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Florence ist jung, ungewöhnlich attraktiv, weiß nicht, woher sie kommt, weiß nicht einmal, ob sie wirklich Florence heißt - und gerät ins Visier des amerikanischen Geheimdienstes. Sie besitzt Fähigkeiten, die normale Menschen nicht haben, hält das aber für nichts Besonderes. Daher versteht sie es nicht, als sie erfährt, dass man hinter ihr her ist. Sie wird über den gesamten Globus gejagt, erlebt Abgründe menschlichen Handelns, aber auch Menschen, mit deren Hilfe sie immer wieder entwischen kann. Nur, wie lange noch?
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Seitenzahl: 314
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Vom selben Autor sind erschienen:
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SELENA und die irdischen Außerirdischen
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Epilog
Am 12. August wurde er zuerst gesehen, und zwar, als er schon nahe der Erde war. Das lag daran, dass an diesem Tag die Perseiden ihr Maximum am Nachthimmel erreichten und als Sternschnuppenregen zu beobachten waren. Daher wurde er so lange übersehen. Der Komet hatte einen Durchmesser von mehr als zehn Metern und wurde nach der Astronomin Paulette Seytres benannt, die ihn zuerst entdeckt hatte: 2017SEYTRES0812. Doch bevor man sich näher mit ihm befassen konnte, war er schon wieder verschwunden. Er trat mit so hoher Geschwindigkeit in die Erdatmosphäre ein, dass er in tausend Stücke zerbarst und diese Teile in der Atmosphäre nahezu vollständig verglühten. Der Rest eines der größeren Teile, so behauptete Paulette, hätte eigentlich auf der Erde aufschlagen müssen, und zwar fast genau in der Mitte Frankreichs. Aber spätere Untersuchungen im vorhergesagten Aufschlagbereich brachten nichts zutage. So wurde ihre Vorhersage als Rechenfehler abgetan.
»Sie wollen eine Anzeige aufgeben?«
»Ja! Ich bin bestohlen worden.«
»Was wurde denn gestohlen?«
»Wäsche. Wäsche von der Leine.«
»Und was genau?«
»Ein kurze Hose, beige, und ein kariertes blauweißes Hemd.«
»Mehr nicht?«
»Nein.«
»Sind Sie sicher, dass die Sachen gestohlen wurden? Kann nicht der Wind sie von der Leine geweht haben?«
»Heute weht kein Wind.«
»Hm. Haben Sie den Dieb denn gesehen?«
»Ja. Ich habe sie gesehen.«
»Sie?«
»Ja. Es war eine Frau, eine junge Frau.«
»Können Sie sie beschreiben?«
»Aber ja! Sie sah unglaublich gut aus.«
»Geht es nicht etwas präziser?«
»Doch. Natürlich. Sie war etwa 1,70 Meter groß, sehr schlank, sportlich, hatte dunkle Augen und schwarze glatte Haare zu einem Bubikopf geschnitten. Sie sah südländisch aus.«
»Was hatte sie an?«
»Nichts.«
»Nichts?«
»Ja. Sie war nackt. Sie hatte einen atemberaubenden Körper und wunderschöne Brüste. Und ihre Brustwarzen standen hervor.«
»Wie bitte? Ihre Brustwarzen standen hervor? Das ist doch wohl kein Wunder. Es war recht kalt heute Morgen. Bilden Sie sich bloß nichts ein. Hat sie etwas gesagt?«
»Nein, aber als sie mich sah, ist etwas Merkwürdiges passiert: Sie zog unglaublich schnell Hemd und Hose an und lief blitzschnell davon.«
»Was ist daran merkwürdig? Es ist doch wohl verständlich, dass sie sich bedeckte und auch, dass sie davonlief. So wie Sie sie vermutlich angeschaut haben.«
»Das meine ich nicht. Es waren ihre Bewegungen. Es schien mir, als wenn sie sich im Zeitraffer bewegte. So wie man es manchmal in Filmen sieht. Sie bewegte sich so schnell, dass meine Augen kaum folgen konnten.«
»Sind Sie sicher, dass ihr Verstand Ihnen da nicht einen Streich gespielt hat? Für mich sieht es so aus, als hätten Ihre Hormone ein bisschen verrückt gespielt. Plötzlich steht eine nackte Frau vor Ihnen. Da sind Sie einfach durchgedreht.«
»Vielleicht haben Sie recht. Aber dass sie am frühen Morgen draußen nackt herumläuft, ist schon merkwürdig.«
»Was soll daran merkwürdig sein? Wahrscheinlich wurde sie von einer Ehefrau in flagranti mit deren Mann erwischt und rausgeschmissen. Oder sie flüchtete, bevor man sie erwischte. Männern passiert das andauernd.«
»Mir ist so etwas noch nie passiert.«
»Das wundert mich nicht.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Nichts! Entschuldigung! Ist mir so rausgerutscht. Sie bestehen also auf einer Anzeige?«
»Ja. Schon allein wegen der Versicherung. Die ersetzt mir die Sachen.«
»Nun gut. Unterschreiben sie rechts unten.«
***
Wo bin ich? Die Gegend habe ich noch nie gesehen. Die Landschaft um mich herum ist hügelig. Grüne Wiesen wechseln sich mit kleinen Baumgruppen ab. Weiter hinten erkenne ich einen Wald. Nebel liegt flach über den Wiesen. Etwas unter mir kann ich in der Ferne einen kleinen Weiler erkennen. Vielleicht zwanzig Gebäude mit roten Dächern. Es kommt mir alles sehr fremd vor.
Mir ist kalt. Ich schaue an mir herunter. Ich bin nackt und habe überall Gänsehaut. Gänsehaut? Wie komme ich auf das Wort? Ich weiß nicht einmal, was Gänse sind. Dann sehe ich zwei Brüste. Ich bin also weiblich. Meine Brustwarzen stehen vor. Das muss etwas damit zu tun haben, dass ich friere. Brustwarzen! Was für ein scheußliches Wort. Ich weiß, was Warzen sind: Unansehnliche kleine Hautausstülpungen. Meine Brüste sind nicht unansehnlich und die hervorstehenden Spitzen erst recht nicht. Wenn ich sie berühre, habe ich, trotz der Kälte, ein angenehmes Kribbeln im Bauch. Wer hat sich nur das blöde Wort ›Brustwarzen‹ ausgedacht?
