Das Licht in den Kronen - Chiara Kilian - E-Book

Das Licht in den Kronen E-Book

Chiara Kilian

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Beschreibung

In Glimmingshire finden sechs Kinder zu einander und vielleicht auch zu sich selbst, treffen auf besondere Hunde und seltsame Blumenzüchter, freunden sich mit Meeren und mit Stürmen an, und lernen von der tiefen Magie ihrer Umgebung, die sie selbst mehr betrifft als sie zunächst erahnen. Doch was hat es mit den Lichtern auf sich?

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Chiara Kilian

Das Licht in den Kronen

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Ein Sturm zog auf

KAPITEL I

KAPITEL II

KAPITEL III

KAPITEL IV

KAPITEL V

Das Meer nahm seine Aufgabe sehr ernst.

KAPITEL VI

KAPITEL VII

KAPITEL VIII

KAPITEL IX

KAPITEL X

Die Bäume waren müde.

KAPITEL XI

KAPITEL XII

KAPITEL XIII

KAPITEL XIV

KAPITEL XV

Die Bäume erholten sich.

Impressum neobooks

Ein Sturm zog auf

und niemand wusste so recht, woher er kam und was er wollte. Bisher konnten die ungeschulten Sinne der Urlauber noch nichts von ihm erahnen und wer auch immer für den Wetterbericht zuständig war, hielt es nicht für nötig, ihn zu erwähnen, doch die Menschen aus Glimmingshire wussten es besser. Der warme Augustwind kam aus allen Himmelsrichtungen zugleich und der wolkenlose Himmel würde bald die Farbe des nahe liegenden Meeres annehmen. Kinder, die draußen spielten, wurden von ihren Eltern herein gerufen und Spaziergänger machten sich eiligst auf den Weg nach Hause. Fenster wurden geschlossen und Türen verriegelt; in einigen älteren Gebäuden wurde sogar der Strom abgestellt.

Die Kinder waren froh, dass die Schule später anfangen sollte und die Obstbauern waren in Sorge um ihre Äpfel und Pflaumen. Die jüngeren Bäume waren freudig erregt und die Gewässer milde interessiert. Die Tiere verkrochen sich in ihre Kobel und Bauten und auf den Herden kochte Kakao. Jeder bereitete sich auf seine Weise auf den Sturm vor. Unwetter waren keine Seltenheit in dieser Gegend und niemand machte sich wirklich Sorgen, doch ihnen allen lief ein unerklärlicher Schauer über den Rücken, wenn sie an diesen Sturm dachten, denn es war eigentlich noch viel zu früh für ihn.

Nur ein Mädchen, das gerade vom Einkaufen kam und sich nun auf den Weg zu dem Ort machte, der mittlerweile so etwas wie ihr Zuhause war, hatte keine Gänsehaut bei dem Gedanken an das kommende Wetter. Sie wusste genauso wenig woher der Sturm kam, wie die tuschelnden Verkäuferinnen, doch sie wusste wer ihn eingeladen hatte und dass auch sie Vorkehrungen für den Sturm treffen musste. Er sollte dieselbe Gastlichkeit erfahren, wie sie selbst.

Der Wind zog stärker an – eine höfliche Ankündigung – doch es war noch immer sehr warm und das Mädchen hatte es nicht sehr eilig. Ihr Gast sollte nicht vor dem Wochenende eintreffen und bis dahin hatte sie genügend Zeit, um es ihm behaglich zu machen. Sie kannte Stürme vom Sehen, vom Hören, und vom Fühlen, doch sie hatte sich noch nie mit einem unterhalten, oder gar für ihn gekocht. Sie hatte schon einmal einen kleinen Regenschauer bewirtet, der sich im letzten Frühling zu ihnen verirrt und viel Limonade getrunken hatte, doch der war in keinster Weise mit einem ausgewachsenen Spätsommergewitter oder gar einem richtigen Sturm zu vergleichen gewesen.

Das Mädchen hatte einige Kochbücher in der Stadtbibliothek durchgesehen, doch leider konnte sie darin nichts über die Vorlieben bestimmter Witterungen entdecken, und so hielt sie es für das Beste, sich selbst etwas einfallen zu lassen. Ihre Vertraute hatte ihr gesagt, dass Stürme viel für Schlagsahne übrig hatten. Für Äpfel auch, und für Ale. Das Essen sollte kraftvoll sein und auf die kommende Jahreszeit hinweisen.

