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»Wenn wir scheitern, wird es kein Licht mehr geben.« »Was bringt dir das Licht, wenn es für niemanden leuchten darf?« Wasser, Wind, Feuer, Erde, Schatten und Licht. Die Clane sind im Clanreich friedlich vereint, bis der Schattenfürst den Hochthron an sich reißt, den Lichtclan vernichtet und das Reich in Schrecken und Dunkelheit stürzt. Nur zwei Lichtträger überleben. Von ihnen hängt das Schicksal des Clanreichs ab. Und so begeben sich Raja und Raven auf eine Reise voller Abenteuer, Gefahren, Freundschaften und Liebe. Wird es ihnen gelingen, den Schatten zu vertreiben und das Licht ins Clanreich zurückzubringen? Band 1 der aufregenden High-Fantasy-Trilogie rund um das Clanreich mit einem eindrucksvollen Worldbuilding, außergewöhnlichen Charakteren und einer Prise Romance
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Seitenzahl: 456
Für
meine Schwester
und
meine Jungs
Das Clanreich
Prolog ~ Im Geheimen Tal ~
1 Etliche Jahre später ~ Im Erdwald ~
2 ~ In der Clanstätte des Erdreichs ~
3 ~ Im Geheimen Tal ~
4 ~ In der Clanstätte des Erdreichs ~
5 ~ Im Palast der Hochstadt ~
6 ~ In der Clanstätte des Erdreichs ~
7 ~ In der Clanstätte des Erdreiches ~
8 ~ Im Lager ~
9 ~ In der Clanstätte des Erdreichs ~
10 ~ Im Wasserreich ~
11 ~ An der Grenze zum Erdreich ~
12 ~ In der Clanstätte des Wasserreichs ~
13 ~ In der Clanstätte des Erdreichs ~
14 ~ In der Clanstätte des Wasserreichs ~
15 ~ In der Clanstätte des Erdreichs ~
16 ~ Auf dem Weg in die Hochstadt ~
17 ~ In der Clanstätte des Wasserreichs ~
18 ~ Vor der Hochstadt ~
19 ~ Im Haus des Pferdehändlers ~
20 ~ In der Clanstätte des Wasserreichs ~
21 ~ Im Erdwald ~
22 ~ In der Hochstadt ~
23 ~ In der Hochstadt ~
24 ~ Beim Pferdehändler ~
25 ~ In der Clanstätte des Wasserreichs ~
26 ~ Im Haus des Pferdehändlers ~
27 ~ In der Clanstätte des Wasserreichs ~
28 ~ Im Haus des Pferdehändlers ~
29 ~ In der Clanstätte des Wasserreichs ~
30 ~ In der Hochstadt ~
31 ~ Im Windreich ~
32 ~ In der Hochstadt ~
33 ~ Vor dem Wolkengebirge ~
34 ~ In der Hochstadt ~
35 ~ Vor der Wolkenstadt ~
36 ~ In der Hochstadt ~
37 ~ In der Wolkenstadt ~
38 ~ Im Hochpalast ~
39 ~ In der Wolkenstadt ~
40 ~ Im Haus des Pferdehändlers ~
41 ~ In der Hochstadt ~
42 ~ Im Haus des Pferdehändlers ~
43 ~ Auf dem Weg in das Feuerreich ~
44 ~ Im Haus des Pferdehändlers ~
45 ~ Im Feuerreich ~
46 ~ In der Hochstadt ~
47 ~ Im Feuerreich ~
48 ~ Auf dem Landgut ~
49 ~ Im Feuerreich ~
50 ~ Auf dem Landgut ~
51 ~ Im Feuerreich ~
52 ~ Auf dem Landgut ~
53 ~ Auf Firehall ~
54 ~ Auf dem Landgut ~
55 ~ Auf Firehall ~
56 ~ In der Nähe des Landgutes ~
57 ~ Im Wald ~
58 ~ In der Nähe des Landgutes ~
Danksagung
Anhang
Die Clane
Personenverzeichnis
Die Dunkelheit der Nacht lag über dem kleinen Dorf, das mitten im Wald versteckt war. Nur das Zittern der Erde, das die Häuser immer wieder kurz rüttelte, hielt die Bewohner wach. Die alte Erdfrau, die an ihrer Feuerstelle saß und ihre Nadel immer wieder unruhig durch den Stoff zwischen ihren Fingern schob, schreckte bei jedem Knacken der Holzscheite auf. Durch das kleine Fenster konnte sie nichts von dem erkennen, was draußen vor sich ging. Die Erde war stark unter ihren Füßen und sie zwang ihre Gedanken, bei ihrer Handarbeit zu bleiben. Mit einem Seufzer schob sie ihre Nadel wieder hin und her. Eine Bewegung hinter dem Vorhang ließ sie erneut aufblicken. Zwei Kinder schauten sie mit ängstlichen Augen an.
Sie lächelte und winkte sie zu sich.
»Kommt her! Ihr braucht keine Angst haben. Könnt ihr auch nicht schlafen?«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich habe die Erde gespürt. Sie bebt.«
Das kleine Mädchen lief zu Hanna und schmiss sich in ihre Arme. Der Junge kam langsam hinterher. Hanna sah die tiefen Falten auf der kleinen Stirn.
»Ihr braucht keine Angst haben. Raikon ist draußen und sieht nach, was die Erde uns sagen möchte.«
»Raikon kann die Erde doch gar nicht verstehen.«
Hanna strich dem Mädchen über die Haare und lächelte es an.
Der Junge blieb am Feuer stehen und sah kurz in die Flammen. »Raja hat immer Angst. Sie ist noch wie ein Baby.«
»Das stimmt nicht. Du bist selbst ein Baby.«
»Na, ihr zwei, seid jetzt lieber still. Gestritten wird hier nicht.«
Hanna zog auch den Jungen zu sich heran. Die beiden Kinder waren mit ihren weißen Haaren so auffällig wie der Mond in einer sternklaren Nacht.
»Kannst du uns eine Geschichte erzählen?« Raja kuschelte sich in Hannas Arme und sah erwartungsvoll zu der Erdfrau hinauf.
»Aber gerne. Welche möchtet ihr denn hören?«
»Erzähl uns die Geschichte von den drei Erdkindern.«
»Die kennen wir schon.« Raven ließ sich neben Hanna auf den Boden sinken und schaute bockig zurück in die Flammen. Sie reichte ihm eine Decke, die er nahm und um sich wickelte.
Raja lehnte sich auf Hannas Schoß und sah sie mit ihren großen Augen an. Zärtlich drückte die Frau das kleine Mädchen an sich und strich dem Jungen durch die Haare. Ihr waren Kinder verwehrt geblieben, was nicht selten bei den Clanen ist, seitdem der Schatten auf dem Hochthron sitzt. Doch das Schicksal hatte ihr die Kinder ihres Bruders geschickt, die für sie wie ihre eigenen waren.
Hanna begann zu erzählen. Raja hing an ihren Lippen und auch Raven lauschte gespannt.
»Das Erdreich hatte drei Fürstenkinder: zwei Jungen und ein Mädchen. Die Jungen konnten die Gefühle und Gedanken der anderen spüren und lenken. Der Jüngere konnte außerdem die Erde zum Zittern bringen. Die Schwester konnte die Kraft der Erde nehmen und mit ihr Zauber erzeugen. Die drei waren miteinander verbunden, wie es Geschwister nur sein konnten, und dass, obwohl sie so verschieden waren. Sie wurden erwachsen und mit der Zeit wurden ihre Gaben immer stärker. Der zweitgeborene Bruder wurde von der Erde zum Erdfürsten gewählt.«
»Das fand der andere bestimmt nicht so gut.« Raven legte etwas bockig seinen Kopf auf seine Knie und Hanna musste sich ein Lächeln verkneifen.