Ich muss etwas gegen die Kälte tun. Ich brauche Kleidung. In der Ferne kann ich helle Punkte vor einem der Gebäude sehen. Beim Näherkommen entpuppen sie sich dann als Wäsche auf einer Leine. Es ist niemand zu sehen und ich greife mir ein Hemd und eine Hose. Auf einmal steht ein Mann vor mir und starrt mich an. Sein Blick saugt sich an meinen Brüsten fest. Dann gleitet er abwärts, zwischen meine Schenkel. Seine Leinenhose beult sich aus.
Ich weiß nicht, warum, aber ich habe das Gefühl, dass die Situation bedrohlich wird. Mein Körper stößt Adrenalin aus und schaltet um auf Speed. Ich streife die Sachen über und bin verschwunden, bevor der Mann auch nur ein Wort sagen kann.
***
»Sie haben den Unfall gesehen? Ich befrage Sie hier als Zeugen. Wo befanden Sie sich, als der Unfall geschah?«
»Ich fuhr etwa zweihundert Meter hinter dem dunklen BMW. Plötzlich und ohne ersichtlichen Grund schleuderte das Auto über die gesamte Fahrbahn, drehte sich einmal um sich selbst und prallte gegen die Buche. Beim Herumschleudern sprang die Beifahrertür auf und eine Person stürzte heraus und lief weg.«
»Während das Fahrzeug schleuderte, sprang eine Person heraus und lief weg? Das ist doch gar nicht möglich, ohne sich schwer zu verletzen. Haben Sie das wirklich gesehen? Der Fahrer hat uns nichts von einem Beifahrer erzählt.«
»Wenn ich’s Ihnen doch sage. Da sprang wirklich jemand heraus.«
»Wie sah der jemand denn aus? Können Sie ihn beschreiben?«
»Nein! Ich kann Ihnen nicht einmal sagen, ob es ein Mann oder eine Frau war. Es ging alles wahnsinnig schnell. Die Person war blitzschnell zwischen den Bäumen verschwunden. Ich konnte noch einen dunklen Kopf erkennen. Sie muss dunkle Haare gehabt haben.«
»Okay. Kommen Sie bitte morgen auf die Wache, um das Zeugenprotokoll zu unterschreiben.«
***
Ich habe ein Problem. Ich muss unbedingt etwas essen und trinken. In der kurzen Zeit, in der mein Körper auf Speed ist, verbrauche ich jedes Mal viel Energie und habe danach großen Hunger und Durst. Doch in das Dorf zurück will ich nicht. Es gibt vermutlich weitere Dörfer, aber ich weiß nicht, wo sie liegen und wie weit sie entfernt sind. Ich kenne mich hier überhaupt nicht aus.
Ich sitze auf einer kleinen Anhöhe und schaue mich um. Die Nebelbänke haben sich verzogen. Der Himmel ist klar und blau und die kleine, helle Sonne wärmt mich. Weiter unten, hinter einem Getreidefeld, kann ich das Asphaltband einer Straße erkennen. Gelegentlich sehe ich ein Fahrzeug die Straße entlangfahren. Vielleicht kann ich eines anhalten und etwas zu essen bekommen.
Es dauert einige Zeit, bis ich in die Nähe der Straße komme. Dann kann ich Einzelheiten erkennen und vor allem riechen. Die Fahrzeuge stinken entsetzlich. Aus den Rohren hinten kommt ein Gemisch giftiger Chemikalien: Kohlendioxide, Stickoxide, Schwefeldioxide, Ammoniak und jede Menge Feinstaub und vermutlich auch Kohlenmonoxid, aber das kann ich nicht riechen. Ich weiß auf einmal, dass sie mit fossilen Brennstoffen betrieben werden. Aber woher weiß ich das? Ich habe diese Gefährte noch nie gesehen. Aber was das Ungewöhnlichste ist: Jedes Fahrzeug befördert jeweils nur eine Person. Die Menschen hier müssen verrückt sein, soviel Gift zu verteilen, nur um eine Person von A nach B zu befördern. Was für eine Verschwendung von Ressourcen!
Dann hält doch tatsächlich jemand an. Ein Mann. Er fragt, ob er mich ein Stück mitnehmen kann? Ich verstehe ihn. Aber wieso ein Stück? Was meint er mit ›ein Stück mitnehmen‹? Ein Stück von was?
Ich nicke erst einmal. Er öffnet die Tür und ich steige ein. Auch im Fahrzeug stinkt es. Ich versuche, flach zu atmen.
Während der Fahrt schaut er mich von der Seite an. Er scheint sich über meine Kleidung zu wundern und spricht mich an.
»Sind wohl die Klamotten Ihres Freundes. Hat er sie rausgeschmissen? Oder laufen Sie immer in Männerklamotten rum?«
Er fährt fort, ohne auf eine Antwort zu warten.
»Wenn er Sie rausgeschmissen hat, muss er verrückt sein, so wie Sie aussehen. Ha’m tolle Beine, und Ihre Titten sind auch nicht von schlechten Eltern.«
Titten? Was sind Titten? Und was haben schlechte Eltern damit zu tun? Ich verstehe das nicht, aber ich sehe seinen Blick. Es ist derselbe Blick, mit dem mich der Mann bei der Wäscheleine angeschaut hat, und wieder habe ich das Gefühl einer Bedrohung. Dann hat er ein Bündel Geldscheine in der Hand, die von einer Metallklammer zusammengehalten werden. Er spricht mich an.