Der Herbst hatte es sehr eilig in diesem Jahr. Die Edelkastanien waren schon reif (und fanden schnell ihren Weg in den Korb des Mädchens) und das Laub der meisten Bäume schimmerte gelblich. Das Mädchen konnte in einer der Birken sogar einen Hauch von Silber erkennen, doch sie kümmerte sich nicht weiter darum. Wenn sich der Sturm den Glanz nicht holt, dachte sie, dann bestimmt eine Elster, oder vielleicht ein Kind.

KAPITEL I

Es war der letzte Samstag im August, als der Wind sich drehte und die Poststelle von Duskbourne zwei Stunden länger als üblich geöffnet hatte. Miss Rawgabbity trug ihrem Bruder, Mr Rawgabbity, und den größeren Kindern häufig auf, Briefe für sie zur Post zu bringen. Diese Briefe waren immer in dieselben, weißen Umschläge gehüllt, mit denselben langweiligen Briefmarken (und Mr Rawgabbitys Spucke) beklebt und mit blauem Kugelschreiber beschriftet. Gestern hatte Miss Rawgabbity ein älteres Mädchen namens Sally Bashfield losgeschickt, um einen besonderen Briefumschlag zu kaufen. Er war groß, rot und ließ kein Wechselgeld für Lakritz über. Sally hatte den anderen Mädchen beim Abendessen davon erzählt. Alle waren überrascht, dass Miss Rawgabbity den Brief, den sie in diesem besonderen Umschlag untergebracht hatte, selbst zur Post bringen wollte, ganz besonders Mr Rawgabbity. Noch überraschender war es jedoch, dass Geneva und Basil Deighton sie begleiten sollten. Das fanden alle Kinder, ganz besonders die Deightons.

Der Wind war stark und unerhört warm. Geneva mochte die Hitze, doch sie wusste, dass sie nicht mehr lange anhalten würde. Sie konnte den Zimt in der Luft bereits schmecken. Basil mochte sie auch, doch an diesem Abend wäre ihm ein milderes Klima lieber gewesen. Seit zwei Wochen mussten er und seine Schwester schwere, kratzige Sachen aus schwarzer Wolle tragen. In den zugigen Räumen des Waisen-, Fürsorge- und Ferienheims von Duskbourne, das, anders als sein Name vermuten ließ, nicht in Duskbourne, sondern zweieinhalb Meilen außerhalb der Stadt lag, war das noch auszuhalten, doch nun kam es ihm so vor, als würde er bald schmelzen. Um diese Uhrzeit sollte es nicht mehr so heiß sein, dachte er. Das gehört sich einfach nicht.

»Ist euch armen Dingern zu heiß?« fragte Miss Rawgabbity, doch die armen Dinger antworteten nicht.

»Denn wenn euch zu heiß ist, hättet ihr nicht mitkommen sollen.«

Geneva sagte nicht, dass Miss Rawgabbity sie dazu aufgefordert hatte, mitzukommen.

»Denn wenn euch zu heiß ist, und ihr deshalb nicht so schnell vorankommt, könnte es passieren, dass wir nicht rechtzeitig beim Postamt ankommen, und das obwohl es heute später schließt. Wäre das nicht furchtbar unschön?«

Basil sagte nicht, dass ihm ausgesprochen heiß war und er gern eine Pause gemacht hätte, doch er war sich sicher, dass Geneva etwas langsamer ging als zuvor.

»Und dann wären wir ganz umsonst den langen Weg nach Duskbourne gelaufen,« fuhr Miss Rawgabbity fort, »und ich müsste mich übermorgen noch einmal bemühen, den Brief zur Post zu bringen und Gefahr laufen, dass er nicht rechtzeitig ankommt. Das ist doch eine scheußliche Vorstellung, nicht wahr?«

Geneva und Basil nickten, auch wenn sie nicht dieselbe »scheußliche Vorstellung« wie Miss Rawgabbity meinten. Im Grunde waren sie nicht unzufrieden. Sie durften zum ersten Mal mit nach Duskbourne. Obwohl ihnen ein Ausflug bei milderem Wetter (oder in angenehmerer Kleidung) lieber gewesen wäre, freuten sie sich, nach so langer Zeit nach draußen zu können. »Es ist fast soweit,« sagte Geneva. Sie sprach mit ihrem Bruder, doch sie flüsterte nicht.

»Ja, wir sind tatsächlich fast da,« sagte Miss Rawgabbity. »Ich hoffe, wir sind nicht zu spät dran.«

»Wir sind sogar viel früher dran, als ich angenommen hatte,« sagte Geneva, doch Miss Rawgabbity hörte ihr nicht mehr zu.