»Sei still! Hanna erzählt die Geschichte.«
»Aber ich weiß doch, wie es weitergeht.«
»Scht. Sonst kann ich nicht weitererzählen. Wo war ich stehen geblieben? Ach ja. Die Welt der Clane begann sich damals zu verändern. Der Schattenfürst säte Misstrauen zwischen den Clanen und spielte sie gegeneinander aus, sodass sie sich voneinander entfernten und der Zusammenhalt im Clanreich zerriss. Die Clane vergaßen, dass sie durch ihre Elemente eine Einheit bildeten und einander brauchten. Die drei Geschwister wollten den Frieden und das Leben mit den Clanen retten und beschlossen daher, in die Hochstadt zu reisen. Dort trafen sie die Familie des Lichtfürsten. Der Lichtclan regierte schon immer die Hochstadt und hielt das Clanreich zusammen. Der junge Erdfürst bemerkte die jüngste Prinzessin des Lichtclans und sie verliebten sich ineinander. Die Lichtprinzessin mit ihrem langen weißen Haar und ihren eisblauen Augen war so schön, dass sie im ganzen Clanreich bewundert wurde. Ganz anders als wir Frauen vom Erdclan mit unseren braunen Augen und den braunen Haaren.«
»Ich mag deine Haare. Sie sind so lustig.«
Hanna lachte auf und drückte Raja an sich, die ihre kleinen Finger durch die braunen Locken zog.
»Der ältere Erdbruder schalt den Jüngeren, denn es war riskant, eine Verbindung mit einem anderen Clan einzugehen, gerade in dieser Zeit. Die anderen Clane wären einer solchen Verbindung gegenüber misstrauisch gewesen. Es hätte zu einem Krieg kommen können. Der Lichtfürst bemerkte die Zuneigung zwischen seiner Tochter und dem jungen Erdfürsten und schickte die Besucher wieder zurück in ihre Heimat. Er wollte seine Tochter nicht an einen Mann aus dem Erdclan verlieren, denn er hatte bereits einen anderen Kandidaten für sie ausgesucht. Doch in der Nacht vor der Abreise des jungen Erdfürsten verbanden sich die beiden Liebenden miteinander und keiner konnte diese Verbindung lösen. Denn wenn ein Paar die Elemente miteinander tauscht, dann kann das nur durch sie selbst oder durch die Elemente wieder aufgelöst werden. Die Erdgeschwister reisten wieder zurück in ihr Reich, wo sie in Streit gerieten. Der ältere Bruder hatte die Liebe zwischen seinem Bruder und der Lichtprinzessin bemerkt und sorgte sich um das Wohl des Erdclans. Der Jüngere beharrte auf der Verbindung, weil sein Herz es nicht anders zuließ. Die Erdschwester versuchte, beide miteinander zu versöhnen, doch sie hörten nicht auf sie und die Einheit der drei Geschwister zerbrach. Der ältere Bruder verließ den Erdclan verärgert, weil der Jüngere nicht auf ihn hören und seinen Bund mit der Lichtprinzessin nicht lösen wollte. Er kam nie wieder zurück. Die anderen beiden waren deshalb so verzweifelt, dass die Erde mit ihnen trauerte.«
Hanna blickte betrübt in die Flammen. Ihr älterer Bruder war nie zum Erdclan zurückgekehrt. All die Jahre war kein Zeichen von ihm zu finden gewesen und sie hatte ihre Hoffnung aufgegeben, dass er jemals wieder zurückkommen würde.
»Die Lichtprinzessin floh aus der Hochstadt, weil sie die Verbindung, die ihr Vater für sie wollte, nicht eingehen konnte. Sie war schon gebunden. Als sie im Erdreich ankam, war der Erdfürst überglücklich und sie lebten fortan zusammen im Erdreich. Doch ihr Glück war nicht von Dauer, denn der Schatten fiel in das Clanreich ein und führte Krieg gegen die Clane, erst mit dem Feuerreich und dann mit dem Windreich. Der Erdfürst und seine Schwester hatten Angst um ihre Familien und den Clan und so beschlossen sie, ihr Volk und seine Gabenträger zu schützen. Die beiden Geschwister ritten auf den schnellsten Pferden, die sie hatten, in den Erdwald, der damals noch wilder und gefährlicher war als heute.«
»Meinst du, es gab hier auch Schatten?« Raja klammerte sich ängstlich an Hanna, die sie aber wieder schnell wieder beruhigte: »Nein, damals nicht.«
»Nur heute. Deswegen darfst du auch nicht allein in den Wald. Du bist noch zu klein.« Raven stieß seine Schwester an und Raja jaulte empört auf.
»Ich bin gar nicht mehr klein. Ich kann schon allein Licht machen.«
»Nun wird aber nicht gezankt. Ich soll euch doch die Geschichte erzählen.«
Die beiden Kinder grummelten sich noch kurz an und wandten dann ihre Aufmerksamkeit wieder Hanna zu.
»Der Erdfürst und seine Schwester fanden ein Tal mitten in dem Wald und dort baten sie die Erde um Schutz. Die Erde half ihnen und zusammen mit ihrem Element konnten die beiden den stärksten Schutzzauber heraufbeschwören, den es im Clanreich je gab. Kein Schatten und nichts Schlechtes kann diesen Zauber durchdringen. Fortan war die Schwester die Herrin des Geheimen Tals und ihr Bruder herrschte über den Clan in der großen Halle des Erdclans. Der Schattenfürst vernichtete den Lichtclan, ließ niemanden von ihnen am Leben und bestieg den Hochthron. Er drohte den anderen Clanen, dass sie sich ihm als neuen Hochkönig - als Schattenkönig - unterwerfen sollten. Daraufhin schickten der Erdfürst und die Lichtprinzessin ihre Kinder in das Geheime Tal, denn dort waren sie sicher.«
»Wohnen wir nur wegen dem Schatten hier?«
»Ja, Raven. Das ist der Grund, warum wir hier leben und nicht in der großen Halle der Clanstätte. Es ist dort nicht so sicher für euch wie hier bei mir im Geheimen Tal.«
Raven blickte schweigend auf seine Hände. Hanna wusste, dass der Junge lieber bei seinem Vater leben würde. Hanna versuchte, Raven aus seinen Gedanken zu holen, und kitzelte erst Raja und dann ihn, bis das Kinderlachen durch das Haus schallte.
Dann blickte Raja Hanna ernst an. »Du hast damals Raikon bekommen, richtig?«
Hanna lachte auf, verstummte aber, als ein erneutes Beben die Erde unter ihren Füßen zittern ließ. Die Kinder drückten sich an sie und schauten sie verängstigt an. Das Beben war stärker als das erste gewesen. Hanna versuchte, sich ihre Sorgen nicht anmerken zu lassen, aber ihr unruhiger Blick wanderte wie von selbst wieder zur Tür. Raikon müsste bald zurück sein.
»Ich habe damals Raikon als Mann bekommen. Wir waren uns in der Hochstadt nicht begegnet, sonst hätten wir vielleicht auch dort schon unsere Verbindung bemerkt. Er begleitete damals die Lichtprinzessin zum Erdclan.«
»Warum hast du keine Kinder?«
Hannas Blick wurde kurz leer. Dann schüttelte sie die Gedanken ab und sah wieder in die Kinderaugen, die sie aufmerksam musterten.
»Es sollte nicht sein, dass es noch mehr von euch frechen Lichtkindern im Erdclan gibt.«
Hanna kniff die Kinder sachte in die Nasen und sie lachten wieder. Hanna hatte Kinder – auch wenn sie sie nicht geboren hatte. Raja und Raven waren häufiger im Geheimen Tal bei ihrer Tante als bei ihrem Vater in der Clanstätte.
Die Tür wurde aufgestoßen und Raikon betrat das kleine Haus. Sein Blick wanderte zu den Kindern und seine Züge wurden weicher. Raven stürzte auf Raikon zu und schlang seine Arme um ihn. Raikon hob den Jungen kurz hoch und nahm ihn an die Hand, als er ihn wieder auf den Boden setzte.
»Solltet ihr nicht schlafen?«
»Die Erde ist wütend. Ich kann es spüren.«
Raikon blickte zu Raja, deren große Augen ihn ernst ansahen.
»Das stimmt. Aber es ist alles in Ordnung. Wir sind hier sicher und jetzt ab ins Bett mit euch! Sonst muss ich euch noch schnappen und in den Fluss werfen!«
Raikon wollte die beiden Kinder fangen, doch sie liefen lachend hinter den Vorhang und versteckten sich unter ihren Decken. Hanna ging langsam hinterher und spähte vorsichtig hinter den Vorhang. Die Kinder lagen eng aneinandergekuschelt und erzählten sich leise die Geschichte weiter. Hanna drehte sich mit einem Lächeln auf den Lippen um und ging zu ihrem Mann. Raikon schloss sie in die Arme und seufzte tief auf.
