Das Lied des Blutes - Anthony Ryan - E-Book
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Das Lied des Blutes E-Book

Anthony Ryan

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Beschreibung

Vaelin Al Sorna, der berühmteste Gefangene des Reichs und sein größter Kämpfer, erzählt die atemberaubende Geschichte seines Lebens. Er ist an Bord eines Schiffes, das ihn zu dem Ort bringen soll, an dem es für ihn um Leben und Tod geht. Einst war er von seinem Vater als Zögling in das Kloster des Sechsten Ordens gebracht worden, wo er zum Krieger ausgebildet wurde. Nun sind die Namen, die er sich im Kampf verdient hat, über alle Grenzen hin bekannt: Schwert des Königs, Dunkelklinge, Rabenschatten und am gefürchtetsten: Hoffnungstöter.

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ANTHONY RYAN

RABENSCHATTEN 1

AUS DEM ENGLISCHEN ÜBERSETZTVON SARA & HANNES RIFFEL

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Hobbit Presse

www.hobbitpresse.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»Blood Song. A Raven’s Shadow Novel« im Verlag ACE Books,

The Penguin Group (USA) Inc., New York 2013

© 2011 by Anthony Ryan

Für die deutsche Ausgabe

© 2014 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlag: © Birgit Gitschier, Augsburg; Illustration © Federico Musetti

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94971-1

E-Book: ISBN 978-3-608-10752-4

Dieses E-Book entspricht der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Für meinen Vater,

der mich nie hat aufgeben lassen

INHALT

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

Vierter Teil

Fünfter Teil

Anhang IDramatis Personae

Anhang IIDie Regeln des Keschet

Karte der Vereinigten Königslande

ERSTER TEIL

◆◆◆

Des Raben Schatten

streicht über mein Herz hinweg

und lässt meiner Tränen Strom gefrieren.

— Seordahnisches Gedicht, anonym —

VERNIERS’ BERICHT

Er besaß viele Namen. Das dreißigste Lebensjahr hatte er noch nicht erreicht, und doch war er im Lauf der Geschichte mit Titeln bereits reich beschenkt worden: Das Schwert des Königs hieß er für den wahnsinnigen Herrscher, der ihn als Geißel zu uns sandte; der junge Falke für die Männer, die ihm in die Wirrnisse des Krieges folgten; Dunkelklinge für seine cumbraelischen Feinde und, wie ich viel später herausfinden sollte, Beral Shak Ur für die geheimnisvollen Stämme des großen Nordwaldes– der Rabenschatten.

Bei meinem Volk war er nur unter einem Namen bekannt, und dieser hallte an jenem Morgen, als man ihn zum Hafen brachte, unablässig in meinem Kopf wider: Hoffnungstöter. Bald wirst du sterben, und ich werde Zeuge sein. Hoffnungstöter.

Obwohl er die meisten Männer tatsächlich um einiges überragte, stellte ich zu meiner Überraschung fest, dass er– entgegen den Geschichten, die ich gehört hatte– kein Riese war. Seine Gesichtszüge waren markant, aber als gutaussehend konnte man ihn kaum bezeichnen. Und obwohl er recht kräftig war, wies sein Leib nicht die gewaltigen Muskelberge auf, wie sie von den Geschichtenerzählern so lebhaft beschrieben wurden. Das Einzige, was an seiner Erscheinung den Legenden entsprach, waren seine Augen: kohlrabenschwarz und durchdringend wie die eines Falken. Es hieß, er könne damit in die Seele eines Menschen schauen; kein Geheimnis bleibe seinem Blick verborgen. Ich hatte nie daran geglaubt, doch als ich ihn nun sah, begriff ich, warum andere es taten.

Der Gefangene wurde von einer ganzen Kompanie kaiserlicher Gardisten begleitet, die mit erhobenen Speeren dicht neben ihm ritten und die Menge der Schaulustigen im Auge behielten. Die Menge jedoch war still. Die Menschen blieben stehen, um ihn zu betrachten, doch niemand rief Beleidigungen, niemand warf etwas nach ihm. Ich entsann mich, dass die Menschen hier ihn kannten; er hatte kurzzeitig ihre Stadt regiert und in ihren Mauern ein fremdländisches Heer befehligt, und dennoch sah ich keinen Hass in ihren Gesichtern, keine Rachegelüste. Sie wirkten vor allem neugierig. Weshalb war er hier? Warum war er überhaupt noch am Leben?

Am Kai hielt die Kompanie an, der Gefangene stieg vom Pferd und wurde zu dem wartenden Schiff gebracht. Ich steckte meine Notizen weg, erhob mich von meinem Sitz auf einem Gewürzfass und nickte dem Hauptmann zu. »Meine Hochachtung, Sir.«

Der Hauptmann, ein Veteran der kaiserlichen Garde mit einer blassen Narbe am Kinn und der tiefschwarzen Hautfarbe des südlichen Kaiserreichs, erwiderte das Nicken mit geübter Förmlichkeit. »Lord Verniers.«

»Ich hoffe, Ihr hattet eine gute Reise?«

Der Hauptmann zuckte mit den Achseln. »Ein paar Auseinandersetzungen hier und dort. In Jesseria mussten wir etwas härter durchgreifen, weil die Stadtbewohner den Hoffnungstöter an der Turmspitze ihres Tempels aufknüpfen wollten.«

Dergleichen Ungehorsam ergrimmte mich. Der Erlass des Kaisers war in allen Städten, durch die der Gefangene reisen würde, ausgerufen worden, und sein Inhalt war eindeutig: Dem Hoffnungstöter durfte unterwegs nichts zustoßen. »Der Kaiser wird davon erfahren«, sagte ich.

»Wie Ihr wünscht, aber es war nur eine Kleinigkeit.« Er machte eine Geste in Richtung des Gefangenen. »Lord Verniers, darf ich vorstellen? Der kaiserliche Gefangene Vaelin Al Sorna.«

Ich nickte dem hochgewachsenen Mann höflich zu, während sein Name in meinem Kopf widerhallte: Hoffnungstöter, Hoffnungstöter… »Meine Hochachtung, Sir«, presste ich hervor.

Seine schwarzen Augen begegneten einen Moment lang den meinen, durchdringend, forschend. Ich fragte mich, ob die sonderbaren Geschichten über ihn der Wahrheit entsprachen, ob im Blick dieses Wilden tatsächlich Magie lag. Konnte er wirklich in die Seele eines Menschen schauen? Seit dem Krieg waren zahllose Geschichten über die geheimnisvollen Kräfte des Hoffnungstöters im Umlauf. Er konnte mit Tieren sprechen, verfügte über die Namenlosen und gebot über das Wetter. Seine Klinge war im Blut gefallener Feinde gehärtet worden und würde im Kampf nie zerbrechen. Und am allerschlimmsten: Er und sein Volk waren Anhänger eines Totenkults und führten Zwiesprache mit den Schatten ihrer Vorfahren, um alle möglichen Übel heraufzubeschwören. Auf derlei Torheiten gab ich nicht viel. Wenn die Magie der Nordmänner wirklich so mächtig war, wie kam es dann, dass wir sie so vernichtend geschlagen hatten?

»Euer Lordschaft.« Vaelin Al Sornas Stimme klang rauh, und er sprach mit einem starken Akzent. Er hatte sein Alpiranisch im Kerker gelernt, und das jahrelange Übertönen von Waffengeklirr und den Schreien der Gefallenen im Kampf hatte seine Stimmbänder angegriffen. Hundert Schlachten hatte er siegreich geschlagen– eine davon hatte mich meinen engsten Freund und dem Kaiserreich die Zukunft gekostet.

Ich wandte mich an den Hauptmann. »Warum ist er gefesselt? Der Kaiser hat angeordnet, ihn mit Respekt zu behandeln.«

»Dem Volk hat es nicht gefallen, ihn ungefesselt reiten zu sehen«, erklärte der Hauptmann. »Der Gefangene hat deshalb vorgeschlagen, ihm Ketten anzulegen, um Schwierigkeiten zu vermeiden.« Er ging zu Al Sorna und nahm ihm die Fesseln ab. Der große Mann rieb sich mit den narbenübersäten Händen die Handgelenke.

»Lord Al Sorna!« Ein Ruf aus der Menge. Ich drehte mich um und sah einen beleibten Mann in einem weißen Gewand auf uns zueilen, das Gesicht von der ungewohnten Anstrengung schweißüberströmt. »Einen Augenblick, bitte!«

Die Hand des Hauptmanns zuckte zu seinem Säbel, aber Al Sorna lächelte unbekümmert. »Statthalter Aruan.«

Der dicke Mann blieb stehen und wischte sich mit einem Spitzentüchlein den Schweiß vom Gesicht. In der Linken trug er ein langes, in Leinen gewickeltes Bündel. Er nickte dem Hauptmann und mir zu, wandte sich dann aber an den Gefangenen: »Ich hätte nie erwartet, Euch lebend wiederzusehen, Herr. Geht es Euch gut?«

»Ja, Statthalter. Und Euch?«

Der Mann spreizte die rechte Hand– das Spitzentüchlein hing von seinem Daumen herab, und an seinen Fingern glänzten zahllose Ringe. »Statthalter bin ich nicht mehr. Nur noch ein armer Kaufmann. Der Handel ist nicht, was er früher war, aber wir schlagen uns durch.«

»Lord Verniers.« Vaelin Al Sorna machte eine Geste in meine Richtung. »Dies ist Holus Nester Aruan, der ehemalige Statthalter von Linesch.«

»Meine Hochachtung.« Aruan grüßte mich mit einer knappen Verbeugung.