Der Weg nach Duskbourne führte an einigen abgemähten Feldern, schwer mit Obst beladenen Bäumen und vereinzelten kleinen Höfen vorbei, die nicht richtig zur Stadt, aber auch nirgendwo sonst hingehörten. Der Großteil ihrer Umgebung war grün, doch einige Blätter hatten sich bereits blassgelb gefärbt und die Abendsonne ließ die Grasspitzen golden aussehen. Basil mochte die Landschaft und Geneva gefielen die Farben. Es war fast so schön, wie im Garten ihrer Tante Lizzy – bloß größer, doch weniger wild. Obwohl der Weg anstrengend war, waren sie fast sogar enttäuscht, als sie vor sich die ersten Häuser, Mauern und Autos sahen.

Duskbourne war klein, kaum eine richtige Stadt, doch es hatte einige Geschäfte und zwei mittelgroße Hotels, die in den Sommerferien fast immer ausgebucht waren. An diesem Samstagabend schienen hauptsächlich Touristen in der Stadt unterwegs zu sein. Obwohl die Ferien fast vorbei waren, standen sie dort, mit Sandalen an den Füßen und Eistüten in den Händen, und kauften Souvenirs an einem kleinen Stand, mit einem großen Schild in Form einer Muschel. Vor vielen Jahren, als Basil kaum gehen konnte, ohne Mrs Deightons Hand zu halten, hatte Mr Deighton für Geneva einen goldfarben bemalten Anhänger an genau so einem Stand gekauft. Sie schüttelte den Kopf und folgte Miss Rawgabbity an einem Brunnen vorbei zu einem hübschen, alten Gebäude. Über der Tür hing ein großes Schild, auf dem POSTSTELLE stand, und darunter ein kleines, neueres Schild: MIT KIOSK.

Die Poststelle gefiel ihr. Sie war klein und ungewöhnlich geformt, als hätte man ihre Kanten abgeschliffen. Basil mochte sie auch, obwohl er sich nicht so viel aus Häusern machte, wie seine Schwester. »Sie passt nicht dazu,« sagte er und Geneva nickte. Miss Rawgabbity hingegen wirkte enttäuscht. Niemand hatte sie und die Deightons, in ihren schweren, schwarzen Sachen, bisher beachtet. Niemand hatte sich höflich nach ihnen erkundigt, oder ihnen wenigstens einen mitleidigen Blick zugeworfen. Miss Rawgabbity seufzte und öffnete eine Glastür. Sie deutete den Kindern mit der Hand an, dass sie ihr voran hindurch gehen sollten. Sie weiß es, dachte Geneva und folgte ihrem Bruder in einen überraschend langen und engen Raum. Vor einem Tresen stand eine kleine Schlange von Menschen, denen anscheinend gerade noch rechtzeitig eingefallen war, ihre Postkarten zu verschicken. Miss Rawgabbity gesellte sich zu ihnen, während Basil sich, in der Hoffnung auf Kostproben, zu einem kleinen Stand mit Süßigkeiten in der hintersten Ecke der Kioskseite der Poststelle aufmachte. Geneva blieb in seiner Nähe, doch ihre Aufmerksamkeit galt den Zeitschriften. Die meisten von ihnen handelten vom Fischen, zwei versprachen neue Rezepte für Marmelade, und eine weitere war vollkommen der regionalen Pflanzenwelt verschrieben. Keine der Zeitschriften war interessant für ein durchschnittliches Mädchen von dreizehn Jahren. Geneva war elf Jahre alt, doch sie hielt es für angemessen, die Interessen von Dreizehnjährigen zu teilen. Sie war auch nicht durchschnittlich, doch das hatte keinerlei Einfluss auf die Zeitschriften, die sie las.

»Erzählen Sie mir eine Geschichte?«

Geneva drehte sich um. Mit wem sprach Basil?

»Ein Gedicht wäre auch in Ordnung, aber am liebsten hätte ich eine Geschichte.«

Mit einem Mann. Er schien gerade durch die Tür hereingekommen zu sein und hatte einen Brief in der Hand, der trotz des kleinen, weißen Umschlags und der langweiligen Briefmarke wichtig aussah. Basil hielt ihn am Ärmel fest und redete auf ihn ein.

