Das Leuchten am Horizont - Christopher Ross - E-Book

Das Leuchten am Horizont E-Book

Christopher Ross

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Beschreibung

Eine Familie, der das Leben in den Weiten Nordamerikas alles abverlangt. Die kanadische Wildnis in den 1920er Jahren. Leuchtend grün flackern die Nordlichter über den weiten Himmel, doch die Schönheit trügt – das Leben am Skeena River wird von der Spanischen Grippe bedroht, die schon ganze Dörfer ausgerottet hat, die Goldminen versiegen langsam und die Männer, die den Großen Krieg in Europa überlebt haben, sind nicht mehr dieselben. Nun ist es vor allem an den Frauen, für ihr Glück zu kämpfen: Clarissa ist fest entschlossen, dass ihre Tochter Emily den Wunsch erfüllt bekommen soll, als eine der ersten Frauen Tiermedizin zu studieren. Doch überall stößt sie auf Widerstand. Und dann wird Clarissa auf einer Schlittenfahrt im Wald überfallen und verschleppt. Steckt ein alter Feind dahinter? »Ein großartige Romane voller verhaltener Poesie.« Kieler Nachrichten Dieser Roman erschien bereits unter dem Titel »Weihnachten in der Wildnis« in der großen Nordamerika-Saga »Clarissa«.

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Seitenzahl: 431

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch:

Die kanadische Wildnis in den 1920er Jahren. Leuchtend grün flackern die Nordlichter über den weiten Himmel, doch die Schönheit trügt – das Leben am Skeena River wird von der Spanischen Grippe bedroht, die schon ganze Dörfer ausgerottet hat, die Goldminen versiegen langsam und die Männer, die den Großen Krieg in Europa überlebt haben, sind nicht mehr dieselben. Nun ist es vor allem an den Frauen, für ihr Glück zu kämpfen: Clarissa ist fest entschlossen, dass ihre Tochter Emily den Wunsch erfüllt bekommen soll, als eine der ersten Frauen Tiermedizin zu studieren. Doch überall stößt sie auf Widerstand. Und dann wird Clarissa auf einer Schlittenfahrt im Wald überfallen und verschleppt. Steckt ein alter Feind dahinter?

Über den Autor:

Christopher Ross gilt als Meister des romantischen Abenteuerromans. Es ist das Pseudonym des Autors Thomas Jeier, der in Frankfurt am Main aufwuchs, heute in München und »on the road« in den USA und Kanada lebt. Seit seiner Jugend zieht es ihn nach Nordamerika, immer auf der Suche nach interessanten Begegnungen und neuen Abenteuern, die er in seinen Romanen verarbeitet, mit den bevorzugten Schauplätzen Kanada und Alaska. Seine über 200 Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet.

Bei dotbooks erscheint Christophers Ross' GROSSE ALASKA-SAGA mit sechs Bänden. Unter Thomas Jeier veröffentlichte er bei dotbooks zahlreiche weitere Romane.

Die Website des Autors: www.jeier.de/

Der Autor auf Facebook: www.facebook.com/thomas.jeier

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eBook-Neuausgabe März 2025

Dieses Buch erschien bereits 2014 unter dem Titel »Weihnachten in der Wildnis« bei Weltbild.

Copyright © der Originalausgabe 2014 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg

Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © Adobe Stock sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (vh)

ISBN 978-3-98952-515-3

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Christopher Ross

Das Leuchten am Horizont

Roman

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Kapitel 1

Am Himmel leuchtete ein seltsames Feuer, als Clarissa ihren Schlitten aus dem Wald lenkte. So wie vor zweitausend Jahren, als die Heiligen Drei Könige nach Bethlehem aufgebrochen waren, um dem Christuskind ihre Geschenke zu bringen. Nur dass es damals ein besonders heller Stern gewesen sein sollte und sich hier in Alaska das Nordlicht im Schnee spiegelte. In leuchtendem Grün und blassem Rot flackerte es über den morgendlichen Himmel, als wollte es die Menschen daran erinnern, dass Weihnachten vor der Tür stand.

»Siehst du das Nordlicht, Emmett?«, rief sie ihrem Leithund zu. Ihre Huskys hatten wenige Meilen vor der Stadt das Tempo angezogen und freuten sich über die eisigen Temperaturen und den Schnee. »Sieht ganz so aus, als würde Santa schon seinen Schlitten anspannen. Ich frage mich immer, warum er Rentiere und keine Huskys nimmt. Ihr wärt doch viel schneller.«

Emmett war sicher ihrer Meinung, ließ sich aber nichts anmerken. Auch ihm und seinen Artgenossen brachte Santa Claus an Weihnachten leckere Geschenke, und er wollte es wohl nicht mit ihm verderben. Der Weihnachtsmann hatte bestimmt seine Gründe, wenn er sich auf seine Rentiere verließ.

Das Nordlicht verblasste, und vom nahen Fluss drangen plötzlich die Anfeuerungsrufe zweier Männer herauf. »Vorwärts! Nur nicht schlappmachen!«, schallte es durch die winterliche Kälte. Im nächsten Augenblick erschienen zwei Hundeschlitten auf der Uferböschung und kamen rasch näher. Die Musher wirkten so entschlossen, als würden sie an einem Rennen teilnehmen, und schienen nicht die Absicht zu haben, ihretwegen den Trail zu verlassen.

Clarissa lenkte ihr Gespann erschrocken in den Tiefschnee und blickte wütend auf die beiden Männer. »Hey, nicht so stürmisch!«, rief sie wütend, musste aber lachen, als sie die Santa-Claus-Masken vor ihren Gesichtern sah. Sie beugte sich zu Emmett hinab und kraulte ihn zwischen den Ohren. »Hast du das gesehen, Emmett? Die trainieren bestimmt für den Christmas Cup.«

Das Rennen sollte am Weihnachtstag bis in die Ausläufer der White Mountains führen, und jeder Teilnehmer musste so eine Maske aufsetzen. Deshalb trainierten die meisten schon im Vorfeld damit. Der Pokal war mit Goldmünzen im Wert von dreihundert Dollar gefüllt, ein Geschenk der Northern Commercial Company, die ein Kaufhaus in Fairbanks betrieb.

Ohne zu grüßen und mit verbissenen Gesichtern trieben die jungen Männer ihre Gespanne an ihr vorbei. »Schneller! Schneller!«, feuerte einer seine Hunde an. Der andere stand geduckt auf den Kufen und blieb im Windschatten, um so bald wie möglich an ihm vorbeizuziehen. Beide waren erstklassige Musher, wenn auch viel zu stürmisch und risikofreudig, ein deutliches Zeichen dafür, wie wenig sie mit den Gefahren des Hinterlandes vertraut waren. Um ein Rennen zu gewinnen, das bis in die unwegsamen White Mountains führte, reichte es nicht, ein schnelles Gespann zu haben. Man musste vor allem wissen, was einen auf dem Trail erwartete. Ein solches Rennen gewann meist ein Musher, der weniger rasant und spektakulär als die beiden Männer fuhr, aber erfahren war und sich auf dem Trail auskannte.

Clarissa trieb die Huskys auf den Trail zurück und fuhr weiter. Es hatte die ganze Nacht geschneit, und eine dicke Schneeschicht bedeckte den Trail. Die Schwarzfichten bogen sich unter der schweren Last. Der Wind hielt sich an diesem Morgen zurück, begehrte lediglich in vereinzelten Böen auf und trieb den aufgewirbelten Schnee vor sich her. Die klirrende Kälte, die in der Umgebung von Fairbanks immer besonders schneidend war und die meisten Fremden abschreckte, machte ihr kaum zu schaffen. Sie wohnte seit fast zwanzig Jahren in der Wildnis und war die Temperaturen längst gewöhnt.