»Wie wär’s mit ’nem Quickie? Ich zahl auch gut. Hab jede Menge Geld, wie Du siehst.«
Plötzlich ist seine Hand mit dem Geld zwischen meinen Schenkeln und mein Körper schüttet Adrenalin aus. Instinktiv reiße ich den Metallstab hoch, der sich zwischen unseren Sitzen befindet. Es ist eine Handbremse. Die Räder blockieren schlagartig und das Fahrzeug schleudert um seine Achse. Der Mann kurbelt am Lenkrad, um das Fahrzeug wieder in die Spur zu bekommen, doch ohne Erfolg. Die Klammer mit dem Geldbündel liegt zwischen meinen Schenkeln. Für mich geschieht dies alles in Zeitlupe. Ich greife das Geld, reiße die Tür auf, hechte nach draußen und renne fort, kurz bevor der Wagen mit der linken Seite gegen einen Baum knallt. Ein Blick zurück über die Schulter zeigt mir, wie sich der Mann fluchend aus dem zerbeulten Fahrzeug schält. Er scheint nicht verletzt zu sein, jedenfalls nicht schwer.
***
»Bei Ihnen ist also eingebrochen worden?«
»Ja! – Nein! Nicht wirklich.«
»Was denn nun? Wurde eingebrochen oder nicht?«
»Doch! Schon! Aber das Fenster stand offen.«
»Und darüber ist der Einbrecher eingestiegen?«
»Es war eine Einbrecherin.«
»Eine Frau? Haben Sie sie gesehen?«
»Ja. Von hinten. Als sie wieder aus dem Fenster sprang. Sie war schlank und offenbar sehr sportlich. Sie trug eine viel zu große kurze Hose und ein Männerhemd. Auch das war ihr eigentlich zu groß. Und sie hatte dunkle kurze Haare.«
»Hat sie etwas gestohlen? Fehlen Ihnen Haushaltsgegenstände? Schmuck? Geld? Wertsachen?«
»Nichts Wertvolles. Sie hat zwei Baguettes, ein großes Stück Käse und eine Dauerwurst mitgenommen.«
»Das sieht mir nach Mundraub aus. Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?«
»Ja. Als ich die Küche betrat, stand sie am offenen Kühlschrank und hatte die Baguettes unterm Arm. Bevor ich sie ansprechen konnte, war sie schon aus dem Fenster raus. Sie war unglaublich schnell. Sie hat mich sogar kurz angesehen. Aber ihre Bewegungen waren so schnell, dass ich nicht einmal ihr Gesicht habe wahrnehmen können.«
»Hat sie etwas gesagt?«
»Ja. Pardon.«
»Wie? Pardon? Mehr nicht?«
»Nur pardon. Mit Betonung auf der zweiten Silbe und nasalem ›n‹. Es klang französisch.«
»Und Sie wollen wirklich Anzeige erstatten?«
»Ja. Sie könnte ja wiederkommen oder es woanders versuchen. Vielleicht wollte sie ja auch weitere Dinge stehlen, wenn ich sie nicht überrascht hätte.«
»Gut. Unterschreiben Sie hier unten rechts.«
***
Ich bin jetzt schon eine Stunde unterwegs und brauche dringend etwas zum Essen. Immerhin habe ich im Wald einen kleinen Bach mit sehr klarem Wasser entdeckt, an dem ich meinen Durst löschen konnte. Ich erreiche den Waldrand und etwa einen Kilometer vor mir sehe ich ein Dorf. Am ersten Haus steht ein Fenster offen. Ich schleiche vorsichtig näher. Es ist kein Mensch zu sehen, auch im Raum hinter dem offenen Fenster nicht. Ich ziehe mich an der Fensterbank hoch und blicke hinein. Der Raum ist eine Küche. Auf dem Tisch liegen zwei Baguettes und an der gegenüberliegenden Wand steht ein Kühlschrank.
Mit einem Satz bin ich drinnen, greife mir die Baguettes, reiße die Tür zum Kühlschrank auf und lange nach einem großen runden Käse und einer dicken Wurst. Plötzlich steht ein Mann vor mir. Er starrt auf die Baguettes, den Käse und die Wurst in meinen Händen. Ich drehe mich um, murmele kurz eine Entschuldigung und bin mit einem Satz durchs Fenster und fort, bevor er überhaupt reagieren kann.
Ich bin gesättigt. Außer der Wurstpelle ist nichts übrig. Ich kann mir endlich Gedanken über meine Situation machen. Meine Erinnerungen beginnen damit, dass ich nackt auf einem Hügel in einer mir unbekannten Gegend stehe. Davor ist nichts, so, als gäbe es überhaupt kein Davor. Ich weiß nicht, wer ich bin, wie ich heiße und wie ich hierhergekommen bin. Ich beherrsche offenbar die Sprache, aber es gibt Worte und Begriffe, die ich nicht kenne. Etwa so, wie bei einem Computer das Schreibprogramm, aus dessen Wörterbuch einige Begriffe gelöscht wurden. Solche wie Gänse oder Titten. Wobei ich aus dem Zusammenhang, in dem ich die Wörter gehört habe, schließe, dass Ersteres wohl Vögel und Letzteres vermutlich weibliche Brüste sind. Gänse haben eine Haut mit lauter kleinen Erhebungen und Tälern. So wie meine, als ich fror.
Aber ich weiß, was das Bündel Scheine ist, das der Mann in meinem Schoß liegen ließ. Es ist Geld und ich weiß, dass man es braucht, wenn man in dieser Welt überleben will. Und noch etwas weiß ich: Ich muss Kontakt zu den Menschen hier aufnehmen. Es scheint wichtig zu sein, sie näher kennenzulernen. Warum das wichtig sein soll, weiß ich aber nicht.