»Ich kenne keine guten Geschichten. Bestimmt verwechselst du mich.«

Der Mann gefiel Geneva nicht. Sein Anzug hatte die Farbe von Tinte und sein Gesicht war zu jung für seine Stimme. Er sah aus, als hätte er viel Geld und wenig Zeit. Zwischen den leicht und bunt angezogenen Touristen wirkte er verkleidet.

»Eine Geschichte von damals,« sagte Basil. »Sie müssen doch wissen, was ich meine.«

Der Mann sah ihn ratlos an. Geneva hatte noch nie erlebt, dass ihr Bruder einen Fremden ansprach, schon gar nicht auf diese Art.

»Bitte entschuldigen Sie sein Verhalten,« sagte Miss Rawgabbity, die, kaum dass ihr Brief von einem kleinen Mann mit schütterem Haar abgestempelt und auf einem Stapel abgelegt wurde, zu Basil und dem Fremden geeilt kam. »Sie müssen wissen, der arme Junge hier ist seit wenigen Wochen eine Waise« – sie deutete auf Basils schwarze Kleidung – »und seitdem ist er furchtbar anhänglich. Geradezu aufdringlich.«

Das stimmte nicht, doch Geneva zog es vor, nichts dazu zu sagen. Stattdessen näherte sie sich ihrem Bruder und nahm ihn an der Hand. Basil starrte noch immer den Mann an.

»Ja, kümmere dich um deinen kleinen Bruder,« sagte Miss Rawgabbity, während sie den tintenfarbenen Ärmel des Mannes glättete.

»Das verstehe ich nur zu gut,« sagte der Mann. »Waisen verhalten sich öfters eigenartig.«

Geneva näherte sich der Tür und Basil folgte ihr zögerlich. Miss Rawgabbity sprach noch immer mit dem Mann. Sie mochte ihn. Er war beinahe höflich.

»Ein reizendes Paar,« flüsterte Geneva ihrem Bruder zu, doch der runzelte bloß die Stirn. Miss Rawgabbity nestelte noch immer am Ärmel des Mannes herum, als eine Frau mit einem Strohhut auf dem Kopf durch die Tür hereinkam, und der Mann sagte etwas zu Miss Rawgabbity, als die Deightons losrannten.

Das Präsidium des Blumenzüchterverbandes von Glimmingshire bestand aus drei Herren mit steifen Kragen, zwei Damen mit steifen Haaren und einem Whippet, der mit all dem nichts zu tun haben wollte, jedoch aufgrund seiner Wohngemeinschaft mit einem der Herren zum Ehrenmitglied ernannt und überall mit hingeschleppt wurde. Jeden Samstag trafen sie sich im Holly and Ivy, einem kleinen Gasthaus im Wald, zum Tee und sprachen über Blumen, Vereinsangelegenheiten und den Klatsch der umliegenden Dörfer.

»Die kleine Kirkpatrick, Fanny, hat ja erst letzte Woche behauptet, eins gesehen zu haben,« sagte Mrs Brasskettle, die ältere der beiden Damen, während sie ihr Sandwich aufklappte, um den Belag zu begutachten. »In ihrem Apfelbaum. Kann man sich so etwas vorstellen?«

»Es hieß ja schon immer, sie sei nicht ganz richtig,« sagte die weniger alte Dame und schenkte sich noch etwas Tee ein.

»Nun, das ist schwer zu sagen. Vielleicht hat sie ja wirklich eins gesehen,« meinte Mr Wisp. Er war nicht nur der Schatzmeister des Verbands und Stadtbibliothekar von Galeport, sondern auch ein guter Freund des alten Mr Kirkpatrick.

Beinahe hätte Flora gefragt, was genau Fanny Kirkpatrick denn in ihrem Apfelbaum gesehen haben soll, doch sie biss sich gerade noch rechtzeitig auf die Zunge und gab dem Whippet, wie an jedem Samstagabend, ein Schinkenbrot und eine Schale mit Wasser.

»So oder so, sie ist nicht anders als diese hier. All diese kleinen Mädchen heutzutage sind vollkommen verrückt geworden.«

Mr Wisp runzelte die Stirn und sah Flora an. »Aber sie ist doch gar nicht so klein. Ich bin sicher, sie arbeitet für die Lyons schon seit fast einem Jahr.«

»Seit zwei Jahren, aber was hat das schon zu sagen? Die Lyons schämen sich nicht einmal, ein Kind einzustellen. Selbst wenn es überhaupt keinen vernünftigen Tee kochen kann.«

Wenn das Präsidium eines Blumenzüchtervereins über einen redet, als sei man nicht da, tut man ihm einen großen Gefallen, wenn man wirklich geht. Und sich selbst einen noch viel größeren, dachte Flora. Sie hatte genügend andere Dinge zu tun, doch Mrs Lyon hatte sie damit beauftragt, sich besonders gut um die Blumenzüchter und deren Hund zu kümmern. Letzteres tat sie gern.