Über die neue Holzbrücke lenkte sie den Schlitten nach Fairbanks hinein. In dem leichten Nebel über dem Chena River bot die Stadt einen seltsam friedlichen und entrückten Eindruck, als hätte sie Angst, ihr wahres Gesicht zu zeigen. Wie die meisten Städte hatte auch Fairbanks unter den Auswirkungen des großen Krieges gelitten. Zu viele junge Männer, die im Sommer 1917 noch begeistert und mit der festen Überzeugung, ihr Vaterland im fernen Europa vor den Klauen eines grausamen Feindes retten zu können, an Bord der Truppenschiffe gegangen waren, hatten ihr Leben gelassen. Und in der Heimat hatte das Drei-Tage-Fieber, das man auch als »Spanische Grippe« kannte, beinahe so schlimm wie die Pest im Mittelalter gewütet. Noch immer war die Krankheit, die irgendjemand aus Europa mitgebracht hatte, nicht besiegt. Im Norden waren angeblich ganze Indianerdörfer von der Bildfläche verschwunden. Ein Gedanke, der ihr zu schaffen machte und auch ihre Vorfreude auf Weihnachten überschattete. Die Seuche war bis nach Alaska vorgedrungen, als hätte der Große Krieg in Europa nicht genug Leid gebracht.

Fairbanks hatte seine Kraft verloren und wankte wie ein Boxer, der zu viele Treffer eingesteckt hatte und nur noch orientierungslos durch den Ring stolperte. Selbst die großen Goldminen waren inzwischen versiegt. Was nicht hieß, dass es zu einer Geisterstadt verkam wie so viele Boom Towns in Kalifornien oder Arizona. Die Täler der Alaska Range bargen eine Fülle von Bodenschätzen, vor allem unendliche Holzvorräte, die nur darauf warteten, von profitgierigen Geschäftemachern abtransportiert zu werden. Clarissa hoffte, dass es noch einige Jahre dauerte, bis der neue Boom begann. Sie hatte Fairbanks nie gemocht. Als kleiner Handelsposten, so wie zu der Zeit, als Alex und sie ihre Blockhütte an einem Nebenfluss des Tanana River errichtet hatten, war es okay gewesen, als ausufernde Stadt, die mehr sein wollte, als sie wirklich war, störte sie nur, weil sie sich immer weiter in der endlosen Natur von Alaska ausbreitete.

Ein Blickwinkel, der auch Clarissas Wesen und ihrem Drang nach Unabhängigkeit geschuldet war, wie sie bereitwillig zugegeben hätte. Alex und sie hatten schon öfter darüber gesprochen, weiter ins Landesinnere zu ziehen, waren aber immer geblieben, vor allem wegen Emily, die in Fairbanks auf die High School ging und auch das College besuchen wollte. Eher ungewöhnlich für eine junge Dame, aber wenn sich Emily mal etwas in den Kopf gesetzt hatte, ließ sie sich nicht mehr davon abbringen, wie groß der Widerstand auch war.

Auf der Second Avenue, die immer noch das Zentrum der Stadt bildete, bot Fairbanks im Dezember einen besonders romantischen Anblick. Leuchtende Girlanden mit Sternen und dem Schriftzug »Merry Christmas« hingen über der Straße, und die meisten Ladenbesitzer hatten auch ihre Schaufenster weihnachtlich geschmückt. In einem Vorgarten brannten elektrische Lichter an einer Fichte.

Clarissa fuhr im gemächlichen Tempo die Second Avenue hinunter. Wie jeden Freitag war sie in die Stadt gekommen, um Emily von der Schule abzuholen, Freundinnen und Bekannte zu treffen und Einkäufe für sich und ihre beste Freundin Dolly zu tätigen. Dolly und Jerry O’Rourke bewirtschafteten ein Roadhouse in dem Tal, in dem auch Alex und sie wohnten. Normalerweise war Alex bei ihr, und sei es nur, um ein Bier im Saloon zu trinken, aber er hatte einen Job bei der Alaska Railroad angenommen, die gerade dabei war, die Strecke zwischen Seward und Fairbanks fertigzustellen, und kam nur alle zwei Wochen nach Hause. Sie brauchten das Geld, das er dort verdiente, für Emilys College. Wertvolle Pelztiere waren selten geworden in der Gegend, und er legte nur noch selten Fallen aus.

Vor der Bank hielt sie an. Sie verankerte den Schlitten und belohnte ihre Huskys mit freundschaftlichen Klapsen. Neben Emmett, ihrem Leithund, kniete sie sich hin und nahm ihn flüchtig in die Arme. »Das habt ihr gut gemacht«, sagte sie, »und sorgt euch nicht wegen der Weihnachtsmänner. Wenn die uns noch mal so erschrecken, kaufe ich mir eine Santa-Claus-Maske, und wir fahren das Rennen mit. Wollen doch mal sehen, wer dann die Nase vorn hat.« Sie stand auf und klopfte den Schnee von ihrer Kleidung. »Ich bin gleich wieder da. Ich hole uns nur ein paar Dollar.«

William E. Flemming, der Inhaber der Bank, stand hinter dem Tresen und sprach mit seinem Kassierer, als sie die Bank betrat. Sie kannte ihn, seitdem er nach Fairbanks gekommen war und Alex und ihr mit einem großzügigen Kredit aus der Patsche geholfen hatte. Er schien etwas hagerer geworden zu sein, kein Wunder nach den entbehrungsreichen Monaten des Krieges, und trug wie immer eine kunstvoll gebundene Fliege zu seinem dunklen Anzug.

»Mrs Carmack«, rief er, »wie nett, dass Sie wieder mal bei mir vorbeischauen. Seit Ihr Mann für die Eisenbahn arbeitet, fließt ja ordentlich was auf Ihr Konto. Sie haben doch nicht die Absicht, dieses Geld wieder abzuheben?«

»Nein, damit wollen wir das Studium unserer Tochter finanzieren.« Sie blieb vor dem Tresen stehen. »Aber ich wollte Sie bitten, die Zinsen zu erhöhen. In Anchorage gibt es eine Bank, die verspricht mir ein Prozent mehr.«

»Ein Lockangebot. Das hat bestimmt einen Haken.«

»Aber ein Prozent wäre doch keine große Sache für Sie. Wie ich Sie kenne, holen Sie mit Ihren Geldgeschäften das Doppelte wieder rein. Und mein Mann hat die Absicht, noch ein paar Monate für die Eisenbahn zu arbeiten.«

Der Banker öffnete die Holztür neben dem Tresen und bat sie an den Besprechungstisch, der nur durch ein Aktenregal vom Schalterraum getrennt war. »Wir haben frischen Kaffee auf dem Ofen, Ma’am«, sagte er, nachdem sie die Mütze abgenommen hatte. »Wenn Sie wollen ...«

»Nein, vielen Dank«, winkte sie freundlich ab. Die Unterhaltung mit dem Banker würde nicht lange dauern. Er wollte sein Gesicht wahren und nicht den Eindruck vermitteln, als würde er seine Prozente allzu leichtsinnig verteilen. Nach einem kurzen Wortwechsel würde er ihr das weitere Prozent gewähren. »Und das ist noch lange nicht alles, was ich von Ihnen will«, fügte sie lächelnd hinzu.

»Was denn noch?«, fragte Flemming nervös.

»Das wissen Sie doch längst, Mister Flemming. Wir wollen eine große Weihnachtsparty im Roadhouse meiner Freundin Dolly feiern und dazu auch Kranke und Bedürftige aus der Umgebung einladen. Und an den Tagen davor fahren wir mit einem Weihnachtsmann in die Dörfer und verteilen Geschenke an die Leute, die auf der Schattenseite des Lebens stehen oder durch die Seuche ihren Ernährer verloren haben. Sie wissen doch, wie sehr der Krieg und diese unsägliche Seuche manchen Familien zugesetzt haben. Wir wollen vor allem die Kinder beschenken und beteiligen uns natürlich auch mit unserem eigenen Geld, aber so ein Fest und die Santa-Claus-Aktion sind teuer und kann ohne die Hilfe von Sponsoren gar nicht stattfinden.« Sie lächelte vorsichtig. »Wir dürfen doch auf Sie zählen, Mister Flemming?«

Der Banker kam nicht mehr dazu zu antworten, denn genau in diesem Augenblick begannen die Huskys vor der Bank zu bellen, und zwei Männer mit Santa-Claus-Masken betraten die Bank. Einer richtete seinen Revolver auf den Kassierer, der andere bedrohte Flemming und Clarissa. »Hände hoch!«, rief der Weihnachtsmann, der den Kassierer in Schach hielt. »Und zwar alle! Sofort! Wenn ihr tut, was wir sagen, passiert euch nichts.« Er ging rückwärts zur Tür und drehte das »Geschlossen«-Schild nach außen, fuhr erschrocken zurück, als die Tür dennoch aufging, und eine ältere Dame die Bank betrat.