»Es ist eine Suche. Der Schattenkönig hat wieder den Gabensucher geschickt. Halkan legt das Clanland um die Hochebene noch in Schutt und Asche, wenn das so weitergeht. Der Hochkönig ist unersättlich. Die Gabenträger müssen hier Zuflucht finden können. Vielleicht solltest du mit Halkan reden. Die Clanstätte ist so nicht mehr zu halten. Der Erdclan sollte sich hierher zurückziehen.«
»Das wird Halkan niemals zulassen. Die Clanstätte ist unsere Heimat. Die Hochebene und die Pferde bedeuten dem Clan zu viel. Halkan wird dort niemals weggehen und Rafka allein lassen.«
»Der Hochkönig wird immer brutaler zuschlagen. Wenn Halkan nicht einsichtig wird und sich mit dem verbliebenen Erdclan hierher zurückzieht, wird er bald wieder mit seiner Frau in der Erde neben der Clanstätte vereint sein.«
Hanna legte ihren Kopf auf Raikons Brust. Der Erdclan hatte schon viele Gabensuchen überstehen müssen und es würden noch mehr kommen. Sie schloss ihre Augen und eine Träne fand den Weg über ihre Wange.
»Du kannst es nicht ändern und du brauchst dich nicht schuldig fühlen.«
»Ich weiß. Es kommt mir aber trotzdem so falsch vor. Wir hätten es verhindern müssen. Nun leben wir für immer hier, versteckt vor den anderen Clanen.«
»Ist ein Leben hier mit mir so furchtbar?«
»Du weißt, was ich meine.« Hanna sah ihn verärgert an. Raikon wusste es natürlich.
Als der Schatten das Licht verdrängte und auslöschte, waren alle Lichtträger verloren – bis auf Rafka und Raikon, die nicht in der Hochstadt lebten. Sie hätten hier in Frieden und versteckt leben können, doch der Schattenkönig hörte Gerüchte über die Lichtprinzessin, die die Hochstadt für die Erde verlassen hatte. Sein Schatten traf den Erdclan mit voller Härte. Rafka, die unglücklicherweise bei Halkan in der Clanstätte war, fiel und wurde vom Schatten verschlungen. Halkan konnte es nicht verhindern. Die beiden Lichtkinder waren bei Hanna und Raikon im Geheimen Tal. Halkan löschte mithilfe seiner Gabe die Kinder aus den Erinnerungen des Erdclans, wodurch sie unentdeckt blieben. Für den Erdclan waren die beiden nun die Kinder von Raikon und Hanna und nur wenige kannten ihre wahre Identität.
An dem Tag, als der Schatten das Licht des Erdclans nahm, entstanden viele neue Erdgräber neben der Clanstätte. Die Blumen der Hochebene wuchsen auf den Hügeln. Auf einem dieser Hügel wuchsen ausschließlich weiße Blumen. Und so ist es auch heute noch.
Das Licht fiel schräg zwischen den dichten Bäumen des Waldes hindurch. Auf dem Waldboden war es leise. Die Erde und die Moose verschluckten meine Schritte. Ich setzte meine Füße mit Bedacht und glitt zwischen den Bäumen hindurch. Hohes Gras bog sich leicht an meinen Beinen zur Seite. Der Pfeil lag schon auf der Sehne meines Bogens. Mein Atem war flach und ruhig. Weder das Rauschen der Blätter noch das Singen der Vögel hoch über mir in den Baumkronen war zu hören. Es war hier eindeutig zu friedlich. Ich lehnte mich an einem der mächtigen Bäume an und schloss die Augen.
Raikon hatte es zwar verboten, aber ich ließ meinen Geist die Umgebung abtasten. Ich spürte alles um mich herum: jedes Tier, jede Bewegung und jedes Gefühl. Die Blätter des Baumes, der sich an meinen Rücken zu schmiegen schien, zitterten. Der Herzschlag der Erde, auf den sich mein eigenes Herz eingestimmt hatte, setzte kurz aus, um dann wieder kräftiger zu pochen. Das Licht brach durch die Blätter der Baumkronen hindurch und streichelte mir über die Wange. Die Wärme ließ mich kurz vergessen, weswegen ich hier war. Ich riss die Augen auf. Da war es.
Du schummelst.
Ich fuhr herum und setzte meinen Bogen an, aber es war zu spät und mir blieb nur der Sprung zur Seite. Der Aufschlag, mit dem ich mich über meine Schulter abrollte, war nicht hart und doch verdient. Flink sprang ich wieder auf meine Beine und sah, wie ein dicker Speer gegen die Stelle am Baum schlug, an der ich gerade noch gestanden hatte. Meinen Pfeil schoss ich blind auf mein Ziel. Das Zischen erreichte es jedoch nicht und der Pfeil schlug mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden auf.
Aus der Richtung, in den ich ihn abgeschossen hatte, kam ein Blitz auf mich zugerast. Ich riss meine Hände hoch, zwischen ihnen entstand eine Lichtkugel. Der Blitz schlug in meine Kugel ein und sein wütendes Zucken kribbelte auf meinen Handflächen, während er sich in der Kugel entlud und erlosch. Ich ließ meine Hände sinken und die Lichtkugel verschwand ebenfalls.
»Ohne Blitze! Vergisst du deine eigenen Regeln?« Wut spannte sich über meinen Körper wie ein weites Segel.
Raven kam lachend hinter dem Dickicht hervor. Gelassen schlenderte er zu dem Baum hinüber und hob seinen Speer auf. »Wer hat denn zuerst geschummelt? Gibt es nicht auch die Regel, dass du deine Gabe nicht einsetzt?«
Ich boxte Raven in die Seite. Er war fast zwei Köpfe größer als ich. Seine schlanke Statur ließ nicht vermuten, wie kräftig er war. Seine kurzen weißen Haare standen in alle Richtungen ab und ließen ihn jünger aussehen, als er war. Raven legte seinen Arm um mich und seine braunen Augen blitzten auf. Ich versuchte, ihn wegzudrücken, doch sein Griff war zu stark und er zog mich dicht an sich heran. Sein Blick bohrte sich tief in meinen und ich spürte, wie er meinen Geist lockte und neckte.
»Irgendwann, Schwesterchen, wirst du mich besiegen. Aber der Tag ist noch nicht heute.«
Als er mich plötzlich losließ, landete ich auf dem Waldboden. Er hob die Finger an die Lippen und stieß einen lauten Pfiff aus. Ich hatte mich gerade aufgerappelt, da hielten zwischen den Bäumen zwei Pferde auf uns zu. Die beiden Hengste bremsten nicht ab und Erdbrocken und Steine wurden von ihren Hufen zur Seite geschleudert. Die unbändige Kraft, die sie in sich trugen, sprang durch meinen Körper und die Wut, die ich gerade noch wegen Raven verspürt hatte, verschwand.
Der große weiße Hengst, Sky, hielt vor Raven an und er schwang sich lässig auf seinen Rücken. Der kleinere bremste kurz vor mir ab und wirbelte seine Mähne wild um seinen kräftigen Hals. Sein Fell glänzte in den Sonnenstrahlen wie flüssiges Gold und seine Mähne sah aus wie meine eigenen Haare. Schneeweiß. Shiver. Mein Herz wurde warm, als ich meine Hand über sein Fell gleiten ließ.