»Die Ehre liegt ganz auf meiner Seite«, entgegnete ich förmlich. Das war also der Mann, der sich vom Hoffnungstöter die Stadt hatte abnehmen lassen. Dass Aruan sich wegen dieser Schmach nicht selbst das Leben genommen hatte, war nach dem Krieg auf einige Empörung gestoßen, aber der Kaiser (die Götter mögen ihn in seiner Weisheit und Gnade bewahren) hatte aufgrund deraußergewöhnlichen Umstände der Besetzung durch den Hoffnungstöter Nachsicht walten lassen. Sein Statthalteramt hatte Aruan selbstverständlich trotzdem niederlegen müssen.

Aruan wandte sich wieder Al Sorna zu. »Es freut mich, Euch wohlauf zu sehen. Ich habe an den Kaiser geschrieben und ihn in Eurem Namen um Gnade gebeten.«

»Ich weiß. Euer Brief wurde bei meiner Verurteilung verlesen.«

Aus den Gerichtsaufzeichnungen wusste ich, dass Aruans Brief, den dieser unter nicht unbeträchtlicher Gefahr für sein eigenes Leben verfasst hatte, zu jenen Beweismitteln gehörte, die dem Hoffnungstöter merkwürdig uncharakteristische Akte der Großzügigkeit und Barmherzigkeit während des Krieges bescheinigten. Der Kaiser hatte sich alles geduldig angehört, bevor er darauf hingewiesen hatte, dass der Gefangene wegen seiner Verbrechen und nicht wegen seiner Tugenden vor Gericht stehe.

»Wie geht es Eurer Tochter?«, fragte der Gefangene Aruan.

»Sehr gut, sie wird in diesem Sommer heiraten. Den nichtsnutzigen Sohn eines Schiffsbauers, aber was kann ein armer Vater tun? Dank Euch ist sie immerhin am Leben, um mir das Herz zu brechen.«

»Das freut mich sehr. Ich meine die Hochzeit, nicht Euer gebrochenes Herz. Mit einem Geschenk kann ich leider nicht aufwarten, nur mit meinen besten Wünschen.«

»Wie es sich ergibt, Herr, habe ich stattdessen ein Geschenk für Euch.«

Aruan hob das lange, in Leinen gewickelte Bündel mit beiden Händen hoch und hielt es dem Hoffnungstöter mit sonderbar ernstem Gesichtsausdruck hin. »Ich hörte, dass Ihr es bald wieder brauchen werdet.«

Der Nordmann zögerte merklich, bevor er das Bündel entgegennahm und die Schnur darum mit seinen vernarbten Händen löste. Unter dem Leinen kam ein Schwert von einer mir unvertrauten Machart zum Vorschein. Die in einer Scheide steckende Klinge maß etwa drei Ellen in der Länge und war, im Gegensatz zu den Krummsäbeln der alpiranischen Soldaten, ganz gerade. Um das Heft wand sich ein einzelner Dorn, der den Handschutz bildete, und der einzige Schmuck der Waffe war ein einfacher Stahlknauf. Heft und Scheide wiesen zahlreiche Kerben und Kratzer auf, die von jahrelanger starker Beanspruchung zeugten. Dies war keine Zeremonialwaffe, und mir wurde fast übel, als mir bewusst wurde, dass es sein Schwert war. Das Schwert, das er an unsere Küsten gebracht hatte. Das Schwert, das ihn zum Hoffnungstöter gemacht hatte.

»Ihr habt das aufbewahrt?«, fragte ich Aruan entgeistert.

Der Gesichtsausdruck des beleibten Mannes wurde eisig, als er sich mir zuwandte. »Meine Ehre verlangte nichts Geringeres, Herr.«

»Ich danke Euch«, sagte Al Sorna, bevor ich meiner Empörung weiter Luft machen konnte. Er hob das Schwert, und ich sah, wie der Hauptmann der Garde erstarrte, als Al Sorna die Klinge ein Stück weit aus der Scheide zog und mit dem Daumen darüber fuhr. »Noch immer scharf.«

»Es hat eine gute Pflege genossen, wurde regelmäßig geölt und geschärft. Außerdem habe ich hier noch ein kleines Geschenk für Euch.« Aruan streckte die Hand aus. Auf seiner Handfläche lag ein einzelner Rubin, ein schön geschliffener Stein mittlerer Größe; vermutlich einer der wertvollsten Edelsteine im Besitz der Familie. Ich kannte die Hintergründe von Aruans Dankbarkeit,aber die offensichtliche Hochachtung, die er diesem Wilden entgegenbrachte, und die unerträgliche Gegenwart des Schwertes ärgerten mich dennoch gewaltig.

Al Sorna wirkte verlegen und schüttelte den Kopf. »Statthalter, das kann ich nicht…«

Ich trat einen Schritt näher und sagte leise: »Er lässt Euch eine größere Ehre zuteil werden, als Ihr es verdient habt, Nordmann. Sein Geschenk abzulehnen, würde ihn beleidigen und Euch entehren.«

Er sah mich kurz mit seinen dunklen Augen an, bevor er Aruan zulächelte. »Eine solche Großzügigkeit kann ich nicht ablehnen.« Er nahm den Edelstein entgegen. »Ich werde ihn bis an mein Lebensende aufbewahren.«

»Das hoffe ich nicht«, erwiderte Aruan mit einem Lachen. »Ein Mann behält einen Edelstein nur, wenn er keinen Grund hat, ihn zu verkaufen.«

»Ihr da!«, ertönte eine Stimme von dem Schiff, das ein Stück den Kai hinunter festgemacht war– eine stattliche meldeneische Galeere, deren zahllose Ruder und breiter Rumpf sie als Frachtschiff auswiesen und nicht als eines der sagenumwobenen Kriegsschiffe dieses Volkes. Ein stämmiger Mann mit einem üppigen schwarzen Bart, der an seinem roten Kopftuch als Kapitän des Schiffes zu erkennen war, winkte vom Bug her. »Bringt den Hoffnungstöter an Bord, ihr alpiranischen Hunde!«, schrie er mit typisch meldeneischer Höflichkeit. »Wenn ihr noch länger hier rumpalavert, verpassen wir die Flut.«

»Unsere Passage zu den Inseln wartet«, sagte ich zu dem Gefangenen und ergriff mein Reisegepäck. »Wir sollten lieber nicht den Zorn des Kapitäns auf uns ziehen.«

»Es ist also wahr?«, sagte Aruan. »Ihr fahrt zu den Inseln, um für die edle Dame zu kämpfen?« Sein Tonfall missfiel mir– er hatte etwas unangenehm Ehrfürchtiges an sich.

»Es ist wahr.«

Al Sorna drückte kurz Aruans Hände und nickte dem Hauptmann der Garde zu, bevor er sich mir zuwandte. »Lord Verniers. Sollen wir?«

◆ ◆ ◆

»Vermutlich bist du einer der verdienstvollsten Speichellecker des Kaisers, Schreiberling«– der Kapitän tippte mir mit dem Finger gegen die Brust–, »aber dieses Schiff ist mein Königreich. Du wirst hier in dieser Koje schlafen, oder ich lasse dich während der gesamten Reise an den Hauptmast binden.«

Er hatte uns unser Quartier gezeigt, einen abgeteilten Bereich des Frachtraums nahe dem Bug. Es stank dort nach Salzwasser, Kieljauche und den vielfältigsten Gerüchen der Fracht– eine süßliche, Übelkeit erregende Mischung aus Obst, Stockfisch und den zahllosen Gewürzen, für die das Kaiserreich berühmt war. Ich musste ein Würgen unterdrücken.

»Ich bin Lord Verniers Alishe Someren, kaiserlicher Geschichtsschreiber, Erster der Gelehrten und ehrwürdiger Diener des Kaisers«, erwiderte ich. Meine Worte klangen durch das Taschentuch vor meinem Mund ein wenig gedämpft. »Ich bin ein Abgesandter der Schiffsherren und offizielle Eskorte des kaiserlichen Gefangenen. Du wirst mich mit Respekt behandeln, Pirat, oder ich hole auf der Stelle zwanzig Gardisten an Bord und lasse dich vor den Augen deiner Mannschaft auspeitschen.«

Der Kapitän beugte sich zu mir; unglaublicherweise roch sein Atem noch schlimmer als der Frachtraum. »Dann hätte ich einundzwanzig Leichen, die ich an die Schwertwale verfüttern kann, sobald wir den Hafen verlassen haben, Schreiberling.«

Al Sorna trat mit dem Fuß gegen einen der Schlafsäcke auf dem Deck und warf einen kurzen Blick in die Runde. »Das wird genügen. Wir brauchen noch Essen und Wasser.«

»Ihr habt ernsthaft vor, in diesem Rattenloch zu schlafen?«, empörte ich mich. »Das ist widerlich.«

»Ihr solltet mal in einem Kerker übernachten. Dort gibt es wirklich Ratten zuhauf.« Er wandte sich dem Kapitän zu. »Das Wasserfass befindet sich auf dem Vorderdeck?«

Der Kapitän fuhr sich mit den dicken Fingern durch seinen üppigen Bart und musterte den hochgewachsenen Mann abschätzend. Vermutlich fragte ersich, ob Al Sorna sich über ihn lustig machte und ob er ihn, wenn nötig, imKampf besiegen könnte. An der Nordküste des alpiranischen Reiches gab es ein Sprichwort: Einer Kobra wende den Rücken zu, niemals aber einem Meldeneer. »Du bist also der Kerl, der mit dem Schild die Klingen kreuzen wird? InIldera wetten sie zwanzig zu eins gegen dich. Glaubst du, ich sollte eine Kupfermünze riskieren und auf dich setzen? Der Schild ist der kühnste Schwertkämpfer der Inseln. Er kann mit einem Säbel eine Fliege entzweischlagen.«

»Sein Ruhm gereicht ihm zur Ehre.« Vaelin Al Sorna lächelte. »Das Wasserfass?«

»Auf dem Vorderdeck. Ihr dürft jeden Tag eine Kalebasse füllen, mehr nicht. Meine Mannschaft soll wegen euch keinen Mangel leiden. Essen gibt es in der Kombüse, wenn es euch nichts ausmacht, gemeinsam mit Abschaum wie uns zu speisen.«

»Ich habe zweifellos schon in schlimmerer Gesellschaft gespeist. Wenn Ihr noch einen Mann an den Rudern braucht, stehe ich zu Eurer Verfügung.«

»Hast du schon mal gerudert?«

»Einmal.«

Der Kapitän knurrte. »Wir kommen zurecht.« Er wandte sich ab und brummte im Weggehen: »Wir legen noch in dieser Stunde ab. Geht uns aus dem Weg, bis wir den Hafen verlassen haben.«

»Inselbarbar!«, schimpfte ich, während ich mein Bündel auspackte und meine Schreibutensilien bereitlegte. Bevor ich auf meinem Schlafsack Platz nahm, um einen Brief an den Kaiser zu verfassen,vergewisserte ich mich, dass sich darunter keine Ratten versteckt hatten. Ich beabsichtigte, den Kaiser über das ganze Ausmaß dieser Beleidigung in Kenntnis zu setzen. »Dieser Mann wird in keinem alpiranischen Hafen mehr anlegen, das versichere ich Euch.«

Vaelin Al Sorna setzte sich und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Schiffshülle. »Sprecht Ihr meine Sprache?«, fragte er auf Nordländisch.