Als sie erkannte, dass sie mitten in einen Banküberfall geplatzt war, und zu einem entsetzten Schrei ansetzte, schlug der Bankräuber mit dem Revolverlauf zu. Die Dame sank bewusstlos zu Boden. Blut sickerte über ihre Schläfe. Ihr breitkrempiger Hut, der den Aufprall der Waffe kaum gemildert hatte, kullerte über den Boden und blieb unter dem Fenster liegen.

Clarissa war genauso entsetzt wie Flemming und der Kassierer. Während ihrer jahrelangen Auseinandersetzung mit Frank Whittler und seinen Kumpanen hatte sie gelernt, zu welchen grausamen Gewalttaten skrupellose Verbrecher fähig waren, aber ein so dreistes Vorgehen wie bei diesen Weihnachtsmännern hatte sie noch nie erlebt. Eigentlich waren so abgelegene Städte wie Fairbanks dafür bekannt, dass Männer besonders höflich zu Frauen waren.

In dem Wissen, die Bankräuber nur noch mehr zu reizen und sich selbst in Gefahr zu bringen, rief sie: »Sie sollten sich was schämen! Sich hinter diesen albernen Masken zu verstecken und das schwerverdiente Geld anderer Männer zu rauben ... gemeiner geht es wohl nicht mehr. Und was fällt Ihnen ein, diese arme Frau zu schlagen? Ich sollte den US Marshal holen ... jetzt gleich.«

»Das würde ich hübsch bleiben lassen«, erwiderte der Schläger. Er schien jünger als der andere Mann zu sein und trug neue Lederstiefel mit silbernen Beschlägen. »Sie bleiben, wo Sie sind, sonst geht es Ihnen genauso wie der alten Dame.« Er wandte sich an den Kassierer. »Worauf warten Sie noch? Packen Sie alle Scheine, die Sie finden können, in einen großen Leinensack, und zwar plötzlich. Bei der ersten falschen Bewegung lege ich Sie um, okay?«

Clarissa kam sich vor wie in einer Geschichte des Buffalo Bill Magazine, einem Magazin, das sie besonders gerne las, weil es spannende Abenteuergeschichten mit rührseligen Love-Storys verband. In der Story »Masked Riders« hatten zwei maskierte Banditen eine Bank beraubt und eine junge Frau als Geisel mitgenommen. Auf der Prärie, meilenweit von der Zivilisation entfernt, hatten sie die arme Frau ohne Wasser und Verpflegung zurückgelassen. Gerade noch rechtzeitig war Buffalo Bill erschienen und hatte sie vor feindlichen Indianern gerettet. Glaubten diese Weihnachtsmänner etwa, im 20. Jahrhundert mit derart dreisten Wildwestmethoden davonkommen zu können?

Der Kassierer, ein ängstlicher Mann mit einer Frau und fünf Kindern, beeilte sich, der Aufforderung der Verbrecher nachzukommen. In einen der Leinensäcke, die neben dem Safe auf einem Stapel lagen, stopfte er alle Scheine aus seiner Kasse und blickte den jüngeren Bankräuber fragend an.

»Versuchen Sie bloß nicht, uns reinzulegen, Mister!«, warnte ihn der Maskierte. Bei jedem Schritt hinterließen die silbernen Beschläge ein Hackendes Geräusch auf dem Holzboden. »Auch das Geld aus dem Tresor. Oder meinen Sie, wir kommen wegen der paar Scheine in Ihre Bank?«

»Damit kommen Sie nie durch«, fand Flemming seine Sprache wieder. Auch er war kein tapferer Mann und ärgerte sich wahrscheinlich schon jetzt darüber, dass Deputy Marshal Amos Novak nicht in der Nähe war, und es scheinbar keine Möglichkeit gab, sie aufzuhalten oder festzunehmen. Er wusste aber auch, dass er seine Bank schließen und Bankrott anmelden konnte, falls die maskierten Bankräuber mit ihrem dreisten Plan durchkamen. »Wo wollen Sie denn hin mitten im Winter? In die Wildnis nach Norden? Über den Valdez Trail nach Süden? Was meinen Sie, wie lange der Marshal braucht, um Sie dingfest zu machen? Oder wollen Sie unbedingt sterben?«

»Klappe halten!«, machte jetzt auch der ältere der beiden Bankräuber den Mund auf. Seine Stimme war dunkler, und er bewegte sich bedächtiger. So lässig, wie er den Revolver hielt, schien er nicht zum ersten Mal mit Schusswaffen zu tun zu haben. Er wandte sich ungeduldig an den Kassierer. »Und Sie öffnen endlich den Safe und stopfen einen weiteren Beutel voll. Meinetwegen auch zwei oder drei. Und beeilen Sie sich ein bisschen. Falls jemand kommt und eine Schießerei anfängt, sind Sie der Erste. Verstanden?«

»Ja ... ja doch«, antwortete der Kassierer ängstlich. Er öffnete mit zitternden Fingern den Safe und packte einige Geldbündel mit besonders hohen Banknoten in den Leinensack. »Damit kommen Sie nicht durch ... niemals.«

»Das lassen Sie mal unsere Sorge sein«, sagte der Bankräuber. Er schnappte sich die Beutel, die der Kassierer gefüllt hatte, mit einer Hand und wandte sich an Clarissa, die neben Flemming stand und immer noch die Hände hob. »Sie da! Mitkommen! Sie bleiben bei uns, bis wir sicher sein können, dass wir nicht verfolgt werden.« Seine Warnung galt auch dem Banker und dem Kassierer. »Sobald ich höre, dass Sie die Polizei alarmieren, lege ich sie um.«

Auch die lustige Santa-Claus-Maske, die der Bankräuber trug, täuschte nicht über die Entschlossenheit in seinen Worten hinweg. Er meinte es ernst. Vor etlichen Jahren in Skaguay, der wilden Stadt, in der sich die Abenteurer zu den Goldfeldern am Klondike trafen, hatte sie ähnlich skrupellose Verbrecher wie diese beiden getroffen. Die Aussicht auf schnellen Reichtum verblendete zu viele Männer und nahm ihnen den letzten Rest von Anstand.

»Geht’s auch ein bisschen schneller?« Der Bankräuber hatte seine Hand mit dem Revolver in die Tasche gesteckt, hielt die Waffe aber auf Clarissa gerichtet. »Gehen Sie hinter ihm ... « Er verschluckte gerade noch rechtzeitig den Namen seines Komplizen. »... nach draußen, und steigen Sie auf seinen Schlitten. Ein falsches Wort oder eine falsche Bewegung, und ich jage Ihnen eine Kugel in Ihren hübschen Körper. Haben Sie mich verstanden, Lady?«

Clarissa blieb vor ihm stehen, schwankte zwischen Angst und Entrüstung. »Warum tun Sie das, Mister? Selbst mit einer Geisel werden Sie nicht weit kommen. Glauben Sie etwa, die Masken werden Sie beschützen? Unser Marshal ist kein Dummkopf, der braucht nicht lange, um Sie zu identifizieren.«

»Halten Sie die Klappe, oder ich drücke ab«, sagte der Bankräuber.

Sie gehorchte und folgte dem jüngeren Mann aus der Bank. Dabei hoffte sie inständig, dass niemand auf sie aufmerksam wurde und sich wunderte, warum sie auf einen fremden Schlitten stieg. Gleichzeitig war ihr klar, dass sie sich schnell etwas einfallen lassen musste, wenn sich die Story aus dem Buffalo Bill Magazine nicht in der wirklichen Welt wiederholen sollte.