»Sag Bescheid, wenn du noch etwas brauchst, Boreas,« sagte sie und machte sich auf, die anderen Tische abzuwischen. Es war im Grunde unmöglich, schlecht über Mrs Lyon zu reden, doch die Blumenzüchter versuchten es gern. Dass die Lyons trotz allem darauf bestanden, sie zuvorkommend zu behandeln, war ihr vollkommen unverständlich, doch sie nahm es hin. Schließlich stellte sie auch nicht in Frage, wie sie selbst behandelt wurde.

»Ich habe Fanny vor wenigen Wochen beim Einkaufen getroffen,« sagte die ältere Dame. Ihre Stimme war überdeutlich. Es war anstrengend ihr zuzuhören und noch anstrengender, es nicht zu tun. »Ein wirklich eigenartiges Kind.«

»Nicht so eigenartig wie sie,« sagte Mr Wisp und deutete mit seiner Teetasse auf Flora.

»Ist es nicht zu komisch, dass unsere Blumenzüchter ausgerechnet unsere Flora nicht ausstehen können?« fragte Calhoune Chaunticleare, als Flora sich auf den Weg zur Bar machte. Calhoune war nicht jeden Samstag, sondern jeden Tag im Holly and Ivy zu Gast und fand beinahe alles »zu komisch.« Trotz seiner schallenden Stimme schien das Blumenzüchterpräsidium ihn überhört zu haben, denn keiner von ihnen drehte auch nur den Kopf in Richtung der Bar.

»Kennst du jemanden, den sie ausstehen können?« fragte Flora und er schüttelte lachend den Kopf.

»Die können sich nicht einmal gegenseitig ausstehen,« sagte er. »Aber du scheinst sie ganz besonders zu ärgern. Vielleicht haben sie Angst, dass du ihnen zuhörst.«

»Genau,« sagte Mrs Lyon, die gerade mit einem abgekühlten Blech voller Kekse aus der Küche kam. »Wer weiß, was passiert, wenn Flora von einem geheimen Rezept für Rosendünger erfährt?«

»Oder von einer überraschenden Verwendung für die Vereinsgelder,« schlug Calhoune vor. »Oder ein unanständiges Gerücht aus Galeport. Wer kann das schon wissen?«

»Sicher nicht wir,« meinte Mrs Lyon. »Er ist auf dem Weg,« sagte sie dann mit gedämpfter Stimme zu Flora und reichte ihr das Blech mit den Keksen. Sie rochen nach Pfeffer.

Flora runzelte die Stirn, stellte das Keksblech ab und gab Calhoune ein weiteres Bier.

»Sie haben sich bloß über Fanny Kirkpatrick unterhalten. Sie soll irgendwas in einem Apfelbaum gesehen haben. Mrs Brasskettle hält sie offenbar für genauso verrückt, wie mich. Denken Sie, dass sie verrückt ist, Mrs Lyon?«

»Nun, das hängt ganz davon ab, was sie in dem Apfelbaum gesehen hat, nicht wahr?«

»Vor allem hängt es davon ab, ob, was auch immer unsere Fanny in dem Baum gesehen hat, auch wirklich darin war,« sagte Calhoune. Dann fragte er: »Wer ist eigentlich Fanny Kirkpatrick?«

»Ein Mädchen aus Galeport,« sagte Mrs Lyon. »Flora ging mit ihrer ältesten Schwester zur Schule. Mir persönlich kam sie immer sehr ernst und vernünftig vor. Ich denke nicht, dass sie mir nichts dir nichts den Verstand verloren hat. Vermutlich liegt es an ihrem Alter.«