Der nächste Ort, den ich nach zwei Stunden Fußmarsch erreiche, ist größer als die beiden Dörfer, in denen ich bisher war. Er muss eine Kleinstadt sein. Schon bald habe ich eine Straße mit Geschäften erreicht. Auf der rechten Seite lädt ein Bistro zum Essen und Trinken ein. Ich weiß, dass so eine Lokalität ideal ist, um Menschen kennenzulernen. Also öffne ich die Tür und betrete einen dunklen Raum mit etlichen Tischen und Stühlen. Die sind jedoch nicht besetzt. Vorn an der Bar lehnen einige Männer mit Gläsern in den Händen. Ich stelle mich dazu. Der Mann hinter dem Tresen spricht mich an.
»Möchten Sie etwas trinken?«
»Ja. gern.«
»Und was möchten Sie?«
»Was trinkt man denn so?«
»Nun, wir haben alle möglichen alkoholischen Getränke. Sie können aber auch Säfte, Limo oder Cola bekommen. Und natürlich auch Wasser.«
»Dann hätte ich gern Wasser.«
»Was für Wasser? Medium, mit Sprudel oder stilles Wasser.«
»Stilles Wasser? Seltsam. Kann Wasser denn reden und schweigen?«
»Sie wollen mich wohl verarschen.«
»Nein, ganz sicher nicht. Wenn ich etwas Falsches gesagt habe, bitte ich um Entschuldigung. – Ich nehme dann das schweigende Wasser.«
Der Barmann schüttelt den Kopf, wirft mir einen zweifelnden Blick zu und reicht wortlos ein Glas Wasser herüber.
Der junge Mann, der neben mir an der Bar lehnt, mustert mich.
»Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie anspreche. Sie sind nicht von hier, nicht wahr? Kann ich Ihnen helfen? Darf ich fragen, wie Sie heißen und wo Sie herkommen?«
Ich betrachte ihn genauer. Er lehnt mit einem Arm auf der Bar, seine extrem feingliedrigen Finger der anderen Hand umfassen ein halbvolles Glas mit einer hellbraunen Flüssigkeit. Seine dunkelbraunen Augen ruhen auf meinem Gesicht. Er sieht vertrauenerweckend und nett aus.
»Ich heiße Florence.« –
Wieso weiß ich auf einmal wie ich heiße, bis eben wusste ich das noch nicht.
»Wo ich herkomme, weiß ich allerdings nicht. Ich habe keine Erinnerung an alles, was länger als zwei Stunden zurückliegt.«
»Aber Sie sprechen offenbar akzentfrei französisch. Sind Sie Französin?«
»Vermutlich. Aber ich weiß es nicht wirklich. Ich glaube, ich habe mein Gedächtnis verloren.«
»Hatten Sie vielleicht einen Unfall, der sich auf Ihr Gedächtnis ausgewirkt hat?«
»Ja, ich hatte einen Unfall. Ich bin aus einem schleudernden Auto gestürzt. Aber mir ist nichts passiert.«
»Waren Sie allein im Auto? Was ist mit dem Fahrer?«
»Das Auto ist am Ende gegen einen Baum geprallt, aber dem Fahrer ist ebenfalls nichts Ernstes passiert. Dann bin ich fortgelaufen.«
»Warum sind Sie nicht beim Fahrer geblieben?«
»Ich kannte ihn nicht. Er hatte angehalten und mich mitgenommen. Ein Stück, hat er gesagt. Das habe ich nicht verstanden. Und bevor der Unfall passierte, hat der Mann mir zwischen die Beine gegriffen und wollte einen Quickie von mir. Dabei hat er mich gierig angesehen und ich bekam Panik. Aber ich weiß nicht, was ein Quickie ist. Kannst du mir das sagen? Aus der Art und Weise, wie er mich dabei ansah schloss ich, dass es etwas Unangenehmes sein muss.«
Ich bin einfach zum Du übergegangen, denn ich weiß, dass es unter jungen Leuten üblich ist.
Er schaut mich überrascht an.
»Unangenehm? Das kommt darauf an, aber in deinem Fall hättest du vermutlich recht. Und du weißt wirklich nicht, was ein Quickie ist?«
Auch er ist zum Du übergegangen.
»Nein, der Mann wollte einen Quickie mit mir oder von mir haben oder machen. Dabei hat er mich merkwürdig angesehen. Also, was ist das?«
»Das bedeutet so etwas wie ›eine schnelle Nummer schieben‹.«
»Eine schnelle Nummer schieben? Wie soll das gehen? Eine Nummer ist doch eine Zahl, also ein abstrakter mathematischer Begriff. Wie kann eine Nummer schnell oder langsam sein? Und wie kann man eine Zahl schieben? Das verstehe ich auch nicht.«
Der junge Mann grinst mich an. Aber sein Lächeln ist nicht bedrohlich, eher freundlich.
»Eine schnelle Nummer schieben bedeutet so etwas wie ... naja ... wie soll ich es dir sagen? Also Klartext: Er wollte dich vögeln.«
»Vögeln? Was ist das denn nun wieder? Vögel sind doch Tiere, oder? Die fliegen!«
Ich denke einen kurzen Moment nach. Und mir kommt eine Idee.
»Gänse sind doch Vögel. Hat das was mit deren Haut zu tun? Mit Gänsehaut?«
Er lacht laut auf.
»Ja. Manche bekommen dabei schon so etwas wie Gänsehaut.«
»Also friert man dabei.«
Er lacht schon wieder. Doch dann wird er ernst, nimmt meine beiden Hände und schaut mir in die Augen. Er hat ganz warme braune Augen mit Lachfalten drum herum.
»Du weißt wirklich nicht, was vögeln ist? Oder ficken, bumsen, rammeln, poppen? Nein?«
Ich schüttele meinen Kopf.
»Weißt du denn, was Geschlechtsverkehr ist?«
»Natürlich weiß ich das. Das macht man, um Kinder zu bekommen oder einfach nur aus Spaß. Allerdings nur, wenn man den Partner mag. Manche sollen sogar Spaß daran haben, ohne den Partner zu mögen. Aber das kann ich mir nicht vorstellen.«
Er schaut mich verwundert an, dabei schüttelt er sein dunkles gelocktes Haar, das ihm bis auf die Schultern reicht.