Niemand sah zu ihnen herüber, als sie mit den Bankräubern ins Freie trat und zu dem jüngeren Mann auf den Schlitten stieg. Sein Gespann wartete bereits ungeduldig darauf, wieder auf den Trail gehen zu können. Auch er hatte den Revolver in seine Anoraktasche geschoben, hielt ihn aber verdeckt auf sie gerichtet, während er die Beutel mit dem geraubten Geld in seinem Schlittensack verstaute. Sie vermutete, dass gerade dieser junge Hitzkopf nicht die geringsten Hemmungen haben würde, auf eine Frau zu schießen, und verhielt sich ruhig. Sie hob nicht mal den Kopf, als das Gesicht von George M. Hill hinter einem Fenster des Zeitungsgebäudes auftauchte. Der einstige Chefredakteur, ein guter Freund aus schwierigen Zeiten, firmierte inzwischen als »Senior Editor«, ein Ehrentitel für einen verdienstvollen Zeitungsmann, der immer noch einen Riecher für ergiebige Storys besaß.

Nur ein paar Schritte von ihnen entfernt wunderten sich ihre eigenen Huskys, dass sie nicht zu ihnen auf den Schlitten stieg, und stimmten ein lautes Jaulkonzert an. Irgendwo am anderen Ende der Stadt antworteten andere Hunde. Zu gewissen Zeiten war die ganze Stadt vom Husky-Geheul erfüllt.

»Verdammte Mistköter!«, schimpfte der jüngere Bankräuber. »Wenn die so weitermachen, hetzen sie noch den Marshal auf uns.« Er zog den Anker aus dem Schnee und feuerte sein Gespann an. »Vorwärts! Nichts wie weg!«

Hinter ihnen sprang der ältere Bankräuber auf die Kufen seines Schlittens und blieb dicht hinter ihnen. Immer noch mit den Santa-Claus-Masken vorm Gesicht, rasten die beiden Männer über Nebenstraßen aus der Stadt und einen der breiteren Trails auf die schroffen Berge der Alaska Range zu.

Kapitel 2

Der Überfall hatte sich so schnell und plötzlich ereignet, dass Clarissa nur allmählich realisierte, in welcher Gefahr sie schwebte. Vor allem der jüngere Bankräuber kannte anscheinend keine Skrupel, sonst hätte er die ältere Dame nicht bewusstlos geschlagen. Er würde bestimmt nicht davor zurückschrecken, auch ihr Gewalt anzutun, wenn sie seine Anweisungen nicht befolgte.

Sie hielt sich mit beiden Händen am Schlitten fest, als die falschen Weihnachtsmänner den breiten Trail verließen und über einen schmalen Jagdtrail in den Wald fuhren. Anscheinend kannten sie sich gut in der Gegend aus. Sie war schon öfter über den Trail gefahren und wusste, dass er abseits der Wagenstraße nach Südwesten führte und sich irgendwo in den Ausläufern der Alaska Range verlor. Eine unwegsame Bergwildnis, ideal, um sich vor dem Gesetz zu verstecken, wenn man die versteckten Schluchten und Täler kannte und genug Proviant und die richtige Ausrüstung mitführte, um sich in der unwirtlichen Umgebung einen Unterschlupf bauen und überleben zu können.

Sie hatte keine Ahnung, was die beiden Bankräuber mit ihr vorhatten. Hoffentlich nicht das, was der Siedlerfrau im Buffalo Bill Magazine passiert war. Selbst eine erfahrene Frau wie sie hätte in den Bergen kaum eine Chance. Ohne ihren Hundeschlitten und ihren Revolver, der vor der Bank in ihrem Schlittensack lag, war sie hilflos. Die Männer brauchten sich nur weit genug von der Wagenstraße zu entfernen, dann wären ihre Chancen zu überleben nicht besonders groß. Nur mit der Notration in den Taschen ihres Anoraks, der Schokolade, den Streichhölzern, dem kleinen Messer, würde sie nicht weit kommen. Ihre einzige Hoffnung war, dass der Marshal rechtzeitig ein Aufgebot zusammenstellte und den Spuren der Bankräuber folgte.

Nach ungefähr einer Stunde, während der sie verzweifelt, aber auch vergeblich nach einem Ausweg gesucht und die Männer kaum ein Wort gewechselt hatten, hörte sie den jüngeren Bankräuber »Whoaa!« rufen. Die Männer hielten an und verankerten die Schlitten im verharschten Schnee. Die Huskys drehten sich nach ihnen um, verwundert darüber, dass es nicht weiterging.

Clarissa sprang wütend vom Schlitten und stieß gegen den jüngeren Bankräuber, der ihr mit sichtlichem Vergnügen die Arme auf den Rücken drehte und sie mit einer Rohhautschnur an den Handgelenken fesselte. »Hey, nicht so stürmisch!«, protestierte er, als Clarissa sich wehrte, »oder wollen Sie, dass ich Sie etwas härter anfasse?« Er drückte sie auf die Ladefläche des Schlittens zurück und band ihre Fußgelenke zusammen. »Können Sie gerne haben.«

»Joey!«, wies ihn der ältere Bankräuber zurecht. Im selben Atemzug nahm er seine Santa-Claus-Maske vom Gesicht. Er hatte dunkle Augen, eine Boxernase und schmale, kaum erkennbare Lippen. »Lass den Blödsinn, und nimm endlich die Maske ab. Oder willst du als Santa Claus zum Mount McKinley fahren? Beim ersten Sturm reißt es dir das Ding vom Gesicht.«

Joey blickte ihn unschlüssig an. »Du willst, dass sie uns erkennt? Und wenn sie uns dem Marshal beschreibt? Wenn sie ihm verrät, wo wir sind?«

Der ältere Bankräuber zog ihm die Maske vom Gesicht und warf sie in den Schnee. »Meinst du, daran hätte ich nicht gedacht? Ich mach so was nicht zum ersten Mal, schon vergessen? Hier draußen ist es vollkommen egal, ob sie unsere Gesichter und unsere Namen kennt. Falls uns der Marshal einholt, halte ich ihr meine Knarre an die Stirn und nehme sie erst wieder runter, wenn er verschwindet. Und nachdem wir den Marshal in die Irre geführt haben, setzen wir sie irgendwo aus. Bis man sie findet, ist sie so hungrig und durchgefroren, dass sie sich an nichts mehr erinnern kann. Wir sind dann sowieso nicht mehr hier. Oder willst du ewig in den Bergen bleiben?«

Joey ging nicht auf seine Frage ein. Er war um die Zwanzig und sah mit seinem Jungengesicht aus, als könnte er kein Wässerchen trüben. An dem unsteten Ausdruck in seinen Augen erkannte Clarissa, dass er nicht so hartgesotten war, wie er jeden glauben machen wollte. »Du willst sie doch nicht...«

»Nein, ich will sie nicht umbringen«, erwiderte der ältere Bankräuber und blickte dabei auch Clarissa an. »Sie können ganz beruhigt sein, Lady. Solange Sie tun, was ich Ihnen sage, passiert Ihnen nichts. Und gegen einen Fußmarsch haben Sie doch nichts?« Er musterte sie von oben bis unten. »Wenn ich mich recht erinnere, waren Sie mit dem Hundeschlitten unterwegs. Dann machen Ihnen auch Schnee und Kälte nichts aus. Leider können wir Ihnen weder einen Schlitten noch Schneeschuhe geben, beides brauchen wir selbst, wenn wir rechtzeitig aus dieser verdammten Gegend wegkommen wollen.«