»Ich habe Sprachen studiert«, erwiderte ich in seinem Idiom. »Ich spreche die sieben wichtigsten Sprachen des Kaiserreiches fließend und kann mich in fünf weiteren verständlich machen.«

»Beeindruckend. Beherrscht Ihr Seordahnisch?«

Ich blickte von meinem Pergament auf. »Seordahnisch?«

»Die Seordah Sil des großen Nordwaldes. Habt Ihr von ihnen schon einmal gehört?«

»Meine Kenntnisse über die Wilden des Nordens sind höchst unvollständig. Bislang sah ich keinen Grund, mich näher mit ihnen zu befassen.«

»Für einen Gelehrten scheint Ihr erstaunlich zufrieden mit Eurer Unwissenheit.«

»Ich spreche wohl für mein ganzes Land, wenn ich mir wünsche, uns wäre das Wissen um Eure Existenz erspart geblieben.«

Er neigte den Kopf und betrachtete mich. »Ich höre Hass in Eurer Stimme.«

Ich antwortete nicht. Mein Federkiel bewegte sich rasch über das Pergament und schrieb die förmliche Anrede eines kaiserlichen Briefes.

»Ihr kanntet ihn, nicht wahr?«, fuhr Vaelin Al Sorna fort.

Mein Federkiel hielt inne. Ich weigerte mich, Al Sorna anzuschauen.

»Ihr kanntet die Hoffnung des Reiches.«

Ich legte den Federkiel beiseite und stand auf. Plötzlich waren mir der Gestank des Frachtraums und die Nähe dieses Wilden unerträglich. »Ja, ich kannte ihn«, krächzte ich. »Ich kannte ihn als den Besten von uns allen. Ich wusste, dass er der größte Kaiser werden würde, den dieses Land jemals gesehen hat. Aber das ist nicht der Grund für meinen Hass, Nordmann. Ich hasse Euch, weil die Hoffnung des Reiches mein Freund war und weil Ihr ihn umgebracht habt.«

Ich wandte mich ab, stieg die Stufen zum Hauptdeck hinauf und wünschte mir zum ersten Mal in meinen Leben, ein Krieger zu sein. Ich wünschte mir, muskulöse Arme und ein Herz aus Stein zu haben, damit ich ein Schwert führen und blutige Rache nehmen könnte. Doch das war mir nicht vergönnt. Mein Körper war schlank, aber nicht kräftig, mein Verstand wach, aber nicht unbarmherzig. Ich war kein Krieger. Ich würde keine Rache nehmen können. Es gab nur eines, was ich für meinen Freund tun konnte: Ich konnte zuschauen, wie sein Mörder starb, und, meinem Kaiser und der ewigen Wahrheit unserer Archive zuliebe, das offizielle Ende seiner Geschichte festhalten.

◆ ◆ ◆

Mehrere Stunden blieb ich an Deck und sah gegen die Reling gelehnt zu, wie das grünliche Wasser der nordalpiranischen Küste in das Blau der Erineischen See überging, während der Bootsmann des Schiffes die Trommel für die Rojer schlug und unsere Reise begann. Als wir die Küste hinter uns gelassen hatten, gab der Kapitän den Befehl, das Hauptsegel zu setzen, und wir nahmen Fahrt auf; der spitze Bug des Schiffes durchschnitt die sanften Wogen, und die Galionsfigur, eine nach traditionell meldeneischer Art geschnitzte geflügelte Schlange– einer der unzähligen Meeresgötter dieses Volkes–, tauchte ihren zahnbewehrten Schädel in die schäumende Gischt. Die Rojer ruderten zwei Stunden lang, bis der Bootsmann eine Ruhepause anordnete. Die Ruder wurden eingezogen, und die Männer strömten zur Kombüse. Die Tageswache blieb an Deck, behielt die Segel im Auge und kümmerte sich um all die anderen, niemals endenden Arbeiten an Bord eines Schiffes. Einige wenige warfen mir flüchtige Blicke zu, doch niemand versuchte, ein Gespräch mit mir anzufangen, wofür ich dankbar war.

Wir waren mehrere Stunden von der Küste entfernt, als sie in Sicht kamen: schwarze Finnen, welche die Wogen teilten, angekündigt von einem fröhlichen Ruf aus dem Mastkorb: »Schwertwale!«

Ich konnte nicht feststellen, wie viele es waren; sie bewegten sich unter Wasser zu schnell und wendig, wobei sie gelegentlich die Oberfläche durchbrachen und Dampfwolken ausstießen, bevor sie wieder untertauchten. Erst als sie näher kamen, konnte ich ihre wahre Größe ermessen, mehr als zwanzig Fuß von der Nase bis zur Schwanzspitze. Ich hatte im Südmeer bereits Delphine gesehen, silbrige, verspielte Geschöpfe, denen man einfache Kunststücke beibringen konnte. Die Schwertwale waren anders– ihre Größe und die dunklen, flackernden Schatten, die sie im Wasser hinter sich herzogen, waren mir unheimlich; bedrohliche Abbilder der gleichgültigen Grausamkeit der Natur. Meine Schiffsgenossen sahen das offenbar anders; sie riefen den Tieren aus der Takelage Grüße zu, als seien sie alten Freunden begegnet. Selbst die grimmige Miene des Kapitäns schien ein wenig freundlicher geworden zu sein.

Einer der Schwertwale durchbrach in einer atemberaubenden Schaumfontäne die Wasseroberfläche und vollführte eine Drehung in der Luft, bevor er mit einem Aufprall, der das ganze Schiff erzittern ließ, wieder auf die Wellen klatschte. Die Meldeneer brüllten begeistert. O Seliesen, dachte ich. Zu welch einem Gedicht hätte dich dieser Anblick wohl inspiriert?

»Sie gelten ihnen als heilig.« Ich drehte mich um und sah den Hoffnungstöter neben mir an der Reling stehen.

»Es heißt, wenn ein Meldeneer auf See stirbt, tragen die Schwertwale seine Seele zu dem endlosen Ozean hinter dem Rand der Welt.«

»Aberglaube«, schnaubte ich.

»Euer Volk hat auch seine Götter, nicht wahr?«

»Das Volk ja, ich nicht. Die Götter sind ein Mythos, ein trostvolles Märchen.«

»In meinem Heimatland würdet Ihr mit solchen Worten auf Zustimmung stoßen.«

»Wir befinden uns aber nicht in Eurem Heimatland, Nordmann. Und ich verspüre auch keinen Wunsch, es je zu besuchen.«

Ein weiterer Schwertwal stieg aus dem Meer auf und sprang ganze zehn Fuß in die Luft, bevor er wieder hinabstürzte. »Merkwürdig«, grübelte Al Sorna. »Als wir mit unseren Schiffen dieses Meer überquerten, haben wir keine Schwertwale gesehen. Sie zeigen sich nur den Meldeneern. Vielleicht teilen sie denselben Glauben.«

»Vielleicht«, sagte ich. »Oder sie wissen eine kostenlose Mahlzeit zu schätzen.« Ich nickte zum Bug, wo der Kapitän Lachse ins Meer warf; die Schwertwale stürzten sich so schnell darauf, dass ich mit den Blicken kaum folgen konnte.

»Weswegen seid Ihr hier, Lord Verniers?«, fragte Al Sorna. »Warum hat der Kaiser Euch geschickt? Ihr seid kein Gefängniswärter.«

»Der Kaiser hat mir gnädigerweise erlaubt, Euer bevorstehendes Duell mitanzusehen. Und natürlich, Lady Emeren nach Hause zu begleiten.«

»Ihr seid hier, um mich sterben zu sehen.«

»Ich bin hier, um für das kaiserliche Archiv einen Bericht über dieses Ereignis zu verfassen. Schließlich bin ich der kaiserliche Geschichtsschreiber.«

»Davon habe ich gehört. Gerish, der meine Zelle bewachte, war ein großer Bewunderer der Geschichte, die Ihr über den Krieg mit meinem Volk verfasst habt. Er hielt sie für eines der herausragendsten Werke der alpiranischen Literatur. Für einen Mann, der sein Leben in einem Kerker verbringt, war er äußerst gelehrt. Stundenlang saß er vor meiner Zelle und hat mir Seite um Seite vorgelesen. Besonders die Schlachtenszenen haben ihm gefallen.«

»Genaue Nachforschungen sind der Schlüssel zur Kunst des Geschichtsschreibers.«

»Dann ist es umso mehr eine Schande, dass Euch so viele Fehler unterlaufen sind.«

Erneut wünschte ich mir die Kraft eines Kriegers. »Fehler?«

»Ja.«

»Aha. Wenn Ihr Euer Barbarenhirn ein wenig bemühen würdet, könntet Ihr mir vielleicht auch sagen, an welchen Stellen mir so viele Fehler unterlaufen sein sollen?«

»Nun ja, die nebensächlichen Dinge habt Ihr weitgehend richtig wiedergegeben. Außer dass Ihr schreibt, meine Einheit hätte den Titel Wolfslegion getragen. In Wahrheit war das fünfunddreißigste Fußregiment im königlichen Heer als Wolfsläufer bekannt.«

»Ich werde gleich nach meiner Rückkehr zur Hauptstadt dafür Sorge tragen, dass eine berichtigte Version veröffentlicht wird«, sagte ich trocken.