Basil war noch nie zuvor so schnell gerannt. Er war überrascht, wie wenig es ihm trotz der Hitze und der schweren Sachen ausmachte. Auch Geneva war schnell, obwohl ihre Schuhe etwas zu klein und furchtbar unbequem waren. Sie rannten, durch die Stadt und die Hitze, an Eisdielen und Telefonzellen vorbei. Sie rannten auch, als sie die Stadt und die starrenden Menschen längst hinter sich gelassen hatten, einem endlos scheinenden Feldweg folgend, an weiteren Feldern und Bäumen vorbei, die nicht alle abgemäht waren, und die nicht alle Obst trugen. Sie beachteten weder den silbrigen Glanz in der Krone einer Eiche, noch bemerkten sie den höflichen Gruß einer alten Rosskastanie. Wären sie langsamer gelaufen, hätten sie sie vielleicht bemerkt, oder sogar erkannt. Natürlich nicht so, wie man einen Baum erkennt, den man jeden Tag von seinem eigenen Zimmerfenster aus sieht. Nein, vielmehr wie einen Baum, unter dem man vor vielen Jahren ein Picknick gemacht hatte. Doch Geneva und Basil Deighton hatten es furchtbar eilig. Nicht erst seit dem Ausflug zur Poststelle – sie hatten es schon seit vielen Wochen eilig und nun schienen sie diese Zeit aufholen zu wollen. Sie rannten, obwohl Basil kaum noch Luft bekam, obwohl Geneva ihre Füße kaum noch spüren konnte. Erst der Anbruch der Dunkelheit ließ sie keuchend und taumelnd anhalten.

Sie standen unter einem Pflaumenbaum, dessen Äste entgegenkommend tief hingen, und vor einem Ortsschild mit der Aufschrift COALMOOR. Das Dorf war beinahe so groß wie Duskbourne, doch weder geschäftig noch hell. Es schien mit der Sonne untergegangen zu sein. Kein Licht brannte, weder in den Fenstern, noch in den Straßenlaternen. Kein Mensch war auf der Straße zu sehen.

»Was hältst du davon?« fragte Basil seine Schwester, doch die zuckte bloß mit den Achseln und zog ihre schwarze Wolljacke aus.

»Was soll in so einem Dorf schon groß los sein? Vermutlich sind die meisten Leute schon im Bett,« sagte sie und begann eilig einige Pflaumen vom niedrigsten Ast zu pflücken. Basil half ihr dabei, doch er ließ den Blick nicht von dem Ortsschild ab.

»Ich habe schon einmal von diesem Ort gehört,« sagte er. »Aber ich weiß nicht wo.«

Geneva seufzte. »Es ist wohl kaum vermeidbar, einmal den Namen seines Nachbardorfes zu hören. Auf mich macht es jedenfalls einen äußerst langweiligen Eindruck.«

»Langeweile könnte ich jetzt ganz gut vertragen,« sagte Basil und half Geneva, die Pflaumen in ihre Jacke zu wickeln und die Ärmel zu verknoten. »Gehen wir nun etwas langsamer weiter?«

Geneva nickte und warf den provisorischen Beutel über ihre Schulter. »Es macht keinen Sinn, von hier an zu rennen,« sagte sie. »Wir dürfen bloß nicht trödeln. Wer weiß, wer bereits hinter uns her ist.«

Basil zog ebenfalls seine Jacke aus, obwohl er nichts darin einzuwickeln hatte. Sie wog fast so viel wie seine Schultasche.

»Denkst du,« fragte er und folgte seiner Schwester am Ortsschild vorbei ins Dorf, »Miss Rawgabbity wird die Polizei rufen?«

»Auf keinen Fall. Dann müsste sie zugeben, dass sie nicht richtig auf uns aufgepasst hat.«

In Coalmoor war es noch dunkler und stiller, als davor. Die Gärten waren leer und die Häuser sahen zwar nicht unbewohnt aus, jedoch so, als wären alle Bewohner zur selben Zeit verreist. Die Kinder kamen an einigen Läden, von der hübschen, überflüssigen Sorte vorbei, und an einer weniger hübschen Fabrik, die selbst bei Dunkelheit einen Schatten über die anderen Gebäude zu werfen schien.

»Das könnte es sein,« meinte Basil. »Vermutlich habe ich schon mal von der Fabrik gehört. Aber ich habe leider vergessen, was dort hergestellt wurde.«

»Vielleicht ja Kohle?« schlug Geneva grinsend vor.

»Das würde passen,« sagte Basil und bemühte sich selbst zu einem Grinsen. »Aber es war irgendetwas anderes. Auf jeden Fall war es langweilig. Sonst hätte ich es nicht vergessen.«

Die unangenehme Stille ließ die Hauptstraße von Coalmoor länger wirken, als sie eigentlich war. Es waren nicht einmal Tiere zu sehen oder zu hören. Kein Vogel zwitscherte oder krähte in einem Baum, kein Igel raschelte im Gebüsch. In einer anderen Situation hätte dieser Ort die Neugierde der Kinder geweckt, doch nun wollten sie so schnell wie möglich von dort weg. Basil blieb stehen und griff nach dem Ärmel seiner Schwester, sodass auch sie stehen blieb.