Clarissa saß auf dem Schlitten und griff mit den gefesselten Händen nach einer Strebe, um wenigstens etwas Halt zu haben. Die Rohhautschnüre gruben sich schmerzhaft in ihre Handgelenke. Ihr war längst klar, dass die beiden Bankräuber nicht so einfältig waren, wie sie taten, und auch nicht davor zurückschrecken würden, ihr wehzutun. Immerhin hatten sie anscheinend doch Skrupel, einen Mord zu begehen. Sie würden ihr keine Kugel in den Kopf jagen. Sie in der Wildnis ihrem Schicksal zu überlassen, war einfacher und ersparte ihnen eine Mordanklage, falls man sie doch irgendwann fasste. »Jetzt wäre noch Zeit, das Geld zurückzubringen«, startete sie den Versuch, die Männer doch noch zur Vernunft zu bringen. »In den Bergen haben Sie doch keine Chance. Haben Sie eine Ahnung, was dort im Winter für Stürme toben? Und was ist, wenn der Marshal Sie findet? Valdez ist der einzige eisfreie Hafen. Falls Sie dort auftauchen, nimmt man Sie sofort fest. Und anders kommen Sie nicht raus.«

»Wir haben doch Sie, Lady«, sagte der ältere Bankräuber, als wären damit alle Fragen beantwortet und alle Zweifel ausgeräumt. »Und wir kennen uns in dieser Gegend besser aus, als Sie denken. Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Probleme, und beten Sie, dass uns der Marshal nicht auf die Spur kommt.«

Die Weiterfahrt war kein Vergnügen. Mit ihren gefesselten Händen fand sie kaum Halt auf dem Schlitten und drohte in jeder Kurve in den Schnee zu stürzen. Nur weil sie sich mit den Füßen an den Vorratssäcken auf der Ladefläche abstützen konnte, hielt sie einigermaßen das Gleichgewicht. Die Decken, auf denen sie lag, dämpften die Erschütterungen auf dem holprigen Trail kaum, jeder Bodenwelle war sie durch die Fesseln hilflos ausgeliefert.

Noch überwog ihre Zuversicht. Trotz der eindeutigen Warnung, dass man sie sofort erschießen würde, falls der Banker die Polizei alarmierte, würde Flemming nicht zögern, dem Marshal Bescheid zu sagen. Und Novak brauchte höchstens eine Viertelstunde, um ein Aufgebot zusammenzustellen. Die Männer der Stadt würden nicht zulassen, dass ihr etwas passierte. Allerdings waren die Bankräuber gerissener, als es den Anschein hatte. Sich Santa-Claus-Masken überzustreifen, war eine geniale Idee gewesen. Alle Männer, die für den Christmas Cup trainierten, trugen solche Masken, und die Verwirrung nach dem Bankraub war sicherlich groß. Jeder würde jeden verdächtigen.

In einer besonders scharfen Kurve verzog sie das Gesicht und stöhnte vor Schmerz. »Binden Sie mich los!«, übertönte sie das Hecheln der Hunde und das Scharren der Kufen mit ihrer Stimme. »Ich kann mich nicht mehr halten.«

Sie ließ die Holzstrebe los und fiel vom Schlitten, stürzte in den Tiefschnee abseits des Trails und blieb schnaufend liegen. Ihre Handgelenke schmerzten so stark, dass sie nur mühsam die Tränen unterdrückte. Aus irgendeinem Grund wollte sie vor den Bankräubern keine Schwäche zeigen.

»Verdammt! Kannst du nicht aufpassen?«, fuhr der ältere Bankräuber seinen jungen Komplizen an. »Binde sie am Schlitten fest, wenn es sein muss.«

Joey verankerte den Schlitten und zog sie unsanft aus dem Schnee. Wie ein Paket trug er sie zum Schlitten und ließ sie auf die Ladefläche fallen. Sie stöhnte vor Schmerz, als sie auf ihre gefesselten Hände zu liegen kam, und wich ängstlich vor dem Bankräuber zurück, als er weitere Rohhautschnüre aus seinen Taschen kramte. Wenn er sie an den Schlitten band, wäre sie noch hilfloser und könnte sich gar nicht mehr gegen die Erschütterungen schützen. Joey war kein besonders guter Musher, er stellte sich auf dem holprigen Trail eher ungeschickt an und dachte nicht daran, Rücksicht auf sie zu nehmen. Er war nur daran interessiert, so schnell wie möglich von hier wegzukommen.

»Nicht festbinden«, rief sie. Ihre Stimme klang schriller als beabsichtigt. Allein der Gedanke, auf dem Schlitten zu liegen und sich kaum noch bewegen zu können, machte sie nervös. »Das würde doch alles nur noch schlimmer machen. Binden Sie mich los! Dann kann ich mich besser festhalten, und Sie kommen schneller voran.« Sie erkannte, wie unschlüssig vor allem der ältere Bankräuber war, und sagte schnell: »Oder haben Sie Angst vor einer Frau?«

Der ältere Bankräuber, dessen Namen sie noch immer nicht kannte, reagierte wie erhofft. Er blickte seinen Komplizen an. »Also meinetwegen. Binde sie los, Joey. Falls Sie Ärger macht, schlägst du sie bewusstlos.« Es klang weder herzlos noch gemein aus seinem Mund, kam eher beiläufig über seine Lippen. Sein Blick wanderte zu Clarissa. »Haben Sie mich verstanden, Lady? Keine faulen Tricks! Wir haben keine Zeit, uns mit Ihnen rumzuärgern.«

Clarissa vermied es, dem jüngeren Bankräuber in die Augen zu blicken, als er ihre Fesseln löste. Sein freches Grinsen hätte sie nur noch mehr durcheinandergebracht. Nachdem alle Rohhautschnüre gelöst waren, massierte sie dankbar ihre Handgelenke und gehorchte widerwillig, als Joey sie zum Schlitten schob und auf die Ladefläche drückte. Sie setzte sich auf die Decken und hielt sich mit beiden Händen am Schlitten fest, als er die Huskys antrieb.

Der Trail führte die meiste Zeit durch lichten Wald, wo der Schnee nicht so hoch lag und sie sich nur durch gelegentliche Dünen kämpfen mussten. Doch er war sehr kurvig und holprig und machte vor allem Joey zu schaffen. Er war der schlechtere der beiden Musher, bewegte sich auf den Kufen viel zu ungeschickt und schien wenig vertraut mit seinen Hunden zu sein. Von einigen kannte er nicht mal die Namen. Sein älterer Komplize benahm sich routinierter und wies ihn ständig zurecht, fluchte manchmal so wild und laut, dass sie hoffte, der Marshal und seine Männer könnten ihn bereits hören.

Der Mond, die Sterne und das Nordlicht, das immer noch über den Himmel flackerte, wiesen ihnen den Weg. Der Schnee glitzerte in allen Farben und täuschte über ihre gefährliche Lage hinweg. Je weiter sie sich von Fairbanks entfernten, desto schwieriger würde es für sie, unbeschadet nach Hause zurückzukehren. Noch bestand Hoffnung, dass der Marshal und seine Männer ihre Spuren fanden, aber als die Bankräuber auf einen anderen Trail wechselten, den selbst sie nicht kannte und der im dichten Unterholz kaum zu erkennen war, wuchsen plötzlich ihre Zweifel. Die Männer kannten sich tatsächlich aus, sie mussten lange in dieser Gegend gelebt haben, wenn sie solche geheimen Trails kannten.

»Und du bist sicher, den Trail kennt wirklich keiner?«, fragte Joey, als er den Schlitten verankerte und mit einem abgebrochenen Fichtenast ihre Spuren verwischte. »Der Marshal kommt viel rum, hab ich mir sagen lassen.«

»Den Trail kennt kein Weißer.« Er war sich seiner Sache anscheinend sehr sicher. »Ich war mal mit einer Indianerin verheiratet. Ist schon etliche Jahre her ... damals, als ich noch als Fallensteller in der Gegend unterwegs war. Ihr Vater war ein großer Jäger und kannte das Land wie seine Westentasche. Er hat mir den Trail gezeigt ... den Trail und eine zerfallene Blockhütte.«

»Und dann hast du sie im Stich gelassen, die Indianerin?«

»Sie wurde krank und starb. Eine hundsgewöhnliche Erkältung, aber du weißt ja, wie Indianer gebaut sind. Die fallen schon bei einem Husten um. Ihr Vater wollte mir die Sache anhängen, von wegen, ich hätte mich mit den bösen Geistern verbündet und sie angesteckt, aber so war es nicht. Sie hat sich die Krankheit in Fairbanks eingefangen. Was soll’s, ich such mir eine Neue.«

Clarissa hütete sich, etwas zu sagen. Der Bankräuber war nicht der einzige weiße Mann, der sich mit einer Indianerin zusammengetan hatte. Manche Fallensteller, die jahrelang in der Wildnis lebten, waren sogar mit mehreren »Squaws«, wie sie die Frauen nannten, verheiratet. Natürlich nur nach indianischem Recht, eine kirchliche Trauung mit einer Indianerin wäre undenkbar gewesen. Man akzeptierte stillschweigend, dass sich die Männer in der Wildnis vergnügten, wollte aber ansonsten nichts davon wissen. Als sich Betty-Sue, eine der Krankenschwestern in Doc Boones kleiner Klinik und eine ihrer besten Freundinnen, öffentlich zu einem Indianer bekannt hatte, war ihr gekündigt worden. Inzwischen war sie mit Paul Merriman zusammen, einem wesentlich jüngeren Krankenpfleger, der nur mit einem Bein aus dem Großen Krieg zurückgekehrt war und nun in einer kleinen Apotheke arbeitete.