Er schloss die Augen und erinnerte sich. »›König Janus’ Einmarsch an der Nordküste war nur der erste Schritt auf dem Weg zu einem weitaus ehrgeizigeren Ziel: der Eroberung des gesamten Kaiserreichs.‹«

Es war ein wortgetreues Zitat. Seine Erinnerungsgabe beeindruckte mich, aber ich sollte verflucht sein, wenn ich mir das anmerken ließe. »Eine schlichte Wiedergabe von Tatsachen. Ihr kamt hierher, um das Kaiserreich zu erobern. Janus war verrückt zu glauben, dass ihm das gelingen könnte.«

Al Sorna schüttelte den Kopf. »Uns ging es lediglich um die nördlichen Hafenstädte. Janus hatte es auf die Handelsrouten durch die Erineische See abgesehen. Und er war nicht verrückt. Er war alt und verzweifelt, aber verrückt war er nicht.«

Das Mitgefühl in seiner Stimme überraschte mich; schließlich war Janus der große Verräter. Das war alles Teil der Legende des Hoffnungstöters. »Und woher wisst Ihr so genau, was er vorhatte?«

»Er hat es mir gesagt.«

»Ach, tatsächlich?« Ich lachte. »Ich habe Tausende Briefe an sämtliche Botschafter und Amtsträger der Königslande geschickt, die mir einfielen. Die wenigen, die sich die Mühe machten, mir zu antworten, waren sich über eine Sache einig: Janus hat niemandem seine Pläne anvertraut, nicht einmal seiner eigenen Familie.«

»Und dennoch behauptet Ihr, er hätte Euer gesamtes Kaiserreich erobern wollen.«

»Eine logische Schlussfolgerung aus den vorhandenen Beweisen.«

»Logisch vielleicht, aber falsch. Janus besaß das Herz eines Königs, hart und kalt, wenn es sein musste. Aber er war nicht habgierig, und er war kein Träumer. Er wusste, dass die Königslande niemals die nötigen Mittel und Soldaten aufbringen könnten, um Euer Kaiserreich zu erobern. Wir wollten lediglich die Hafenstädte einnehmen. Er sagte, das sei die einzige Möglichkeit, unsere Zukunft zu sichern.«

»Weshalb hätte er Euch ein solches Wissen anvertrauen sollen?«

»Wir haben… ein Abkommen geschlossen. Er erzählte mir vieles, was er sonst niemandem verraten hätte. Einige seiner Befehle bedurften einer Erklärung, bevor ich sie ausführen konnte. Aber manchmal glaube ich auch, dass er einfach mit jemandem reden wollte. Selbst Könige sind mitunter einsam.«

Ich empfand eine seltsame Versuchung; der Nordmann wusste, dass ich nach dem Wissen dürstete, das er mir schenken konnte. Mein Respekt vor ihm wuchs in gleichem Maße wie meine Abscheu. Er benutzte mich; er wollte, dass ich die Geschichte aufschrieb, die er zu erzählen hatte. Und ich hatte nicht die geringste Ahnung, weshalb. Ich wusste, dass es etwas mit Janus zu tun hatte und mit dem Duell, das Al Sorna auf den Inseln ausfechten würde. Vielleicht wollte er vor seinem Ende noch einmal jemandem sein Herz ausschütten, ein Vermächtnis der Wahrheit hinterlassen, damit er nicht nur als Hoffnungstöter in die Geschichte eingehen würde. Vielleicht war es ein letzter Versuch, seine Seele und die seines toten Königs reinzuwaschen.

Das Schweigen zog sich in die Länge, während ich den Schwertwalen dabei zusah, wie sie sich satt fraßen und irgendwann in Richtung Osten davonschwammen. Während sich die Sonne dem Horizont zuneigte und die Schatten länger wurden, sagte ich schließlich: »Also gut, erzählt mir Eure Geschichte.«

ERSTES KAPITEL

An jenem Morgen, als Vaelins Vater ihn zum Haus des sechsten Ordens brachte, lag der Nebel in dichten Schwaden über dem Land. Vaelin saß vergnügt vorne im Sattel und hielt sich am Knauf fest. Sein Vater nahm ihn nur selten auf einen Ausritt mit.

»Wohin reiten wir, Herr?«, hatte er gefragt, als sein Vater ihn zum Stall führte.

Der hochgewachsene Mann hatte ihm keine Antwort gegeben, doch er hatte einen Augenblick gezögert, bevor er eines seiner Streitrosse sattelte. Dass Vaelins Vater auf eine Frage hin schwieg, war nichts Ungewöhnliches, und der Junge hatte sich nichts weiter dabei gedacht.

Sie ritten fort vom Haus; die Hufeisen des Streitrosses klapperten über das Kopfsteinpflaster. Nach einer Weile durchquerten sie das Nordtor, wo die Leichen in Käfigen von der Stadtmauer herabhingen und üblen Verwesungsgestank verbreiteten. Vaelin hatte gelernt, nicht danach zu fragen, was die nun Toten einst getan hatten, um eine solche Strafe verdient zu haben; es war eine der wenigen Fragen, auf die sein Vater stets bereitwillig antwortete. Und die Geschichten, die er erzählte, ließen Vaelin nachts wach liegen und bei jedem Geräusch vor dem Fenster leise wimmern, aus Furcht vor Dieben, Aufständischen oder Leugnern, die vom Dunklen besessen waren.

Das Kopfsteinpflaster ging alsbald in die Wiesen jenseits der Stadtmauer über. Sein Vater trieb das Streitross zum Trab und schließlich zum Galopp an, und Vaelin lachte vor Aufregung. Einen Moment lang schämte er sich seiner Freude. Seine Mutter war vor zwei Monaten gestorben, und die Trauer seines Vaters lag wie eine dunkle Wolke über dem gesamten Haus, flößte den Dienern Angst ein und hielt Besucher fern. Aber Vaelin war erst zehn Jahre alt und betrachtete den Tod mit den Augen eines Kindes: Natürlich vermisste er seine Mutter, aber ihr Fortgehen war für ihn ein Rätsel, das eigentliche Geheimnis der Erwachsenenwelt. Obwohl auch er manchmal weinte, wusste er im Grunde gar nicht so recht, weshalb, und weiterhin stahl er dem Koch Pasteten und spielte mit seinen Holzschwertern im Hof wie eh und je.

Sie galoppierten ein Stück, bis sein Vater das Pferd zügelte. Vaelin war ein wenig enttäuscht– er hätte noch ewig so weiterreiten können. Sie hielten vor einem großen Eisentor an. Die Gitterstäbe des Tors besaßen dreifache Mannesgröße und endeten in spitzen Zacken. Oben auf dem Torbogen erhob sich eine eiserne Figur, ein Krieger, der das Schwert mit der Spitze nach unten vor der Brust hielt, sein Gesicht war das eines eingefallenen Totenschädels. Die Mauern zu beiden Seiten waren beinahe so hoch wie das Tor. Linker Hand hing an einem hölzernen Balken eine Messingglocke.

Vaelins Vater stieg ab und hob den Jungen aus dem Sattel.

»Was ist das für ein Ort?«, fragte Vaelin. Seine Stimme klang unwirklich laut, obwohl er im Flüsterton sprach. Die Stille und der Nebel waren ihm unheimlich; das Tor und die Figur darauf gefielen ihm nicht. Mit kindlicher Gewissheit wusste er, dass die leeren Augenhöhlen nur eine Täuschung waren. Die Figur beobachtete sie abwartend.

Sein Vater antwortete nicht, sondern ging zu der Glocke, zog seinen Dolch aus dem Gürtel und schlug mit dem Knauf dagegen. Das Läuten der Glocke durchbrach schrill die Stille. Vaelin legte sich die Hände auf die Ohren, bis das Geräusch verklungen war. Als er hochschaute, sah er seinen Vater über sich aufragen.

»Vaelin«, sagte dieser mit der rauhen Stimme eines Kriegers. »Erinnerst du dich noch an den Leitspruch, den ich dich gelehrt habe? Den Grundsatz unserer Familie?«

»Ja, Vater.«

»Wie lautet er?«

»Loyalität ist unsere Stärke.«

»Ja. Loyalität ist unsere Stärke. Denk immer daran, dass du mein Sohn bist und auf meinen Wunsch hier weilst. An diesem Ort wirst du viele Dinge lernen, du wirst ein Bruder des sechsten Ordens werden. Aber du wirst immer mein Sohn bleiben und meinen Weisungen folgen.«

Hinter dem Tor war ein Knirschen zu hören, und Vaelin erschrak, als er auf der anderen Seite des Gitters eine hochgewachsene, in einen Umhang gehüllte Gestalt bemerkte. Der Mann hatte auf sie gewartet. Sein Gesicht blieb im Nebel verborgen, doch Vaelin hatte das unangenehme Gefühl, eingehend gemustert zu werden. Er schaute zu seinem Vater hoch und sah einen großen Mann mit markanten Zügen, einem angegrauten Bart und tiefen Falten im Gesicht. In seiner Miene lag etwas, das Vaelin noch nie zuvor gesehen hatte und das er nicht benennen konnte. In späteren Jahren würde er es in den Gesichtern Tausender Männer sehen, und es würde ihm nur allzu vertraut werden: Furcht. Ihm fiel auf, dass die Augen seines Vaters ungewöhnlich dunkel waren, viel dunkler als die seiner Mutter. Sein ganzes Leben lang sollte er ihn so in Erinnerung behalten. Für andere war er der Kriegsherr, das erste Schwert des Königs, der Held von Beltrian, Retter des Königs und Vater eines berühmten Sohnes. Für Vaelin würde er immer jener von Furcht erfüllte Mann sein, der seinen Sohn am Tor des Hauses des sechsten Ordens abgab.