»Was meinst du, wo wir ankommen werden?«

»Das ist nicht wichtig,« sagte Geneva. »Irgendwo werden wir ankommen müssen.«

KAPITEL II

»Vermutlich liegt es an deinem Alter,« sagte Miss Rawgabbity, »und der damit verbundenen Unreife, dass du mir solchen Unsinn erzählst. Das ist ganz normal und ich kann es wirklich gut verstehen, aber im Grunde weißt du doch, dass ich die Wahrheit erfahren muss.«

»Vermutlich liegt es an Ihrem Alter, dass Sie mich nicht verstehen,« sagte der kleine Matt. »Ich weiß nicht, wo sie sind, aber sie könnten – «

»Matthew, fang bitte nicht wieder damit an. Sag mir jetzt, wo sie sind.«

»Miss Rabgowitty – «

»Miss Rawgabbity,« sagte Miss Rawgabbity.

»Wenn ich wüsste, wo sie sind, würde ich es Ihnen sagen.«

»Du würdest mir sagen, wo sie sind?« fragte Miss Rawgabbity und sah Matt ungläubig an.

Ebenso verwundert, und mit weit geöffneten Augen, blickte Matt zu ihr nach oben.

»Nein,« sagte er, »natürlich würde ich das nicht tun. Aber ich würde Ihnen sofort sagen, dass ich es weiß.«

Wann immer Miss Rawgabbity sich über ihn ärgerte, obwohl er überhaupt nichts angestellt hatte, lächelte sie Matt so sanft und liebevoll an, wie sie nur konnte. Das tat sie bei keinem anderen Kind. Matt lächelte überhaupt nicht, was genauso ungewöhnlich war. Stattdessen fragte er: »Kann ich jetzt gehen?«

»Selbstverständlich darfst du gehen. Aber sei doch bitte so lieb und richte Percival aus, dass ich ihm ebenfalls ein paar kleine Fragen stellen möchte.«

Matt nickte brav und ging zur Tür.

»Noch vor dem Abendessen,« fügte Miss Rawgabbity hinzu.

»Wollen Sie ihn vor dem Abendessen sprechen, oder soll ich es ihm vor dem Abendessen sagen?« fragte Matt.

»Ich möchte ihn vor dem Abendessen sprechen.«

»Und wie soll das gehen, wenn ich es ihm erst hinterher sage?«

»Geh jetzt auf der Stelle zu Percival und schick ihn zu mir,« sagte Miss Rawgabbity, noch immer beinahe freundlich.

Matt verließ Miss Rawgabbitys Büro so schnell, und schloss die Tür so leise, wie es ihm möglich war – also sehr schnell und nicht besonders leise. Er konnte kaum einen Raum auf der Welt weniger ausstehen als diesen, und er hatte das Gefühl, ihn viel zu oft betreten zu müssen. Der Rest des düsteren alten Gebäudes war natürlich nicht viel schöner, doch wenigstens waren die meisten Menschen darin um Längen angenehmer als Miss Rawgabbity, und die Möbel nicht so furchtbar albern und hässlich. Das einzig wirklich schöne Zimmer, dachte Matt, ist die Bibliotithek. Der Nachteil ist bloß, dass wir da ja nie rein dürfen.

Tatsächlich durften die Kinder die Bibliothek des Waisen-, Fürsorge- und Ferienheims von Duskbourne durchaus betreten – genau vier mal im Jahr, unter Aufsicht, für ausgewählte Unterrichtsprojekte. Um Strom für Lampen zu sparen, wurde die Bibliothek im ehemaligen Wintergarten errichtet und weil Miss Rawgabbity sie so selten nutzte, ließ sie sie nicht durch ihre furchtbaren Möbel verunstalten. Matt war einer der jüngsten Bewohner des Heims, doch er lebte dort schon länger als die meisten anderen Kinder und kannte die Bibliothek am besten von allen. Er kannte die meisten Bücher, die in den Regalen standen, jedoch nur von außen. Er kannte viele der alten Pflanzen, die mittlerweile verdorrt waren und die Mr Rawgabbity noch immer nicht entfernt hatte. Er kannte sogar das Loch im Glas, durch das er vom Garten aus in die Bibliothek klettern konnte, bis Miss Rawgabbity es abdichten ließ. Val treibt sich da doch andauernd rum, dachte Matt. Bestimmt auch jetzt.