Als sich am frühen Nachmittag der Himmel bezog und es leicht zu schneien begann, sank ihre Stimmung auf den Nullpunkt. Der Schnee würde ihre Spuren zudecken und es dem Marshal vollkommen unmöglich machen, sie in der Wildnis aufzuspüren. Die Befürchtung, die Bankräuber könnten ihren Verfolgern tatsächlich entkommen, schien sich zu bewahrheiten. Wenn der ältere Mann tatsächlich eine abgelegene und versteckte Hütte kannte, brauchten sie nur bis zum Frühjahr zu warten und sich dann zur Küste durchzuschlagen. In dem Trubel, der zu dieser Zeit in den wieder eisfreien Häfen herrschte, schafften sie es bestimmt, das Land unbemerkt zu verlassen. Mit dem Dampfschiff konnten sie nach San Francisco oder Seattle entkommen.

Sie presste enttäuscht die Lippen zusammen und war froh, dass die Bankräuber nicht ihr Gesicht sahen. Wie lange würden die Männer sie festhalten? Ein paar Stunden? Ein paar Tage? Bis zur Schneeschmelze im Frühjahr? So lange würde Alex bestimmt nicht warten, wenn er erfuhr, dass man sie entführt hatte. Wie sie ihren Mann kannte, zog er sofort los und würde sich erst zufrieden geben, wenn er sie gefunden hatte. Er würde kein Risiko scheuen, um sie aus den Händen der Bankräuber zu befreien. Ein Gedanke, der sie tröstete, aber auch erschreckte. Er konnte ein rechter Heißsporn sein, wenn es um ihr Wohl ging, und niemand konnte voraussagen, was passierte, wenn er ihre Entführer in die Hände bekam. Nichts Gutes, das war mal sicher.

In Gedanken versunken erlebte sie die Fahrt über den versteckten Trail. Mehr als um ihr eigenes Wohl war sie um Alex und Emily besorgt. Ihre fünfzehnjährige Tochter hatte Furchtbares durchgemacht, als man sie im letzten Jahr entführt hatte und sie allein in die Wildnis geflohen war, und sie hätte ihr einen zweiten Albtraum gerne erspart. Ebenso wie Alex, der immer noch unter den Folgen seiner schwierigen Kopfoperation litt und bei jedem Besuch vom Arzt gesagt bekam, sich etwas zurückzuhalten. Sie liebte ihren Mann und ihre Tochter über alles und hatte eigentlich gehofft, nach dem Krieg endlich wieder ein unbeschwertes Weihnachtsfest mit ihnen feiern zu können.

Sie blickte nach vorn und blinzelte in den treibenden Schnee. Sie hatten den Waldrand erreicht und fuhren jetzt über eine Kette von Hügelkämmen, die entlang eines langgestreckten Tales nach Südwesten führten. In die Bergwildnis des Mount McKinley, des höchsten Berges in Alaska, der bei diesem Wetter allerdings nicht zu sehen war. Erst vor einem Jahr hatte die Regierung das riesige Gebiet unter Naturschutz gestellt, aber es gab weder Park Ranger noch Wagenstraßen, und die Eisenbahn, an der auch Alex mitarbeitete, würde erst in einigen Jahren fertig werden. Niemand würde die beiden Bankräuber in dieser Wildnis aufspüren, ein so riesiges Gebiet, dass es Jahre dauern konnte, bis man einen Flüchtigen entdeckt hatte.

Aus der Ferne drang der einsame Ruf eines Wolfes. Ein vertrautes Heulen, das sich von einem Tal ins andere fortpflanzte und als dumpfes Echo in der Luft hängenblieb. Ein zuerst ungläubiges und dann hoffnungsvolles Lächeln trat auf ihr Gesicht. »Bones!«, flüsterte sie so leise, dass die Männer sie nicht hören konnten. Der Geisterwolf, wie sie ihn nannte, der sie seit beinahe zwanzig Jahren begleitete und wie ein indianischer Schutzgeist auftauchte, wenn sie in Gefahr war. Nicht immer, dazu war er zu launisch, aber sehr oft und sehr entschlossen. Sie erkannte sein Heulen sofort, hätte es aus dem Heulen von hundert Wölfen herausgehört. »Bones! Du musst mir helfen, Bones!«

»Hast du das gehört?«, fragte Joey, obwohl das Heulen nicht zu überhören gewesen war. »Es sind Wölfe in der Nähe. Ich hab gehört, die Wölfe am Mount McKinley greifen besonders oft Menschen an.« Er griff nach dem Gewehr in seinem Schlittensack. »Die haben es auf uns abgesehen, Terry!«

Also Terry hieß der Ältere der beiden Bankräuber. Weder Joey noch er hatten gemerkt, dass der Name gefallen war. Joey und Terry ... sobald sie den Marshal traf, würde sie ihm die Namen nennen. Zusammen mit einer Beschreibung der Männer würde es ihm vielleicht leichter fallen, sie zu finden.

Wieder drang das Heulen von den Bergen herunter, diesmal näher und entschlossener, als würde der Leitwolf eines Rudels seine Artgenossen rufen, weil er eine besonders fette Beute ausgemacht hatte und mit ihnen auf die Jagd gehen wollte. Ohne sie anzublicken, spürte Clarissa, wie den Männern das Herz in die Hose rutschte und quälende Panik von ihnen Besitz ergriff.

Jetzt oder nie, dachte sie. Sie wartete, bis sie einen neuen Hügelkamm erreichten, warf sich, ohne lange zu überlegen, zur Seite und stürzte über den verschneiten Hang ins Tal hinab. Wie eine Schiffbrüchige, die von einer besonders mächtigen Welle erfasst worden war, wurde sie von der schäumenden Gischt mitgerissen, überschlug sich mehrmals und blieb benommen liegen.

Kapitel 3

Sie hörte die Stimmen der Bankräuber wie aus weiter Ferne: »Kannst du nicht aufpassen, verdammt?«, rief Terry vorwurfsvoll. Und Joey antworte: »Woher soll ich denn wissen, dass sich die Verrückte in die Tiefe stürzt. Ist sie tot?« Terry stieg von den Kufen und blickte zu ihr herunter. »Glaub ich nicht. Der Tiefschnee hat bestimmt den Aufprall gebremst. Ein paar blaue Flecken, mehr nicht. Vielleicht ist sie bewusstlos.« Joeys Stimme wurde heller. »Wir müssen sie holen. Sobald sie zu sich kommt, rennt sie doch zum Marshal.« Terry lachte. »Weißt du, wie lange es dauern würde, da runterzuklettern und sie auf den Schlitten zu packen? Ein paar Stunden, Mann! Nein, wir fahren weiter. Unser Vorsprung ist sowieso schon groß genug, und wer weiß, ob sie überhaupt unsere Spuren finden. Die Lady findet schon allein nach Hause.«

Clarissa bekam in ihrer Benommenheit nur die Hälfte mit, sie war mehr mit ihren schmerzhaften Prellungen beschäftigt. Wie konnte sie nur ein solches Risiko eingehen? Beim Sturz in die ungefähr siebzig Meter tiefe Talmulde hätte sie sich alle Knochen und sogar den Hals brechen können. Der Tiefschnee, der den steilen Hang bedeckte, war keine Garantie dafür, dass man unverletzt blieb. Darunter hätten sich schroffe Felsen verbergen können. Sie hatte riesiges Glück gehabt.