Er spürte die große Hand seines Vaters in seinem Rücken. »Geh jetzt, Vaelin. Geh zu ihm. Er wird dir nichts tun.«

Lügner!, dachte Vaelin wütend. Seine Füße schlurften über den Boden, während sein Vater ihn auf das Tor zuschob. Das Gesicht der verhüllten Gestalt löste sich aus dem Nebel; sie besaß lange, hagere Züge mit dünnen Lippen und blassblauen Augen. Vaelin konnte den Blick nicht von diesen Augen abwenden. Und der Mann mit dem hageren Gesicht erwiderte seinen Blick, ohne seinen Vater anzusehen.

»Wie lautet dein Name, Junge?« Der Mann sprach leise, wie ein Seufzen im Nebel.

Warum Vaelins eigene Stimme so ruhig klang, sollte ihm auf ewig ein Rätsel bleiben. »Vaelin, Euer Lordschaft. Vaelin Al Sorna.«

Die dünnen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Ich bin kein Lord, Junge. Ich bin Gainyl Arlyn, Aspekt des sechsten Ordens.«

Vaelin entsann sich der vielen Anstandsregeln, die seine Mutter ihm beigebracht hatte. »Verzeihung, Aspekt.«

Hinter sich hörte er ein Schnauben. Vaelin drehte sich um und sah seinen Vater davonreiten; sein Streitross wurde rasch vom Nebel verschluckt, das Trommeln der Hufe auf der weichen Erde verklang.

»Er wird nicht zurückkehren, Vaelin«, sagte der Mann mit dem langen Gesicht, der Aspekt. Sein Lächeln war verschwunden. »Weißt du, warum er dich hierhergebracht hat?«

»Um viele Dinge zu lernen und ein Bruder des sechsten Ordens zu werden.«

»Ja. Aber niemand tritt dem Orden gegen seinen Willen bei, sei er nun ein Junge oder ein erwachsener Mann.«

Vaelin verspürte den plötzlichen Drang zu fliehen, in den Nebel zu entkommen. Er würde davonlaufen und sich einer Bande Gesetzloser anschließen; er würde im Wald wohnen, die tollsten Abenteuer erleben und vorgeben, ein Waisenjunge zu sein… Loyalität ist unsere Stärke.

Der Aspekt musterte ihn mit ausdruckslosem Blick, aber Vaelin wusste, dass er jeden Gedanken in seinem Kopf lesen konnte. Später würde er sich fragen, wie viele Jungen, die von verräterischen Vätern hierhergebracht worden waren, tatsächlich weggelaufen waren, und ob sie es jemals bereut hatten. Loyalität ist unsere Stärke.

»Ich möchte beitreten«, sagte er dem Aspekt. In seinen Augen standen Tränen, aber er blinzelte sie fort. »Ich möchte viele Dinge lernen.«

Der Aspekt streckte die Hand aus, um das Tor zu entriegeln. Vaelin bemerkte, dass seine Hände von Narben übersät waren. Als das Tor aufschwang, winkte er Vaelin hinein. »Komm, kleiner Falke. Du bist jetzt unser Bruder.«

◆ ◆ ◆

Vaelin wurde schnell klar, dass das Haus des sechsten Ordens weniger ein Haus als vielmehr eine Festung war. Granitmauern ragten wie Klippen über ihm auf, während der Aspekt ihn zum Haupttor führte. Dunkle Gestalten patrouillierten, Langbögen in den Händen haltend, auf den Mauerzinnen und blickten mit leeren, nebelverschleierten Augen zu ihm hinab. Der Eingang war ein gewölbter Torbogen. Das Fallgitter war für sie hochgezogen worden, und die beiden Speerträger, die davor Wache hielten– fortgeschrittene Schüler von etwa siebzehn Jahren–, verbeugten sich ehrerbietig, als der Aspekt an ihnen vorbeiging. Er würdigte sie kaum eines Blickes und führte Vaelin über den Innenhof, wo andere Schüler das Stroh von den Pflastersteinen fegten und aus einer Schmiedewerkstatt das Klirren von Hämmern auf Metall ertönte. Burgen waren für Vaelin nichts Neues– seine Eltern hatten ihn einst in den Palast des Königs mitgenommen, wo er, angetan mit seinen besten Kleidern und zappelnd vor Langeweile, einer endlosen Rede des Aspekten des ersten Ordens über die Großherzigkeit des Königs gelauscht hatte. Doch der Palast war ein hell erleuchtetes Labyrinth gewesen, voller Statuen, Wandbehänge, sauber poliertem Marmor und Soldaten mit Brustharnischen, in denen man sich spiegeln konnte. Im Königspalast roch es nicht nach Mist und Rauch. Dort gab es keine schattigen Durchgänge, die dunkle Geheimnisse bargen, von denen ein Junge nichts wissen sollte.

»Erzähle mir, was du über unseren Orden weißt, Vaelin«, wies der Aspekt ihn an, während er ihn zum Burgfried führte.

Vaelin gab wieder, was er von seiner Mutter gelernt hatte: »Der sechste Orden führt das Schwert der Gerechtigkeit und zerschmettert die Feinde des Glaubens und der Königslande.«

»Sehr gut.« Der Aspekt klang überrascht. »Du hast eine ausgezeichnete Bildung genossen. Aber was tun wir, was die anderen Orden nicht tun?«

Vaelin dachte fieberhaft nach, bis sie den Burgfried erreicht hatten und er zwei etwa zwölfjährige Jungen sah, die mit Eschenholzschwertern aufeinander einschlugen– eine rasche Abfolge von Stößen, Paraden und Hieben. Die Jungen kämpften in einem weißen Kreidekreis, und jedes Mal, wenn sie zu nah an den Rand des Kreises gerieten, schlug ihr Lehrer, ein dürrer Mann, der einen Rabenschädel hatte, mit einem Rohrstock nach ihnen. Sie waren so sehr in ihren Wettkampf versunken, dass sie die Schläge kaum bemerkten. Einer der Jungen machte einen zu weiten Ausfallschritt und musste einen Schlag gegen den Kopf einstecken. Heftig blutend taumelte er nach hinten und fiel über die Kreislinie, was ihm einen weiteren Schlag mit dem Rohrstock einbrachte.

»Ihr kämpft«, erwiderte Vaelin– beim Anblick der Gewalt und des Blutes hämmerte ihm das Herz in der Brust.

»Ja.« Der Aspekt blieb stehen und sah auf ihn herab. »Wir kämpfen. Wir töten. Wir stürmen Festungsmauern und trotzen Pfeilen und Feuer. Wir stellen uns Pferden und Lanzen entgegen. Wir bahnen uns einen Weg durch Wälder aus Spießen und Speeren, um die Standarte unseres Gegners zu erobern. Der sechste Orden kämpft, aber wofür kämpft er?«

»Für die Königslande.«

Der Aspekt ging in die Hocke, um Vaelin in die Augen zu blicken. »Ja, die Königslande, aber was zählt noch mehr als die Königslande?«

»Der Glaube?«

»Du klingst unsicher, kleiner Falke. Vielleicht hast du doch keine so ausgezeichnete Bildung genossen.«

Hinter ihm zog der Lehrer den gestürzten Jungen unter einem Schwall Beschimpfungen wieder auf die Beine. »Du ungeschickter Bauerntölpel! Rein mit dir in den Kreis. Wenn du noch einmal hinfällst, sorge ich dafür, dass du nie wieder aufstehst.«

»›Der Glaube ist aus unserer Geschichte und unserem Geist hervorgegangen‹«, betete Vaelin herunter. »›Wenn wir ins Jenseits eingehen, werden wir eins mit den Seelen der Verstorbenen, die uns im Diesseits lenken. Zum Dank verehren wir sie mit unserem Glauben.‹«

Der Aspekt hob eine Augenbraue. »Du kennst den Katechismus gut.«

»Ja, Herr. Meine Mutter hat mich gründlich unterrichtet.«

Die Miene des Aspekten verdunkelte sich. »Deine Mutter…« Er hielt inne, und sein Gesicht verwandelte sich wieder in eine ausdruckslose Maske. »Über deine Mutter sollst du nicht mehr sprechen. Und auch nicht über deinen Vater oder andere Familienmitglieder. Du hast jetzt keine Familie mehr außer dem Orden. Du gehörst dem Orden. Hast du mich verstanden?«

Der Junge mit der Schnittwunde am Kopf war erneut hingefallen und wurde nun von seinem Lehrer verprügelt. Der Rohrstock hob und senkte sich in gleichmäßigem Rhythmus, und die hagere Miene des Lehrers verriet dabei keinerlei Gefühlsregung. Vaelin hatte denselben Gesichtsausdruck bei seinem Vater gesehen, wenn er einen seiner Jagdhunde schlug.

Du gehörst dem Orden. Zu seiner Überraschung hatte sich sein Herzschlag verlangsamt, und seine Stimme zitterte nicht, als er dem Aspekten antwortete: »Ich verstehe.«

◆ ◆ ◆

Der Name des Lehrers war Sollis. Er hatte ein schmales, wettergegerbtes Gesicht und die Augen einer Ziege: grau, kalt und starr. Er warf einen Blick auf Vaelin und fragte dann: »Weißt du, was Aas ist?«

»Nein, Sir.«

Meister Sollis trat bedrohlich näher. Vaelins Herz wollte immer noch nicht schneller schlagen. Die Erinnerung daran, wie der Lehrer mit dem hageren Gesicht seinen Rohrstock auf den am Boden liegenden Jungen hatte niedersausen lassen, hatte seine Furcht in eine brodelnde Wut verwandelt.