»Du scheinst nicht von dieser Welt zu sein. Hast du vielleicht bisher abgeschieden auf dem Lande gelebt und bist jetzt zum ersten Mal in einer größeren Stadt?«
»Wie gesagt, ich kann mich nicht erinnern. Aber ich möchte Menschen kennenlernen, denn es gibt so viele Dinge, die ich nicht weiß. Ich weiß übrigens auch nicht, wie du heißt.«
»Oh, entschuldige. Ich habe vergessen, mich vorzustellen. Ich heiße Maurice und lebe in diesem Ort.«,
Er hält einen Moment inne, dann fährt er fort.
»Du willst also Menschen kennenlernen? Damit wirst du sicherlich kein Problem haben, so wie du aussiehst. Aber du kannst auch leicht an die Falschen geraten. Darum würde ich dir gern helfen, wenn du erlaubst. Denn ich glaube, du kannst Hilfe gebrauchen. Und was deine Klamotten angeht, sie sind nicht gerade der letzte Schrei.«
Ich glaube, ich halte mich jetzt lieber zurück, denn ich habe ihn schon wieder nicht verstanden. Soviel ich weiß, sind Klamotten Kleidungsstücke. Kleidungsstücke bestehen aus Stoffen. Was hat das mit Schreien zu tun? Aber ich sollte vorsichtig sein. Auch diesem Mann gegenüber. Also frage ich lieber nach.
»Und du bist sicher, dass du nicht einen Quickie von mir willst? Oder ficken? Oder poppen? Ich kenne alle diese Wörter nicht. Welches verwendet man denn am häufigsten?«
Maurice denkt einen Moment nach.
»Ich weiß nicht genau. Ich glaube ficken. Ja, Ficken wird wohl am häufigsten benutzt.«
»Also du bist sicher, dass du mich nicht ficken willst?«
An seiner Reaktion merke ich, dass diese Frage nicht passend ist und setze, ohne seine Antwort abzuwarten, hinzu:
»Ich glaube, das war eine dumme Frage, denn du hast nicht diesen Gesichtsausdruck, den ich beim Autofahrer gesehen habe und der Panik in mir hervorgerufen hat. Du siehst nett aus.«
Der junge Mann lächelt wieder.
»Danke für das Kompliment. Also nein, ich will keinen Quickie mit dir. Ich gebe allerdings zu, du siehst irre gut aus, trotz der unmöglichen Klamotten. Ich würde dich also nicht von der Bettkante schubsen.«
Ich bin schon wieder verwirrt. Diese Sprache ist gewöhnungsbedürftig. Was hat eine Bettkante mit Geschlechtsverkehr zu tun? Schubst man jemanden von einer Bettkante, wenn der nicht irre gut aussieht? Und wieso irre gut? Man sieht entweder irre aus oder gut. Ich glaube, ich muss noch viel lernen.
Maurice fährt fort.
»Nun aber im Ernst. Du brauchst dringend vernünftige Klamotten. Wenn du erlaubst, würde ich dich in ein Geschäft begleiten und dir beim Aussuchen helfen. Hast du denn Geld?«
Ich zeige ihm das Bündel Geldscheine.
»Oha! Das dürfte allemal reichen«, flüstert er und schaut sich dabei um. »Sei aber bitte vorsichtig und zeige nicht jedem dein gesamtes Geld. Das könnte so manchen in Versuchung führen, es dir zu stehlen. Steck es wieder weg und dann lass uns gehen.«
Nach einem Kilometer Fußmarsch erreichen wir ein Bekleidungsgeschäft für Damen und Herren. Beim Hineingehen entschuldigt er sich.
»Tut mir leid, aber dieser Laden ist nicht gerade für Exklusivität bekannt, er ist Teil einer deutschen Billigkette. Ich denke jedoch, bei deinem Körper und deinem Aussehen kannst du die einfachsten Sachen anziehen. Es wird immer gut aussehen.«
Unter seinem fachmännischen Rat legt er mir einige winzige Slips, einen geblümten Rock, ein paar Hosen, etliche T-Shirts und einen Blazer zurecht.
»Was ist mit einem BH? Brauchst du einen BH?«
»Was ist ein BH und wozu trägt man ihn?«
Jetzt sieht er mich nahezu fassungslos an.
»Du kennst wirklich keinen BH? Das ist unglaublich. Ein BH ist ein Büstenhalter. Den tragen Frauen, um die Brüste abzustützen. Das ist besonders den Frauen wichtig, bei denen die Brüste schon ein wenig hängen.«
Ich bin irritiert und empört.
»Willst du damit sagen, dass meine Brüste hängen? Meine Brüste hängen kein bisschen. Hier! Sieh her!«
Damit löse ich die oberen Hemdknöpfe und zeige meine festen Brüste.
Er wird auf einmal sehr hektisch.
»Florence! Bist du verrückt? Mach sofort das Hemd wieder zu. Was sollen die Leute denken? Das kannst du nicht machen.«
»Wieso nicht? Ich muss doch auch Slips und T-Shirts anprobieren. Dafür muss ich mich ausziehen.«
Ich ziehe die Hose nach unten, um aus den Hosenbeinen zu steigen.
Maurice stürzt panisch auf mich zu, baut sich erst mit ausgebreiteten Armen vor mir auf und zieht dann mit einem Ruck die Hose wieder hoch.
»Florence! Du kannst dich doch nicht vor den Augen aller Leute entblößen. Dafür gibt es Umkleidekabinen. Die sind dort hinten.«
Er zeigt fuchtelnd auf die gegenüberliegende Wand.
Mit einem »Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?« reiße ich ihm die Kleidungsstücke aus den Händen und marschiere zum anderen Ende des Verkaufsraumes. Irgendeine innere Stimme sagt mir, dass ich nun unbedingt ein bisschen mit dem Hintern wackeln sollte.