»Wenn die Herrschaften so weit wären, dann würde ich gerne Raikon berichten, dass ich dich schon wieder besiegt habe.«
Schnell sprang ich an der Seite von Shiver hoch und zog mich auf seinen Rücken. »Hast du gar nicht. Du hast nicht bis zum Ende gekämpft.«
»Das muss ich auch gar nicht, denn ich bin eh schneller.«
Sky sprengte los und ich ließ Shiver hinterherspringen. Zwischen den Bäumen konnte ich mit ihm schneller vorankommen als Raven auf seinem Pferd. Die Zweige der Bäume griffen immer wieder nach uns, als wollten sie uns ermahnen, mehr Ehrfurcht vor dem Wald zu haben. Doch die Erde unter uns schlug einen schnelleren Takt an und ergab mit dem Trommeln der Pferdehufe einen neuen Rhythmus. Ich sah Raven, wie er mir von seinem Pferd aus frech zu grinste, und ich wusste, dass er auf meinem Gesicht die gleiche Freude sah, die ich bei ihm wahrnahm. Er spornte Sky an, schneller zu werden, doch so sehr sich der Hengst auch bemühte, Shiver war wendiger und konnte locker mit den großen Galoppsprüngen mithalten, die der andere Hengst vorgab. Die beiden Pferde sprangen zeitgleich aus dem Wald und galoppierten in das große grüne Tal, das sich vor uns erstreckte. Wie eine offene Insel in einem Meer aus undurchdringbaren Bäumen. Das Geheime Tal. Unser Zuhause. Das Tal wurde durch die Sonne angestrahlt und das Licht tanzte auf dem Fluss, der sich gemächlich durch das Tal zog und aussah wie eine funkelnde Kette, die sich um die Häuser, Scheunen und die große Halle der Siedlung legte. Raven ließ sein Pferd langsamer werden und hielt an. Shiver wollte nicht anhalten und ich musste erst seinen Geist berühren, damit er ruhiger wurde und ich ihn wieder zu Raven lenken konnte. Unwillig schlug der kleine Hengst mit dem Kopf und seine Mähne wirbelte vor meinem Gesicht.
»Was hast du?«, fragte ich Raven.
»Im Dorf ist etwas anders als sonst.«
Ravens Erdgabe war nicht so stark ausgeprägt wie meine. Dafür war sein Licht bisher stärker gewesen. Meines wurde von Tag zu Tag kräftiger, sodass Raikon mir langsam nichts mehr beibringen konnte.
Mein Geist flog bei Ravens Worten schon auf das Dorf in der Talmitte zu. Er folgte dem kleinen Flusslauf, der das Tal teilte, und tastete sich zwischen den Häusern entlang. Ich spürte die vertrauten Geister der Erdmenschen, die mit uns hier wohnten. Als mein Geist den von Raikon ertastete, rief ich ihn in eine andere Richtung. Raikon war nicht erfreut darüber, wenn ich meinen Geist für Kindereien nutzte, denn obwohl er kein Erdmann war, hatte er über die Jahre ein Gespür dafür entwickelt, wenn ein anderer Geist sich an seinen legte. Mein Geist glitt weiter, unbemerkt für alle, die er berührte. Und da war die Veränderung. So vertraut, dass mir das Herz aufging.
Ich strahlte Raven an und trieb Shiver schnell an. Der kleine Hengst hatte nur darauf gewartet und stürmte dem Dorf entgegen. Raven folgte mir, doch Sky konnte uns nicht mehr einholen.
Am Dorfrand sprang ich von Shivers Rücken und rannte zwischen den Häusern entlang. Hanna hatte mir das Reiten im Dorf verboten. Ich wäre zu stürmisch für eine Erdfrau. Und was Hanna, die Herrin des Geheimen Tals, befahl, war Gesetz. Es sei denn, ich fand eine mir passendere Auslegung ihrer Gebote.
Vor mir stand eine Gruppe Erdmenschen. Ich lief auf sie zu und winkte wild. Aus der Gruppe löste sich eine junge Erdfrau. Halla. Sie lief mir entgegen. Wir fielen uns in die Arme und lachten herzlich. Sie war die Schwester für mich, die ich nicht hatte. Ich hatte nur Raven – einen Bruder, der zu viel auf mich aufpasste und immer recht hatte. Viel zu selten konnte ich mit Halla Zeit verbringen. Sie hatte Aufgaben, die sie an die Clanstätte banden und an denen ich nicht unschuldig war.
Jedes Element erwählte seinen Fürsten aufgrund der Gaben. Wir Clanmenschen waren der Entscheidung unserer Elemente ausgeliefert. Ich berührte meine linke Schläfe. Auch ich war erwählt. An meiner linken Schläfe schlummerte das Zeichen des Erdclanfürsten. Eine Aufgabe, die ich nicht haben wollte. Das Erdelement hätte Halla wählen sollen. Raven war nicht vom Erdelement gewählt worden, er gehörte auf den Hochthron. Zumindest war das laut Raikon seine Bestimmung.
»Was macht ihr hier?« Meine Stimme war abgehackt und ich schnappte mehr nach Luft, als ich wollte. Eigentlich wusste ich die Antwort schon. Es konnte nur etwas sehr Gutes verheißen, wenn Halla hier war. Oder etwas sehr Schlechtes. Mein Blick glitt über ihre Begleiter. Es waren Gabenträger. Meine Freude verschwand und Hallas Blick bestätigte mir meine Befürchtung.
»Es wurden wieder Schattenkrieger an der Erdreichgrenze gesehen. Halkan hat befohlen, dass alle Gabenträger sich ins Geheime Tal begeben, sollen.«
Die Schattenkrieger waren wieder an unserer Grenze. Es kam immer wieder vor, dass der Hochkönig eine neue Gabensuche anordnete. Seine Schattenkrieger begleiteten den Gabensucher, der die Clane heimsuchte und passende Gabenträger für den Hochkönig in die Hochstadt verschleppen ließ. Ärger stieg in mir auf. Der Hochkönig hasste den Erdclan, meinen Clan, und Halkan, den Erdfürsten. Für die Vergangenheit und dafür, wer Ravens und meine Mutter war. Es würde keine Gabenträger mehr im Erdclan geben, wenn Halkan nicht so viele davon in das Geheime Tal verbannt hätte.
Mein Blick glitt zu Raven, der hinter mir auf uns zukam. Ihm fiel es besonders schwer, hier in der Verbannung fernab von der Clanstätte zu leben. Er würde lieber an Vaters Seite stehen, aber das war zu unsicher. Nicht jedes Mal gelang es dem Erdclan, dem Gabensucher voraus zu sein und die Gabenträger in Sicherheit zu bringen.
»Aber du brauchst dir keine Sorgen machen. Dein Lieblingsgabenträger ist bei dir und beschützt dich.« Kräftige Hände umfassten mich und hoben mich hoch.
Ich musste lachen und versuchte, mich aus dem festen Griff von Haldriel zu befreien. »Lass mich runter!«
Der große Erdkrieger, der mich so mühelos auf den Arm genommen hatte, lachte mich aus braunen Augen frech an. »Auf keinen Fall. Nicht, bevor du mich küsst.«
»Das wirst du nicht erleben.« Ich wand mich in seinen Armen, doch die waren viel zu stark, als dass ich hätte entkommen können.
»Hey, musst du dich an kleinen Kindern vergreifen?«
Ravens Stimme donnerte über die Straße und Haldriel ließ mich fallen. Ich landete geschickt auf meinen Füßen und sah, wie die beiden Männer sich herzlich auf die Rücken schlugen.
An kleinen Kindern? Ich war wütend. So viel jünger als die anderen war ich nicht. Zur Wintersonnenwende würde ich meine Clanzeichen erhalten. Mit meinen zweiundzwanzig Sommern war ich kein kleines Kind mehr. Und doch waren die anderen vier Sommer älter als ich – ich war die Jüngste.
Halla stieß mich an. »Lass dich nicht ärgern.«
Dann ging sie zu Raven und boxte ihn hart in die Seite. Ihren Tadel hörte ich nicht. Halla ließ ihre braunen Locken hüpfen und Haldriel baute sich neben ihr auf. Raven sah zwischen den beiden nicht aus wie ein Erdmann. Seine Statur und seine Haare verrieten das Erbe unserer Mutter. Seine Augen hatten die gleiche kräftige braune Farbe wie die der anderen vom Erdclan. Bei mir war es anders. Unsere Lichtclanmutter hatte meine Augen aufgehellt. Wie flüssiger Honig leuchteten sie ganz anders. Meine weißen Haare taten ihr übriges. Leider konnten Raven und ich uns nicht an unsere Mutter erinnern.
»Hast du zugehört?«
Ich blinzelte. Vor mir stand Halla und sah mich fragend an.
»Kommst du mit? Wir wollen zu Hanna. Sie erwartet unseren Besuch sicherlich schon.«
Ich nickte schnell und vertrieb meine Gedanken. Als ich mich zum Gehen umwandte, bemerkte ich Raven, der mich nachdenklich musterte. Vor ihm konnte ich meinen Geist nur schwer verschließen. Unsere Gaben waren zu ähnlich. Meine Erdgabe war bisher stärker in mir. Raven konnte sich gut in andere Menschen hineinversetzen und sie motivieren, Dinge für ihn zu tun. Er konnte den ganzen Erdclan mit wenigen Worten dazu bringen, Großartiges zu erschaffen, während ich dafür nur meinen Geist aussenden brauchte und die Menschen machen ließ, was ich wollte. Ich konnte ihre Gedanken lesen, lenken und ihre Gefühle beeinflussen – immer wenn ich das wollte.
