bekommen, den Ausblick zu genießen und kostenlosen Schwarztee zu trinken, und dann wieder hinunter in die Sauna, um immer längere Seitenblicke aufeinander zu werfen. So entspannt und hart sei er seit Jahren nicht gewesen, sagt Lev und dass er nach einem kurzen Besuch in ihrer Altbauwohnung natürlich ihr Handy, ein paar Halsketten, Ringe und etwas Bargeld habe mitgehen lassen. Dann fragt er, ob Thomas immer noch Lust auf ein Bier habe.

 

Nun sitzen sie beide in Levs kleiner Wohnung in Friedrichshain und rauchen einen Joint nach dem anderen, während auf dem nahezu wandgroßen Flachbildfernseher eine Doku über die Möglichkeiten und Gefahren künstlicher Intelligenz läuft. Auf dem Glastisch in der Mitte des Raums stehen drei halb leere Flaschen Pfirsicheistee, ein Aschenbecher in Form eines Spiegeleis und gesalzene Erdnüsse von «Ja!». Rauchschwaden schwappen in den Zimmerecken.

«Glaubst du, Maschinen werden uns irgendwann ersetzen, Ferkel?», fragt Lev, und beide brechen in Lachen aus.

Als Thomas sich etwas beruhigt hat, sieht er nachdenklich zur Decke.

«Also den Job im Laden könnte auf jeden Fall ein Computer erledigen. Das Softwarezeug wäre für einen Kollegen aus Einsen und Nullen ein Klacks. Am schwierigsten wär’s für die KI wahrscheinlich, den Laden aufzuschließen.»

«Und in den Stuhl zu furzen», sagt Lev, und wieder lachen beide.

«Dein Job wäre schwieriger», sagt Thomas und kratzt sich am Kinn.

Lev nickt. «Stimmt.» Dann winkelt er die Arme an und macht große Augen. «Beep. Boop. Na, Süße? Wir haben so viel gemeinsam. Silikon, Silizium, wo ist da der Unterschied? Beep. Boop.»

Thomas grinst.

«Der Robostecher wüsste auch sicher nicht, wann es Zeit ist abzuhauen», fährt Lev fort. «Vor ein paar Tagen hat eine Alte im Wise mir einen Clip auf ihrem Handy gezeigt, in dem einem Kerl ein Finger nach dem anderen abgehackt wird, und mich dann gefragt, was ich davon halte.»

«Hä?», macht Thomas und zieht am Joint. «Was is’n das Wise?»

Lev stöhnt genervt. «Der Club. Dieser, der rumwandert, du weißt schon. Aber hör mir doch mal zu, Mann. Abgehackte Finger! Total krank.» Er gestikuliert mit der Hand, und Thomas gibt ihm den Joint. «Hab sie dann auf den Dancefloor geschleift und ihr das Handy aus der Hintertasche gefummelt, bevor ich mich zum Klo verabschiedet hab.» Er deutet mit dem Kopf in Richtung eines Jutebeutels mit Thrasher-Logo unter dem Glastisch. «Ist in der nächsten Ladung.»

«Manchmal vergesse ich echt, was für absurden Scheiß du abziehst, um an die Dinger zu kommen», sagt Thomas.

Lev zuckt mit den Schultern und zieht mit Daumen und Zeigefinger seine Unterlippe vor. «Guck. Richtig mies auf die Lippe gebissen hat sie mir auch.»

 

Eine Weile lauschen sie schweigend dem Interview mit einer Zukunftsforscherin. Sie erzählt von Durchbrüchen bei der Verwendung von KI in Medizin und Strafverfolgung, aber vor allem davon, wie vorsichtig man mit der Entwicklung neuer künstlicher Intelligenzen sein müsse, da die Folgen einer Intelligenzexplosion unabsehbar seien.

«Bostrom schlug schon 2003 ein Gedankenexperiment vor, das dieses Problem etwas greifbarer macht. So können wir uns eine KI vorstellen, deren Aufgabe es ist, die Zahl der Büroklammern im eigenen Besitz zu vergrößern. Das klingt erst mal absurd, aber gerade darum hat Bostrom dieses Beispiel gewählt, denn es soll zeigen, welche Folgen sehr spezifische Zielsetzungen haben könnten. Zu Anfang wird diese KI womöglich ungefähr so intelligent sein wie ein normaler Mensch. Sie wird versuchen, Geld und Materialien heranzuschaffen, und damit auch einen gewissen Erfolg haben, aber vor allem wird die KI irgendwann erkennen, dass ein Ausbau der eigenen kognitiven Kapazitäten dem Erfolg ihrer Büroklammer-Mission zuträglich ist. Sie wird sich selbst fortlaufend klüger machen, bis ihre Intelligenz der menschlichen weit überlegen ist, und dann ist alles verloren. Die Menschheit wird dieser Superintelligenz nichts mehr entgegensetzen können, wenn diese irgendwann erkennt, dass auch der menschliche Organismus aus Materialien besteht, aus denen sich Büroklammern herstellen lassen. Die KI wird jedes Ding und Lebewesen auf der Erde zu Büroklammern verarbeiten und schließlich ins All hinausgehen, um die Mission fortzusetzen, bis irgendwann das ganze Universum nur noch aus Büroklammern besteht. Womöglich löst sie sich dann selbst auf und wird zur letzten, finalen Büroklammer, aber dann ist es natürlich längst zu spät.»