Durch die treibenden Flocken beobachtete sie, wie die Bankräuber weiterzogen. Schon nach wenigen Minuten waren nicht einmal mehr ihre Anfeuerungsrufe zu hören. Sie war ihren Entführern entkommen, doch sie empfand weder Freude noch Erleichterung. Denn ihre Chancen, lebend nach Fairbanks zurückzukehren, waren jetzt vielleicht noch geringer als vor einigen Minuten in der Gewalt der Bankräuber. Sie war allein, umgeben von unwegsamer Wildnis und auf einem Trail, den kaum jemand kannte. Und ihre Prellungen waren so schlimm, dass ihr schon die geringste Bewegung wehtat.

Sie versuchte es dennoch und stützte sich auf die Ellenbogen, um sich vom Boden hochzustemmen, aber sie knickte stöhnend ein und sackte in den Schnee zurück. Stechender Schmerz durchzuckte ihren Körper. Sie atmete ein paarmal durch, bis sie wieder einigermaßen klar denken konnte, und tastete vorsichtig ihren Körper ab. Anscheinend hatte sie sich weder etwas gebrochen noch verstaucht oder gezerrt, beinahe ein Wunder nach dem Sturz. Im Nachhinein wurde ihr beinahe übel, wenn sie daran dachte, wie leichtsinnig sie gehandelt hatte. Nur weil sie geglaubt hatte, das vertraute Heulen von Bones zu hören, war sie überhaupt so mutig gewesen, den Sprung zu wagen.

Oder hatte sie sich sein Heulen nur eingebildet? War es das Heulen des Windes gewesen, der von den Bergen herabwehte, und ihr nur vorgegaukelt hatte, den Wolf zu hören?

Sie stemmte sich erneut vom Boden hoch, blieb kniend im Schnee hocken und blickte sich suchend um. Der Mond, die Sterne und das Nordlicht waren längst hinter Wolken verschwunden, und in dem fahlen Licht, das der Schnee reflektierte, war kaum etwas zu sehen. Zu dicht war der Vorhang aus treibendem Schnee. »Bones!«, rief sie, diesmal lauter. »Hilf mir, Bones!«

Doch das Heulen war verstummt, und sie war allein mit der Wildnis. Offenbar musste sie selbst aktiv werden, wenn sie ihre Familie und ihre Freunde jemals wiedersehen wollte. Sie lebte lange genug in Alaska und war schon so oft in heiklen Situationen gewesen, um nicht die Nerven zu verlieren. Auch wenn sie meilenweit von der Wagenstraße entfernt war, musste es einen Weg geben, der Wildnis zu entkommen. Ihre Befürchtung, ohne Hundeschlitten und Revolver den Gefahren hilflos ausgeliefert zu sein, durfte sich nicht bewahrheiten. Ihre Winterkleidung schützte sie ausreichend gegen die eisige Kälte und den Wind, und mit ihrer Notration konnte sie zumindest einige Tage überleben. Bis dahin musste sie entweder die Wagenstraße oder den Marshal und seine Männer erreicht haben.

Schon der erste Schritt durch den hüfthohen Schnee zeigte ihr, wie übertrieben ihr Optimismus war. Sie stöhnte vor Schmerzen, als sie sich aufrichtete und versuchte ihr Bein zu heben. Tränen schossen ihr in die Augen. Warum taten Prellungen so weh? Warum verlor sie beinahe das Bewusstsein, wenn sie sich bewegte? Hatte sie sich doch etwas gebrochen oder verstaucht? Sie blieb mit geschlossenen Augen stehen, bis das Stechen nachgelassen hatte, versuchte sich einzureden, der Schmerz würde rasch abklingen, wenn sie sich nur bewegte, und startete einen neuen Versuch. Tatsächlich ließ der Schmerz allmählich nach, zumindest bildete sie sich das ein. Sie war einiges gewöhnt und musste beinahe lachen, als sie an die vornehmen Damen dachte, die sie vor vielen Jahren in Vancouver gekannt hatte. Verwöhnte Ladys, die jeden Morgen zwei Stunden brauchten, um sich zurechtzumachen, die Arbeit von Hausmädchen und Nannys verrichten ließen, in Kutschen zum Einkaufen in die Innenstadt fuhren und für die ein Ausflug in den gepflegten Stanley Park schon einer Expedition nahekam. Für die wäre das nichts hier.

Wild entschlossen, ihren Schmerz zu besiegen, stapfte sie durch den Schnee. Bei jedem Schritt sackte sie tief ein, und es kostete sie jedes Mal große Überwindung, den Weg mit den Händen freizuschaufeln und die Füße aus dem Schnee zu ziehen. Der böige Wind, der jetzt von hinten kam, tat ein Übriges, um ihr das Leben schwerzumachen, er fuhr manchmal so heftig über die aufgeworfenen Schneedünen, dass sie das Gleichgewicht verlor, stöhnend zu Boden sackte und sich mühsam wieder aufrichten musste.

Ihre Richtung war klar. Wenn sie eine Chance haben wollte, der Wildnis zu entkommen, musste sie sich ungefähr eine Viertelmeile durch den Tiefschnee kämpfen, bis es einfacher wurde, den Jagdtrail zu erreichen, und dann lag noch mindestens ein Zwei-Tage-Marsch bis zur Wagenstraße vor ihr. Mit den Prellungen ein anstrengendes Unterfangen. Selbst auf dem Trail kam man zu Fuß wesentlich langsamer als mit dem Hundeschlitten voran, und sie musste eine Nacht in der Wildnis verbringen.

Mit gesenktem Kopf und übergezogener Kapuze, um besser gegen den frostigen Wind geschützt zu sein, stapfte sie weiter durch den Schnee. Er war nass und teilweise verharscht und klebte an ihrer Kleidung. Wie meist, wenn sie mit dem Hundeschlitten nach Fairbanks fuhr, trug sie ihren neuen dunkelblauen Anorak, gefütterte Hosen und feste Stiefel, dazu eine Wollmütze, die Dolly ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. In ihrem langen Rock, den sie manchmal anzog, wenn sie mit Alex in die Stadt fuhr, wäre sie in dieser Umgebung auch kaum zurechtgekommen. Sie hätte sonst etwas für einen Hundeschlitten gegeben, schon mit Schneeschuhen, die ein Einsinken in den tiefen Schnee verhindert hätten, wäre sie zufrieden gewesen. Aber sie hatte weder das eine noch das andere.

Wie lange sie für die erste Achtelmeile brauchte, konnte sie nicht sagen. Eine Stunde? Zwei Stunden? Einen halben Tag? Eine halbe Ewigkeit schien vergangen zu sein, doch in der Dunkelheit ließ sich das schlecht sagen. Ohne Sterne war sie beinahe orientierungslos, und sie konnte von Glück sagen, dass der Trail in ihrem Blickfeld blieb. Bald würden die Hügel so flach sein, dass sie den Aufstieg wagen konnte. Sie blieb stehen und verschnaufte ein wenig. Erst jetzt fielen ihr die beiden Schmerztabletten ein, die zu ihrer Notration gehörten, und sie spülte sie mit einem Schluck Wasser aus ihrer Feldflasche hinunter, obwohl sie nicht glaubte, dass sie stark genug waren, um den Schmerz zu vertreiben. Dafür brauchte sie ihren eisenharten Willen und ihre Entschlossenheit. Nicht zuletzt verlieh ihr auch die Sehnsucht nach ihrer Familie Kraft.