Halkan stand vor seiner Halle und blickte auf den Zug aus Pferden und Schattenkriegern hinab, der auf die große Halle zumarschierte. Die verbliebenen Erdkrieger und Erdmenschen, die sich um ihn versammelt hatten, blickten unsicher und ängstlich.
Halkan baute sich größer auf und spürte, wie auch sein Clanvolk an Stärke zurückgewann. Die Erinnerungen an die Gabenträger des Erdclans hatte er schon verschlossen. Eltern erinnerten sich während der Anwesenheit des Gabensuchers und der Schattenkrieger nicht an ihre Kinder. Brüder und Schwestern wussten nichts mehr von ihren begabten Geschwistern.
Der Gabensucher ritt mit seiner Begleitung zwischen den Häusern der Clanstätte hindurch. Halkan sah, wie er seinen Kopf unter seiner Kapuze ruckartig hin und her wandte und seine Nase immer wieder in die Luft streckte.
»Halkan, Clanfürst. Wie ich sehe, erwartet Ihr uns schon. Unser Kommen scheint Euch nicht zu überraschen.« Der Gabensucher lenkte sein Pferd vor den Clanfürsten und blickte auf den großen Mann herab. Anstatt seiner Augen waren nur vernähte Augenhöhlen zu sehen. Das fahle Gesicht des Gabensuchers war eingefallen und seine Knochen zeichneten sich unter der weißen Haut deutlich ab. Mit dürren Händen deutete er auf Halkan und seine Stimme hallte laut über die Clanstätte. »Ich komme im Auftrag des Hochkönigs. Es wird befohlen, dass Ihr Euren Tribut an Gabenträgern an die Hochstadt entsendet.«
»Das ist kein Tribut. Ihr verschleppt die Gabenträger meines Volkes. Kein Hochkönig kann so etwas fordern.« Die Stimme von Halkan polterte über die Clanstätte und die Erdkrieger griffen zu ihren Waffen.
»Ihr solltet Eure Krieger zurückhalten. Ich müsste sonst annehmen, dass Ihr Euch gegen den Hochkönig auflehnt.«
Halkan sah am Gabensucher vorbei und sein Blick bohrte sich in die Augen eines Kriegers. Kein Schattenkrieger, sondern ein Clankrieger, der dem Hochkönig seine Loyalität geschworen hatte. Der General des Hochkönigs.
Halkans Wut brodelte auf. Ein Clanverräter. Ein Diener des Mörders seiner Seelenpartnerin. Die Erde unter seinen Füßen begann leicht zu zittern. Die Pferde der Schattenkrieger wurden unruhig und auch das Pferd des Gabensuchers tänzelte auf der Stelle.
Der bleckte seine kaputten Zähne und lachte spöttisch auf. »Ihr könnt froh sein, dass ich keine Clanfürsten als Tribut fordern darf. Nicht mehr. Ihr wärt mir sehr willkommen. Eure Gaben sind stark.«
Der General lenkte seinen schwarzen Hengst zwischen den Gabensucher und Halkan. Sein Blick durchbohrte Halkan.
»Konntet Ihr Gabenträger aufspüren?«, fragte der General, ohne Halkan aus den Augen zu lassen.
»Ich rieche hier nichts.«
»Dann ist der Erdclan wohl abgeerntet. Die Erde scheint sich von diesem Clan abzuwenden.« Der General ließ seinen Blick über den Erdclan gleiten. Seine Augen wurden kalt und sein Blick bohrte sich wieder in die Augen des Erdfürsten. »Nehmt die Halbwüchsigen mit. Es wird sich in den nächsten Monaten zeigen, ob sie Gabenträger werden.«
Halkan öffnete seinen Mund, doch es drang kein Wort aus seiner Kehle. Die Schattenkrieger griffen nach den halbwüchsigen Kindern. Ihre Schatten verschleierten alles und jeden, der sich ihnen in den Weg stellen wollte. Halkan krachte auf seine Knie, doch der Boden unter ihm blieb stumm.
»Wir kehren wieder um.« Der General ließ seinen Hengst dicht vor Halkan wenden und drängte den Gabensucher vor sich her.
Der Erdfürst sah ihnen mit zusammengekniffenen Augen nach und keuchte auf, als die Luft wieder in seine Lungen schoss.
Einer der Schattenkrieger aus dem Trupp hielt mit seinem Pferd vor dem auf dem Boden knienden Clanfürsten und musterte ihn eingehend. Der General wandte sich um. Als er einen Befehl brüllte, ließ der Schattenkrieger den Clanfürsten im Schatten versinken und setzte mit seinem Pferd dem General nach.
Halkan durchbrach hustend den Schatten und die Erde um die Clanstätte zitterte. Die Schatten um den Erdclan lösten sich auf. Die Halbwüchsigen waren verschwunden. Halkan hörte das Wehklagen, das sich über die Erdclanstätte ausbreitete, und ließ den Kopf sinken. Er hätte auch die Kinder ins Geheime Tal schicken sollen. Alle. Nun war es zu spät.
Er öffnete seine Hand und blickte auf den kleinen Brief. Ein schwarzer Vogel war darauf zu sehen. Ein Nachtfalke.
Die Halle im Geheimen Tal war gut gefüllt und die geflohenen Gabenträger des Erdclans saßen dicht beieinander. Das Feuer in der Mitte der Halle brannte und Funken stiegen an die Decke. Haldriel spielte Musik und Hanna sang dazu ein altes Lied.
Neben mir saß Halla, die ihren Blick durch die Halle schweifen ließ. Ich wusste, dass sie immer noch darauf wartete, ihren Seelenpartner zu finden. Sie hatte mich schon mehrmals gefragt, ob ich ihn für sie aufspüren könnte, aber dafür war meine Gabe nicht gemacht. Halla hatte mir ihr Versprechen gegeben, den Erdclan zu führen, wenn mir die Aufgabe zu früh zufallen würde. Wir hatten die Erde um ihre Zustimmung gebeten und sie wurde uns erteilt – ein Aufschub für mich und zugleich eine Bürde für Halla. Sie war in meinen Augen die geborene Clanfürstin, doch eigentlich wollte sie nur in Ruhe und Frieden im Erdreich leben. Das Erdelement hatte ihr aber eine sehr starke Gabe zugesprochen: Sie konnte den Erdboden spalten. In ihrer Kindheit hatte sie damit für viel Schaden gesorgt. Mittlerweile war sie diejenige, die die Erde für die Aussaat vorbereitete. Haldriels Gabe war da etwas plumper veranlagt: Er bewegte das Erdreich in größerem Ausmaß als seine Schwester. Mit seiner Stimme und seiner Musik konnte er auch andere bewegen. Die Frauen des Erdclans liebten seine Musik und ich war mir sicher, dass er noch vor Halla seine Partnerin finden würde.
»Soll ich dir was verraten? Halkan wird dich und Raven zur Clanstätte rufen, wenn der Gabensucher abgezogen ist. Ein neuer Pferdehändler aus der Hochstadt möchte mit uns Handel betreiben. Die Herde wird zusammengetrieben und Halkan will, dass wir Pferde aussuchen, die verkauft werden sollen. Du darfst raten, wer dabei helfen soll, sie zu reiten.«
Ich grinste sie an. »Raven sicherlich nicht.«
»Nein. Aber er soll trotzdem mitkommen. Die anderen Clane werden unruhig. Die Gabensuchen werden häufiger. Es gibt Gerüchte, dass der Hochkönig die Clane ausschöpfen will, um sie zu schwächen.«
Die Gerüchte kannte ich. Es wurde auch behauptet, dass noch irgendwo Lichtkrieger waren, die nur auf die Rückkehr eines Lichtkönigs warteten. Raven mochte dieses Gerücht. Er hasste die Vorstellung, dass wir die Letzten des Lichts waren.