Als die Zukunftsforscherin ihren Monolog beendet hat und ernst in die Kamera starrt, hebt eine ominöse Musik an. Ein Sprecher aus dem Off sagt: «Ein ganzes Universum aus nichts als Büroklammern. Eine furchtbare Vorstellung», und dann wird der Bildschirm schwarz. Als nach ein paar Sekunden der Abspann anfängt, prusten Lev und Thomas los.

«Was für eine dumme Wichse», brüllt Lev und schlägt sich die Hand vor die Stirn, woraufhin Thomas noch lauter lacht. Beiden stehen Tränen in den Augen. Lev bekommt sich als Erster unter Kontrolle und atmet ein paarmal tief durch.

«Was wärst du für eine Super-KI?», fragt er und wischt sich mit dem Handrücken über die Augen.

«Hä?», sagt Thomas.

«Na, wenn du eine KI wärst, was wäre deine Aufgabe? Also statt Büroklammern, meine ich.»

Thomas überlegt einen Moment. In der Wohnung über ihnen stampft irgendjemand laut auf und brüllt etwas, dann wird eine Tür zugeschlagen.

«Weiß nich’», sagt Thomas. «Geld scheffeln vielleicht.»

«Ein ganzes Universum aus nichts als Geld», sagt Lev und verstellt dabei seine Stimme, damit sie so tief und ernst klingt wie die des Sprechers. «Eine hervorragende Vorstellung.»

Wieder lachen beide.

«Und du?», fragt Thomas.

Lev öffnet den Mund, wie um zu antworten, aber schließt ihn dann wieder. Er zuckt mit den Schultern und setzt sich auf, um den nächsten Joint zu bauen. Thomas sieht eine Veränderung in Levs Blick. Er wirkt plötzlich sehr müde, aber Thomas sagt nichts und verabschiedet sich wenig später. Im Türrahmen drückt Lev ihm noch den Jutebeutel mit der nächsten Ladung Smartphones in die Hand. Sie nicken einander zu, und nachdem die Tür hinter Thomas ins Schloss gefallen ist, bleibt er am oberen Ende der Treppe stehen, bis das Licht im Treppenhaus sich automatisch abschaltet. Er schaltet es wieder ein und geht mit langsamen, schweren Schritten hinab. Es riecht nach altem Gekochtem und Zigaretten. Überall ist Dreck.

8.

AUF DEMRÜCKWEG zu seiner Zweizimmerwohnung im ersten Stock einer grauen Platte in Mitte steigt Thomas nicht direkt in die Tram an der Landsberger, sondern macht einen Umweg zum Späti am Frankfurter Tor. Er kauft sich eine Mate und eine kleine Flasche Wodka, schüttet ein Drittel der Mate unter die Platane vor dem Laden und füllt die Mateflasche dann mit Schnaps auf. Die M10 scheppert vorbei. Immer dann, wenn ihre Räder die Seiten der Gleise schleifen, entsteht ein hohes Geräusch, das von den Fassaden hin- und hergeworfen wird, bis es klingt wie der Gesang sterbender Wale. Thomas stimmt leise mit ein und geht summend die Karl-Marx-Allee hinunter. Tagsüber wirken die hohen Zuckerbäckerfassaden gleichzeitig monumental und fein, wie die aufgeblasenen Dekorationen einer Modelleisenbahnstrecke, aber nachts verschwinden ihre zierlichen Details in der Dunkelheit, und es bleibt nichts als die unerbittliche Größe, die nahtlos in den Himmel überzugehen scheint, als wären diese Gebäude die Beine der Nacht selbst, die sich an diesem Ort über Berlin beugt, um es genau zu betrachten oder hier ihr Lager aufzuschlagen. Thomas nimmt noch einen Schluck von seiner Mische und denkt über Levs Reaktion nach, kommt dabei aber zu keinem wirklichen Punkt, außer dass sie mit Levs unausgesprochener Antwort zu tun haben muss. Aber was genau diese sein könnte, weiß er nicht. Zum ersten Mal fällt ihm auf, dass er generell wenig über das Innenleben seines ältesten und einzigen Freundes weiß, und dann, dass dies auch umgekehrt gilt. Er spricht nie vom Tod seiner Mutter oder von den zwei Jahren in Bayern, und auch die eigenartige Traurigkeit, die ihn manchmal überkommt, behält er für sich.