»Totes Fleisch, mein Junge«, sagte Meister Sollis. »Das Fleisch, das auf den Schlachtfeldern zurückbleibt und von den Krähen und Ratten gefressen wird. Das ist es, was dich erwartet. Totes Fleisch.«

Vaelin sagte nichts. Sollis’ Ziegenaugen bohrten sich in ihn hinein, aber er wusste, dass sie keine Furcht sahen. Vaelin war wütend, Angst hatte er nicht.

Mit zehn anderen Jungen teilte er sich ein Zimmer im Obergeschoss des Nordturms. Sie waren alle ungefähr in seinem Alter. Einige weinten heimlich vor Heimweh, andere grinsten ständig vor Aufregung.

Später ließ sie Sollis im Zimmer in Reih und Glied antreten und schlug mit dem Rohrstock nach einem dicken Jungen, der sich zu langsam bewegte. »Schneller, du Fettsack.«

Er musterte jeden Einzelnen und trat bei einigen näher heran, um sie zu beschimpfen. »Name?«, fragte er einen großen blonden Jungen.

»Nortah Al Sendahl, Herr.«

»Es heißt Meister, nicht Herr, du Dummkopf.« Er ging weiter die Reihe entlang. »Name?«

»Barkus Jeshua, Meister«, erwiderte der dicke Junge, den er zuvor mit dem Rohrstock geschlagen hatte.

»Wie ich sehe, werden in Nilsael immer noch Brauereipferde gezüchtet.«

Und so ging es immer weiter, bis jeder sein Fett abbekommen hatte. Schließlich trat er zurück und hielt eine kurze Ansprache: »Eure Familien hatten ihre Gründe, warum sie euch hierhergebracht haben«, sagte Sollis. »Sie wollen euch in Helden verwandeln, damit ihr dem Familiennamen Ehre macht und sie sich in den Tavernen und Hurenhäusern eurer rühmen können. Vielleicht wollten sie sich aber auch nur ein unliebsames Balg vom Hals schaffen. Wie dem auch sei, vergesst sie! Wenn ihnen etwas an euch läge, wärt ihr nicht hier. Ihr gehört jetzt uns, dem Orden. Ihr werdet lernen zu kämpfen und bis an euer Lebensende die Feinde der Königslande und des Glaubens töten. Das ist alles, was zählt. Das ist alles, was für euch wichtig ist. Ihr habt keine Familie mehr, keine Träume und keine Ziele jenseits des Ordens.«

Er befahl ihnen, die groben Baumwollsäcke von ihren Betten zu nehmen und die zahllosen Stufen des Turms hinunterzulaufen, über den Innenhof zum Stall, wo sie sie unter Rohrstockschlägen mit Stroh füllten. Vaelin war sich sicher, dass ihn der Rohrstock öfter traf als die anderen, und er hatte den Eindruck, dass Sollis ihn absichtlich zum älteren und feuchteren Stroh hinscheuchte. Als die Säcke voll waren, wurden die Jungen den Turm wieder hinaufgeprügelt, wo sie sie auf die hölzernen Gestelle legten, die ihnen als Betten dienen würden. Danach wurden sie in die Gewölbe unter dem Burgfried gebracht. Sollis ließ sie wieder in einer Reihe antreten. Ihr Atem stand in der kühlen Luft vor ihren Gesichtern, und ihr Keuchen hallte laut von den Wänden wider. Die Gewölbe wirkten riesig. Gemauerte Gänge führten in alle Richtungen in die Dunkelheit. Vaelin spürte Furcht in sich aufsteigen, als er in die unergründlichen Schatten starrte, die wer weiß was für Bedrohungen bergen mochten.

»Augen nach vorn!« Sollis’ Rohrstock hinterließ einen Striemen auf seinem Arm, und er musste ein schmerzvolles Schluchzen unterdrücken.

»Frischfleisch, Meister Sollis?«, erkundigte sich eine fröhliche Stimme. Aus der Dunkelheit war ein gewaltiger Mann aufgetaucht, in dessen Faust von der Größe eines Schinkens eine Öllampe flackerte. Vaelin hatte noch nie zuvor einen Menschen gesehen, der breiter als hoch zu sein schien. Sein Leibesumfang war von einem wallenden Gewand verhüllt, das dunkelblau war wie die der anderen Lehrer, auf der Brust jedoch von einer einzelnen roten Rose geziert wurde. Meister Sollis’ Gewand war dagegen vollkommen schmucklos.

»Eine neue Kehrschaufel Dung, Meister Grealin«, sagte Sollis mit einem Anflug von Schicksalsergebenheit zu dem großen Mann.

Auf Grealins fleischigem Gesicht erschien ein flüchtiges Lächeln. »Nun, welch Glück, dass die Jungen Euch als Lehrer haben.«

Einen Moment lang herrschte Stille, und Vaelin spürte die Spannung zwischen den beiden Männern. Ihm entging nicht, dass Sollis als Erster weitersprach. »Sie brauchen Ausrüstung.«

»Natürlich.« Grealin kam näher, um die Jungen in Augenschein zu nehmen. Für seine Körpergröße bewegte er sich erstaunlich leichtfüßig– beinahe schien er über die Steinplatten zu schweben. »Kleine Krieger müssen für die ihnen bevorstehenden Schlachten gerüstet sein.« Er lächelte immer noch, aber Vaelin fiel auf, dass das Lächeln seine Augen nicht erreichte. Wieder musste er an seinen Vater denken und daran, wie dieser auf den Messen der Pferdehändler Streitrosse begutachtet hatte. Er war um die Tiere herumgegangen und hatte Vaelin erklärt, woran man ein gutes Streitross erkennen konnte, was die Form der Muskeln darüber verriet, wie stark es im Nahkampf war. Die besten Pferde, hatte er gesagt, waren jene, denen nach dem Zureiten noch ein Quentchen Temperament verblieb. »Die Augen, Vaelin«, hatte er erklärt. »Ein gutes Pferd hat einen Funken Feuer in den Augen.«

War es das, wonach Meister Grealin jetzt suchte? Nach dem Feuer in ihren Augen? Etwas, woran zu erkennen wäre, wer von ihnen durchhalten würde und wie sie sich bei einem Angriff oder im Nahkampf schlagen würden?

Grealin blieb neben einem schmächtigen Jungen namens Caenis stehen, der bislang die schlimmsten Beleidigungen durch Sollis hatte erdulden müssen. Grealin betrachtete ihn aufmerksam, und der Junge verlagerte unter seinem prüfenden Blick unbehaglich das Gewicht. »Wie lautet dein Name, kleiner Krieger?«, fragte Grealin ihn.

Caenis musste schlucken, bevor er antworten konnte. »Caenis Al Nysa, Meister.«

»Al Nysa.« Grealin wirkte nachdenklich. »Eine Adelsfamilie mit beachtlichem Vermögen, wenn ich mich recht entsinne. Ländereien im Süden, durch Heirat mit Haus Hurnisch verbunden. Du bist hier weit von der Heimat.«

»Jawohl, Meister.«

»Nun, gräme dich nicht. Du hast im Orden eine neue Heimat gefunden.« Er klopfte Caenis auf die Schulter, was diesen zusammenzucken ließ. Nachdem Sollis ihn mit seinem Rohrstock traktiert hatte, fürchtete er jetzt die sanfteste Berührung. Grealin schritt die Reihe entlang, stellte den Jungen Fragen und sprach aufmunternde Worte, während Meister Sollis ungeduldig mit dem Rohrstock gegen seinen Stiefelschaft schlug. Tack, tack, tack, hallte es durch das Gewölbe.

»Ich glaube, deinen Namen kenne ich schon, kleiner Krieger.« Grealins gewaltiger Leib ragte vor Vaelin auf. »Al Sorna. Dein Vater und ichhaben gemeinsam im Meldeneischen Krieg gekämpft. Ein großer Mann. Du siehst ihm sehr ähnlich.«

Vaelin sah die Falle und zögerte nicht. »Ich habe keine Familie, Meister. Nur den Orden.«

»Ah, der Orden ist eine Familie, kleiner Krieger.« Grealin kicherte, während er weiterging. »Und Meister Sollis und ich sind deine Onkel.« Darauf musste er noch lauter lachen. Vaelin sah zu Sollis hinüber, der Grealin nun mit unverhohlenem Hass anstarrte.

»Folgt mir, ihr furchtlosen kleinen Männer!«, rief Grealin, die Lampe über den Kopf erhoben, während er tiefer in das Gewölbe hineinschritt. »Bleibt schön beisammen. Die Ratten mögen keine Besucher, und manche von ihnen sind größer als ihr.« Er kicherte erneut. Neben Vaelin stieß Caenis ein Wimmern aus und blickte mit angsterfüllten Augen in die unergründliche Schwärze.

»Achte nicht auf ihn«, flüsterte Vaelin. »Hier unten gibt es keine Ratten. Es ist viel zu sauber. Die würden gar nichts zu fressen finden.« Er war sich nicht ganz sicher, ob das stimmte, aber es klang zumindest ermutigend.

»Mund halten, Sorna!« Sollis’ Rohrstock pfiff über ihm durch die Luft. »Los, Bewegung!«

Sie folgten Meister Grealins Lampe in die schwarze Leere des Gewölbes; Schritte und das Lachen des dicken Mannes hallten von den Wänden wider und wurden gelegentlich vom Klatschen von Sollis’ Rohrstock unterbrochen. Caenis’ Blicke huschten ständig hin und her, zweifellos auf der Suche nach Riesenratten. Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, als sie schließlich bei einer massiven Eichenholztür ankamen. Grealin gebot ihnen zu warten, während er ein Schlüsselbund vom Gürtel nahm und die Tür aufschloss.