»Woher weißt du das? Kamen Boten von den anderen Clanen?«
»Nein, aber unsere Erdkrieger haben vermehrt Krieger vom Wasser- und Feuerclan an den Grenzen zum Erdreich gesichtet. Sie waren alle bewaffnet.«
»Bei dem Feuerclan ist das doch nichts Neues. Wann kommt der Händler zur Clanstätte?«
»Noch vor der Erntezeit. Genaues hat Halkan nicht berichtet.«
Halla war mit ihren Gedanken schon wieder bei den anderen in der Halle. Meine kreisten um die Herde unserer Erdpferde. Der ganze Stolz unseres Clans. Die Erdpferde waren schnell und ausdauernd. Sie konnten ihre Reiter über lange Strecken tragen, ohne zu ermüden. Ich kannte die Pferde der anderen Clane. Die Windpferde waren fein und schnell, aber lange Strecken legten sie lieber langsamer zurück. Dafür waren sie auf kurzer Strecke fast nicht zu schlagen und sehr trittsicher auf unwegsamem Gelände. Die Wasserpferde waren auch trittsicher und kamen mit schlechten und nassen Bodenverhältnissen klar. Sie waren dazu noch sehr groß und hochbeinig. Die Feuerpferde waren die schnellsten. Auf kurzen Strecken kamen nur die Windpferde an die Feuerpferde heran. Aber die Feuerpferde waren auch wie ihr Element – feurig. Nicht jeder Reiter kam mit ihnen klar. Von den Schattenpferden wusste ich nicht viel, genauso wie von den Lichtpferden. Halkan hatte oft bedauert, dass er keine Lichtpferde gekauft hatte. Der Schattenkönig hatte vermutlich mit dem Lichtclan auch die Lichtpferde vernichtet. Ich hatte bisher jedenfalls keins gesehen oder auch nur davon gehört.
»So wie du aussiehst, denkst du wieder zu viel nach.«
Raikon riss mich aus meinen Gedanken und ich nickte nur.
»Dann hat Halla schon verraten, dass wir morgen zur Clanstätte aufbrechen werden?«
»Morgen schon? Ist das nicht zu früh? Was ist, wenn der Gabensucher uns entdeckt?«
»Halkan vermutet, dass eine erneute Gabensuche erst wieder zum Winter erfolgen wird. Der Gabensucher ist sicherlich schon auf dem Weg zu einem der anderen Clane. Er kommt nicht gerne mit leeren Händen zurück zu seinem Herrn. Wir sollten also vorerst in Sicherheit sein. Außerdem kann ich mir vorstellen, dass es dir wichtig ist, bei der Auswahl der Pferde dabei zu sein und mitzuentscheiden, welche verkauft werden sollen. Es wird ein neuer Pferdehändler aus der Hochstadt kommen. Nux musste sein Geschäft wohl aufgeben. Der Kurier, der die Anfrage überbrachte, wusste nichts Genaues.«
»Das hat Halla schon berichtet. Ist etwas über den neuen Händler bekannt?«
Raikon schüttelte den Kopf.
Mir gefiel die Vorstellung nicht, die Erdpferde an einen Fremden zu geben. Aber der Clan brauchte das Geld, denn der Hochkönig forderte nicht nur Gabenträger. Der Erdclan erbrachte viele Abgaben nach der Ernte, um die Versorgung der Hochstadt mitzutragen. Ich hatte kein gutes Gefühl.
Die Clanstätte lag auf der Hochebene des Erdreichs. Die große Halle, die auf einer Erhebung stand, war schon von Weitem zu sehen. Die Häuser und Scheunen der Erdstätte umringten die große Halle, und die breite Straße, die sich durch die Stätte zog, erschien aus der Entfernung wie ein Fluss. Die Banner des Erdreichs wehten im Wind. Ich liebte den Anblick des grünen Baumes auf dem braunen Untergrund umrahmt von goldenen Blättern. Der Erdclan war nicht umsonst stolz auf seine Stätte. Die Weite der Ebene rahmte die Halle mit einem leuchtenden Grün ein. Grün und Braun vereinten sich hier – die Clanfarben der Erde. Die Wiesen waren bereit zur Ernte und die Felder, die sich an die Clanstätte schlossen, standen voller Getreide und Gemüse. Hunger gab es im Erdreich nicht. Die Erde war unser Element und würde uns nie im Stich lassen.
Raven und Raikon ritten vor mir. Wären die anderen Gabenträger nicht dabei, würde uns niemand für Erdclanmitglieder halten. Wir ritten bis an den Rand der Clanstätte und saßen ab. Hier lagen die weiten Pferche, in denen die Reitpferde untergebracht waren. Raven und Raikon überließen es Halla und mir, ihre Pferde zu versorgen und wegzustellen. Eine kleine Herde war immer in den Pferchen zu finden. Ich sah zu, wie Shiver als heller Punkt zwischen den dunklen Erdpferden lief. Die Pferde waren unruhig. Sie spürten, dass die große Herde nicht mehr fern war. Ich ließ meine Gabe in den Erdboden sinken und spürte auch über die Entfernung hinweg schon ihre Hufschläge, die sich der Erdstätte näherten. Wir waren nicht zu spät gekommen.
Halla sah mich kurz an und lachte dann auf. Sie war genauso aufgeregt wie ich. Die große Herde zu sehen, war für uns immer ein Ereignis. Der Erdclan würde sich an der Halle versammeln. Es war Tradition, dass die Erdkrieger die Herde zur Stätte trieben und sie durch die Erdstätte laufen ließen. Die Herde würde die große Halle umspülen wie Wasser einen Felsen.
Haldriel kam auf uns zugeritten. »Ihr solltet euch beeilen. Die Pferde haben die Hochebene gleich erreicht.«
Er sprang neben uns vom Pferd und ließ es zwischen die anderen Pferde im Pferch laufen. Halla und ich warteten auf ihn. Als er die Holzstangen des Tores verschlossen hatte, liefen wir zusammen zur großen Halle. Halkan stand auf der obersten Treppenstufe und blickte starr über sein Volk, das auf die Pferde wartete. Unter ihm stand Raven, der mich strafend ansah.
Hast du schon wieder getrödelt?
Bist du schon wieder ein Scheusal?
Ein Räuspern ließ unsere Geister verstummen, Raikon drehte sich mit einem tadelnden Blick zu uns um. Er wandte sich jedoch schnell wieder ab. Woher er immer wusste, dass Raven und ich im Geiste miteinander sprachen, war mir schleierhaft. Ich spürte den Blick von Halkan auf mir und drehte mich zu ihm um. Mein Vater grinste mich breit an. Dann versteinerte sein Blick wieder und meine Aufmerksamkeit wurde von den immer lauter werdenden Hufschlägen am Rand der Clanstätte angezogen. Ich griff fest nach Ravens Arm und stellte mich auf die Zehenspitzen, um die Pferde besser sehen zu können.
Es waren Braune, Schwarze und Rotfüchse dabei. Die Herde, die an uns vorbeigaloppierte, sah aus wie fließende Erde. Ich schmeckte den Stolz, den Halkan hinter mir ausstrahlte, und fragte mich, ob ihm bewusst war, dass seine Gabe aus ihm herausstrahlte. Seine Augen leuchteten und ich war mir sicher, dass keins der anderen Clanmitglieder ihren Clanfürsten so sah, denn alle waren vom Anblick der Pferde gefesselt.
Halkan beugte sich zu mir herunter und seine tiefe Stimme flüsterte in mein Ohr. »Ich hoffe, dass du ein paar schöne Pferde aussuchen wirst.«
Ich nickte und konnte meinen Blick immer noch nicht von den Pferden lösen. Als die letzten an uns vorbeigaloppiert waren, liefen Halla und ich hinter ihnen her. Hinter der Clanstätte auf den Weiden fanden die Pferde wieder zu ihrer Ruhe zurück und wir gingen zwischen den grasenden Tieren hindurch. Das Gras kitzelte an meinen Beinen und meine Hände glitten immer wieder über das Fell der Pferde, die keine Scheu vor uns hatten, denn sie wussten, dass wir ihnen nichts Böses wollten. Die Pferde und wir waren tief mit unserem Element verbunden. Wir gehörten zusammen.