Maurice ist offensichtlich völlig entnervt, aber ruft mir noch hinterher:
»Und Schuhe müssen wir auch noch kaufen!«
Ich probiere die Sachen an. Sie gefallen mir ausnahmslos. Maurice scheint einen guten Geschmack zu haben. Trotzdem rufe ich ihn.
»Kannst du mal herkommen und schauen. Ich hätte gern deinen Rat.«
Maurice kommt an meine Kabine und ich schiebe den Vorhang zur Seite.
»Wow, Mädchen! Ich hatte recht, als ich vermutete, dass du bei deiner Figur alles tragen kannst. Du siehst umwerfend aus.«
»Umwerfend? Aber es hat dich doch gar nicht umgeworfen. Du stehst schließlich noch.«
»Ach, Florence. Das ist nur so ein Ausdruck dafür, dass du in den Sachen richtig gut aussiehst. Aber du musst alles jetzt wieder ausziehen, damit ich zur Kasse gehen kann. Wenn ich bezahlt habe, bringe ich sie wieder hierher und du kannst dann etwas davon anziehen. Warte auf mich und rühre dich nicht von der Stelle, vor allem marschiere nicht splitternackt vor den Spiegeln herum. Und lass den Vorhang geschlossen.«
»Paulette! Ich weiß nicht, was du hier noch willst. Unsere Leute haben schon vor Wochen im Umkreis von zwanzig Kilometern jeden Zentimeter abgesucht und nichts gefunden. Verrennst du dich nicht in etwas?«
»Jean-Pierre, ich habe keinen Rechenfehler gemacht, wie behauptet wird. Hier irgendwo muss ein größeres Teil des Kometen heruntergekommen sein.«
Die Astronomin schaut sich zum hundertsten Male um. Auf einmal platzt sie heraus.
»Ich wusste es! Unsere Leute haben nur den Boden abgesucht. Schau mal nach oben. Siehst du die abgebrochenen und angekohlten Äste dort? Ich meine die ganz weit oben. Die darunter sind auch abgeknickt, aber nicht verkohlt.«
»Ja, die sehe ich. Da ist ein Blitz eingeschlagen.«
»Das war kein Blitz. Ein Blitzeinschlag spaltet Baumstämme und reißt nicht einzelne Äste vom Baum. Er schlägt immer in den Stamm ein.«
»Wenn du recht hättest, dann müsste doch auf oder im Waldboden etwas zu finden sein. Aber hier ist nichts, vor allem keine Einschlagstelle. Der Boden ist völlig unberührt.«
»Ich verstehe das auch nicht. Aber ich nehme trotzdem ein paar Bodenproben. Kannst du auf den Baum klettern und einen angekohlten Ast herunterholen? Ich würde ihn gern im Labor untersuchen lassen.«
»Mein Gott, Paulette, du hältst mich ganz schön auf Trab. Aber dir zuliebe ...
***
Nachdem wir auch Schuhe und einige zum Leben notwendige Utensilien erstanden haben, sitzen wir nun in einem Café. Während Maurice sich an einem Milchkaffee festhält, leere ich eine große Flasche Wasser und verdrücke unter seinen staunenden Augen drei Stücke Sahnetorte.
»Mein Gott! Wo lässt du das alles? Bei den Mengen müsstest du ja aufgehen wie ein Hefekuchen.
Aber ganz was anderes. Wie soll es jetzt weitergehen? Vermisst dich denn niemand, dort wo du herkommst? Angehörige, Eltern? Du musst auch irgendwo bleiben.«
Ich schaue ihn nachdenklich an.
»Ich weiß nicht, warum, aber ich bin ziemlich sicher, dass mich niemand vermisst. Kann ich nicht bei dir eine Zeitlang wohnen? Was machst du eigentlich? Ich meine, so beruflich.«
Maurice druckst etwas herum.
»Die meisten Menschen würden sagen, dass ich nichts Ordentliches mache. Ich selbst bezeichne mich als Maler. Also, ich male Bilder und verkaufe sogar hin und wieder eines. Ich habe einen Stand vor einem kleinen Museum hier im Ort und portraitiere Besucher. Aber leben kann ich davon nicht. Also schlage ich mich mit Gelegenheitsarbeiten durch.
Und natürlich kannst du bei mir wohnen. Aber da gibt es ein Problem. Ich habe ein Atelier in einer ausgedienten Fabrik. Es besteht nur aus einem großen Raum, in dem ich arbeite und schlafe. Bad und Toilette sind nur durch einen Vorhang abgetrennt.«
Er hält einen Moment inne.
»Ich besitze auch nur ein Bett. Es ist zwar groß genug für zwei, aber wenn du willst, kann ich eine Matratze organisieren. Könntest du damit leben?«
Ich lege meine Hand auf seinen Arm.
»Das ist nicht nötig. Ich stelle keine großen Ansprüche und kann notfalls auf dem Boden schlafen.«
»Das musst du aber nicht. Du kannst gern in meinem Bett schlafen. Es ist breit genug. Natürlich nur, wenn es dir nichts ausmacht.«
»Es macht mir nichts aus.«
»Dann komm, lass uns gehen. Ich mache dir ein schönes Abendessen.«
Sein Atelier ist im ersten Stock einer ausgedienten Fabrik, den man über eine metallene Außentreppe erreicht. Der Raum ist vollgestellt mit Malutensilien und an den Wänden hängen und stehen etliche Bilder. Ich schaue mich um. Hinter einem Vorhang stehen mit der Bildseite zur Wand weitere Bilder.
Ich frage Maurice, der in der Küchenecke herumwerkelt: »Darf ich sie ansehen?«
»Natürlich! Du kannst gern stöbern und so viele Bilder anschauen, wie du magst.«
Ich drehe einige der Bilder um. Es sind weibliche Akte.