Der Garten bestand hauptsächlich aus Rasen, Pflastersteinen und einigen Blumenbeeten, die für Matts Geschmack viel zu ordentlich und eintönig aussahen. Sie passten nicht zum Haus oder zur umliegenden Landschaft, nicht einmal zu Miss Rawgabbitys ebenso unschönen, jedoch viel auffälligeren Geschmack. Der letzte zum Grundstück gehörende Baum wurde vor fünf Jahren gefällt und abgesehen von einem großen, hohlen Busch, in der Nähe des alten Wintergartens, gab es kaum eine Möglichkeit, sich zu verstecken. Matt mochte den Busch nicht, doch er wusste, dass Val sich oft dorthin zum lesen zurückzog. Matt lief so schnell er konnte durch den Regen über den Hof (er dachte nie daran, sich eine Jacke anzuziehen) und auf den großen Busch zu. Wie erwartet, saß darunter ein schlaksiger Junge mit einem dunkelgrünen Regenschirm, einer schwach leuchtenden Taschenlampe und einem beunruhigend klamm wirkenden Buch. Wie kommt man bloß auf die Idee, bei so einem Regen draußen ein Buch aus Papier zu lesen, dachte Matt. Besonders, wenn man so intelligerent ist, wie Val.

»Miss Rawgabbity will dich ausquetschen,« sagte Matt. »Über die Deightons – noch vor dem Abendessen.«

Val sah ihn verwirrt an. »Ich kenne die Deightons doch kaum. Was sollte ich ihr erzählen können?«

Matt zuckte mit den Schultern und krabbelte zu ihm unter den Regenschirm. »Sie ist eben so. Wo hast du das Buch her? Das sieht aus, als wäre es aus der Bibliotithek.«

»Aus der Bibliothek. Das Buch steht dort tatsächlich, aber das hier ist meine Ausgabe. Bist du sicher, dass Miss Rawgabbity mit mir sprechen wollte?«

Matt atmete tief durch. »Ich bin nicht blöd, und außer dir heißt hier kein Kind Percival. Glaub mir, das hätte ich mir gemerkt. Außerdem hätte die Robgiffity dann ja auch den Nachnamen gesagt, die meisten von euch haben ja einen. Ich soll Percival in ihr Büro schicken und das bist du.«

»Das bin ich, ja. Und die Deightons sind Basil und…dieses eingebildete Mädchen?«

»Geneva ist eigentlich ganz nett. Worum geht es in deinem Buch?« Matt legte den Kopf schief, um den Text besser erkennen zu können, doch für seinen Geschmack waren die Wörter darin zu groß und die Schrift viel zu klein. Es sah nicht gerade wie ein Buch aus, das man aus Spaß liest.

»Es hat keine Handlung,« sagte Val. »Es geht um Glimmingshire. Ich wollte gern mehr über die Gegend erfahren.«

»Und was hast du erfahren?«

»Nichts Interessantes. Das Buch ist furchtbar altmodisch geschrieben, obwohl es erst zwanzig Jahre alt ist. Es geht vor allem um Dinge wie Landwirtschaft, Fischerei und Kommunalpolitik.«

»Das dachte ich mir,« sagte Matt, der das Wort »Kommunalpolitik« noch nie zuvor gehört hatte, jedoch sicher war, dass es nichts wirklich Interessantes bedeuten konnte. »Du musst wirklich mal aus diesem Kasten hier rauskommen und dich mit anderen Leuten unterhalten,« meinte er. »Die können dir viel spannendere Sachen erzählen.«

»Und wie sollte ich das anstellen?« fragte Val und zog eine Augenbraue hoch.

»Du bist höflich und hast gute Noten,« sagte Matt. »Wenn du dich jetzt bei der Riffgaffity ordentlich anstellst, schickt sie dich vielleicht nach Duskbourne, um Besorgungen zu machen.«

»Besorgungen?«

»In der Apotheke, im Schreibwarenladen oder diesem komischen Geschäft mit der Seife. Das durfte ich auch eine Zeit lang, aber ich hab zu oft versucht, abzuhauen.«

Seufzend klappte Val sein Buch zusammen und stand auf. »Was haben die Deightons denn getan?«

»Das einzig Vernünftige,« sagte Matt und stand ebenfalls auf. »Sie haben die Gelegenheit genutzt und sind spurlos verschwunden.«