Der General schritt durch den Thronsaal auf den Hochkönig zu, der auf seinem Thron saß. Die Schatten, die durch den Saal zogen, sahen wie schwarzer Nebel aus und er wusste nur zu gut, dass schon viele in diesen Nebeln verschollen waren. Der Gabensucher stand wie immer hinter dem Hochkönig und hatte sein Gesicht zu einer erwartungsvollen Fratze verzogen. Seine Finger lagen vor seiner Brust verschränkt. Der General war wütend. Die Schattenkrieger hatten nach seiner Rückkehr seine Aufmerksamkeit zu lange gefordert. Sein Stellvertreter, Skrull, hatte während seiner Abwesenheit daran gearbeitet, die Truppe gegen ihn aufzuwiegeln. Es hatte zu lang gedauert, die Krieger wieder an ihre Aufgaben zu erinnern. Er hätte seinen Bericht gerne vor dem durchtriebenen Gabensucher dem Hochkönig vorgelegt.
Der General verneigte sich tief vor dem Hochkönig und dessen Schatten fingen an, mit den Kleidern des Generals zu spielen.
»Nun, General. Griffin hat mir von Eurer erfolglosen Suche berichtet. Es enttäuscht mich. Bisher war der Erdclan eine sehr ergiebige Quelle für Gabenträger.«
»Es tut mir leid, Euch enttäuschen zu müssen. Ich verließ mich auf die Einschätzung von Griffin, der keine Gabenträger gerochen hat. Wir haben Euch die Halbwüchsigen mitgebracht. Es wird sich in den nächsten Monaten zeigen, ob sich Gabenträger unter ihnen befinden.«
Der Hochkönig schnaubte und wandte seinen Blick dem Gabensucher zu, der hinter dem Thron hervortrat. »Halbwüchsige, die wir hier durchfüttern sollen. Sobald feststeht, dass sie keine Gabe tragen, müssen sie entsorgt werden. Und Ihr – wie kann es sein, dass Ihr nichts gerochen habt? Habt Ihr Eure Gabe verloren? Dann könnt Ihr Euch gleich mit den Erdbälgern verabschieden.«
Der Gabensucher richtete seine leeren Augenhöhlen auf den General. Ein schiefes Grinsen legte seine kaputten Zähne frei. »Ich sagte, dass ich dort nichts gerochen habe. Ich habe aber nicht gesagt, dass ich sie nicht woanders im Erdreich gespürt habe. Wir waren zum falschen Zeitpunkt im Erdreich. Dem Erdfürsten scheint es gelungen zu sein, seine Gabenträger zu verstecken.«
Der General sah den Gabensucher finster an. Er wusste, dass die Gier nach Gaben sowohl den Hochkönig als auch den Gabensucher anspornte.
»Ihr werdet noch einmal in das Erdreich zurückkehren. Der Erdclan wird sich in Sicherheit wiegen und seine Gabenträger wieder zur Clanstätte holen. Ihr solltet also erfolgreicher wiederkehren können. Findet ihre Gabenträger und nehmt so viele, wie Ihr kriegen könnt! Ich brauche sie! Und dann werdet Ihr zusammen die anderen Clane aufsuchen. Es wird Euch sicher eine Freude sein, Euren eigenen Clan zu besuchen, nicht wahr, General?«
»Ja, eine Freude.« Der General verneigte sich tief und verließ den Thronsaal. Seine Schritte waren fest und der Wind seiner Gabe rauschte in seinen Ohren. Die schweren Flügel des Saals schlossen sich hinter ihm. Neben der Tür wartete ein Schattenkrieger auf den General. »Beschattet den Gabensucher. Ich muss wissen, was er vorhat.«
Der Schattenkrieger neigte kurz den Kopf und verschwand im Flur. Der General blickte sich um, bevor er den Weg zum Feuerflügel des Hochpalastes einschlug. Vor einer Tür blieb er stehen und klopfte. Ein großer Schattenkrieger öffnete die Tür und musterte ihn. Der General hasste dieses Gehabe. Nach einigen Augenblicken ließ der Schattenkrieger ihn eintreten.
»General, es freut mich, Euch zu sehen!«
»Mylady, die Freude ist auf meiner Seite.«
Der General zog die Prinzessin an seine Seite und küsste sie auf die Stirn.
Die Baracken für die Soldaten und Schattenkrieger lagen unsichtbar unter dem Hochpalast. Die Flure in den Gewölben waren dunkel. Nur wenige Fackeln brannten an den Wänden. Die Schritte des Generals waren fest und hallten von den Wänden wider. Er stieß die Tür zu seinem Geschäftszimmer so energisch auf, dass sie gegen die Wand knallte. Die Krieger, die sich schon um den Tisch versammelt hatten, zuckten zusammen. Der General beachtete sie nicht weiter. Er ging zu seinem Platz, öffnete seinen Gürtel und ließ sein Schwert schwer auf den Tisch fallen. Dann zog er seinen Stuhl zurück und setzte sich. Sein abschätzender, kalter Blick schweifte über jeden Einzelnen der Anwesenden. Er wollte gerade seine Stimme erheben, als sich ein Schattenkrieger in den Raum schob. Der General verengte seine Augen, sagte jedoch nichts. Falkon blieb nahe der Tür an der Wand stehen, seine Schatten ließen ihn fast mit der Wand verschmelzen.
»Der Hochkönig hat eine weitere Gabensuche im Erdreich befohlen. Ich werde noch einmal mit dem Gabensucher und einigen ausgewählten Männern dorthin aufbrechen. Und das schon in wenigen Tagen.«
Die Schattenkrieger tauschten Blicke, erwiderten aber nichts. Der General stand auf. Seinen Unmut konnte er nur schwer verbergen. Er ließ seinen Stuhl laut über die Steine des Bodens rutschen. Dann umrundete er langsam den Tisch, die Sitzenden blickten sich unsicher um.
»Während meiner letzten Abwesenheit hat sich hier einiges zugetragen, was nicht mit meinen Anweisungen zusammenpasste. Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt. Oder waren meine Anweisungen unverständlich?« Der General blieb hinter einem großen Schattenkrieger stehen und beugte sich dicht an dessen Ohr herunter. »Es wird sich nicht wiederholen, dass Ihr Anweisungen und Befehle missachtet oder unzuverlässig ausführt. Ist das klar?«
Die Augen des Generals wurden grau und blind. Durch den Raum zog ein leichter Windstoß, der den Umhang des Generals anhob. Der Schattenkrieger vor dem General griff sich an die Kehle und öffnete seinen Mund. Seine Naseflügel wurden weit und sein Gesicht rot. Langsam ließ der General seine grau verfärbten Augen über die anwesenden Männer wandern. Als sein Blick bei dem Schattenkrieger an der Wand hängen blieb, lichteten sich seine Augen wieder. Der General stieß ein Grollen aus und ließ schließlich von dem Krieger ab, der nach Luft japsend auf den Tisch sackte. Die Augen des Generals kehrten wieder zu ihrer blauen Farbe zurück, sahen aber finster über die anderen Krieger hinweg, die sich unter dem Blick zu winden schienen. Der General, der sich wieder zu seinem Stuhl begab, ließ ein kleines unscheinbares Lächeln über seine Lippen huschen. Auch wenn er kein Schattenkrieger war, waren seine Gaben ihm immer wieder hilfreicher, als viele seiner Untergebenen es ihm gönnten.
»Die Gabensuche startet spätestens in acht Tagen. Bis dahin werden die Soldaten und Krieger eine Extraeinheit auf dem Übungsplatz ablegen. Es wird außerdem eine Gruppe in die Berge des Schattenreichs aufbrechen und das Lager der Gezeichneten aufsuchen. Der Hochkönig wünscht einen neuen Bericht. Der letzte schien ihm nicht gefallen zu haben.«
Der Blick des Generals legte sich auf den Schattenkrieger, dem er gerade die Luft genommen hatte. Nur zu gerne entsandte der General diesen Krieger, um ihn nicht mehr in seiner Nähe erdulden zu müssen. Er war dem General ein Dorn im Fleisch, den er am liebsten für immer los wäre. Doch er stammte aus einer angesehenen Familie von Schattenkriegern und stand bei dem Hochkönig in der Gunst. Der General hatte es nur der Tatsache zu verdanken, dass er über zwei Gaben verfügte, die zudem sehr stark ausgeprägt waren, dass er einen höheren Rang bekleidete als dieser Schattenkrieger
»Skrull, Ihr werdet dieses Mal den Ritt zum Lager anführen. Es hat sich als unklug erwiesen, dass Ihr hier als mein Stellvertreter bleibt. Der Hochkönig wird Euch zu sich rufen lassen und Euch die Koordinaten von dem Gabensucher in Euren Geist setzen lassen. So werdet Ihr den Weg zum Lager finden.«
Der Schattenkrieger neigte verächtlich den Kopf.