»Du malst auch Akte? Sind die nach Originalvorlagen? Stehen dir Modelle zur Verfügung? Da sind ein paar wunderschöne Bilder dabei. Die müssten sich doch gut verkaufen lassen.«
»Leider nicht. Es sind meistens Frauen und Mädchen aus dem Ort. Und hier kennt fast jeder jeden. Die meisten Modelle kommen ohne Wissen ihrer Ehemänner oder Väter zu mir. Es gäbe einen Aufstand, wenn die Bilder in der Öffentlichkeit gezeigt würden. Ein paar der Frauen nehmen die Bilder mit und verstecken sie zu Hause oder bei Freundinnen. Die bekomme ich dann auch bezahlt. Andere kommen regelmäßig hier vorbei, um sie sich immer mal wieder anzuschauen.«
»Dieser Akt hier ist wunderschön. Das Mädchen ist sehr jung und sie hat einen verführerischen Blick. Wer ist das?«
»Das Mädchen auf dem Bild ist die Tochter eines Gutsbesitzers hier in der Gegend. Sie war vierzehn, als ich sie gemalt habe. Ihr Vater darf auf keinen Fall wissen, dass sie sich nackt von mir hat malen lassen. Der würde mich umbringen.«
»Und hast du sie gefickt?«
»Bist du verrückt! Sie war vierzehn. Das ist viel zu jung. Das würde ich niemals machen. Außerdem ist es strafbar.«
»Aber ihr Blick deutet an, als hättest du!«
»Habe ich wirklich nicht, obwohl sie ganz wild darauf war. Sie lag auf dem Sofa. Als ich einen kurzen Moment abwesend war, weil das Telefon klingelte, und zurückkam, hatte sie die Beine gespreizt, mit ihrer Hand unten herumgespielt und mich provozierend angeschaut. Ich hab ihr dann gedroht, sie nicht weiter zu malen, wenn sie sich nicht wieder vernünftig hinsetzt. Sie war schon ein ziemliches Luder.«
»Und die anderen? Die älteren Frauen? Haben die auch versucht, dich zu verführen?«
»Hin und wieder schon. Und manchmal bin ich schwach geworden. Es waren schon ein paar sehr interessante Frauen dabei. Aber viele Frauen hier im Ort sind nicht sonderlich attraktiv. – So, Schluss mit der Fragerei. Komm herüber. Das Essen ist fertig.«
Maurice hat eine schmackhafte Mahlzeit gezaubert mit Salat als Vorspeise und dann Bohnen, Reis und Hühnerfleisch, dazu Baguette. Er beobachtet mich schweigend und freut sich über meinen offensichtlichen Appetit.
Nach dem Essen zeigt er mir ein paar seiner Lieblingsbilder: Öl auf Leinwand mit Straßenszenen aus dem Ort. Die Menschen sind nur schemenhaft abgebildet.
Irgendwann sage ich ihm, dass ich müde bin. Ich würde gern ins Bett gehen.
»Okay«, sagt er, »ich gehe schnell ins Bad. Es dauert nicht lange. Danach kannst du gehen, während ich das Bett zurechtmache.«
Während Maurice mit dem Bett beschäftigt ist, probiere ich im Bad einige der Fläschchen und Tuben aus, die Maurice mir gekauft hat. Es sind eine Zahnbürste und Zahnpasta dabei sowie einige wohlriechende Cremes und Wässerchen. Nach kurzer Zeit schiebe ich den Vorhang zur Seite und gehe langsam auf Maurice zu, der unter der Bettdecke liegt. Ich bin nackt. Maurice schaut mich voller Bewunderung an. Ich schiebe die Bettdecke zur Seite, hocke mich auf ihn und stecke meine Zunge in seinen Mund. Er reagiert sofort und wir küssen uns leidenschaftlich. Doch dann nimmt Maurice meinen Kopf zwischen seine Hände und hält ihn etwas auf Abstand, damit er mir in die Augen schauen kann.
»Du weißt schon, was hier gerade abgeht, oder?«
»Natürlich weiß ich das. Ich wusste nur nicht, dass man das Ficken, Vögeln oder Poppen nennt. Und was ich da unten von dir spüre, lässt mich vermuten, dass du mich nicht von der Bettkante schubsen willst«, füge ich verschmitzt hinzu.
»Da müsste ich ja verrückt sein, bei so einer tollen Frau wie dir.«
Es wird eine wilde Nacht. Nach einer jeweils kurzen Verschnaufpause braucht er mich nur eingehend zu betrachten und meinen Körper an den empfindlichen Stellen zu streicheln, um selbst erneut bereit zu sein. Und mir gefällt es.
Am kommenden Morgen werde ich vom Geruch frischen Kaffees geweckt. Der Platz neben mir im Bett ist leer. Maurice ist nirgendwo zu sehen. Dann höre ich Schritte draußen auf der Eisentreppe zum Atelier. Maurice hat Baguette und Croissants besorgt.
Nach dem Frühstück, ich bin immer noch nackt, betrachtet Maurice mich.
»Ich würde dich gern malen. Ich meine, ohne Kleidung. Wärst du einverstanden?«
»Natürlich bin ich einverstanden. Meinetwegen kannst du gleich anfangen, dann muss ich mir gar nicht erst etwas anziehen.«
Die nächsten Vormittage verbringen wir damit, dass ich Modell stehe und Maurice malt. An den Nachmittagen begleite ich ihn zu seinem Stand vor dem kleinen Museum. Wir bauen gemeinsam ein paar seiner Bilder auf. Dann setze ich mich auf den Hocker und er beginnt mich zu portraitieren. Schnell bildet sich eine kleine Menschenmenge, die mich neugierig betrachtet und ihm über die Schulter blickt. Als die Kohlezeichnung fertig ist und Maurice sie auf eine Staffelei stellt, wird geklatscht. Nun wollen etliche ebenfalls portraitiert werden und Maurice kann dem Andrang kaum nachkommen. Am Abend beim Zusammenpacken strahlt er.