»Nun, ihr kleinen Männer«, sagte er und schwang die Tür auf. »Dann wollen wir euch mal für die bevorstehenden Schlachten rüsten.«

Hinter der Tür befand sich ein höhlenartiger Raum mit endlosen Reihen von Gestellen, in denen Schwerter, Speere, Bögen und Hunderte andere Waffen funkelten. An den Wänden stapelten sich Fässer und zahllose Säcke mit Mehl und Getreide. »Mein kleines Reich«, sagte Grealin. »Ich bin der Gewölbemeister und der Hüter der Waffenkammer. In diesem Lager gibt es nicht eine Bohne oder Pfeilspitze, die ich nicht abgezählt habe– und das zweimal. Wenn ihr irgendetwas braucht, wendet euch an mich. Und vor mir müsst ihr euch auch verantworten, wenn ihr etwas verloren habt.« Vaelin fiel auf, dass sein Lächeln verschwunden war.

Sie stellten sich in einer Reihe vor dem Lagerraum auf, während Grealin ihre Bündel holte, zehn graue Musselinsäcke, in die verschiedene Gegenstände gepackt waren. »Dies sind die Gaben des Ordens an euch, kleine Männer«, erklärte Grealin mit fröhlicher Stimme und ging die Reihe entlang, um vor jedem Jungen ein Säckchen abzulegen. »In euren Bündeln werdet ihr Folgendes finden: ein Holzschwert nach asraelischer Machart, ein Jagdmesser, zwölf Zoll lang, ein Paar Stiefel, ein Paar Hosen, zwei Baumwollhemden, einen Mantel, eine Gewandklammer, eine Geldbörse, leer natürlich, und eines von diesen hier…« Meister Grealin hielt etwas Funkelndes an einer Kette ins Lampenlicht hoch. Es war ein Medaillon, ein silberner Kreis, in den die Figur eingeprägt war, die Vaelin auf dem Tor des Ordenshauses gesehen hatte: der Krieger mit dem Totenschädel. »Dies ist das Siegel unseres Ordens«, fuhr Meister Grealin fort. »Es zeigt Saltroth Al Jenrial, den ersten Aspekten des Ordens. Ihr sollt es stets tragen, beim Schlafen, beim Waschen, immer. Meister Sollis hat sicherlich eine Menge Strafen in petto, sollte einer von euch einmal vergessen, es anzulegen.«

Sollis schwieg– der Rohrstock, der gegen seinen Stiefel schlug, war beredt genug.

»Darüber hinaus möchte ich euch noch ein paar Ratschläge geben«, sagte Meister Grealin. »Das Leben im Orden ist hart und oft kurz. Viele von euch wird man noch vor der Abschlussprüfung hinauswerfen, vielleicht sogar euch alle. Und diejenigen, die sich das Recht erwerben, bei uns zu bleiben, werden an fernen Grenzen patrouillieren und endlose Kämpfe gegen Wilde, Banditen oder Ketzer ausfechten und womöglich im Kampf sterben, wenn sie Glück haben, oder, wenn sie Pech haben, dabei verstümmelt werden. Die wenigen, die nach fünfzehn Jahren Dienst immer noch am Leben sind, wird man zu Kommandanten ernennen oder sie werden hierher zurückkehren, um ihre Nachfolger zu unterrichten. Dies ist das Leben, das eure Familien euch zugedacht haben. Es ist eine Ehre, auch wenn es euch nicht so vorkommen mag. Lernt es zu schätzen, hört auf eure Meister, auf das, was sie euch beibringen wollen, und bleibt stark im Glauben. Merkt euch, was ich gesagt habe, und ihr werdet euch im Orden gut zurechtfinden.« Er lächelte erneut und breitete die feisten Hände aus. »Das ist alles, was ich euch mitgeben kann, kleine Krieger. Und jetzt lauft! Zweifellos werde ich euch alle schon bald wiedersehen, wenn ihr die wertvollen Sachen, die ihr bekommt, verloren habt.« Er kicherte und verschwand im Lagerraum. Der Widerhall seines Gelächters folgte ihnen durch das Gewölbe, während sie von Sollis’ Rohrstock hinausgetrieben wurden.

◆ ◆ ◆

Der Pfosten war sechs Fuß hoch; oben rot angestrichen, in der Mitte blau und unten grün. Etwa zwanzig davon waren überall auf dem Übungsplatz verteilt– stumme Zeugen ihrer Qual. Sollis befahl ihnen, sich vor einen der Pfosten zu stellen und mit den Holzschwertern nach der Farbe zu schlagen, die er ihnen gerade zurief.

»Grün! Rot! Grün! Blau! Rot! Blau! Rot! Grün! Grün…«

Schon nach kurzer Zeit begann Vaelins Arm zu schmerzen, aber er schwang das Holzschwert dennoch weiter, so fest er konnte. Barkus, der nach ein paar Schlägen kurz den Arm gesenkt hatte, hatte sich eine Tracht Prügel mit dem Rohrstock eingefangen, die ihm sein übliches Lächeln vom Gesicht gewischt und einen blutigen Striemen auf seiner Stirn hinterlassen hatte.

»Rot! Rot! Blau! Grün! Rot! Blau! Blau…«

Vaelin stellte fest, dass er– wenn er sich nicht den Arm verstauchen wollte– das Schwert im letzten Moment anwinkeln musste, damit die Klinge über den Pfosten glitt, anstatt dagegen zu schlagen. Sollis trat hinter ihn, und Vaelins Rücken juckte in Erwartung der Schläge. Aber Sollis sah nur einen Moment lang zu und ging dann mit einem zufriedenen Knurren weiter zu Nortah, den er dafür bestrafte, dass er statt des roten den blauen Streifen getroffen hatte. »Mach die Augen auf, du Geck!« Nortah bekam einen Hieb in den Nacken ab und blinzelte die Tränen fort, während er weiter auf den Pfosten einschlug.

Stundenlang ließ Sollis sie so üben; das Pfeifen seines Rohrstocks bildete die Begleitmusik zu dem dumpfen Knallen ihrer Schwerter. Nach einer Weile wurden sie angewiesen, die Hand zu wechseln. »Ein Bruder des Ordens kann mit beiden Händen gleich gut kämpfen«, sagte Sollis. »Einen Arm zu verlieren, ist keine Entschuldigung für Feigheit.«

Nach einer weiteren endlosen Stunde befahl er ihnen schließlich aufzuhören, ließ sie in einer Reihe antreten und tauschte den Rohrstock gegen ein Holzschwert ein. Wie die ihren war auch seines asraelischer Machart: eine gerade Klinge mit einem etwas mehr als handbreiten Heft, um das sich ein dünner Metalldorn wand, der die Finger des Kämpfers schützen sollte. Vaelin kannte sich mit Schwertern aus. Sein Vater hatte einige im Esszimmer über dem Kamin hängen, die den Jungen stets verlockt hatten, auch wenn er es nie gewagt hatte, sie anzufassen. Natürlich waren sie größer gewesen als diese Holzspielzeuge. Ihre Klingen maßen drei Ellen oder mehr in der Länge und wirkten ziemlich abgenutzt. Sie wurden regelmäßig geschärft, und ihnen war anzusehen, wo der Schleifstein des Schmieds die Kerben und Dellen entfernt hatte, die sie auf dem Schlachtfeld davongetragen hatten. Eines der Schwerter hatte ihn besonders fasziniert. Es hing weit oben, außerhalb seiner Reichweite, und seine Spitze zeigte direkt auf Vaelins Nase. Es hatte eine einfache Form und war wenig kunstvoll geschmiedet– doch im Gegensatz zu den anderen Klingen war diese nicht abgeschliffen worden. Sie war gut geschärft, aber der Stahl war von zahlreichen Kratzern,Kerben und Dellen verunziert. Vaelin wagte nicht, seinen Vater danach zu fragen, und wandte sich deshalb an seine Mutter, allerdings kaum weniger zaghaft, weil er wusste, dass sie die Schwerter seines Vaters hasste. Er fand sie im Salon, wo sie, wie so oft, in ein Buch vertieftwar. Es war in der Anfangszeit ihrer Krankheit, und ihr Gesicht wirkte so verhärmt, dass Vaelin sie ganz erschrocken anstarrte. Sie lächelte, als er hereingeschlichen kam, und klopfte auf den Stuhl neben sich. Sie zeigte ihm gern ihre Bücher, und er schaute sich die Bilder an, während sie ihm Geschichten über den Glauben und die Königslande erzählte. Geduldig lauschte er der Legende von Kerlis dem Ketzer, der zum wahren Tod verdammt war, weil er sich geweigert hatte, den Ratschlag der Ahnen anzunehmen. Und als seine Mutter kurz verstummte, fragte er rasch: »Mutter, warum lässt Vater sein Schwert nicht abschleifen?«

Sie hielt inne, ohne ihn anzusehen. Das Schweigen zog sich in die Länge, und er glaubte schon, sie würde sich ein Beispiel an seinem Vater nehmen und seine Frage einfach übergehen. Gerade wollte er sich entschuldigen und darum bitten, hinausgehen zu dürfen, als seine Mutter antwortete: »Das ist das Schwert, das dein Vater bei seinem Eintritt in die Armee des Königs erhalten hat. In der Gründungszeit der Königslande hat er jahrelang damit gekämpft, und als der Krieg vorbei war, wurde er zum Schwert des Königs ernannt, weshalb du den Namen Al Sorna trägst. Die Kerben auf der Klinge erzählen die Geschichte, wie dein Vater zu dem wurde, was er heute ist. Deshalb lässt er sie nicht abschleifen.«

»Aufwachen, Sorna!« Sollis’ Bellen holte ihn mit einem Ruck in die Wirklichkeit zurück.