»Das wäre dann alles. Wegtreten!«
Die Anwesenden entfernten sich eilig aus dem Zimmer. Nur Skrull warf dem General noch einen finsteren Blick zu.
Falkon löste sich aus seinen Schatten an der Wand und setzte sich dem General gegenüber. Der strich sich über die Stirn und stützte seinen Kopf auf die Hand. Falkon versicherte sich, dass die Tür verschlossen war, und blickte dann ernst zum General.
»War das eine gute Idee, Skrull vor den anderen zu maßregeln?«
»Sicherlich nicht. Er wird seine Wut an den anderen auslassen und irgendwann wird es mich teuer zu stehen kommen. Es war aber nötig, um alle daran zu erinnern, wer hier die Befehlsgewalt hat.«
»Geht es nach Skrull, wird es nicht länger deine sein. Er wartet nur auf einen Fehler. Deine Clanzugehörigkeit hat er dieses Mal genutzt. Wir müssen vorsichtig sein. Er darf keine weitere Gelegenheit bekommen, sonst wird er dich schneller ersetzen, als es dir passt.«
Der General nickte nur schweigend. Seine Clanherkunft war schon immer ein Dorn im Auge dieses Schattenkriegers gewesen. Wind und Wasser statt Schatten. Der Hochkönig hatte ihn gewählt, weil er sich diese Gaben zunutze machen wollte. Der Schatten konnte genauso einem Mann die Luft abschnüren, wie er das vermochte, doch im Schatten war es für niemanden sichtbar. Der General stellte eine sichtbare Waffe dar, die der Hochkönig nur zu gerne einsetzte. Die anderen Krieger des Hochkönigs sahen es allerdings nicht gerne, dass ihr General nicht aus dem Schattenclan stammte.
»Wir müssen unsere Abreise organisieren. Triff die Vorkehrungen dafür und teile die Männer ein, die die Gabensuche und die Reise zu den Gezeichneten antreten sollen. Wir brauchen in beiden Truppen Männer, auf die ich mich verlassen kann.« Die Stimme des Generals klang müde.
Falkon erhob sich und verließ schweigend den Raum. Der General blieb allein zurück und versank in seinen Gedanken. Es würde noch schwierig werden mit diesem Schattenkrieger. Skrull wollte seine Position und der General würde noch mehr Härte walten lassen müssen, um seine Stellung am Hochpalast zu behalten. Die missglückte Gabensuche im Erdreich hatte es nicht einfacher für ihn gemacht. Der General musste den Hochkönig weiterhin auf seiner Seite halten können.
Die kleine braune Stute tänzelte unter mir und schien ihre Aufregung kaum bei sich behalten zu können. Ich sorgte dafür, dass sich mein Geist sorgsam an ihren schmiegte, wodurch sie ruhiger wurde und ihren Kopf etwas fallen ließ. Ihre Schritte wurden gleichmäßiger und ich drang tiefer in ihren Geist ein. Die Stute war lebhaft und tapfer. Sie würde ein gutes Reitpferd abgeben. Mein Geist zeigte ihr Bilder, wie sie unter mir über die Hochebene galoppierte, und schon warf sie den Kopf wieder hoch und wollte mit mir auf ihrem Rücken davonrennen. Meine Hand auf ihrem Hals ließ sie aber anhalten.
»Ruhig, meine Kleine. Du bist noch nicht so weit.«
Ich ließ sie wieder zu den anderen Pferden auf der Koppel an der Clanstätte zurückkehren und sprang von ihrem Rücken. Mein Blick glitt über die anderen Pferde, die hier eingepfercht standen und darauf warteten, geritten zu werden.
»Ich hätte mir denken können, dass ich dich nur hier finden kann.«
Ravens Stimme riss mich aus meinen Gedanken und ich ging zu ihm an den Zaun.
»Wir sollen zu Halkan kommen. Er möchte mit uns sprechen.«
»Worum könnte es gehen?«
Es kam selten vor, dass unser Vater uns zu sich beorderte. Es schien etwas Wichtiges zu sein. Raven strahlte eine Ernsthaftigkeit aus, die ich im Geheimen Tal nur selten an ihm spürte. Hier war er mehr der Sohn unseres Vaters. Ein Fürstensohn und der eigentliche Erbe des Hochthrons. Raven würde lieber hier in der Erdstätte leben, doch es war seine Bestimmung, auf dem Hochthron zu sitzen. Zumindest würden das unser Vater und Raikon begrüßen.
»Vielleicht hat er einen taffen Krieger für dich gefunden, wirst verheiratet und hörst dann endlich auf, mich zu nerven.«
»Na warte!«
Ich sprang über den Zaun des Pferches und setzte ihm nach, doch Raven war schneller als ich und so erreichte ich ihn erst kurz vor der großen Halle. Ich stieß ihm schnell meinen Arm in die Seite, sprang an ihm vorbei und betrat die große Halle als Erste. Raven grummelte hinter mir, weil er sich nicht mehr rächen konnte. Halkan und Raikon saßen am Feuer in der Mitte der Halle und hatten uns schon bemerkt.
Halkan wirkte nachdenklich und fixierte Raven mit seinen Augen, dem der Blick deutlich unangenehm war. Mein Geist spürte, wie Halkans Geist sich hinter einer Mauer versteckte. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Raven umfasste meine Hand und drückte sie leicht.
Hat er wirklich einen Ehemann für dich gefunden?
Lass das. Es ist irgendwas Ernstes.
Raven ließ meine Hand wieder los und wir setzten uns auf die Bank, die Halkan uns zuwies. Er musterte uns kurz. Mein Blick schnellte zu Raikon hinüber, der aber unverändert in das Feuer vor sich sah.
»Ich habe eine Nachricht aus der Hochstadt erhalten. Raikon und ich haben sie schon geprüft. Ich möchte, dass du auch noch einmal in sie hineinspürst, Raja.«
Ich war etwas überrascht, nahm aber ohne Zögern das Papier, das Halkan mir entgegenreichte, an. Raikons Blick schnellte vom Feuer auf und ich spürte, wie seine Erwartung sich auf mich legte. Ihn umgab eine leichte Aufregung, die ich sonst bei ihm nur spürte, wenn er Hanna nach einer Trennung wiedersah. Das Papier in meinen Fingern wurde warm. Ich ließ meinen Geist in das Papier dringen und schloss meine Augen.
Ein schwarzer Vogel flog über mir. Er schlug heftig mit seinen Flügeln und wirbelte die Luft um mich auf. Ich spürte, wie sich eine Schicht Staub von mir löste und in die Luft gehoben wurde. Mein Licht brach aus mir heraus und ich erstrahlte in einer um mich greifenden Dunkelheit so hell auf, dass meine geschlossenen Augen brannten. Die Dunkelheit verschwand. Der schwarze Vogel landete neben mir und schloss seine Flügel um mich.
Mein Geist riss mich aus dem Papier heraus und ich keuchte schwer auf. Raven umfasste meinen Arm und sah mich prüfend an. Mein Blick lag auf Halkan, der mich nur schweigend ansah und nickte. Sein Blick löste sich von mir und wanderte zu Raikon, der ihn ebenfalls ansah. Ich wusste nicht, ob Halkan in einer Verbindung zu Raikon stehen konnte, aber die zwei schienen eine Absprache getroffen zu haben.
»Dann ist es beschlossen. Raja, du wirst in zwei Tagen zurück ins Geheime Tal reisen. Der Pferdehändler wird morgen hier eintreffen. Ich möchte, dass du deine Haare versteckst. Halla wird dir sicherlich helfen können.«
Halkan sah mich prüfend an. Ich nickte nur und ließ meine Schultern enttäuscht sinken. Meine Haare waren zu auffällig. Ich kannte es nur zur Genüge, dass ich mich verstecken musste, wenn der Erdclan besucht wurde. Wenn es nicht um die Pferde gehen würde, würde mich Halkan gar nicht in der Clanstätte verweilen lassen. Ich wünschte mir, dass ich länger hierbleiben und dass meine Zeit mit Halla noch andauern könnte. Im Geheimen Tal hatte ich niemanden außer Raven.
Halkan nahm mir das Papier aus den Händen und reichte es Raven, der es aufklappte und las.