»Soviel wie heute habe ich noch nie eingenommen. Und das habe ich dir zu verdanken. Hast du gesehen, wie die Männer dich angeguckt haben? Und bei manchen Frauen konnte man den Neid in den Augen sehen. Aber sie wollten auch so ein Portrait und ich habe deren Bilder natürlich etwas geschönt. Die Kohlezeichnung von dir ist übrigens für fünfzig Euro weggegangen. Der Apotheker hat sie gekauft.«
Die folgenden Tage verlaufen nach dem gleichen Muster: Vormittags sitze ich Maurice Modell und am Nachmittag spielt sich vor dem Museum immer das Gleiche ab.
Eines Morgens klopft jemand an die Metalltür des Ateliers.
»Maurice! Bist du da? Kann ich reinkommen?«
»Klar, komm rein. Die Tür ist offen.«
Ich frage Maurice:
„Wer ist das? Muss ich mir etwas anziehen?«
»Das ist mein Freund Boris von unten. Und du musst dich nicht bedecken. Er ist Bildhauer. Er kennt das.«
Die Tür geht auf und herein kommt ein junger Mann mit Wuschelkopf und Vollbart in leicht verstaubter Kleidung.
»Hallo Maurice. Wie ...?«
Er bringt seinen Satz nicht zu Ende und starrt mich mit offenem Mund an.
»Wow, Maurice. Wo hast du denn die Schönheit aufgegabelt? Mein Gott, sieht die gut aus.«
Er geht staunend einmal um mich herum und betrachtet mich von allen Seiten. Dann platzt er heraus.
»Also die ...«.
Bevor er seinen Satz beenden kann, falle ich ihm ins Wort.
»Ich weiß. Du würdest mich nicht von der Bettkante schubsen.«
Boris’ Mund klappt schlagartig zu. Er dreht sich um zu Maurice.
»Und Gedanken lesen kann die auch noch!«
Maurice schmunzelt.
»Das ist wohl kein Kunststück, so lüstern, wie du sie ansiehst. Halte dich zurück. Die ist nicht zu haben.«
Dann betrachtet Boris das fast fertige Bild.
»Eines will ich dir sagen, Maurice. Das Bild werden sie dir an deinem Stand aus den Händen reißen, wenn du es dort zum Verkauf anbietest und sie es erlaubt. – Wie heißt sie eigentlich? Bestimmt Aphrodite oder Venus.«
»Das ist Florence. Aber sag mal, warum bist du eigentlich hier?«
Boris reagiert nicht auf Maurice’ Frage. Er kann seine Augen nicht von mir wenden.
»Wenn ich Geld hätte: Ich würde das Bild sofort kaufen.«
Dann fällt ihm offenbar doch der Grund seines Kommens ein und er druckst herum.
»Apropos Geld ... Weißt du, Maurice ... Ich bin ziemlich pleite. Kann nicht mal was zu essen kaufen. Kannst du mir vielleicht ’nen Fünfziger leihen?«
»Du hast Nerven, Boris. Du schuldest mir noch zweihundert. Aber gut. Ich hab in der letzten Zeit ganz gut was eingenommen. Hier hast du das Geld. Wiedersehen macht Freude!«
»Danke, Kumpel. Wenn ich sonst noch was für dich tun kann? Vielleicht deine Freundin betreuen, wenn du mal keine Zeit hast.«
»Boris! Raus! Und zwar sofort!«
Der Bildhauer geht rückwärts zur Tür, den Blick ständig auf mich gerichtet. Bevor er nach draußen verschwindet, murmelt er noch:
»Oh Mann, werd’ ich heute Nacht feuchte Träume haben!«
Ein paar Tage später ist das Bild fertig. Es gefällt mir ausnehmend gut.
»Was meinst du, Florence«, fragt Maurice, »soll ich das wirklich zum Kauf anbieten? Vielleicht hat Boris ja recht und wir erzielen einen hohen Erlös. Ich könnte das Geld gut gebrauchen. Und würde es dir etwas ausmachen, wenn jeder Passant dich nackt sehen kann? Viele kennen dich ja inzwischen von der Portraitmalerei.«
»Warum sollte es mir etwas ausmachen? Du sagst doch immer, dass ich einen tollen Körper habe. Warum sollte ich den nicht zeigen? Ich habe hier keine Angehörigen, die sich darüber aufregen könnten.«
Am nächsten Tag steht mein Bild vor dem Museum der kleinen Stadt. Es fällt mehr auf als gedacht. Nach einiger Zeit gibt es einen regelrechten Volksauflauf und viele sprechen mich an, vor allem Männer, und es kommen Äußerungen wie ›Das sind doch Sie!‹ und ›Sie sind aber mutig‹ oder ›Toll sehen Sie aus‹.
Plötzlich steht ein Mann in einem dunklen langen Rock wild gestikulierend vor mir. Seine Augen blitzen vor Wut und seine Lippen zittern, sodass er nur schwer die Worte herausbringen kann.
»Wie kannst du es wagen, dich hier nackt zu zeigen. Das ist Teufelswerk und Hurerei. Hinfort mit diesem Schandwerk und hinfort mit euch!«
Damit zieht er ein Messer und sticht auf das Bild ein.
Ich bin wie gelähmt als ich zusehen muss, wie Maurice’ Arbeit von vielen Stunden und Tagen in Minuten zerstört wird. Ich verstehe das nicht.
Inzwischen hat der Mann Verstärkung von einigen dunkel gekleideten älteren Frauen bekommen, die ihre Fäuste gegen uns erheben und ›Hure!‹, ›Hure!‹ und ›Schande über euch!‹ kreischen. Immer mehr ältere Frauen fallen ein.
Maurice packt in aller Eile die Sachen und zieht mich am Arm von der Menschenmenge fort. Auch ich greife noch ein paar seiner Malutensilien. So schnell wir können, laufen wir davon. Das heißt, so schnell wie Maurice kann, denn mein Körper schaltet um auf Speed. Schon nach wenigen Sekunden sehe ich Maurice weit hinter mir laufen. Ich bremse sofort ab und warte auf ihn, um dann in seinem Tempo weiterzulaufen.
Zu Hause angekommen, lässt sich Maurice erschöpft aufs Bett fallen. Ich setze mich zu ihm.