»Du fängst an, Rattengesicht«, sagte der Meister zu Caenis und bedeutete dem schmächtigen Jungen, sich ein paar Schritte vor ihm hinzustellen. »Ich greife an, du wehrst ab. Das machen wir so lange, bis einer von euch es schafft, meinen Angriff zu parieren.«

Seine nächste Bewegung war so schnell, dass Vaelin ihr mit den Augen nicht folgen konnte. Sollis’ Schwert zuckte vor und traf Caenis an der Brust, bevor dieser auch nur seine Klinge heben konnte. Der Junge stürzte zu Boden.

»Erbärmlich, Nysa«, sagte Sollis schroff. »Der Nächste. Wie war doch gleich dein Name? Dentos.«

Dentos besaß ein spitzes Kinn, dünne Haare und lange, ungelenke Gliedmaßen. Er sprach mit einem starken westrenfaelischen Akzent, den Sollis nicht ausstehen konnte. »Du kämpfst genauso miserabel, wie du sprichst«, kommentierte der Meister, nachdem die Eschenholzklinge seines Schwertes Dentos in die Rippen getroffen und ihn nach Luft japsend zu Boden geschickt hatte. »Jeshua, du bist dran.«

Barkus gelang es, dem ersten blitzschnellen Angriff auszuweichen, aber seine Riposte verfehlte das Schwert des Meisters, und er ging unter einem Schlag zu Boden, der ihm die Beine unter dem Körper wegriss.

Die nächsten beiden Jungen wurden ebenso rasch gefällt, und Nortah erging es nicht anders, obwohl es ihm fast gelungen wäre, dem Angriff des Meisters seitlich auszuweichen, was diesen jedoch nicht weiter beeindruckte. »Da musst du dir schon was Besseres einfallen lassen.« Sollis wandte sich Vaelin zu. »Dann wollen wir es mal hinter uns bringen, Sorna.«

Vaelin nahm vor Sollis Aufstellung und wartete. Der kalte Blick des Meisters begegnete dem seinen, seine blassen Augen fixierten ihn… Vaelin reagierte einfach, ohne nachzudenken. Er machte einen Schritt zur Seite, hob sein Schwert und ließ Sollis’ Klinge mit einem lauten Krachen abprallen.

Er trat zurück und hob das Schwert, bereit für den nächsten Schlag. Dabei gab er sich Mühe, nicht auf das staunende Schweigen der anderen zu achten und sich stattdessen auf Sollis’ nächsten Angriff zu konzentrieren. Der würde sicher von der Wut der Demütigung angeheizt sein. Doch es erfolgte kein Angriff. Meister Sollis packte lediglich sein Holzschwert ein und befahl ihnen, ihre Sachen zusammenzusammeln und ihm zum Speisesaal zu folgen. Vaelin beobachtete Sollis genau, während sie über den Übungsplatz zum Innenhof gingen, und suchte nach Anzeichen dafür, dass der Rohrstock des Meisters gleich auf ihn niedersausen würde, aber Sollis’ mürrische Miene blieb unverändert. Vaelin konnte sich nicht vorstellen, dass der Meister die Beleidigung einfach so hinnehmen würde, und beschloss, weiter auf der Hut zu sein, damit ihn die unvermeidliche Strafe nicht unvorbereitet träfe.

◆ ◆ ◆

Beim Essen erwartete sie eine Überraschung. Der Saal war bereits vom Stimmengewirr zahlloser Jungen erfüllt, die miteinander schwatzten und scherzten. Die Sitzordnung folgte dem Alter– die Jüngsten saßen in der Nähe der Türen, wo es am stärksten zog, und die Ältesten am anderen Ende der Tafel, in der Nähe des Lehrertisches. Insgesamt schien es etwa dreißig Lehrer zu geben, die meisten von ihnen waren schweigsam und maßen ihre Umgebung mit strengen Blicken. Viele waren von Narben entstellt; einige wiesen dunkle Brandmale auf. Einem der Männer, der an der Stirnseite des Tisches saß und schweigend einen Teller Brot mit Käse verzehrte, schien die gesamte Kopfhaut weggebrannt zu sein. Nur Meister Grealin wirkte fröhlich und lachte laut, einen Hühnerschenkel in der fleischigen Faust. Die anderen Lehrer schenkten ihm entweder keine Beachtung oder nahmen seine Witze lediglich mit einem höflichen Nicken zur Kenntnis.

Meister Sollis führte sie zu dem Tisch, der der Tür am nächsten war, und gebot ihnen, sich zu setzen. Am Tisch saßen bereits einige andere Jungen, die ungefähr in ihrem Alter waren. Sie waren einige Wochen früher im Ordenshaus eingetroffen und wurden von anderen Lehrern unterrichtet. Vaelin bemerkte die spöttischen und herablassenden Blicke, die manche ihnen zuwarfen, und sie gefielen ihm gar nicht.

»Ihr dürft euch frei unterhalten«, sagte Sollis. »Aber werft nicht mit dem Essen herum. Ihr habt eine Stunde Zeit.« Er beugte sich vor und raunte Vaelin zu: »Wenn du dich prügelst, brich niemandem die Knochen.« Damit ging er zum Lehrertisch hinüber.

Auf der Tafel der Jungen standen zahllose Teller mit gebratenem Huhn, Pasteten, Obst, Brot, Käse und sogar Kuchen– ein wahrer Festschmaus, der in starkem Widerspruch zu der nüchternen Strenge lag, die Vaelin bislang im Ordenshaus erfahren hatte. In seinem Leben hatte er bis dahin nur einmal ein solch üppiges Mahl gesehen, und zwar im Palast des Königs, und damals hatte er nicht viel davon genießen dürfen. Einen Moment lang saßen die Jungen schweigend da, teils aus Ehrfurcht vor der großen Fülle, teils aus Unbehagen, weil sie einander schließlich kaum kannten.

»Wie hast du das geschafft?«

Vaelin blickte auf und sah, dass die Frage von Barkus kam, dem kräftigen Burschen aus Nilsael. »Was meinst du?«

»Wie hast du seinen Angriff pariert?«

Die anderen Jungen betrachteten ihn interessiert. Nortah tupfte sich mit einer Serviette die blutige Lippe ab, die Sollis ihm beigebracht hatte. Vaelin konnte nicht feststellen, ob die Jungen neidisch oder verärgert waren. »Seine Augen«, sagte er, während er nach einem Krug griff und sich ein wenig Wasser in den einfachen Zinnbecher goss, der neben seinem Teller stand.

»Was ist mit seinen Augen?«, fragte Dentos. Er hatte sich ein Brötchen genommen und stopfte sich nun Stücke davon in den Mund. Beim Sprechen spuckte er Krümel. »Willst du etwa sagen, der Meister hätte die dunkle Gabe benutzt?«

Nortah lachte, und ebenso Barkus, aber die anderen Jungen schauderte es offenbar bei der Vorstellung. Caenis war der Einzige, der gar nicht an dem Gespräch teilnahm und sich stattdessen einer bescheidenen Portion Hühnchen und Kartoffeln widmete.

Vaelin rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Er mochte es nicht, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. »Er fixiert einen mit seinem Blick«, erklärte er. »Wenn er einem in die Augen schaut, ist man wie gebannt. Dann greift er einen an, und man kann nicht schnell genug reagieren. Schaut ihm nicht in die Augen, sondern auf seine Füße oder sein Schwert.«

Barkus biss in einen Apfel und knurrte. »Er hat recht, wisst ihr. Ichhatte auch das Gefühl, dass er mich hypnotisieren will.«

»Was heißt ›hypnotisieren‹?«, fragte Dentos.

»Das sieht aus wie Magie, ist aber nur ein einfacher Trick«, erwiderte Barkus. »Auf dem letzten Sommerjahrmarkt war ein Mann, der den Leuten eingegeben hat, sie seien Schweine. Sie haben gegrunzt, im Boden gewühlt und sich im Dreck gewälzt.«

»Wie hat er das gemacht?«

»Ich weiß nicht. Mit irgendeinem Trick. Er hat eine Kugel vor ihren Augen geschwenkt und leise mit ihnen geredet. Und danach haben sie jeden seiner Befehle befolgt.«

»Denkst du, Meister Sollis ist zu so etwas in der Lage?«, fragte Jennis, den Sollis einen Esel geschimpft hatte.

»Bei den Ahnen, wer weiß das schon? Ich habe gehört, dass viele Ordensmeister über die dunkle Gabe verfügen, besonders die des sechsten.« Barkus betrachtete genüsslich einen Hähnchenschenkel, bevor er hineinbiss. »Und offenbar verstehen sie sich auch aufs Kochen. Sie lassen uns auf Stroh schlafen und prügeln uns den lieben langen Tag, aber zumindest bekommen wir was Anständiges zu essen.«

»Ja«, stimmte Dentos zu. »Genau wie der Hund von meinem Onkel Sim.«

Es herrschte verblüfftes Schweigen. »Der Hund von deinem Onkel Sim?«, hakte Nortah nach.

Dentos nickte und kaute munter an einem Stück Pastete. »Brutus. Der beste Kampfhund der Westlande. Hat zehn Siege eingeheimst, bevor ihm im letzten Winter ein Gegner die Kehle rausgerissen hat. Onkel Sim hat diesen Hund geliebt. Er hatte vier Kinder von drei verschiedenen Frauen, aber der Hund war sein Ein und Alles. Er wurde gefüttert, noch bevor die Kinder zu essen bekamen. Und immer nur vom Allerfeinsten. Die Kinder mussten sich mit Haferschleim zufriedengeben, während der Hund Rindersteaks gefressen hat.« Er kicherte trocken. »Der alte Fiesling.«

Nortah wirkte immer noch verwirrt. »Was spielt es für eine Rolle, womit irgendein renfaelischer Bauer seinen Hund füttert?«