Sie hatte den Trail schon fast erreicht, als der Sturm über sie hereinbrach. Auffällig war nur die Stille gewesen, die sich minutenlang über das Tal gelegt hatte, sonst gab es keine Vorwarnung, und ihr blieb nicht einmal Zeit, ihre Augen vor dem heftigen Wind zu schließen. Ausgerechnet jetzt, war ihr letzter Gedanke, bevor der Blizzard wie ein wütender Orkan durch das Tal brauste, sie zu Boden warf und in der aufwallenden Gischt beinahe ersticken ließ. Wie ein wütendes Meer tobten Schnee und Wind über sie hinweg und brachten die Fichten jenseits der Hügelkämme zum Schwanken.

Der Lärm war kaum auszuhalten, er erinnerte sie an einen vorbeifahrenden Güterzug, und zwang sie, sich die Ohren zuzuhalten. Wie ein hilfloses Tier hockte sie gekrümmt im Schnee, froh, dass sie wenigstens der tiefe Schnee gegen den Blizzard schützte. Was habe ich nur getan, dass heute ein Unglück nach dem anderen über mich hereinbricht, fragte sie sich mit Tränen in den Augen.

Der Blizzard tobte beinahe eine halbe Stunde und verlangte ihr alles ab. Sie hatte sich in den schützenden Schnee gegraben, doch eine Windböe riss eine tiefe Furche in ihr Versteck, und der Schnee klatschte so heftig gegen ihren Körper, als würden Riesen sie von allen Seiten bewerfen. Kaum rang sie nach Atem, verschloss ihr eine weitere Salve den Mund, und sie konnte froh sein, wenn sie wenigstens etwas Luft bekam und in dem wirbelnden Schnee nicht erstickte. Sie kroch stöhnend durch den Schnee, versuchte sich eine neue Höhle zu graben, und als sie wieder von den Füßen gerissen wurde, fiel sie der Länge nach in eine Düne und rief verzweifelt um Hilfe. Niemand hörte sie, nicht einmal sie selbst. Der Blizzard riss ihr die Worte vom Mund, als wollte er sie verhöhnen, und wirbelte ihr den Schnee ins Gesicht, als wartete er nur darauf, dass sie endgültig zu Boden ging und das Bewusstsein verlor.

Der Wintergeist, wie die Indianer den Verursacher solcher Stürme nannten, machte seine Drohung wahr. Er gab erst nach, als Clarissa mit geschlossenen Augen im Schnee lag und sich nicht mehr rührte. Aus der Ferne hätte man sie wahrscheinlich für tot gehalten, doch sie lebte, wenn ihr Atem auch schwach ging und sie vor Müdigkeit und Erschöpfung zu keinem Laut und keiner Bewegung mehr fähig war. Jetzt brauchte der Wintergeist nur noch darauf zu warten, dass die Kälte ihren Körper erstarren ließ und sie endgültig tötete. Kein Mensch überlebte bei diesen Temperaturen, wenn er ohnmächtig im Schnee lag, selbst wenn er warme und feste Winterkleidung trug.

Vor ihren Augen wurde es dunkel, wogten düstere Schatten, und sie spürte, wie die Kälte unter ihre Kleidung und unter ihre Haut drang. Der Tod kam bei diesen Temperaturen schnell, wenn man sich nicht bewegte, aber in ihrer Bewusstlosigkeit war sie unfähig, auch nur einen Finger zu heben, und es gab nichts, was sie gegen die Bedrohung tun konnte.

Selbst in der Stille, die dem Blizzard gefolgt war, hörte sie nicht, wie ein sehniger Wolf ihren Spuren folgte und sich ihr durch den Schnee näherte. Obwohl er schon sehr alt sein musste, bewegte er sich mit einer Anmut, wie man sie sonst nur bei jungen Wölfen sah, jeder Muskel war in Bewegung, wenn er sich vom Boden abstieß und durch den wirbelnden Schnee lief, kein Kraftpaket mehr wie in seiner Jugend, aber biegsam und elegant und so ausdauernd, als gäbe es keine aufgetürmten Schneedünen.

Erst die plötzliche Wärme verriet ihr, dass sie nicht mehr allein war. Bones hatte sich dicht neben sie gelegt und wärmte sie mit seinem dichten Fell, wechselte alle paar Minuten die Stellung, um sie von allen Seiten zu schützen. Sie spürte, wie sich seine Wärme auf ihren Körper übertrug, die Temperatur ansteigen und ihr Blut wieder schneller durch ihren Körper fließen ließ. Seine raue Zunge strich über ihre Wange und hinterließ eine feuchte Spur, sein Versprechen, sie vor dem Tod zu retten und sie nach Hause zu führen.

Als Clarissa erwachte, war Bones verschwunden, und sie hatte nur noch vage Erinnerungen an ihre Begegnung, war sogar unsicher, ob er tatsächlich neben ihr gelegen hatte. Doch gab es einen besseren Beweis für sein Erscheinen als ihr Wohlbefinden, ihre plötzliche Stärke, die sie nur in einer schützenden Umgebung gewonnen haben konnte? Selbst ihre Prellungen schmerzten nicht mehr so sehr, auch wenn sie sich das vielleicht nur einbildete, aber der Gedanke an Bones hatte ihr neue Kraft verliehen, und sie ließ sich nicht mehr aufhalten, als sie das letzte Stück zum Trail zurücklegte. Es schneite kaum noch, und auch der heftige Wind hatte endlich nachgelassen.

Auf dem Trail rang sie kurz nach Atem. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war, wahrscheinlich schon später Abend. Emily würde sich große Sorgen machen und war vielleicht zu Alex gefahren, um ihm von der Entführung zu berichten. Wo blieben der Marshal und seine Männer? Waren sie auf die Bankräuber hereingefallen und an dem versteckten Trail vorbeigefahren? Es hatte fast den Anschein, sonst hätte sie das Aufgebot doch längst eingeholt. Sie kramte einen Riegel Schokolade aus ihrer Anoraktasche, spülte ihn mit etwas Wasser hinunter und folgte dem Trail nach Nordwesten.

Auch wenn noch ein zweitägiger Fußmarsch vor ihr lag, schien die größte Anstrengung jetzt hinter ihr zu liegen. Auf dem festgefahrenen Trail und im Schutz der Bäume kam sie wesentlich schneller voran. Die Schmerzen hatten nachgelassen, ein Verdienst von Bones und der Schmerztabletten, die sie genommen hatte, vielleicht auch ihres eisernen Willens, sich nicht unterkriegen zu lassen. Wer einen Blizzard überlebt hatte, schaffte es auch nach Fairbanks.

Doch wie lang der Weg war, merkte sie erst, als sie bereits drei Stunden gelaufen war und sich immer noch in demselben Tal wie zu Beginn ihres Marsches befand. Einmal glaubte sie, die gelben Augen eines Wolfs in der Dunkelheit zu erblicken, doch das Leuchten war gleich wieder verschwunden, und sie blieb allein mit der Dunkelheit und dem leisen Rauschen des Windes.

Mitternacht musste längst vorüber sein, als sie zu dem Schluss kam, dass sie dringend Ruhe brauchte. Sie trug einige herabgefallene Äste und Zweige zusammen und setzte sie mit den Streichhölzern, die zu ihrer Notration gehörten, in Brand. Im Schutz eines Felsens flackerte ein Lagerfeuer, das ihr genug Wärme bot und vielleicht hell genug war, um dem Marshal zu signalisieren, dass die Bankräuber über einen versteckten Trail in die Berge geflohen waren. Statt Decken breitete sie Fichtenzweige auf dem verschneiten Boden aus.

Von der Wärme des Feuers umfangen, wurde sie müde und schlief ein. Zwei Stunden später, als das Feuer heruntergebrannt war, wachte sie auf und legte Holz nach, darauf hoffend, dass ihr Vorrat nicht zur Neige ging, und sie gründlich ausschlafen konnte, bevor sie zur Wagenstraße weitermarschierte.

Doch gerade, als das Feuer erneut zu verlöschen drohte, weckte sie eine vertraute Stimme: »Mrs Carmack? Ich bin’s, US Deputy Marshal Amos Novak. Wir haben uns große Sorgen um Sie gemacht, Ma’am. Alles in Ordnung?«